Heinrich Zschokke
Addrich im Moos
Heinrich Zschokke

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37.
Unerwartete Erfüllung.

Fabian überließ sich in aller Harmlosigkeit seinem gesunden Schlafe und er kam, da es schon eine Stunde Tag war, als der letzte, zur Morgensuppe. Auch Addrich, schon ganz reisefertig, leistete Gesellschaft, sprach viel und lebhaft und mit großen Erwartungen von der nahen Volksversammlung in Hutwyl, der feierlichen Beschwörung des Landbundes und der daraus notwendig hervorgehenden Entscheidung über das Schicksal der gesamten Eidgenossenschaft. »Die Töchter wissen,« fuhr er fort, »daß Du mir das Wort gegeben, mein Begleiter zu sein; und beide kennen auch den Preis dafür. Geh, nimm Abschied von der armen Leonore und weide Dich an der letzten Freude, die aus ihrem sterbenden Auge lächelt.« Der Jüngling gehorchte; der Alte folgte ihm.

Beide traten leise in das Gemach der Leidenden, in welches die vorgezogenen Umhänge des Fensters nur einem dämmernden Licht einzudringen gestatteten. Epiphania stand am Bett der Freundin und reichte dem schüchtern herantretenden Liebling schweigend die Hand zum Morgengruß. Er wagte kein Wort zu reden. Leonore aber, an erhöhte Kopfkissen in halbsitzender Lage angelehnt, streckte ihm mit himmlischem Lächeln den Arm entgegen, und indem der Widerglanz innerer Freude die blassen Wangen der verschämten Kranken, wie der letzte Abendstrahl der Mai-Sonne den reinen Schnee der Alpenfirnen, rötete, sagte sie mit matter Stimme: »O Fabi, lieber Fabi, Du findest mich noch. Gott Lob, daß Dich mein Auge noch einmal sehen darf, ehe es bricht! Gieb mir Deine Hand, Faneli!«

Epiphania reichte ihre Hand hin. Leonore legte sie in die des Jünglings, sah mit neuem Erröten und lächelnd zu beiden empor und sagte. »Meine Seele segnet Euch. Vor Gott betet sie für Euer Heil. Ich werde oft bei Euch sein.«

Fabian und Epiphania standen stumm und mit thränenvollen Augen da. Eleonore bemerkte es, lächelte das Paar zärtlich an und sagte: »Ich weine nicht mehr; Ihr habt noch Thränen. Die Freude weint auch; die Seligkeit nicht. Das Leben ist schön, doch nur ein Schatten . . . Schatten des Überirdischen!«

Sie sprach mit leiser aber fester Stimme Es war die Stimme eines Engels über seinem Leichnam. Ihr Haupt schien von Heiligenglanz umflossen. Addrichs Herz brach bei diesem Anblick. Er floh stilljammernd aus dem Gemache an einen einsamen Ort.

Es herrschte ein langes Schweigen. Die Knieenden wagten nicht einmal, laut zu seufzen. Endlich sagte Eleonore: »Nimm mir die harten Ringe wieder von den Fingern, Faneli . : . Dir den einen, Dir, Fabi, den andern. Traget sie zu meinem Gedächtnis!« . . . Und nachdem der rührende Befehl erfüllt war, lächelte die Selige und sagte: »Geh', es ist Zeit, es ist Zeit! Ich bete für Euch.«

Epiphania und Fabian standen auf. Beide küßten die blassen Lippen der Jungfrau, die nur mit einem still lächelnden Blicke antwortete. Dann verließen beide leise das Zimmer, in welches, zur Pflege der Dulderin, eine der Mägde eintrat. Epiphania aber führte ihren Freund in ihr Gemach und sagte: »Fabi, also mußt Du schon wieder von hinnen, mit dem Oheim? Er hat mir alles gesagt und mir erlaubt, Dich und ihn bis Kulm hinab zu begleiten. Fabi, Du gehst ohne Gewehr, und es ist eine böse Zeit und unsichere Straßen. Wache über Dein Leben, denn es ist ja auch mein Leben, und kehre bald und glücklich wieder!«

Nach diesen Worten eilte sie zu einer beinahe fünf Fuß langen, mit rotem Tuch und schwarzem Leder zierlich beschlagenen Kiste, wie dergleichen damals in reichen Bürgerhäusern zur Benutzung und zum Schmuck der Gemächer standen. Epiphania öffnete den Kasten mit dem Schlüssel und nahm ein breites Schwert daraus, dessen Handgriff mit Silber ausgelegt und dessen Gehenk mit Silber gestickt war. »Sieh', Fabi,« sagte sie, indem sie ihm das Degengehenk über die Achsel warf, »ich will Dich ausrüsten. Ich gebe Dir das einzige, was mir von meinem unglücklichen Vater, dessen ewiger Grabstein der hohe Rawyl geworden, geblieben ist.« Sie drückte bei diesen Worten den Griff des Schwertes an ihre Lippen und fuhr fort: »Diese Stelle ist durch Berührung von seiner Hand mir heilig.«

»Und mir durch die Deiner Lippen,« sagte Fabian. »Ich werde es für keine ungerechte Sache entblößen.«

»Wehe Dir, Fabi, wenn Du das thätest! Ich weiß vom Oheim, daß mein Vater, der heftigen Gemütes gewesen sein soll, einst im Irrtum fehlte, und einen Mann mit Unrecht erbitterte. Da riß ihm dieser das Schwert aus der Scheide, um ihn damit zu durchbohren. Fabi, ich erzähle Dir's nicht vergebens. Seitdem ich diese Geschichte gehört habe, blieb mir der Glaube, dieses Schwert habe irgend eine geheime Bestimmung.«

»Und welche?«

»Daß es seinem eigenen Besitzer gefährlich sei, wenn er sündigt. Ich selbst bin schon einmal von der Schärfe der Klinge verwundet worden; es schien zwar damals ein bloßer Zufall zu sein . . . aber, Fabi, ich wußte wohl, wie ich mich vorher schwer an Gott und den Menschen vergangen hatte. Fabi, verachte meine Ahnung nicht! Es giebt keinen Zufall, weil ein Gott ist, und glaube es, Fabi, in der Menschenbrust klingt und weissagt dem, der darauf horcht, zuweilen eine Stimme, die nicht die der Menschen ist.«

Sie plauderte dieses und mehreres so ernst und gläubig, und sah dabei mit ihren Himmelsaugen so flehentlich und zärtlich zu dem Jünglinge auf, daß dieser gegen die Ahnungen und Stimmen aus Epiphanias Brust nicht das mindeste erwidern konnte und wollte. Er reichte ihr die Hand und sagte, an die Waffe schlagend: »Dem Unrecht Trutz, dem Rechte Schutz!«

Sie wurden in dieser Unterredung durch Ännelis Eintritt gestört, welches ihnen ankündete, daß Addrich mit Ungeduld vor der Hausthür warte. Änneli selbst deutete durch ihr festtägliches Kleid schweigend an, daß sie der Gesellschaft folgen werde, um Epiphania wieder ins Moos zurück zu begleiten. Man ging hinab und schlug den Weg niederwärts durchs Thal ein. Addrich schritt mit weiten Schritten stumm voran. Hand in Hand, in ununterbrochenem Gespräch, folgten ihm Fabian und Epiphania durch Gebüsche und Wiesen. Änneli blieb bescheiden eine Strecke zurück und vertrieb sich die Langeweile mit Sammeln bunter Feldblumen, die sie am Wege pflückte und in kleine Sträuße band.

