Heinrich Zschokke
Addrich im Moos
Heinrich Zschokke

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34.
Stummes Schauspiel.

Fabian blickte ihr nach, wie festgebannt auf der heiligen Stätte, wo er für alle vergangenen Schmerzen seines Lebens den süßesten Ersatz gefunden hatte. Er wollte hier die Rückkehr der schönen Schwester erwarten. Seine Augen schwelgten in dem Genusse, sie auch nur aus der Ferne zu sehen, wie sie neben der Bäuerin plaudernd auf der Höhe stand, wo sich der Umriß ihrer edeln Gestalt und die Anmut ihrer Bewegungen gegen den blauen Hintergrund des Himmels so herrlich abzeichnete.

Das Gespräch schien lebhaft geführt zu werden; die Bäuerin besonders drückte in ihren Geberden große Erregung aus. Bald zeigte sie wiederholt auf einen jungen Föhrenhorst, am Abhange des Berges gegen den Hollwyler See hin, von wo sie selbst gekommen war; bald legte sie die flachen Hände beteuernd auf ihre Brust; bald streckte sie, wie etwas Vertrauliches flüsternd, den Kopf näher zum Ohr der Jungfrau. Diese hingegen schien unentschlossen, richtete zuweilen das Gesicht nach den Gesträuchen, in denen Fabian verborgen stand, und senkte das Köpfchen einigemal auf die Brust nieder, als sänne sie über wichtige Dinge nach. Dann that die Bäuerin einige Schritte gegen das Föhrenwäldchen hin, kehrte wieder zu Epiphanien zurück; ging abermals und kam abermals mit auffordernder Bewegung der Hände. Endlich sah die Jungfrau aus dem Moose schnell zurück nach den Gebüschen, in denen sie Fabian verlassen hatte, wandte sich um und nahm, begleitet von der Bäuerin, mit schnellen Schritten die Richtung zu der blaugrünen Gruppe der Föhren.

Der Jüngling schwankte eine Zeit lang, als er sie hinter dem vorstehenden Hügel verschwunden sah, unentschlossen, ob er folgen solle? Das Geschäft des Lauschers schien ihm nicht ehrenvoll; auch fürchtete er, seine junge Freundin durch den Schein vorwitziger Neugierde oder des Mißtrauens zu kränken. Freilich erschien das geheimnisvolle Treiben Epiphanias etwas unfreundlich gegen ihn selbst und Mangel eines unbedingten, schwesterlichen Zutrauens zu sein, welches er ansprechen zu können glaubte. Und doch . . . welches Geheimnis konnte hier zuletzt walten?

Indessen konnte das arglose Mädchen leicht in den Hinterhalt irgend eines Frevlers, der ihr nachstellte, gelockt werden. Was wäre da nicht alles möglich gewesen. Er dachte an den wilden Fremden Renold, er dachte an den zweideutigen Niederländer Don Nardo. Bei diesem Gedanken drängte sich das Blut aus allen Adern nach seinem Herzen. Es brauste um seine Ohren, wie Sturm in den Tannen. Mit pochender Brust verließ er den Platz, entschlossen, Epiphania mit den Augen aus der Ferne zu bewachen, ohne von ihr entdeckt zu werden. Er umging durch Busch und Wald die nackte Bergfläche, damit er sich der Gegend des Föhrenhorstes nähere, und nahm von einem aufgeklafterten Holzhaufen einen Scheit zur willkommenen Waffe in der Not.

Seine Bangigkeit stieg mit jedem Schritte des weiten Umweges, den er zu machen hatte, und als er bald undurchdringlich verwachsenem Gestrüpp ausweichen mußte, bald im stachligen Netze der Ranken der über den Waldboden gesponnenen Brombeeren und Himbeeren seine Füße hangen blieben; noch mehr aber, als er auf dem öden Rücken der Bampf die bekannte Bäuerin allein stehen und Epiphania nicht mehr bei derselben sah.

Endlich erreichte er die andere Seite des Berges, doch zugleich blieb sein Fuß, wie in die Erde gewurzelt, stehen und sein Blut starrte in den Adern.

Zwischen den gelbrötlichen Säulen hundertjähriger Kienföhren, durch welche die Abendsonne grelle Lichter warf, stand Epiphania mit vor sich hingefalteten Händen in demutsvoller Stellung, und vor ihr ein Mann in edler Haltung, welcher die Hand feierlich gen Himmel erhob. Obgleich Fabian noch einige hundert Schritte entfernt war, verriet ihm dennoch das schwarze Barett, dessen Goldschnüre im Sonnenstrahl schimmerten, der lange, schwarze Leibrock, und die ganze Gestalt in ihrer ruhigen Bewegung, daß dieser Mann kein anderer, als der Fremdling sei, der ihm schon in der Berghütte über Stüßlingen gerechten Argwohn eingeflößt hatte. Umsonst hielt der erschrockene Jüngling den Atem an, die Worte des Herrn von Groenkerkenbosch oder Epiphanias zu erlauschen. Er stand zu fern; es war aber auch unmöglich, ohne entdeckt zu werden, näher zu schleichen, weil zwischen dem Dickicht, das ihn verbarg, und dem Hain der Föhren, offenes Wiesenland lag.

Er suchte sein Gehör in die Augen zu legen und glaubte zu erhorchen, daß Epiphania weine. Dann sah er mit unbeschreiblichem Erstaunen, wie sie plötzlich vor dem Menschen auf die Kniee fiel; wie sie dann jammernd ihre Hände zu ihm aufstreckte, dann mit ihren Armen seine Kniee umfaßte, und ihre Stirn an dieselben lehnte. Er aber breitete erst seine Arme, mit vorgebogenem Leibe, gegen die Knieende nieder, schlug dann mit den Fingern der rechten Hand, nach priesterlicher Weise, ein dreifaches Kreuz in der Luft über die Knieende und beugte sich, sie emporzuheben. Lange währte der Kampf zwischen ihr und ihm, denn sie schien ihre ehrerbietige Stellung nicht verlassen zu wollen.

