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An einem heißen Sommertage saß der König Max Josef auf einem schattigen Plätzchen in seinem Schlossgarten zu Tegernsee und las in einem Buche. Allmählich fielen ihm dabei die Augen zu. Er legte das Buch neben sich auf die Gartenbank, lehnte den Kopf zurück und schlief ein. Aber sein Schlummer dauerte nicht lange. Ein Raubvogel weckte ihn mit seinem heiseren Schrei. Der König stand auf und wandelte in den Gängen des Gartens dahin.
Als er sich wieder setzen und weiterlesen wollte, merkte er, dass er sein Buch auf der Gartenbank hatte liegen lassen. Dorthin selber zurückzukehren, schien ihm bei der Schwüle des Tages zu mühsam, und so überlegte er denn, wie e wohl sein Buch auf die leichteste Weise wieder bekommen könnte. Er stand am Ende des Schlossgartens und sah in einiger Entfernung einen Knaben, der am Wege zwischen den Feldern eine Herde Gänse hütete.
»Der kann dir das Buch holen!«, dachte der König, öffnete die Gartentür und ging zu dem Knaben, der ihn mit neugierigen Augen betrachtete. »Höre, Jockel«, sagte der König, »du könntest dir ein hübsches Trinkgeld verdienen, wenn du einmal nach der Bank dorthin laufen und mir das Buch holen wolltest, das ich da habe liegen lassen.« Der Junge, der den König nicht kannte, antwortete keck und schnell: »Jockel heiß' ich nicht, aber Seppel. Du willst mich wohl zum Narren halten, aber so dumm bin ich nicht.«
»Warum denkst du denn, dass ich dich zum Narren halten will?«, fragte der König, dem der hübsche, frische Bursche gefiel und der recht gut merkte, dass dieser ihn nicht kannte. »Weil du für so einen lumpigen Gang ein Trinkgeld geben willst«, erwiderte der Junge. »So leicht wird das Geld nicht verdient.« – »Da bist du doch sehr dumm«, rief lachend der König, »warum glaubst du mir denn nicht?«
»Ach, die Leute da im Schloss«, sagte der Junge, »halten unsereinen gern zum Narren – und du bist doch gewiss einer davon?« – »Und wenn ich es wäre?«, sagte Max Joseph, dem das ganze Gespräch immer mehr Vergnügen machte. »Was wäre weiter dabei? Hier hast du im voraus diese zwei Zwanziger – und nun geh sogleich und hole mir das Buch!«
Die Augen des Knaben glänzten förmlich, als er das Geld erblickte. Er verdiente nämlich während des ganzen Sommers durch das Hüten der Gänse nicht viel mehr, als er jetzt in einer Viertelstunde gewinnen konnte. Und dennoch zeigte er keine Lust, sich auf den Weg zu machen. »Nun«, fragte der König, »warum willst du denn nicht? Ist dir das Geld nicht genug?«
Der Junge rückte seinen Hut auf die Seite und kratzte sich hinter den Ohren – dann sprach er: »Ja, ich wollte schon recht gern, aber ich darf nur nicht. Wenn die Bauern hören, dass ich die Gänse hier im Stich gelassen habe, so jagen sie mich fort und ich habe dann kein Brot mehr.« »Närrischer Junge!«, rief der König lachend. »Ich will sie so lange hüten, bis du zurückkommst. Du kannst ja auch schnell laufen, dass du recht bald wieder hier bist.«
»Du willst die Gänse hüten?«, fragte der Junge langsam und mit spöttischer Miene, »du wärst mir ein schöner Gänsehirte. Dazu bist du viel zu dick und zu steif. Na, das würde eine niedliche Geschichte geben! Die Gänse würden alle fortlaufen und sich dort auf der Wiese das beste Futter aussuchen – und ich müsste vielleicht mehr Strafe zahlen, als ich im ganzen Sommer verdiene. Nein, das geht nicht!« »Ich stehe für alles«, sprach Max Joseph, »und bezahle den ganzen Schaden, wenn der Flurschütze kommt.«
Dieses Versprechen leuchtete dem Gänsejungen doch endlich ein. Er nahm freudig die beiden Zwanziger, steckte sie in seine Tasche und lief davon. Max Joseph wollte nun sein neues Amt antreten. Da kommt der Junge, der schon eine ganze Strecke gelaufen ist, plötzlich wieder zurück. »Was willst du denn schon wieder?«, fragte der König. Der Bube gibt ihm seine lange Peitsche in die Hand und sagt dabei: »Knalle einmal!« Max Joseph versucht es, aber es geht nicht. »Das hab ich mir gedacht«, sagt der Junge. »Du kannst ja nicht einmal mit der Peitsche knallen.«
Nun nimmt er dem König die Peitsche wieder weg und zeigt ihm, wie er sie führen und regieren müsse. Max Joseph versucht es noch mehrere Male und endlich bringt er einen ganz leidlichen Knall zustande. Da schärft ihm der Bube noch einmal ein, dass er mit der Peitsche tüchtig knallen solle, damit die Gänse sich fürchteten und keine dummen Streiche machten. Und dann läuft er wieder davon, um das Buch zu holen.