Nur zu schnell für die Plaudernden war man am Fuße des Steinbergs von Kulm angekommen. Bei den ersten Häusern stand Addrich, die Nachkommenden erwartend, still. Epiphania hatte Halme gepflückt, die Fabian halten mußte, während sie die Enden derselben zum wahrsagenden Ringe verknüpfen wollte. »Aber, Fabi,« rief sie, während beide stillstanden und sie die prophetische Arbeit begann, »denke indessen an nichts anderes, als an unser baldiges Wiedersehen. Hörst Du? Bilden alle Halme zuletzt einen ganzen Ring, so werden wir bald wieder vereinigt sein; hängt aber im größeren Ringe, wie zwei Kettenglieder, ein kleiner: so sehen wir uns lange, lange nicht. Ach, Fabi, es quält mich ein banges Gefühl, es wird wohl so sein, da Du Addrich bei gefahrvollen Unternehmungen begleiten mußt. Man spricht ja noch immer vom Kriege. Wenn es aber gar zwei getrennte Ringe geben wird . . . dann steht uns Schweres bevor.«

Sie knüpfte die Halmenden mit ihren kleinen Fingern zusammen; beide schwiegen. Änneli trippelte um beide herum, den Ausgang ängstlich erwartend. Endlich ließ Epiphania das Verknüpfte auseinanderrollen, und es entwickelte sich ein großer Halmenring. »Ach!« schrie Änneli laut. Es war ein kleinerer, einzelner zur Erde gefallen . . . . »Was?« stammelte Epiphania erschrocken. »Trennung für immer? Du wirst nicht wieder heimkehren zu mir? . . . O Fabi, was bedeutet es? Soll ich Dich nicht wiedersehen?«

Wenngleich das Niederfallen des kleinen Halmenringes dem Jünglinge einen unangenehmen Eindruck verursacht hatte, wollte er doch alles kindischen Aberglauben nennen. Er lachte und spottete; sie aber schüttelte mit trüben Augen, ohne ein Wort zu erwidern, den Kopf und seufzte endlich: »Du wirst's erfahren, Fabi! Es wartet unserer beider großes Unglück. Fabi, gehe nicht mit Addrich. Fabi, gehe nicht! Er zieht Dich ins Verderben hinab.«

In diesem Augenblicke erklangen vom Dorfturme die Glocken zum Beginn des freitägigen Gottesdienstes. Addrich, schon weit voraus, kehrte hastig zu den Zögernden zurück und ermahnte zur Eile. Während sie den Weg fortsetzten, schalt Addrich, als er vom Halmen-Orakel vernahm, die Thorheit seiner Nichte. »Possen!« rief der Alte unwillig. »Sollen verständige Männer ihren Rat vom blinden Finger eines Mädchens entnehmen? Kommt ins Dorf!«

Als sie unter dem lauthallenden Geläute in die Nähe der Kirche gekommen waren, wendete sich Addrich mit einem eigentümlichen, boshaften Lächeln zu ihnen und sagte: »Dieweil wir doch, wie Faneli meint, einen gefährlichen Gang machen, so laßt uns ein Vaterunser lang in die Kirche treten!«

»Spotte nicht, Addrich, spotte nicht,« sagte die Jungfrau ernst und mit dem Zeigefinger warnend. »Du machst das Wirtshaus zu Deinem Gotteshause; laß Gottes Haus einmal Dein Wirtshaus sein. Ja, kommet, kommet hinein! Lasset uns, ehe wir scheiden, zusammen beten! Uns ist Gottes Segen vonnöten.«

»Ja, Dir und Fabian,« erwiderte Addrich. »Der Pfarrer ist bereit, Eure Trauung zu vollziehen; ich habe es gestern, noch spät abends, mit ihm verabredet. Zu anderer Zeit hätte er mir die Thür gewiesen wie ein Landvogt; jetzt ist er geschmeidig wie ein Ohrwurm. Tretet hinein!«

Epiphania erblaßte. Sie wollte reden, doch die Worte erstarben auf ihren Lippen. Fabian betrachtete verlegen bald den Alten, der ein Kränzchen von künstlichen Myrten aus einer kleinen Truhe hervorzog und es dem bestürzten Änneli mit dem Bcfehle reichte, dasselbe auf Epiphanias Haupt zu heften.

»Nein!« rief Epiphania. »Welches Spiel treibst Du mit uns?«

Addrich suchte sie mit Ernst und Güte zu beruhigen. »Willst Du Fabian verschmähen, den Du lieb hast und den ich Dir für immer gebe, weil es der letzte Willen Leonorens ist? Dieser Kranz – Du kennst ihn wohl – ist der Brautkranz ihrer Mutter. Loreli gab ihn mir gestern mit den Worten: Erst soll er auf Epiphanias Scheitel, dann auf meinem Sarge liegen. Gehorche der sterbenden Schwester. Sie reichte Euch ihre Silberringe nicht unnützer Weise.«

Epiphania stand bleich, bebend und wortlos da. Der Kranz befand sich schon auf ihrem Haupte. Sie warf einen klagenden Blick zum Himmel und faltete die Hände stumm zusammen.

»Du hast uns in Deiner Art überraschen wollen, Addrich,« sagte der Jüngling, »aber Du hast uns betäubt. Nein, Faneli, zittere nicht. Nimm den Kranz aus den Haaren und gehe frei ins Moos zurück. Ich will Dich von Dir allein, nicht durch den Willen eines Lebenden oder Sterbenden, nicht durch List oder Gewalt. Gehe frei zurück! Addrichs roher Streich gegen unsere Herzen hat mich erschüttert, wie Dich. Aber in meinem Schrecken erwachte eine Freude, in Deinem nur Verzweiflung. Ich entbinde Dich von dem Gelübde, das Du mir auf der Bampf gegeben. Sei jedes andern Weib, wenn Du schaudern mußt, ewig allein mir anzugehören.«

Sie betrachtete ihn mit traurigem Blicke, in welchem der Vorwurf lag, als wollte sie sagen: »Wie kannst Du also reden, Fabi?«

»Kehre heim, Faneli!« fuhr er fort. »Du bist frei. Ohne Deinen Freiden habe ich keine Seligkeit. Ich werde Dich niemals anklagen. Du wurdest durch Addrichs Einfall auf grausame Weise überstürmt. Wir kennen den Oheim. Er scherzt mit dem Heiligsten in roher Weise und sieht dort nur Mauer und Turm, wo wir die Kirche und Ewigkeit vor uns sehen. Du kannst mir Deine Hand nicht geben; Dein Zittern und Erblassen haben Dich losgesprochen.«

Er sagte dies mit bebendem Tone und bei erbleichendem Antlitz. Epiphania warf einen stummen Blick voll Schmerz auf ihn, ergriff aber seine Hand und ging langsam, das Haupt auf die Brust gesenkt, die Augen zur Erde gerichtet, zwischen frischen Gräbern hin, mit ihm voran zum Kirchhofe und dann in die kleine, schmucklose Kirche.