Endlich sah sie Fabian den anhaltenden Bitten gehorchen. Sie richtete sich auf und faltete, indem sie ihm wieder gegenüber stand, wie in unaussprechlich tiefer und heftiger Bewegung des Gemütes, die Hände auf ihrer Brust mit Inbrunst zusammen, und hob sie dann, wie betend, zum Himmel. Don Nardo aber trat jetzt mit offenen Armen gegen die Jungfrau hin, umfaßte sie und drückte sie küssend an seine Brust. Epiphania ließ es ruhig geschehen. Keine Bewegung verriet ihren Widerstand. Ein heller Sonnenstrahl fiel blendend zwischen den Baumstämmen hindurch, deren blaßgrüne Zweige sich hoch wölbten, auf das wunderbare Paar.

Dem guten Fabian hing bald alles Dieses dämmernd und dunkel vor den Augen. »Sie ist verloren!« rief es wie eine Ahnung in ihm. »Der Pfaff hat sich ihrer schwärmerischen Träumereien und Neigungen zu bemeistern gewußt; Epiphania hat ihren Glauben abgeschworen, sie ist zum Papsttum übergetreten, sie ist verloren; die verschmitzte Scheinheiligkeit des lüsternen Priesters hat gesiegt. Das verhehlte sie mir!«

Er umklammerte mit der Hand krampfhaft die Keule und war im Begriff, aus seinem Hinterhalt hervorzustürzen, doch er taumelte, wie ein Trunkener, und mußte sich an einer jungen Buche aufrecht halten. Er blieb stehen. Seine Besonnenheit kehrte schnell zurück und er faßte den Entschluß, sich selbst zu überwinden und das Ende des herzzerreißenden Schauspiels zu erwarten, in welchem ein gutmütiges, schwärmerisches Kind das Opfer der blindesten Leichtgläubigkeit und der gleisnerischsten Priesterlist wurde.

Er blickte hin. Die Umarmung dauerte fort, doch so, daß, während Epiphania an der Brust des Fremden lag, dieser von Zeit zu Zeit die rechte Hand mäßig und mit vorgestrecktem Zeigefinger, wie ein Lehrender, erhob. Dann und wann nur richtete die Jungfrau das Angesicht wie fragend zu ihm hin, und dann wurde Fabian wieder vom Krampf befallen, wenn er Augenzeuge davon sein mußte, wie sich die Lippen des Lehrenden wieder zum Kusse auf des Mädchens Stirn senkten. Eine lange halbe Stunde hatte diese Unterhaltung gedauert. Dem heimlichen Beobachter schien die Sonne am Himmel still zu stehen, denn nach seinem Dafürhalten hätte sie in dieser Frist nicht nur hinter den Alpen unter-, sondern auch im Osten wieder aufgehen können.

Epiphania schien zuerst an die notwendige Trennung zu denken. Sie trat einen kleinen Schritt von ihrem geistlichen Lehrer zurück, in dessen beide vorgestreckten Hände sie jedoch die ihrigen legte. Jetzt schien, der Bewegung ihres Köpfchens nach, die Reihe des Redens an sie gekommen zu sein. Einigemal wandte sie das Gesicht hinter sich, als suche sie die Bäuerin, welche auf der Höhe wahrscheinlich Wache hielt. Dann wurde das Gespräch wieder fortgesetzt, und in der Lebendigkeit desselben sah Fabian sogar, daß Epiphania mit allzu zärtlicher Ehrerbietung die Hand des Niederländers an ihren Mund drückte, während dieser seinerseits die andere auf ihr Haupt legte, wie zur Erteilung des geistlichen Segens. Fabian murmelte im Übermaß seiner Ungeduld unchristliche Verwünschungen zwischen den Zähnen, bis er Epiphania's Stimme deutlich durch den Wald tönen hörte. Sie rief der Bäuerin zu, und trennte sich dann alsbald von ihrem bisherigen Gesellschafter bis auf eine ziemliche Entfernung.

Als der Lauscher das zurückgebliebne Weib nun wirklich vom Berge herschreiten sah, machte er sich auf, um Addrich's Hütte im Moos vor Epiphania, doch unbemerkt von ihr, zu erreichen. Daher mußte er den gemachten Umweg durch die Gebüsche wiederholen. Er hatte bei sich fest beschlossen, Epiphania nicht ahnen zu lassen, daß er Zeuge dieser heimlichen Zusammenkunft gewesen sei. Beobachten, allmählich ausforschen wollte er sie, und nicht ruhen, bis er das traurige Geheimnis enthüllt, oder gesehen hätte, wie weit es ein Mädchen, mit Geberden voll Unschuld, in der Verstellungskunst treiben könne.

35.
Die Fragen.

Fliegenden Fußes eilte er durch Dorn und Dickicht. Einigemal hielt er im Laufe an, legte die Hand an seine Stirn, und schien unentschlossen nachzudenken, was er in diesen Augenblicken zu wählen habe, um es nicht bereuen zu müssen. Dann wandelte er langsamer vorwärts, bis der wiederkehrende Schmerz ihn von neuem zum Laufen anspornte.

In diesem Augenblick, wo er bleich und atemlos, die braunen Locken verwildert um das Haupt hängend, aus dem Gebüsche auf den Fußweg trat, der zum kleinen Moosthale Addrichs führte, flog von der andern Seite Epiphania mit nicht geringerer Eile daher; die Wangen glühend, die Augen Entzücken strahlend; der Busen stürmisch sich hebend und senkend. Beide, durch das unerwartete Zusammentreten überrascht, blieben stumm auf ihren Stellen stehen. Ihm entging nicht die Seligkeit, in der Epiphanias Antlitz strahlte, ihr nicht seine totenartig blasse Farbe und seine Verwilderung. Beide erschraken vor einander.

»Du noch hier, Fabi?« sagte sie endlich. »Ich glaubte Dich längst bei Addrich. Fabi, wie bist Du so schrecklich verstört? Was ist Dir geschehen? Rede doch!«

»Ein großes Unglück,« seufzte Fabian.