Max Joseph tut was er kann, um sein neues Amt als Gänsehirt auszuüben, knallt auch so gut er es eben fertig bekommt, immer und immer wieder mit der Peitsche. Aber die Gänse, die durchaus nicht so dumm sind, wie manche Leute sich das vorstellen, merken nur zu bald, dass der eigentliche Hüter und Hirte fehle. Es dauert nicht lange, so erhebt ein großer Gänserich seinen Kopf, schwingt seine Flügel und lässt seine gellende Stimme erschallen.
Die andern Gänse schreien wie zur Antwort wild durcheinander, und ehe der gute König es sich versieht, fliegt die ganze Schar auf, um sich auf den fetten Wiesen am See ein reicheres Futter zu suchen. Der König schreit, was er kann, aber es hilft nichts. Er versucht, mit der Peitsche zu knallen, aber es geht nicht. Er läuft hierhin und dorthin, um die Tiere von der Wiese wieder wegzutreiben, aber sie sind sämtlich wie außer Rand und Band – und es will ihm nicht gelingen.
Da setzt er sich denn endlich matt und müde auf einen Baumstamm und läßt die Gänse machen, was sie wollen. »Der Junge hat nicht so unrecht«, denkt er bei sich. »Es ist kein leichtes Stück Arbeit, eine solche Herde widerspenstiger Gänse in Zucht und Ordnung zu halten.«
Der Knabe hat unterdessen die Bank erreicht, das Buch gefunden und kommt in aller Eile zurück, weil er zu seinem Stellvertreter doch kein rechtes Vertrauen hat. Er sieht was geschehen ist und ruft ganz entrüstet: »Na, das hab' ich mir doch gleich gedacht, dass du deine Sache schlecht machen würdest! Jetzt haben wir die Bescherung! Ich kann die Gänse allein nicht wieder zusammenbringen. Nun musst du mir helfen!« Mit diesen Worten riss er dem Könige die Peitsche aus der Hand.
Er zeigte ihm sodann, wie er die ausgebreiteten Arme auf und nieder schwenken und dabei aus Leibeskräften schreien müsse. Dann knallte er ganz gehörig mit der Peitsche und ließ mehrmals hintereinander einen gellenden Pfiff erschallen. Die klugen Gänse merkten sofort, wer nun wieder das Regiment in der Hand hatte. Sie reckten die Hälse empor, schrien laut und schwangen ihre Flügel. Der Junge pfiff und knallte noch einmal.
Da erhob sich die ganze Herde schreiend in die Luft und flog nach ihrem alten Weideplatze zurück, wo sie bald wieder in aller Ordnung und Ruhe sich ihr mageres Futter suchte. Der Junge schalt nun den König, dass er sein Amt so schlecht versehen hatte und rief: »Das soll mir aber nicht noch einmal passieren! Und wenn du mir einen ganzen Gulden dafür schenken wolltest, so kriegst du meine Peitsche nicht wieder in die Hand. Ja, und wenn der König selber käme, so würd' ich ihm meine Gänse nicht anvertrauen.«
»Da hast du recht, mein Junge«, rief Max lachend. »Der versteht es gerade so schlecht wie ich, denn ich bin ja der König!« Der Knabe sah ihn spöttisch lächelnd an und sagte: »Du? Das kannst du nur einem Dummen vorreden wollen! Hier hast du aber dein Buch und nun mache, dass du fortkommst!« Der König nahm sein Buch, gab dem Jungen noch ein paar Zwanziger, um ihn damit wieder freundlich zu stimmen, und sprach: »Nun sei nur wieder gut, Seppel! Ich verspreche dir auch, dass ich in meinem ganzen Leben keine Gänse wieder hüten will!«
Der Knabe dankte fröhlich für das viele Geld, sah den freigebigen Mann mit etwas bedenklichen Augen an und sagte: »Wer du auch sein magst, ein guter Mann bist du doch! Aber zum Gänsehirten hast du ganz und gar kein Geschick!« Max Joseph lachte von Herzen und ging langsam nach dem Schlosse zurück. Bei der Abendtafel erzählte e zum großen Ergötzen seiner Gemahlin und seiner Kinder sowie seiner Hofleute, welches Amt er an diesem Tage bekleidet und so übel verwaltet hatte.