»Epiphania!« sagte Fabian leise, indem er unter der Kirchenpforte stehen blieb und seine Führerin mit einem zweifelhaften Blick voll Bangigkeit und Freude ansah.

»Fabi,« sagte sie gefaßt, »tritt mit mir vor Gottes Angesicht!«

Sie schritten durch den mittleren Gang, zwischen den schmucklosen, grob aus Holz gezimmerten, vom Alter und Gebrauch glänzend gebräunten Bänken hindurch, zum Taufstein. Addrich und Änneli folgten; jener trat mit Fabian zur Rechten, diese mit Epiphania zur Linken. In den Sitzen der Kirche hatte die Andacht nur wenige alte Leute versammelt, die jetzt Zeugen einer unerwarteten Feierlichkeit wurden. Der Pfarrer erschien; die Glocken verstummten. Die Trauungsgebete begannen, die Ringe und das Jawort wurden gewechselt. Man ging zu den Sitzen der Zuhörer zurück, um noch das Gebet des Geistlichen auf der Kanzel anzuhören, mit dem die heilige Handlung geschlossen wurde. Epiphania, auf den Knieen, in sich selbst zusammengesunken, verloren in der Inbrunst des Redens zu Gott, vernahm weder das heilige Wort, noch das Schweigen des Mannes auf der Kanzel. Das Geräusch derer, welche die Kirche verließen, störte sie nicht. Lange harrten ihre Begleiter schweigend oder flüsternd neben dem Geistlichen, der sich zu ihnen begeben hatte. Endlich erhob sie sich und trat zu den Wartenden mit einer Miene, welche verriet, daß sich ihr Geist noch nicht ganz in die Gegenwart zurückgefunden habe.

38.
Trennung.

Nachdem die Neuvermählten noch die Glückwünsche des frommen Geistlichen empfangen hatten, gingen sie schweigend nebeneinander durch's Dorf und den Fußweg, den sie gekommen waren, über die Wiesen rechts zum Steinberg zurück. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Addrich schritt finster voran; minder mit der Gegenwart, als mit der Zukunft rechnend, murmelte er zuweilen einzelne, unverständliche Worte vor sich hin. Fabian blickte von Zeit zu Zeit still beobachtend auf Epiphania. Was seit einer Viertelstunde vor dem Taufstein der Dorfkirche verhandelt worden war, hatte seinen Gemütszustand unverändert gelassen und schien an den alten Verhältnissen zu der Jugendgespielin nichts geändert zu haben. Der Abend auf der Bampf war für ihn mit weit höherer Feierlichkeit geschmückt gewesen; die kirchliche Trauung hatte für ihn nur die Gestalt einer trockenen Förmlichkeit oder einer bürgerlichen Anerkennung dessen gehabt, was schon von selbst zwischen beiden Herzen abgeschlossen war.

Ganz anders aber stand das Geschehene vor Epiphanias Seele. Zu ihr hatte nicht der Pfarrer, sondern der ewige Gott gesprochen, für die Ewigkeit; das Jawort war kein öffentliches Geständnis, sondern ein furchtbarer Eid gewesen, den sie vor dem Throne des Allerhöchsten abgelegt; das Wechseln der Ringe, das Auswechseln der Seelen, das Ende des Sichselbstgehörens. Sie hatte Fabian geliebt. Die Liebe war geblieben, aber, vom Irdischen ins Überirdische gehoben, nun Gottessache geworden. Sie selbst begriff nicht, woher sie die Kraft empfangen, die Majestät und Gewalt eines Augenblickes zu ertragen, der, ihr ganzes Schicksal wendend, erhabener als ihr gesamtes Leben dastand. Sie mußte die Einzelheiten der ganzen Begebenheit in ihrem Gedächtnis wiederholen, um an deren Wirklichkeit zu glauben.

Während dessen trippelte Änneli dem jungen Ehepaare, mit sehr weltlichen Gedanken beschäftigt, nach. Diese Vermählung, so Knall und Fall, ohne alle Vorbereitung, ohne Nachgeschmack, ohne Kranz und Tanz, diese Hochzeit ohne Hochzeit, diese Brautleute in Haus- und Reisekleidern . . . dies alles hatte anfangs nur ihre Verwunderung, nachher ihre völlige Mißbilligung, zuletzt die Überzeugung hervorgerufen, es sei dieses eine Winkelheirat und vor Gott und Menschen ohne Gültigkeit.

Als man zur Spitze des Waldes am Fuße des Steinberges gekommen war, wo der schmale Fußpfad in den Matten sich mit dem Fahrwege nach Dürrenäsch vereinigt, hielt Addrich still und mahnte zur Trennung. »Ich hoffe,« sagte er, »Ihr werdet mit mir zufrieden sein. Alles ist abgethan nach Wunsch; kurz und gut!«

Fabian entgegnete: »Ich weiß nicht, ob gut, aber kurz gewiß. Gethan ist's, wie es der Platzregen auf durstigem Felde bewirkt, der, was nicht verdorrt ist, zu Boden schlägt. Dich verfolgt ein eigenes Geschick. Selbst das Almosen, welches Du giebst, überschimmelt zwischen Deinen Fingern sogleich mit Gift, und die Freude, die Du bringst, kommt mit keinem Lächeln, sondern mit Entsetzen und Schrecken daher, wie das Unglück.«

»Mag sein, Bursche,« sagte der Alte finster, »doch das wünschte ich wenigstens: Du verständest, mir besser zu danken.«

»Zürne nicht!« rief der Jüngling gerührt und reuig, indem er die Hand des Alten ergriff und an seine Brust drückte. »Ich danke Dir dennoch. Du hast mich zu Deinem Neffen gemacht, ich aber will Dich zu meinem Vater machen. Ich werde Dir folgen, wohin Du winkest. Lebe wohl, Faneli! Gedenke seiner und meiner in Liebe und Gebet. Ich gehe mit dem Oheim!«

Epiphania, als hätte sie sich aus den Ereignissen dieser Stunde noch nicht ganz wiedergefunden, betrachtete den Oheim und den ihr vermählten Jüngling mit träumerischem Nachdenken und sagte: »Was treibet Ihr beide mit mir? Wohin wollt Ihr ohne mich? Was beginnet Ihr?«

Addrich erwiderte sanft: »Wir wandern nach Hutwyl. Gehe heim, Kind, bewache das Haus und pflege Deine kranke Schwester, wie Du mir's angelobt hast.«