»Ein Unglück?« wiederholte Epiphania zitternd, und trat mit langsamen Schritten zu ihm hin, und legte ihre Hand auf seinen Arm, während ihre Augen seine weggewandten Blicke suchten. Er aber, ohne zu ihr aufzuschauen, drängte sie sanft von sich zurück und sagte: »Ich habe meinen ganzen Himmel verloren, denn Du bist nun, ohne Wiederkehr, aus ihm verschwunden.«

»Rede, Fabi, rede!« sagte sie voll gutherzigen Mitleids und trat wieder zu ihm hin. »Dein Himmel verloren und ich daraus entschwunden? Sprich, was ist Dir geschehen? Dränge mich nicht zurück; bin ich nicht Deine Schwester? Vertraue mir!«

»O, Dir vertrauen, Dir!« rief er voll innigen Schmerzes. »Du hast alle meine Zuversicht gebrochen; nicht Vertrauen mit Vertrauen vergolten. Wozu noch Erklärungen unter uns? Komme hinab ins Thal zu Addrich. Gott hat's gefügt, daß ich heute die Hinfälligkeit alles Irdischen, die Eitelkeit aller Hoffnungen erfahren sollte. Ich bin jetzt unendlich ärmer als bei meinem Eintritt ins Leben; ich habe Dich verloren. Morgen verlasse ich die Schweiz und gehe in die weite Welt hinaus, soweit mich der Boden trägt. Komm' hinab ins Thal!«

Epiphania wurde blaß und erstarrte fast. Stumm ergriff sie seine Hand, die er aber zurückzog. Sie betrachtete ihn mit forschendem, bangem Blicke und stammele: »Fabi, weißt Du, was Dein Mund spricht? Fabi, erkennen mich Deine Augen? Fabi, willst Du mein Herz brechen?«

»Was weiß ich's? Das meine ist gebrochen. Du solltest mein Todesengel werden; Du bist es geworden. Ach, hätte die leidende Seele schon den letzten Faden gesprengt, mit dem sie noch ans Leben gebunden ist! . . . Komm', komm', mir ist nicht wohl!«

»Fabi!« rief sie mit unbeschreiblicher Angst, denn sie sah ihn bleicher werden und mit den Armen um sich fassen, als wolle er sich an etwas aufrecht halten, dann sich beugen und auf den Boden niedersetzen, wie jemand, dem die Kräfte entwichen sind. Sie kniete zitternd neben ihn und hielt mit den Händen sein Haupt, das an ihre Brust sank. Sie wagte kaum, Atem zu schöpfen, bis er, nach langem Schweigen, endlich tief aufseufzte und sagte: »Es ist alles gut; gehe hinab; ich komme nach. Ich schäme mich meiner Schwäche. Gehe, Dir zürne ich nicht . . .«

»Blicke doch auf, Fabi, blicke auf zu mir!« sagte sie, neben ihm knieend, indem die Thränen des Kummers über ihre Wangen rollten, und sie ihm die langen, braunen Haarlocken von der Stirn zurückstrich. »Ich bin Epiphania; sieh Deine Schwester an!«

»Wie? Bildest Du Dir ein, der Wahnsinn habe meine treuen Sinne bestochen und verwirrt?« rief er aus, und rückte von ihr weg. »Ich erkenne Dich wohl. Fürchte nichts. Meine Sinne und mein Gedächtnis sind jung geblieben, indessen mich eine einzige Stunde zum Greise gemacht hat, getäuscht und lebensmüde, als trüge ich hundert Jahre.«

»Du bist sehr krank, sehr, o teurer Fabi! Du thust und redest nicht so, wie gewöhnlich.«

»Kein Wunder, da ich das Unglaubliche sah!« rief er, indem er sich vom Boden aufraffte. »Täusche Dich und mich nicht! Die Wassertropfen auf Deiner Wange werden die Stellen nicht rein waschen, die des Pfaffen Kuß entweihte, als Du Dich von ihm geduldig herzen ließest.«

»Gott im Himmel!« schrie Epiphania, und sprang mit Entsetzen auf. »Du sahst uns? Fabi, ich mag es nicht glauben, Du wärest uns nachgeschlichen? Mich hättest Du heimlich belauscht?« . . . Sie ging bei diesen Worten rasch von ihm, dann kehrte sie sich wieder zu ihm und sagte mit stolzem Unwillen: »Das war deiner unwürdig. Ich hatte Dich gebeten, mich und den Berg zu verlassen. Du hast mein Zutrauen betrogen, und Deine sträfliche Neugierde zu sättigen war Dir lieber, als meine Bitte zu erfüllen . . .«

»Du irrest! Nicht Neugierde zog mich, sondern die Besorgnis, Deine leichtgläubige Gutmütigkeit könne Dich in Gefahr bringen. Ich wußte freilich nicht, daß Du eben diese Gefahr suchen wolltest.«

»Gefahr? Nirgends, Fabi! Du hast also . . . o Fabi, sage mir ehrlich, wie Dein Gewissen es dem Allwissenden sagt: hast Du alles gehört? Kennst Du ihn?«

»Und wenn auch schon mein Gehör aus der Ferne nicht zu Euch reichte, las ich doch Eure Gespräche, Wort für Wort, in Euren Geberden. Alles, alles! Ja, ich kenne ihn, diesen Abenteurer, diesen Schleicher, den tückischen Papisten. Er ist glatt und still und kalt und heimtückisch, wie die Eisrinde des gefrornen Sees, die den Knaben im Winter anlockt, um dann unter seinen Sohlen zu brechen und ihn zu verschlingen.«

»Fabi, bei Deinem und meinem Herzen, lästere diesen Heiligen nicht, oder ich entferne mich, denn ich darf und will die Zunge, mit der Du mich Schwester nennst, nicht ruchlos an dem freveln hören, was mir teurer als das eigene Leben gilt.«

»Unglückliche, Dir teurer! Er, der uns für die Ewigkeit scheidet!«

»Fabi!« . . . rief sie, und wollte fortfahren. Er aber unterbrach sie, und fragte mit zitternder Stimme: »Sage mir, in Gegenwart des lebendigen Gottes, sage mir . . . Epiphania, in Deiner Antwort liegt die ganze Wendung meines Schicksals . . . Epiphania, warum tritt dieser zwischen Dich und mich? Was ist sein Zweck? Er will Dich dem heiligen, evangelischen Glauben Deiner Väter abtrünnig machen; er will Dich zum Übertritt ins Papsttum bewegen. Epiphania, will er? Und wenn es der Jesuit will, warum das? Epiphania, weiche mir nicht aus, antworte: Will er Dich zur römischen Kirche hinüberziehen? Will er?«

