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Die Kinder und das graue Mütterlein.

Im Herzen, da sitzt eine kleine Person,
Die gestikuliret so sehre;
's ist eigen, wie sie empfindsam ist,
Beständig rinnt ihre Zähre.
Sie dichtet die rührendsten Sachen nur,
Ihr Gedanke wird Wasser so gerne;
Unser Auge steht unter Wasser oft,
Ist's von der Person auch so ferne.
Nicht darf sie schlüpfen hinaus in die Welt,
Dann gäb' es erst Thränen und Jammer!
Unsre Brust soll sein der Gefängnißthurm
Und das Herz die Gefängnißkammer.
In seinen vier Pfählen sitzt sie dort warm,
Obwohl sie von jeher keuchte:
»Hier ist es zu eng, o laßt mich hinaus,
Daß der Himmel, die Sonne mir leuchte!« –
Nein besser geht es bei Denen zu,
Die in der Stirn sich häuslich vertragen;
Zwar ist ihr Dachstübchen niedrig und klein,
Doch viel faßt's, das muß man sagen.
Wohl tausend gesegnete Kleine sind d'rin,
Ja nochmals tausend und mehr noch,
Die singen und springen bei Tag und Nacht.
(Zwar Manchen sie quälen, nicht sehr doch!)
Das sind die Kinder der Phantasie,
Sie kennen nicht Sehnen und Bängniß,
Sie spotten oft über die kleine Person,
Die sitzt in dem Herzensgefängniß.
Auch kennen die schönsten Märchen sie,
Und was wir Menschen nur lesen,
Das führen sie gleich als Comödie auf,
Als war' es für sie nur gewesen.
Sie erweitern öfters die Kammer sogar,
Und Manchen als Schwindel umweht es;
Aber denket Euch nur, wie hoch sie geh'n –
Durch den ganzen Himmel ja geht es!
So hoch, so hoch bis an Sonn' und Planet,
Ja, noch weit auf der ander'n Seite;
Wie sie aber dieses bringen zu Stand',
Weiß nur, wer in ihrem Geleite.
Doch machen sie einen zu großen Sprung,
Beginnen sie Streit und Spectakel,
Erscheint das Mütterchen, die Vernunft,
Schafft Ordnung mit ihrem Bakel.
Sie macht Pst! Pst! ist bös auf die,
Die weint in des Herzens Bronnen;
Doch tröstet sie auch, da singen so schön
Die Kleinen von himmlischen Wonnen.

Doch die Tage schwinden, die Jahre vergeh'n
Im Wechsel ihrer Gestalten;
Das Gefängniß im Herzen wird zu schwach,
Um den Gefang'nen zu halten.
Baufällig wird das Dachkämmerlein,
Es verträgt nicht das Springen der Kleinen;
Das Mütterchen nimmt sie All' in Arm:
Als Mutter vergißt sie ja keinen.
Und des Herzens Kleinster, der Sehnsucht Kind,
Es liegt zunächst ihrem Herzen;
So kindlich, so sicher ruht es dort
Und vergißt seine Sorgen und Schmerzen.
Das graue Mütterlein ist sie nicht mehr,
Die Stirne voll Furchen und Sorgen;
Nein! jung und blühend schwingt sie sich auf
Zu des Himmels leuchtendem Morgen.


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