»Was denn? Wie redest Du, Addrich?« rief Epiphania. »Bin ich nicht das Weib dieses Jünglings, dessen Schwester ich noch am Morgen war? Wie willst Du scheiden, was Gott verbunden hat? Ich habe vor dem Himmel einen Schwur gethan, der alle Eide löst, und ein Gelübde, neben dem kein anderes mehr gilt. Und hätte ich Vater und Mutter auf Erden, ich müßte Vater und Mutter verlassen, dieses Mannes wegen.«

Der Alte schüttelte heftig den Kopf und sagte: »Schweige, Thörin, und halte uns nicht auf mit Deinen Grillen. Wir gehen einen Gang, den kein Weib gehen darf.«

»Das sei Gott geklagt!« schrie Epiphania mit schmerzvoll zum Himmel gerichtetem Blick und auf die Brust gedrückten Händen. »Ich kenne Deinen Gang, es ist der Gang in den Abgrund. Du schleppst den Schuldlosen mit Dir hinunter und führst ihn aus der Hölle nicht wieder zurück. Ich bin einem Toten vermählt worden, keinem lebendigen Manne; Braut, Eheweib und Witwe bin ich in der nämlichen Unglücksstunde geworden. Du hast ihn und mich betrogen, Addrich; wie wirst Du Dein frevelhaftes Spiel vor dem Angesicht dessen verantworten, vor dem Du mich in dieser Stunde ihm geweiht hast?«

Fabian schloß die Hand der Wehklagenden mitleidig in die seinigen und suchte sie durch einige Trostworte zu beruhigen. Addrich schien die Geduld zu verlieren, er lief einige Schritte voran und wieder zurück und sagte ärgerlich: »Mit weichherzigen Weibern und hartmäuligen Pferden bringt's keiner zum Ziel. Fort, Fabian, stecke Dir Wolle in die Ohren! Sie wird sich trösten, wenn wir hundert Schritte von ihr sind. Ich kenne die Weiber; sie lachen die nämlichen Thränen, die sie weinen, und drehen, wie den Rücken, ihren Sinn.«

Unwillig erwiderte Fabian: »Du bist ein feiner Maler, Addrich; wenn Dir die Engel nicht geraten, machst Du Teufel daraus . . . Faneli, fasse Dich; wir kehren bald zurück. Ich beschwöre Dich, brich mir, durch Deinen Jammerblick, nicht das Herz. Nur noch ein einziges Lächeln gieb mir zum Abschiede!«

»Wie soll ich neben Deiner Leiche lächeln, Fabian?« seufzte sie. »Du kehrst nicht wieder, glaube mir, nimmer kehrst Du wieder. Denkst Du nicht mehr an die verhängnisvollen Kränze, die auseinander fielen, ehe wir zur Trauung gingen? O Loreli's weissagender Gesang!«

»Kindereien!« fiel ihr Addrich in die Rede. »Schäme Dich! Eine junge Frau muß nicht allen Weibertrödel feil haben. Es geht im Leben nicht alles nach Wunsch, auch wenn's zum Besten geht. Du mußt Dich an's Unglück gewöhnen, denn es gewöhnt sich an Dich. Du weißt wohl, man rutscht nicht auf Sammetkissen in's Himmelreich hinein. Also, gehabe Dich wohl! Grüße meine kranke Heilige. Ich führe Dir Dein Männchen über ein Kleines wieder zu.«

Epiphania verneinte, ohne zu antworten, mit einer Bewegung ihres Hauptes. »Was gilt die Wette,« rief der Alte: »ich bringe ihn Dir, wenn Du uns am wenigsten erwartest, und ich richte Euch eine Hochzeit aus, wie sie noch kein Berner Landvogt prächtiger gehabt hat.«

»Du bringst ihn nie wieder, Addrich . . . Du nicht!« seufzte die Neuvermählte. »Sein Loos ist gefallen, und das meinige mit dem seinen. O rede nicht vom alten Weibertrödel! Hast Du den Gesang vergessen, den unsere Seherin an meinem Geburtstage sang?« . . . Mit warnender Stimme fuhr sie fort:

»Vom rosenfarb'nem Munde
Erlischt die Lebensglut.
Des Jünglings Purpurwunde
Betaut das Grab mit Blut.

Zu spät eilt deine Hilfe,
Er fühlt nun keine Pein;
Er schläft auf dürrem Schilfe;
Sein Kissen ist der Stein.«

Addrich's Gesicht verfinsterte sich bei diesen Worten auf schreckliche Weise, während er den Kopf auf die Brust niederhängen ließ. Endlich fuhr er rasch in die Höhe und rief: »Hat's der Satan auf's Quälen angelegt, muß ihm selbst der Engel die Pechpfanne füllen. Fort, fort, ich brauche meinen Verstand noch ein paar Tage oder Wochen, dann will ich wahnsinnig werden . . . Ade, Faneli, ade!« Bei diesen Worten küßte er die Jungfrau, drückte ihre Hand, ging davon und rief: »Mir nach, Fabian!«

Der Jüngling wollte seiner Freundin Lebewohl sagen, er konnte jedoch nicht reden. Beider Hände lagen fest in einander und er lehnte seine Stirn an die ihrige. So standen sie lange schweigend da, zitternd, thränenlos. Änneli warf sich unter einer alten Eiche nieder, verbarg ihr Gesicht auf dem Erdboden im Grase und weinte laut. Beide hörten sie nichts vom mitleidigen Jammer des Mädchens.

»Laß Gott walten und die Welt unter uns vergehen!« sagte Fabian. »Wenn Dich auch mein Auge nicht sieht, bin ich doch allzeit mit Dir zusammen. Uns kann nichts mehr von einander scheiden, nicht Welt, nicht Grab, weder die Gewalt der Hölle, noch die Ewigkeit. Der Allmächtige ist unser Vater und seine Liebe hält uns mit dem gleichen Arm umfangen. Sei standhaft, Du Tochter Gottes, Dein Schmerz ist ein Zweifel an seiner Weisheit!«

»Nein, o nein, kein Zweifel, Fabi, sondern der Widerklang seiner unendlichen Liebe, mit der ich lieben muß, in meiner Brust! Nur das irdische in mir will verzagen, aber hat Er uns nicht das Herz gegeben, daß es blute, und das Auge, daß es weine? Laß mich bluten und weinen, denn ich stehe an Deinem Sterbebette: ich bin nicht Deine Schwester, Deine Braut, Dein Weib, sondern Deine Wittwe. Fabi, ich bin betrübt bis in den Tod. O, wie reich muß der göttliche Freudenhimmel sein, wenn er die Bitterkeit dieses Augenblickes vergelten will!«

»Lebe wohl, Fani!« rief er vom Schmerz übermannt. »Foltern wir uns nicht länger! Bleibe Gott und mir getreu! Lebe wohl!«

»O Fabi, sage lieber: stirb! Im Sarge ist mein Wohlleben, nicht über der Erde. Fahre wohl, Du teures Licht meiner Seele! Nun wird es ewige Nacht. Ich bin noch nicht gestorben, und doch ist alles schon ein Grab, und der Himmel nur Schutt über mir . . . . Wie Gott will, Fabi! Wer kann widerstreben? Seine Liebe ist unendlich, aber wie kann sein Vaterherz mir so unaussprechliches Wehe zufügen? Ach, ich könnte es nicht, auch dem größten Sünder der Welt könnte ich es nicht!«