Epiphania erblaßte, senkte die Augen, und ohne diese zu erheben streckte sie die Hände in flehentlicher Stellung gegen Fabian aus. Da verstummte auch der Jüngling, und sein Antlitz wurde bleicher als das Antlitz eines Toten. Er that schwankend einige Schritte umher. Dann bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen, lehnte das Haupt an den Stamm eines vom Sturm gebrochenen Ahorns und weinte laut und bitterlich. Sie hörte sein Schluchzen, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Die Hände gefaltet und mit Innigkeit an die Brust gedrückt, stand sie da, ein rührendes Bild des unendlichen Schmerzes, der sie beklemmte. Obgleich die Thränen ihre Augenlider röteten und über die blassen Wangen niederperlten, verzog sich doch keine Miene ihres schönen Gesichtes, gab sie doch keinen Klagelaut von sich, als wäre sie in ein weinendes Marmorbild verwandelt. Kaum hörbar zitterten ihre Seufzer über ihre Lippen,

Durch die Wohlthat der geweinten Thränen erleichtert, ermannte sich der Jüngling endlich. Er trocknete seine Augen. Sein Entschluß war gefaßt. Er wandte sich fest und mit der Ruhe verzweiflungsvollen Verzichtens zu Epiphania, die in ihrem Innern erstarrt blieb.

»Lebe wohl, Schwesterherz, mein Leben!« rief er. »Es ist um mich geschehen, möge Gott mir weiter helfen! Ich will diese Nacht ein anderes Obdach suchen; ich kann Dich nicht zum Moose begleiten, Lebe wohl! Weine nicht . . . Ich liebe Dich noch. Ich bin allzu betrübt; ich kann Dir nichts mehr sagen. Lebe wohl! Gott erbarme sich Deiner Seele!«

Sie antwortete nicht und starrte ihn mit unbeschreiblicher Wehmut, ohne eine Bewegung zu machen, durch ihre Thränen an. Er wandte sich mit tiefem Seufzer von ihr und ging mit schweren, langsamen Schritten auf dem Fußwege im Gebüsch vor sich hin bis zur Bergfläche. Dort blieb er wieder stehen und machte seinem unbesiegbaren Gram abermals in Thränen Luft. Dann schwankte er weiter, kehrte aber wieder um, Epiphania noch einmal zu sehen und zu befragen. Und als er zurück kam, stand sie noch mit auf der Brust gefalteten Händen und mit dem erblaßten Gesichte da, wie vorhin.

»Ich komme zurück, um eine Antwort aus Deinem Munde zu hören, warum weigerst Du sie mir?« sagte er mit Fassung. »Warum willst Du schweigen, da ich Dich vielleicht von einem Abgrunde zurückführen könnte, an dessen Rand Dich, unerfahrnes Kind, arglose Güte und blinder Glaube an das Menschenherz geleitet haben?«

Epiphania senkte ihren Blick vom Himmel auf ihn nieder; während sie jedoch den Jüngling mit klagendem Blicke betrachtete, blieb ihr Mund versiegelt.

»So hat er Dich schon gänzlich von mir fortgerissen?« rief Fabian. »Warum frage ich denn noch? Über das, was meine Augen sahen, kann ja kein Wort und kein Eid von Dir eine Decke werfen. Ich habe Dich in den Armen der Hölle erblickt.«

»Fabi!« sagte Epiphania mit einer Stimme, die sein Innerstes durchschnitt, mit einer Stimme, in welcher ihn Schmerz und Zärtlichkeit, Vorwürfe und flehentliches Bitten anriefen.

»Nur ein Wort, Faneli, nur ein einziges!« rief er. »Du hast ja zu seinen Füßen, Du hast ja in seinen Armen gelegen. Du bist . . . o Mädchen, o Fani, soll ich mir denn das Gräuelvollste mit eigenem Munde vorsagen? Sprich doch, Du liebst ihn?«

Sie ließ die Hände auseinander fallen und sagte mit dem Ausdruck der reinsten Gutherzigkeit: »Aber mit einer heiligen Liebe!«

»Habe ich denn jemals zweifeln können, daß aus Deinem Herzen anderes als heiliges hervorgehe? Im römischen Babel, ja im Höllenreich selbst wirst Du ein Engel bleiben. Aber, Epiphania, die scheinheilige Schlauheit des . . . des . . . o, er sei, wer er wolle, er hat Dich in Deinen frommen Einbildungen gefangen und gebunden. Du bist betrogen . . . ich kenne ihn.«

»Du kennst ihn also, Fabi!« sagte sie langsam, gespannt und forschend. Dann schwieg sie, als wollte sie mehr von ihm hören.

Fabian erzählte nun, wie er mit dem Niederländer und dessen Begleiter im Hohlwege bei Erlisbach zusammengetroffen sei; wie derselbe in der Berghütte mit Geld und Versprechung erst in den Spielmann, dann in ihn selbst gedrungen sei, Epiphania zu entführen. Alle Gespräche, die er mit ihm gepflogen, widerholte er aus seinem treuen Gedächtnis, und dann fügte er die Frage hinzu: »Glaubst Du nun, daß ich ihn kenne?«

Während der ziemlich langen Erzählung war auf Epiphanias Wangen die natürliche Farbe allmählig zurückgekehrt. Sie hörte mit seltsamer Neugierde alle Berichte, und that noch viele Zwischenfragen, um auch das Kleinste und Bedeutungsloseste zu vernehmen.

»Glaubst Du nun, daß ich ihn kenne?« frug er noch einmal.

Sie schüttelte das Köpfchen mit trübem Lächeln und erwiderte: »Nein, lieber Fabi, Du kennst ihn also wahrlich nicht.«

»Doch ist's derselbe, der droben bei Dir war?«

»Ja, liebe Seele, der ist's gewesen.«

»Und dem Spielmann und mir machte er Anträge Deinetwegen.«

»Ich weiß es. Ja er hat's gethan. Zürne ihm darum nicht.«

»So sage mir, Epiphania, wer er ist?«

»Mein Heiliger.«

»O, ich verstehe Dich. Aus welchem Kloster kommt er? Ist er ein Prälat? Wer hat ihn gesandt oder Dir zugeführt?«

»Gott!«

»Armes, entsetzlich verblendetes Kind! Nicht Gott, nicht Gott! Er scheidet Dich von Gott und Deiner Seele Seligkeit und von mir Unglücklichem. Laß ab von ihm. Fliehe, fliehe!«

»Das darf, das kann, das will ich nicht!« sagte sie mit einer Festigkeit, die den Jüngling erschütterte.