Nach einiger Zeit fuhr sie leise fort mit dem Tone und der Geberde frommer Ergebung und Verzichtung, »Fahre wohl, Engel, bis zu den Engeln des Himmels! Du siehst mich bald unter ihnen. Fliege Du, als der erste, mir droben entgegen an den Schwellen des Paradieses!«

Er küßte sie stumm. Sie wandte sich von ihm, und er ging oder taumelte ihr einige Schritte nach, Dann wandte auch er sich wieder zurück, um den entfernten Addrich zu suchen. Abermals jedoch rief ihre Stimme und er blieb auf den ersten Laut wie festgebannt. Sie kam und schlang ihren Arm um seinen Nacken, umklammerte ihn fest und sagte: »Soll ich Dich sterben lassen ohne den Abschiedskuß? Gieb mir Deine Augen, daß ich sie mit meinen Lippen zudrücke, ehe denn sie brechen. Und ich will noch einmal meinen tiefsten Seufzer auf diese Deine roten Wangen hauchen, ehe sie im Tode erbleichen. Sollte ich undankbar dieses Mundes vergessen, aus dem der Brudergeist atmete? . . . Armer Fabi, lieber Fabi, weine nicht! Und wenn Dich Dein Himmel vergißt, Epiphania vergißt Dein nicht!«

Jede Stelle seines Gesichtes wurde küssend von ihr berührt. Dann betrachtete sie ihn noch einmal voll Zärtlichkeit, und nun erst ergoß sich ihr Jammer in einen Strom von Thränen. Lange. lag sie schluchzend an seiner Brust, dann drängte sie ihn mit sanfter Gewalt von sich, wendete sich, ohne ihn anzusehen, von ihm hinweg, und ging, ohne einen Rückblick, in die Gebüsche zum Thalgrunde nieder. Fabian, in gedankenloser Betäubung, wankte nach der entgegengesetzten Richtung.

39.
Der Landtag zu Hutwyl.

Addrich stand wartend in der Ferne. Als der Jüngling zu ihm heran kam, erschrak er fast über dessen blasse und verstörte Miene, doch empfing er ihn ohne Anrede und ging schweigend mit ihm durch's Dorf, das heitere Kulmerthal hinauf. Als sie, nach einigen Stunden, jenseits der zerstreuten Hütten von Reinach und Menzikon, die felsige Anhöhe erstiegen hatten, da wo sich im Vordergrunde eine anmutige Landschaft von sanft abfallenden Thälern und umbüschten Hügeln entfaltete und das Riesenbild der Alpenkette im Hintergrunde sich vor ihnen aufthat, hielt Fabian im Laufe an und sagte: »Ich fühle mich in meinen Gebeinen zermalmt und meine Zunge ist wie ein trockener Scherben.«

Addrich antwortete: »Hinter den Baumwipfeln, drunten vor uns, siehst Du die Türme des Stiftes Beromünster. Dort soll Dich ein gutes Mittagsmal erquicken.«

»Das ists nicht, was mich erquickt,« erwiderte Fabian und setzte sich auf die Steinbank an der Pforte einer einfachen Bergkapelle, neben der sie standen, nieder. »Warum Beromünster, Addrich? Wollten wir nicht über St. Urban, den Abt zu sehen?«

»Ich behalte mir das für den Rückweg vor,« versetzte Addrich. »Jetzt will ich horchen, welches Lied hier zu Lande im Luzernergebiet die Vögel pfeifen . . . Bist Du ermüdet, so ruhe aus und folge mir bald. Ich gehe indessen in den Flecken voran und bestelle das Mittagbrot.« Da Fabian nichts erwiderte, ging der Alte den Berg hinab.

Fabian blieb auf der Bank sitzen. Er überließ sich ohne Rückhalt, bis zur Erschöpfung, dem Ausbruch seines ganzen Jammers, und fand erst in dieser Ruhe Stärke und die alte Entschlossenheit wieder. Doch es glich seine Ruhe der der Wüste, welche der Wanderer mit Verzicht auf sein Leben durchschreitet.

Der wehende Südwind kühlte und heilte seine brennenden Augenlider. So ging er zum Flecken Münster hinab, dessen bescheidene Gebäude sich vor dem altertümlichen, reichen Stift hinlagerten, wie Knechte vor ihrem Herrn, dem sie zu Frohndiensten verpflichtet sind. Addrich stand auf der sonst menschenleeren Gasse, von einem Haufen zuhörender Bauern umringt, denen er mit heiserer Stimme die Nähe großer Ereignisse verkündete und Mut zu den äußersten Wagstücken predigte, damit die Schweizerfreiheit in allen Gauen zwischen den Alpen und dem Jura siegreich werde. Sobald er aber seines Reisegefährten ansichtig wurde, brach er ab, und führte diesen ins Wirtshaus, zur Mahlzeit. Das dunkle Zimmer füllte sich bald mit Gästen, die anfangs nur schweigend oder flüsternd die beiden Fremden beobachteten, bald aber lauter wurden und durch einzelne über das fette Kollegiatstift ausgestoßene Flüche Addrichs Aufmerksamkeit auf sich zu locken suchten. Fabian beobachtete die Schreier wenig; er stürzte einen Becher Wein nach dem andern hinunter, in der Absicht, sich zu betäuben. Addrich beobachtete ihn um so schärfer, da er nur Wasser trank.

Auch bei Fortsetzung der Reise kümmerte sich Fabian wenig um das, was geschah, Addrich hingegen war von sechs bis acht rüstigen Männern begleitet, mit denen er sich abwechselnd unterredete. Ihre verschiedenen, seltsamen Trachten verrieten, daß sie aus sehr verschiedenen Gegenden des Landes hierher gekommen waren. Und wie die Trachten, bezeichneten auch die Mundarten ihr Herstammen aus verschiedenen Thälern.

Der Weg ging über den Berg nach Sursee hinab und ohne Rast, bis in die Nacht, am kleinen schilfigen Mauensee entlang, von Thal zu Thal über die Berge, bis zum Städtchen Willisau. Von Zeit zu Zeit schickte Addrich bald diesen, bald jenen seiner Begleiter mit geheimen Aufträgen nach verschiedenen Richtungen; aber mehr noch, als er absandte, stießen von verschiedenen Seiten unterwegs wieder zu ihm. »Gelobt sei Jesus Christ!« und »Grüß Euch Gott, Ihr Männer!« schollen die Grüße katholisch und reformiert durch einander. Der laute Handschlag erfolgte darauf von Mann zu Mann, und die Losung aller wurde Hutwyl und die Bundesversammlung. Addrich und Fabian fanden im engen Städtchen Willisau kaum Nachtlager und Herberge; so groß war das Gedränge der Leute, die aus allen Gegenden zum ausgeschriebenen Landtage herbeiströmten.

Des folgenden Morgens war Addrich beim ersten Hahnenschrei schon wach und rüttelte Fabian aus dem Schlafe. Den Alten hatte die Herankunft des verhängnisvollen Tages, die Nähe entscheidender Ereignisse um einige Jahrzehnte verjüngt; der Jüngling dagegen war durch die Erfahrungen, die in den letzten Tagen sein Gemüt erschüttert, um einige Jahrzehnte ernster geworden.

So schritten sie, in entgegengesetzten Gemütsstimmungen, durch die nächtlich ruhigen Gassen der Stadt zu dem getürmten Thor hinaus. Sie traten in einen Kranz von Bergen und Hügeln, deren Fuß die Wellen der eilenden Wigger benetzten. Nach einigen Stunden endlich traten die Wanderer aus dem Walde in eine weite sonnige Ebene, in die Almend des Städtchens Hutwyl, welches im Hintergrunde wie ein grauer, verwitterter Schutthaufen emporstieg; links und rechts erhob sich das Thal, welches vielleicht in der Urzeit das Bette eines kleinen Landsees gewesen war, zu anmutigen Hügeln. Einzelne Schwärme von Bauern standen zerstreut in den Wiesen umher; andere kamen aus Hutwyl herbei, noch andere zogen erst aus verschiedenen Richtungen dahin. Wenn man aber aus der Tiefe, wo sich der wilde Langetenbach in die Sandfelsen eingegraben hat, zu den engen Gassen und hölzernen Häusern des kleinen Städtchens hinanstieg, fehlte es der Menschenmenge fast an Raum, sich zu bewegen.

Addrich wurde von einem Bekannten, dem er zufällig begegnete, in ein Gebäude, welches sich als Gemeindehaus nur durch seine Größe von den übrigen unterschied, geführt. Vor dem Hause hielten sechs Hellebardirer Wache. Nach besonderer Meldung, auf welche ein wohlgekleideter Landmann aus dem Hause erschien, wurde erst der Eintritt für Addrich gestattet, Fabian jedoch zurückgewiesen.

In einem langen, niedrigen Saale, in dessen Mitte ein hölzerner Pfeiler die Decke unterstützte, sah Addrich mehrere bekannte und fremde Gesichter um einen wohlgekleideten Herrn versammelt, der in gebrochenem Deutsch zu ihnen sprach. Addrichs Ankunft unterbrach das Gespräch einige Augenblicke, denn Klaus Leuenberg, Adam Zeltner, der Untervogt, der greise Ulli Galli, auch Christen Schybi von Escholzmatt und sein Gefährte Stürmli aus dem Entlebuch traten dem Kommenden mit Gruß und Handschlag entgegen und deuteten mit einer wichtigen Miene an, daß man eben mit dem Geheimschreiber des französischen Botschafters, Herrn de la Barde, Marquis de Marolles, in Verhandlung begriffen sei.

Sobald die Ruhe hergestellt war, nahm der Franzose, der sich indessen die breite, mit den feinsten Spitzen umsäumte Halskrause über die Achseln gezogen hatte, den Faden der Rede wieder auf und sagte: »Meine Herren, ich habe Eure Entschließung vernommen. Sie scheint mir sehr redlich, aber mit Eurer Erlaubnis, nicht politisch zu sein. Ihr begreift leicht, daß bei allem Wohlwollen des Herrn Gesandten für Euch er in seiner amtlichen Note der Tagsatzung der dreizehn Orte ein Dementi geben konnte. Ihr werdet nicht zweifeln, ich kenne den Inhalt des Schreibens, welches ich überbringe. Der Herr Marquis rät darin, wie ersichtlich ist, von aller Gewaltthätigkeit und Widersetzlichkeit ab und ermahnt, wie es seine Stellung erheischt, zu einem billigen Vergleich mit Euren Herren und Oberen. Wollet Ihr nun den Brief vor den tausend Leuten bekannt machen, die ich hier im Städtchen zusammenlaufen sehe, so wird die Vorlesung den übelsten Eindruck machen. Man wird am guten Willen des Herrn de la Barde zweifeln und Ihr macht Euch, wie ihm, den Weg zur Dazwischenkunft und Vermittlung Seiner Majestät des Königs, meines Herrn, unmöglich.«

Leuenberg erwiderte nach einer höflichen, doch leichten Verbeugung: »Die großmütigen Absichten und Gesinnungen des Herrn Gesandten, wie Ihr sie uns eröffnet, sind der höchsten Ehren wert. Jedoch sind wir für diesen Augenblick nur die Sprecher des Volkes, nicht dessen Häupter. Wir dürfen und sollen vor demselben keinerlei Geheimnis haben, können ohne dessen Willen nichts verrichten, noch ohne dessen Vollmacht etwas verfügen.«

»Dessenungeachtet, meine Herren,« fiel ihm der Gesandtschaftsschreiber in die Rede, »seid Ihr hier zu Lande wunderliche Leute. Seid Ihr die Sprecher, so seid Ihr die Häupter, denn in aller Welt ist der Mund immer am Kopfe. Kurz meine Herren, denkt über die Sache nach. Es ist Eure Angelegenheit und nicht die des Gesandten.«

Hier nahm Schybi das Wort und sagte: »Es ist auch nicht unsere, sondern des Volkes Sache, darum muß die Gemeinde entscheiden. Im Übrigen aber scheint der Herr Gesandte doch, wenn ich Euch ganz verstanden habe, einzugestehen, daß das Recht auf unserer Seite sei?«

»Und gesetzt nun, es wäre?« entgegnete der Gesandtschaftsschreiber etwas verdrießlich. »Das ist alles schon besprochen. Ihr wiederholt beständig das alte Lied und die Beratung nimmt kein Ende. Wenn das Recht immerdar siegte, wären keine Armeen, keine Flotten, keine Festungen auf Erden nötig.«

»Ihr wollt sagen,« fiel Leuenberg ein, »das Recht muß Speer und Schild führen und an seiner Seite die Stärke sehen. Wohlan, zweifelt nicht, der Arm unseres Volkes ist gewaltig genug, sein Recht zu behaupten.«

»Nur immer langsam!« rief der Unterhändler. »Wenn Recht und Stärke alles wären, würde kein Stier mehr zur Schlachtbank geführt werden. Der Stier hat auch ein heiliges Recht zum Leben und größere Stärke als der Mensch. Klugheit aber wirft ihm das Seil um die Hörner. Versteht Ihr mich?«

Der Untervogt von Buchsiten erhob nun seine Stimme und sagte: »Ihr Herren, der Fall ist einfach und klar. Wir müssen uns den Rücken sichern, es lauf ab, wie es wolle. An der Gerechtigkeit unserer Beschwerden zweifelt der Herr Gesandte nicht; aber, als königlichem Botschafter bei der Eidgenossenschaft, steht es ihm nicht zu, dieses offiziell zu erklären. Dürfen wir auf seine und seines Königs mächtige Verwendung für uns rechnen, ich frage Euch, warum sollen wir sie mutwillig oder stolz zurückstoßen? Warum nicht morgen vor dem versammelten Volke darauf antragen, daß man Ausschüsse nach Solothurn zum Herrn de la Barde schicke, seine Dazwischenkunft zu erbitten? Meinst Du nicht, Mooser?«