»Darfst, kannst, willst nicht?« wiederholte er mit erlöschender Stimme. »Also . . . zu spät! Ist dies Dein letztes Wort, Epiphania?«

»Wodurch habe ich Dein Vertrauen eingebüßt, Fabi?«

»Durch Dein Geheimnishaben vor dem Bruder, Fania.«

»Ich habe Verschwiegenheit gelobt und werde Treue halten. Fabi, vertraue mir. Einst, wenn Leonore genesen oder im Grabe ist, wirst Du alles erfahren. Vertraue mir bis dahin!«

»Nein, Unglückliche, ist's jetzt zu spät, Dich zu retten, wie dann? Epiphania, laß ihn fahren, den gefährlichen Verführer, um Deiner Seligkeit willen, lasse von ihm!«

»Ich kann nicht.«

Fabian verstummte, that einen schweren Seufzer, und wie an Kraft erschöpft, sagte er endlich: »Es will Abend werden. Gute Nacht, ewige gute Nacht! Grüße Addrich und Leonoren; ich kann sie nicht mehr sehen. Gott sei Deiner Seele gnädig! Gehabe Dich wohl!«

Als er bei diesen Worten von ihr gehen wollte, stieß sie einen lauten Schrei aus, schlang ihre Arme um seinen Hals und rief in Verzweiflung: »Fabi, verlaß mich nicht!«

»Hast Du mich nicht schon verlassen?« fragte er traurig. »Hast Du mich nicht verstoßen?«

»Ich Dich verstoßen? Kann ich denn meine einzige Seele aus mir verstoßen? Verlaß mich nicht, Fabi; meine Seele zieht Dir nach und es bleibt nur meine Leiche zurück, wenn Du gehest. Verlaß mich nicht; ich will ja alles thun, was Du willst und gebietest; aber bleibe bei mir, daß ich nicht sterbe!«

Sie rief diese Worte mit so durchdringender, schmerzlicher Stimme, sie hielt ihn so fest umklammert, daß er keinen Versuch wagen konnte, sich loszuwinden.

»Und wenn ich fordere, daß Du . . .« sagte er mit neuer Hoffnung. Doch sie unterbrach ihn und rief. »Alles, alles, Fabi, nur das eine nicht, bis Leonore genesen oder im Grabe ist. Dann, dann . . .«

»O meine Schwester, dann ists zu spät.«

»Nicht doch, grausamer Fabi, nicht doch! Vertraue mir mit Zuversicht. Hat Dich mein Herz denn je belügen können? Nur das Eine begehre nicht; alles sonst . . . aber verlasse mich nicht!«

Fabian schwieg nachdenkend. Er wurde bei Epiphanias Hartnäckigkeit und dem unwidersprechlichen Ausdruck ihrer Liebe zu ihm an sich selbst irre. Dann versuchte er einen andern Weg, diesen Widerspruch auf eine entscheidende Weise zu lösen.

»Faneli,« sagte er und legte seinen Arm um sie, »ich will zwei Fragen an Dich thun. Deine Antwort kann mir die ganze Ruhe wiedergeben, nach der ich mich sehne.«

»Fabi, frage alles, nur nicht um das, was ihn angeht.«

»Kannst Du mir versprechen, Epiphania, nie, unter keinen Verhältnissen, welche es auch sein mögen, Deinen evangelisch-christlichen Glauben zu verläugnen, niemals Dich zum Übertritt in die Gemeinschaft der Papisten bewegen zu lassen?«

Epiphania fragte stockend dagegen: »In die Gemeinschaft? Wie meinst Du das?«

»Daß Du niemals römisch-katholischer Religion werden willst . . . daß Du es auch jetzt noch nicht bist?«

Sie schien über die Frage nachzusinnen. Fabian fühlte einen Schauder in seinen Gliedern, als sie einige Augenblicke zu antworten anstand. Endlich sagte sie: »Könnte es Dich also ganz und über alles beruhigen, wenn ich Dir antworten würde: ich bin noch nicht katholisch und will evangelisch bleiben, wie Du, und so lange wie Du selbst?«

»Ja, es gäbe mir meine Zufriedenheit zurück.«

»Nun denn, verscheuche Deine Sorge. Ich bin ja nicht katholisch und will keinen andern Glauben annehmen, als Deinen Glauben. Könnte ich denn anders, Fabi? . . . Ist das nun alles?«

Fabian drückte sie fest an sein Herz und sagte stammelnd: »Ich hätte noch die zweite Frage. Aber . . . ich frage nicht. Ich sah ja . . .« Hier fielen seine Arme, mit denen er sie umschloß, wie gelähmt von ihr ab. Er zog den Kopf von ihr zurück, als wollte er sich von ihrer Umschlingung frei wissen.

»Nun, was sahst Du, Fabi?« fragte sie etwas ängstlich und wollte die Antwort aus seinen Augen lesen.

Er seufzte, und hinwegblickend sagte er: »Ich sah seine Lippen auf Deinen Wangen.«

»Schon wieder von ihm? Du brichst Dein Wort. Berühre ihn nicht, Fabi, vertrau! Bin ich nicht Deine Schwester?«

»Meine Schwester, ja, aber seine . . . laß mich, Epiphania!«

»Thue Deine zweite Frage, aber berühre ihn nicht.«

»Nun denn, Epiphania, soll ich die Frage thun?«

»Warum quälst Du Dich und mich, Fabi? Rede!«

»Du hast mich noch lieb, Fani?«

»Ist das die Frage?«

»Nein, aber . . . o Fani, rede frei vor Gott und mir: kannst Du geloben, keines anderen Geliebte, keines andern Braut jemals zu werden . . . Fani, keines andern Weib je zu werden . . . Fani, Gott hört uns! . . . als das meinige?«

Mit aller Anstrengung brachte Fabian doch die letzten Worte nur sehr leise hervor.

Es trat eine lange Ruhe ein. Ihr errötendes Antlitz sank auf die Brust nieder, deren Bewegung den inneren Kampf oder eine Furcht verriet, die sie verhehlen wollte. Er bemerkte diese nicht unerwartete Verlegenheit und trat einige Schritte von ihr zurück. Sie hielt ihn diesmal nicht fest. Je länger sie sprachlos blieb, desto mehr stieg seine Angst. Einigemal bat er mit laut schlagendem Herzen um Antwort. Endlich legte er beide Hände vor sein Gesicht und sagte in der tiefsten Betrübnis seiner Seele: »Nein, antworte nicht!«

Jetzt wandte sie furchtsam und verschämt das Angesicht zu ihm hin und sagte: »Warum bist Du heute mit mir, wie Du es nie gewesen? Du hast Renolds Rede, Renolds Ungestüm und, der Himmel verzeihe mir oder Dir, Renolds verdammliches Wesen. Bin ich nicht Deine Schwester?«

Er nickte schweigend mit dem Haupte.

»Bist Du nicht mein alles? Oder könnte ich Dir mehr werden?«

»Nein, Du darfst nicht. Ich kam zu spät,« versetzte er, ließ die Hände vom Gesichte und sagte mit einer erzwungenen Ruhe des Tones, indem er ihre Hand nahm: »Ade! Es muß geschieden sein. Lebe wohl, Schwesterherz! Es war nicht Deine Schuld, ich kam zu spät.«

»Fabi!« schrie das geängstigte Mädchen. »Es peinigt und verwirrt Dich ein böser Geist. Verlasse mich nicht; um Gotteswillen nicht!«

»Antworte auf meine Frage deutlich: keines andern Verlobte, Braut, Weib?« rief er und seine Hand zitterte dabei in der ihrigen.

»Deine Braut? Fabi, besinne Dich doch! Du sprichst wie ein Trunkener mit der Schwester.«

»Antworte! Gieb mir das Recht des Bräutigams, Fani!«

Sie blickte wieder zu ihm auf und senkte schamvoll die Augen nieder, als sie den seinigen begegnete. Dann sagte sie mit kaum verständlicher Stimme: »Es ist etwas Sündiges an Dir.« Nach einigem Bedenken hob sie von neuem an: »Gedulde Dich, o einige Tage nur, dann . . . Ja, dann bringe ich Dir die Antwort.«

»Also Du hast keine Freiheit mehr? Bist Du schon eines andern Verlobte, eines andern Braut?«

»Nein,« erwiderte sie schnell. »Nun sei ruhig!«

»Und willst Du, wenn nicht meine Braut, mein Weib, nie das Weib eines andern werden?«

Nach einigem Sinnen sagte sie mit erneutem Erröten, aber fester Stimme: »Das darf ich Dir und Gott geloben. Nein, ich will nie eines andern sein, so lange Du es selbst mir nicht gebietest.«

Überrascht und als hätte er Argwohn gegen sein Gehör, verlangte er die Wiederholung der Worte. Sie gehorchte und sagte darauf wieder mit aller schwesterlichen Traulichkeit: »Nicht wahr, Fabi, nun bist Du ruhig? Nun weichst Du nicht von mir?«

Er drückte sie mit seinem Arm fest an seine Brust, und seine Lippen brennend an die ihrigen. So standen sie lange. Die Sonne sank herab, die Gletscher traten erblassend in den blauen Duft zurück, und die Thäler zerflossen in ungewissen Dämmerungen.

»Hinab ins Moos!« rief Fabian.

»Ach,« seufzte Epiphania, »Geduld! Ich muß mich sammeln. Fabi, Du bist nicht mehr, der Du gewesen bist. Gewiß nicht; es wohnt ein anderes Wesen in Dir. Oder habe ich Dich noch nie gekannt, als heute? Oder habe ich Dich nicht immer über alles geliebt, daß ich Dich nun noch unaussprechlicher liebe? Oder ist meine Freundschaft sündig geworden, daß sie mir fremd und neu erscheint? Sonst ist's nicht so gewesen. Was wird er sagen?«

»Wer, Fani?«

»Hinab ins Moos!« rief sie, ergriff seine Hand und führte ihn durch die Gebüsche ins Thal hinab, zur Hütte.

36.
Unerwartete Hoffnung.

Todesstille herrschte in Addrichs Hause. Das einfache Abendessen stand bereit. Brot, Milch und Käse, nebst einer irdenen Schüssel gekochten, trocknen Obstes. Für Fabian setzte das geschäftige Änneli freundlich eine Flasche Wein dazu. Knechte und Mägde standen versammelt umher; Addrich jedoch erschien nicht, auch als Epiphania ihm die Ankunft Fabians gemeldet hatte. Er verweilte im Krankenzimmer seiner Tochter Leonore, und verlangte mit ihr und seinem Grame allein zu bleiben.

Nach dem Tischgebete, welches abwechselnd von den Mägden und Knechten halblaut und eintönig hergemurmelt wurde, nahm man auf den Bänken platz. Niemand versuchte, das Mahl mit Gespräch und Scherz zu würzen, und wenn einer der Speisenden das Schweigen unterbrach, so geschah es mit kurzen Worten und gedämpfter Stimme. Das war die Ordnung dieses traurigen Hauses.

Nach beendetem Mahle, als der Tisch von Ännelis gewandter Hand abgeräumt und das Zimmer von allen verlassen war, blieben Epiphania und Fabian, beim gelben Schein der Lampe, auf ihren Plätzen am Tische im leisen Geplauder mit einander zurück. So fand sie Addrich, als er hereintrat und sie, über den Tisch die Hände einander vertraulich haltend, sein Kommen nicht bemerkten, bis er neben ihnen stand und den jungen Freund begrüßte. Fabian, ohne die Schwesterhand fahren zu lassen, reichte ihm von seinem Sitze die Linke entgegen, und sagte: »So möchte ich Euch beide mein Lebenlang an mir halten!«

»Wir sind Schatten,« erwiderte der Alte, »die Du nicht fesseln kannst. Schatten ist was war, was ist und sein wird! Doch Du hast recht. Ergötze Dich am Gaukelspiel Deiner Wünsche. Vor Zeiten war ich ebenfalls ein Kind, wie Du.« Er sagte dieses mit einer innern, tiefen Bewegung, mit bebender Stimme, wie es jedesmal zu sein pflegte, wenn er vom Siechenbette der heißgeliebten Tochter kam. Seine Augen waren geröteter als sonst. Als hätte der Schmerz seiner Seele alle Kraft seiner riesigen Gestalt verzehrt, so hing er matt und schlaff über den Tisch indem er den vorgebogenen Leib mit aufgestemmten Händen und Armen unterstützte.