Bisher hatte Addrich den französischen Gesandtschaftsschreiber mit unverwandten Blicken beobachtet, welcher in seiner glänzenden, zierlichen Hofkleidung gegen die Schweizerbauern ebenso sehr als von ihrem ehrbarsteifen Wesen durch seine Beweglichkeit abstach. Bald schnellte er mit den Fingern ein Stäubchen vom knappen, schwarzseidenen Wamms, auf dessen glänzendem Grunde man große Blumen, Ranken und verschiedene Gestalten eingewebt sah; bald fuhr er mit der Hand spielend über die dichte Reihe der kleinen, goldenen Knöpfe seines Gewandes; bald drehte er an den Brillantringen der Finger, bald am silbernen Degengriff von durchbrochener und getriebener Arbeit; bald schlug er die über die Finger gefallenen köstlichen Spitzen seiner Handkrausen über den Unterteil des Ärmels zurück. Ebenso beweglich war sein lauernder Fuchsblick und das Geberdenspiel seines falben, zusammengeschrumpften Gesichtes, über welches so viele Leidenschaften in einer Reihe von Jahren ihren Weg genommen zu haben schienen, daß man in den zurückgelassenen Fußtapfen derselben keine einzige mehr mit Bestimmtheit unterschied.

»Fragst Du mich?« sagte Addrich zu Adam Zeltner gewandt. »Dir ist schon um den Kopf bange, daß Du ihn in Sicherheit bringen und unter den Mantel des Gesandten verstecken willst. Wer im häuslichen Streite einen Fremden zum Vermittler anruft, macht den Fremden zum Herrn im Hause und verkündet seine Furcht und Schwäche. Die alten Eidgenossen, wenn es der Freiheit galt, hatten bei Morgarten und Sempach keine Vermittler, als ihren Gott und ihr Schwert. Thor, meinest Du, daß wenn Völker mit ihren Obrigkeiten rechten, die Könige ihres Handwerks vergessen und den eigenen Unterthanen und Sklaven mit den Laternen voranleuchten werden, wo sie die Freiheit suchen sollen? Oder glaubst Du, der König und sein Botschafter hätten nicht schon den Herren zu Bern und Luzern, Solothurn und Basel ebenso höflich, als uns, die Hand zur Vermittlung angeboten? Fürwahr, niemand verkauft schlechte Waare teurer, als ein Fürst. Der König von Frankreich will zwischen Herren und Bauern vermitteln, um über beide die Hand zu legen. Den Herren legt er goldene Ketten und Ordensbänder um den Hals, uns ein hanfenes Seil; dann hat er vermittelt und singt ein Te Deum über das verratene und betrogene Schweizerland!«

Der Geheimschreiber des französischen Botschafters horchte kopfnickend und Beifall lächelnd der Rede des heisern Alten und sagte: »Wahrlich, meine Herren, dieser alte, gute Mann hat nicht übel gesprochen und meint es redlich. Nur in einem Teile dessen, was er vorausschickte, ging er irre. Die wahre Politik der Herren Schweizer . . .«

»Mit Erlaubnis,« unterbrach ihn Addrich höflich, »die Politik der Schweizer besteht allein im schlichten Mute, Recht zu thun und dann niemanden zu scheuen. Wir haben zu grobe Fäuste für die feinen Spinnengewebe der politischen Arglist. Hier ist unser Vaterland, da wollen wir uns frei betten, so gut wirs vermögen, und niemand hat dazwischen zu reden, er trage eine Kappe oder eine Krone. Wer anders thut und fremde Macht zur Hilfe ruft, begehet Hochverrat.«

»Richtig! Bei Gott! Was sage ich anderes?« antwortete der Geheimschreiber. »Nur beliebt eines Umstandes nicht zu vergessen. Frankreich ist der erste Bundesgenosse der hochlöblichen Eidgenossenschaft, und diese hat, im Falle der Not, das Recht, den Beistand des Königs, meines Herrn, anzurufen. Gesetzt, der Beistand würde gefordert; der König ließe seine Truppen in die Schweiz einrücken; Ihr aber hättet versäumt, Euch mit dem Marquis de Marolles in Einverständnis zu setzen, um von dieser Seite Eure Rechte zu sichern; gesetzt . . .«

»Alles gesetzt,« rief Addrich, »so ist Hochverrat gesetzt, und dessen sind die Städte noch heute so fähig, wie vor zweihundert Jahren, als Zürich die Österreicher und Franzosen ins Land rief.«

Der Franzose lächelte und nickte ihm wieder Beifall zu, zog dann aber bedenklich die Augenbrauen weit in die Höhe, und sagte: »Man muß jede Möglichkeit in Rechnung bringen. Wie nun aber, wenn . . . zum Exempel . . . wenn Frankreich sechzigtausend Mann an Eure Grenzen schickt . . . was wird dann das Ende sein?«

Addrich sagte mit seinem hämischen Grinsen: »Frage der Herr doch in St. Jakob nach! Oder vielleicht wird er selbst am besten wissen, wo seine Landsleute dort begraben liegen!«

Der Abgeordnete des Herrn de la Barde machte mit komischem Anstande eine Verbeugung nach allen Seiten, erhob sich dann plötzlich, warf sich stolz in die Brust und sagte mit warnender Hoheit: »Ihr Herren, ich gebe Euch Bedenkzeit bis morgen. Bleibt Ihr bei Eurer Ansicht, so wird das Schreiben des königlichen Gesandten vor dem ganzen Volke verlesen. Ich aber wasche meine Hände in Unschuld!«

Dann schritt er durch die Versammlung und verließ, nach kurzem, gemessenem Umhergrüßen, den Saal. Adam Zeltner und einige andere sprangen ihm nach, um ihm mit Höflichkeit das Geleit bis zum Wirtshause zu geben.

Der ganze Morgen verstrich unter lärmenden und fruchtlosen Beratungen über die Anträge der französischen Gesandtschaft. Nachmittags wurden Gesandte der Stadt und Republik Bern angemeldet und vor dem Ausschuß des Landvolks angehört, doch erlangten sie ebenso wenig einen Erfolg von ihrer Beredtsamkeit als der Bote des Marquis de Marolles. Diejenigen der wortführenden Landleute, welche, aus Klugheit oder Furcht vielleicht, am aufrichtigsten und von Herzen eine Versöhnung mit den Regierungen wollten, schwiegen, um nicht vor dem Volke als feige Männer oder selbstsüchtige Verräter der großen Sache zu erscheinen. Das eine, wie das andere hätte ihnen lebensgefährlich werden können. Die Übrigen sprachen desto lauter gegen alle Vorschläge der Aussöhnung. Die abgeordneten Patrizier des Bernischen Senats hingegen konnten sich um so weniger überwinden, auch nur im Äußerlichen das mindeste von der Rolle geborner gnädiger Herren und Obern fahren zu lassen, als man ihnen gerade das Recht dazu streitig machen wollte. Ihr vornehmes Sichherablassen beleidigte nun aber das stolze Selbstgefühl der Landleute weit empfindlicher als die sonst übliche väterliche Sprache der Herren, und die Drohworte eines Senats, der innerhalb seiner Stadtmauern nur zur eigenen Verteidigung rüstete, mußte wenig Eindruck auf Leute machen, die sich vom Arme und dem Mute vieler Tausende ihres Gleichen geschützt sahen. So geschah es sehr natürlich, daß die Unterhandlung, welche den Bruch zwischen Obrigkeit und Unterthanen ausgleichen sollte, ihn nur erweiterte.