Fabian versuchte auch jetzt und wie immer vergebens, ihn durch Vorstellungen und Gründe, die ihm Vernunft, Religion, oder der Stolz des Mannes darboten, zu ermutigen und zu erheben. Addrich antwortete seiner Gewohnheit nach entweder mit einem Lächeln, welches seine ganze Verachtung gegen solche Arznei aussprach, von der kein wahrhaft krankes Gemüt gesunden könne; oder mit Bemerkungen über Schicksal und Leben, die noch schrecklicher waren, als sein Lächeln. Endlich brach er die Unterredung ab und sagte zu Epiphania: »Gehe hinauf, Kind, zum armen Loreli. Es hat heute wieder einen seiner mildern Leidenstage, und hängt an nichts mehr auf Erden, als an seinem Vater und an Dir. So gehe denn. Entziehe Deiner Schwester keinen Augenblick, wo Deine Gegenwart, Dein freundliches Geplauder ihr die kurze Zeit ihres Daseins noch versüßen kann. Gehe. Es ist noch nicht spät und ich habe mit Fabian zu reden. Vielleicht mache ich noch einen weiten Gang an diesem Abend. Gehe!«

Sie gehorchte und stand auf; Fabian mit ihr. »Vielleicht, Fabi, sehe ich Dich heute nicht wieder,« sagte sie. »Gute Nacht, Fabi!« Sie reichten sich die Hände und schieden.

Addrich setzte sich jetzt zu Fabian auf die Bank, den Rücken an den Tisch gelehnt, und begann, als wolle er sich gewaltsam zerstreuen, allerlei Fragen, die anfangs ohne Zusammenhang schienen. Fabian mußte ihm über mancherlei berichten; auch über die Unterredung mit dem Dekan von Aarau. Als er von der Feuersbrunst am Thuner See, der dabei bewiesenen Thätigkeit des Schweden und von Fabians gänzlicher Dürftigkeit hörte, rief er, einen schweren Fluch über Gideon Renold murmelnd: »Hätte ich diese Bestie gegen die Wälle von Bern und Solothurn nicht nötig, wollte ich sie den nächsten Tag am Galgen zappeln lassen. Er ist schon so verrufen, wie ein Churer Batzen. Man muß jedoch hier zu Lande manchen zu Gast bitten, der längst vom Henkersmahl hätte satt sein sollen. Habe Geduld und wahre Dich einstweilen, da er Dir nachstellt, bis wir ihm das Bohnenlied singen.«

Fabian bewies durch seine Gleichgültigkeit gegen Addrichs Warnung, wie wenig er den Schweden fürchtete, und setzte seine Erzählung von dem fort, was er im Pfrundhause zu Aarau durch den Dekan vernommen. Addrich hörte ihm mit wachsender Teilnahme zu, besonders, als die Rede auf den lateinischen Brief und auf die Vermutung des ehrwürdigen Geistlichen von Aarau kam, ob nicht der Prälat von St. Urban vielleicht mit dem Briefsteller, der so geheim thue, ein und dieselbe Person sein möge?

»Blitz!« rief Addrich und sprang auf. »Es wird helle! Hast Du mir nicht von einem Mohren erzählt, den er bei Olten bei sich gehabt? Es ist dies Negergesicht vor einigen Wochen schon in dem alten Cisterzienstift bemerkt worden; nein, nicht da, doch nur wenige Büchsenschüsse davon, im Wirtshause vor Roggwyl. Die Pfaffen hassen wohl die Ketzer, aber nicht die Ketzerinnen, und heiraten nicht, so lange die Bauern Weiber haben. Ich will dem Abte nächstens über den Zaun schauen!«

Fabian drängte es, von dem Schauspiel zu reden, welches er vor wenigen Stunden noch auf der Bampf gehabt, doch Ehrfurcht und Liebe für Epiphania geboten ihm zu schweigen. Indessen unterließ er nicht, den Alten zu warnen, daß er auf der Hut sein möge, denn man müsse vor der Mönche List und Gewalt ebenso sehr, als vor Epiphanias gutmütiger Leichtgläubigkeit zittern.

Addrich beruhigte den Jüngling. »Dies Haus ist wohl bewacht,« fügte er hinzu, »meine Knechte sind auserwählte Burschen, alle bewaffnet, wie zu einer Belagerung. Wer hier Gewalt versucht, wird kalt gemacht, und Faneli verläßt mein armes Kind nicht so lange es atmet. Aber, Fabian, hätte ich das alles nicht erfahren, was ich nun weiß, ich müßte dennoch mit Dir ein Wort im Ernste reden, und der Bitte meines armen Loreli Genüge thun. Sie will Epiphania geborgen und glücklich sehen; sie zittert vor dem Lose derselben, wenn der Schwede . . . sie hat mirs gesagt, ich selbst wußte, daß meine Nichte nur für Dich lebe. Fabian, ohne Umstände, lege Deine Kinderschuhe ab; es ist Zeit, Faneli ist Deine Schwester nicht, Du bist nicht ihr Bruder. Es ist die letzte Freude, die Du meiner armen Tochter ins sterbende Herz träufeln kannst, wenn Du die unschuldige, kindliche, treue Fani nicht verlässest; wenn Du sie, ehe Leonorens Augen brechen, zu Deinem Weibe machst. Frage nicht, nun Du um Habe und Gut gekommen bist, wovon eine Frau zu ernähren! – Was ich besitze, teile ich mit Dir, Epiphania erbt ja alles von mir, da ich keine Tochter hinterlassen werde.«

Er sagte diese letzten Worte mit leiser Stimme, die zuletzt ganz tonlos zum Seufzer wurde. Der Jüngling, anfangs durch den Antrag überrascht, flammte plötzlich in allen Strahlen der Freude auf, und rief: »Addrich, das ist's, was ich selbst Dir sagen wollte. Heute oder morgen wollte ich ihre Hand von Dir fordern.«

»Du kennst die kleine Thörin. Sie wird sich sträuben . . .« fuhr Addrich ruhig fort.

»Nein, glaube es nicht,« rief Fabian. »Sie hat gelobt, keines andern Weib zu werden, wenn nicht das meinige.«

»Desto besser!« sagte der Alte. »Diese Tage freilich haben das Ansehen, mehr Witwen als Bräute zu machen, doch Leonoren muß die letzte Freude werden. Also bleibts dabei! Aber Fabian, unter uns beiden muß zuvörderst noch etwas abgethan sein. Reiche mir die Hand, und versprich zu erfüllen, was ich von Dir verlange.«

»Rede erst, Addrich! Ich gebe meine Hand nicht, ohne zu sehen, wohin?«

»Wie, Bursche, Du möchtest gewinnen, aber nichts auf die Karte setzen? Wie hoch gilt Dir meine Nichte?«

»Mehr als das Leben, Addrich!«

»So hoch ist der Preis nicht, den ich für sie fordere. Hand her! Schlag ein!«

»Nein, thue den Sack vorher auf und laß mich hineinschauen, ehe ich die Ware kaufe!«

»Nun denn! Du versprichst mir, Epiphania nicht zu zwingen oder zu beschwatzen, mein Haus zu verlassen, so lange Leonore am Leben ist.«

»Hier, Addrich, die Hand! Ein Mann ein Mann, ein Wort ein Wort!« Fabian legte die seinige in Addrichs Hand.

»Gut!« sagte Addrich. »Ich halte sie fest für ein zweites Wort!«

»Sie hilft Dir nicht, ehe ich das zweite Wort gegeben; laß hören!« Fabian zog die Hand zurück.

»Du mußt mir in den gegenwärtigen Zeiten treu zur Seite bleiben, Fabian; ich bedarf Deiner vielleicht. Du hast Wissenschaft und kannst die Feder besser führen als mancher Pfarrer und Landschreiber; auch bist Du Arzt und Wundarzt. Es wird nächstens manchem der Magen verdorben werden, wenn sich Herren und Bauern gegenseitig mit blauen Bohnen beschenken. Du weichst nicht von mir, bis die Sache des Volkes entschieden ist.«

»Nein, Addrich, ich helfe der Obrigkeit nicht, das Volk zu unterdrücken, aber ich helfe Deinen wilden Bauern ebenso wenig, gegen die Obrigkeit anbellen.«

»Bursche, vergiß nicht, Du bist ehrlicher Bauern Kind, und hier heißts: Wer nicht für uns ist, der ist wider uns. Bursche, vergiß nicht, es steht eine Braut und stattliche Aussteuer auf dem Spiele. Der Tanz mit den Städten wird bald abgethan sein, und vor Pfingsten noch, hoffe ich, machen wir ihnen den Kehraus. Jakob diente vierzehn Jahre um Rahel; ich verlange von Dir keine vierzehn Wochen.«

»Nicht der Lohn macht den Unterschied, sondern die Arbeit.«

»Was begehre ich, Bursche? Es gilt die gerechteste Sache. Man soll den armen Leuten in diesen Bergen nur gnädigst erlauben, Menschen sein zu dürfen; mehr nicht.«

»Die Menschwerdung macht bei Euch einen unmenschlichen Anfang. Nein, Addrich, nein, dazu biete ich nicht die Fingerspitze.«

»Und wenn es Faneli von Dir fordert?«

»Nein, Addrich!«

»Bursche, und Du wolltest vorhin das Leben für das arme Mädchen daran setzen?«

»Ja, mein Leben wohl, aber nicht mein Gewissen . . .«

»Tropf, ich merke woran ich mit Dir bin. Du kommst vom Pfarrer und Dorfschulmeister, hast aber die Hochschule des Schicksals noch nicht besucht. Du sprichst Bernerdeutsch, ich Schweizerdeutsch, wir verstehen einander nicht.«

Addrich ging mit hastigen Schritten einigemal schweigend das Zimmer auf und ab, und kehrte endlich langsam zu Fabian mit den Worten zurück: »Du thust mir leid, Fabian. Es hilft Dir alles nichts. Freund oder Feind, hart oder linde mußt Du sein. Was nicht zu den Scheerenklingen gehört, wird zwischen beiden zerschnitten. Ich schlage Dir etwas anderes vor, Deines eigenen Heils wegen. Ich gebe Dir meine Nichte; Du aber begleitest mich morgen nach Hutwyl zur Landsgemeinde aller Bundesgenossen. Da sollst Du hören, was das gesamte Volk begehrt, und ob es Recht oder Unrecht will. Nachher entscheide Dich! . . . Von da begleitest Du mich, und weichst bis zum Austrag des Handels nicht von meiner Seite.«

Fabian blieb eine Weile nachdenkend und sagte: »Warum das?«

»Wie Du willst, Deiner oder meiner Sicherheit wegen.«

»Der Deinigen wegen, Addrich, möchte ichs wohl.«

»Auch als Arzt kannst Du gute Dienste leisten, und ohne Dein Katechismusgewissen in Gefahr zu stürzen, denn Du kannst mit Deinen Pflastern Juden und Samaritern beispringen.«

»Auch das kann ich.«

»Mehr verlange ich nicht, als Dein Wund- und Scheermesser. Der Degen und Spieße haben wir genug, auch ohne Dich. Deine Feder allenfalls nimm mit Dir; es giebt zu schreiben.«

»Nein, Addrich, für diesen tollen Aufruhr verspritze ich weder Blut noch Tinte. Schwert und Feder haben ungleiches Gewicht; wisse jedoch: ein Schwertstreich kann wohl Fleisch und Knochen spalten, ein Federstrich aber scheidet Länder und Völker. Ich gehe, Addrich, als Dein Schutzengel, wohin Du willst, allein die Feder bleibt daheim.«

»Mag's gelten. Hand her! Du weichst nicht von mir. Das andere wird sich finden.«

»Hier die Hand, Addrich! Das andere aber suche nicht, denn Du wirsts nie finden.«

Fabian gab ihm die Hand, welche der Alte kräftig, doch nicht ohne ein Lächeln schüttelte, in welchem etwas Schalkheit verborgen lag. Addrich führte ihn darauf mit der Lampe in eine anstoßende Kammer und sagte: »Du wirst ermüdet sein, Fabian. Hier steht Dein Bette; morgen sprechen wir weiter. Gute Nacht!«

Damit entfernte sich der Alte rasch. Fabian trat zum Fenster. Es war noch nicht spät am Abend. Die Thalschlucht lag im bleichen Mondlicht. Wie das Rauschen eines nahen Stromes scholl das Getöse der Tannen im Winde. Da wankte eine menschliche Gestalt unter Fabians Fenster vorüber. Es war Addrich, der in seinen Mantel gewickelt, mit Hut und Degen noch eine geheimnisvolle Nachtreise antrat. Er verschwand bald im Schatten des nahen Waldes.


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