Niklaus Leuenberg führte das Wort mit größerer Gewandtheit und Würde als die bernischen Abgeordneten von einem Manne seines Standes erwartet hatten. Mit höflichem Achselzucken und im Tone des Bedauerns erklärte ihnen Leuenberg zuletzt, einen Antrag, wie diesen, müßten die Herren des Rats und der wohlehrwürdigen Geistlichkeit den versammelten Ausschüssen des ganzen Volkes selbst machen. Der Aufstand sei nicht Sache und Werk einiger Personen, sondern eines großen Teils der Nation. Weder er, als Obmann, noch einer der im Saale Anwesenden, hätten das Recht, im Namen der Tauende Begnadigung zu verlangen oder anzunehmen, noch die Macht, das Volk zu einer Sinnesänderung zu zwingen. Man müsse das öffentlich, im freien Felde verhandeln.

Bei dieser Erwiderung konnte sich einer der bernischen Ratsherren des aufwallenden Zornes nicht erwehren, drückte das Barett tiefer über die Stirn und sagte: »Nun denn, in Gottes Namen! So muß die Sache im freien Felde abgethan werden . . . aber nicht, wie Ihr meint, mit dem Worte, sondern mit dem Schwerte. Warum habt Ihr uns frecherweise hierher gelockt, wenn Ihr keine Vollmacht hattet, namens Eurer rebellischen Spießgesellen mit uns zu verhandeln? Warum stellet Ihr Euch vor unser Angesicht, wenn Ihr ohne Auftrag seid? Was haben wir mit einem aus allen Winkeln zusammengelaufenen Volke zu schaffen, darunter auch die Angehörigen Solothurns, Basels und Luzerns sind, denen wir nichts anzubieten und die nichts von uns zu begehren haben? Stadt und Republik Bern will und kann großmütig nur ihren eigenen meuterischen Untertanen, nicht jenen fremden, Gnade für Recht widerfahren lassen. Ja, Gnade für Recht! Euer Aufruhr besudelt den Schweizernamen mit ewiger Schmach. Und wenden wir Euch den Rücken, so wendet ihn die Barmherzigkeit selbst auf immer!«

Die Landleute und selbst Leuenberg waren nach dieser donnernden Anrede still und etwas verlegen. Nur Addrich lächelte bitter und sagte: »Wohlgethan! Wendet den Rücken! Wir verlangen diese Barmherzigkeit nicht, die uns zur Verzweiflung getrieben hat. Wir begehren – versteht es wohl und berichtet es Euren Herren! – wir begehren keine Gnade. Ihr aber wollet lieber gnädige Herren sein, als gerechte Herren, weil Ihr bei der Gerechtigkeit den Kürzern zöget, aber bei der Gnade willkürlich verfahren könnet. Gott sei dem Volke gnädig, das ein paar hundert gnädige Herren füttern muß!«

»Schamloser Gesell, wer bist denn Du?« schnob ihn der Ratsherr mit zornrotem Gesicht an.

Addrich erwiderte ganz kalt: »Ein Schweizer, wenn auch nicht von der Berner Falschmünzerei, dennoch vom alten Schrot und Korn.«

»Packe Dich, eisgrauer Lügner!« schrie der Ratsherr. »Du Strolch hast nie ein Vaterland gehabt!«

»Wer trägt die Schuld,« entgegnete Addrich, »wenn außer in den Urkantonen und Hauptstädten die übrigen Schweizer alle ohne Vaterland sind? Ihr gnädigen Herren, Ihr habt sie heimtückisch darum betrogen, und ihnen in Eurer Gnade nichts als Obdach, Äcker und Gerät gelassen, um für Euch frohnen zu können. Soviel mußtet Ihr natürlich auch dem Viehe im Stalle lassen, von dem Ihr Milch verlanget. Die Schweizer fordern ihr Vaterland wieder, das Ihr in Euren Stadtbann zusammengeschnürt habt. Ihr ließet uns nur ein Geburtsland, das auch der Sklave hat, der unter der Geißel des Aufsehers ohne Recht, ohne Willen seinem gnädigen Herrn mit Zittern das Feld baut. Wir verlangen Vaterland und Recht, nicht Eure Barmherzigkeit und Eure Gnade!«

»Wills Gott,« rief der Ratsherr, »sehe ich Dich noch auf den Knieen nach dieser Gnade wimmern!«

Addrich drehte ihm stolz den Rücken und sagte über die Achseln zurückblickend mit lauter Stimme: »Es wünscht wohl mancher Herrgott zu werden, ehe er in's Irrenhaus kommt.«

Nicht minder durch diese blutige Beleidigung als durch das halbverbissene Lachen der anwesenden Bauern empört, brach die Gesandtschaft schleunig auf und entfernte sich, ohne ein Wort zu erwidern, und ohne Gruß. Leuenberg sprang den Davoneilenden bis zur Thür nach, um sie zu besänftigen. »Lasset Euch,« sagte er, »durch das lose Maul dieses Alten nicht vom heilsamen Friedenswerk abwendig machen. Er ist ein Igel und sticht, wo man ihn anrührt.«

»Wir haben mit Euch nicht länger zu verkehren,« wurde ihm zur Antwort. »Setzen wir den Fuß in den Steigbügel, kommt Eure Unterwerfungen spät.«

Kaum hatten die Berner Gesandten Hutwyl verlassen, so wurde dem Ausschusse des Landvolks im Rathause die Ankunft eines Boten der eidgenössischen Tagsatzung verkündet, welche zu Baden im Aargau wegen der obwaltenden Unruhen versammelt saß. Es war der Untervogt von Baden. Er trat mit sichtbarer Ängstlichkeit und kleinstädtischer Höflichkeit in den Saal. wo Leuenberg ihn mit noch etwas stolzerer Haltung als zuvor die Herren von Bern empfing. Der Untervogt überreichte unter tiefer Verbeugung das Patent der eidgenössischen Tagherren.

»Morgen mag das Schreiben am versammelten Landtage verlesen werden,« sprach Leuenberg, »und Ihr werdet alsdann Antwort empfangen. Unterdessen, Herr Untervogt, soll Euch geziemende Nachtherberge und Verpflegung angewiesen werden. Ich hoffe, Ihr sollet nicht zu klagen haben.«

Mit diesem kurzen Bescheide wurde der Untervogt entlassen; welcher, unter Rebellen, wohl kaum eines so milden Empfangs gewärtig gewesen sein mochte.


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