Emile Zola
Das Paradies der Damen
Emile Zola

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Vierzehntes Kapitel

Nagelneu dehnte sich in der klaren Februarsonne die Rue du Dix-Décembre mit ihren kreideweißen Häusern und den letzten Gerüsten einiger verspäteter Neubauten. Eine Flut von Wagen fuhr wie im Triumph durch diese breite, lichte Bresche, die in das alte Stadtviertel von Saint-Roch geschlagen war. Zwischen Rue de la Michodière und Rue de Choiseul ballte sich die Menge, deren Neugier seit einem Monat durch die ständige Reklame aufgestachelt worden war; man drängte sich vor der monumentalen Fassade des »Paradieses der Damen«, die an diesem Montag anläßlich der großen Weißwarenausstellung eingeweiht wurde.

Sie bot ein großzügiges, farbenprächtiges Bild, das wie eine riesige, leuchtende Auslage die Blicke der Vorübergehenden anzog. Das Erdgeschoß war mit Absicht einfacher gehalten, damit es die Wirkung der Waren in den Schaufenstern nicht beeinträchtigte: ein Sockel aus grünem Mamor, Eck- und Stützpfeiler mit schwarzem Marmor verkleidet, im übrigen nichts als eine endlose Reihe von Glasscheiben, die dem Beschauer gleichsam das ganze Haus im offenen Tageslicht darboten. Erst die oberen Stockwerke waren mit einer Vielfalt von Mosaiken und den vergoldeten Stadtwappen Frankreichs geschmückt, bis hinauf zum Giebel, an dem eine Reihe von Statuen die großen Industriestädte des Landes darstellte. Über dem Haupteingang aber, der sich wölbte wie ein Triumphbogen, erhob sich als besonderer Anziehungspunkt für die Menge der Neugierigen eine weibliche Gestalt, die Frau schlechthin, umschwärmt von einer ganzen Schar sie einkleidender und liebkosender Amoretten.

Der Palast war fertig, der Tempel für die verschwenderischen Launen der Mode errichtet. Er überschattete und beherrschte gleichsam ein ganzes Stadtviertel. Die Wunde, die der Abbruch des Hauses von Bourras ihm geschlagen hatte, war bereits so gut vernarbt, daß man vergebens die Stelle gesucht hätte, wo das Geschwür gesessen hatte. Die vier Fronten zogen sich jetzt ohne jede Unterbrechung in ihrer ganzen prächtigen Abgeschlossenheit längs der vier Straßen hin.

Gegenüber, am »Vieil Elbeuf«, waren die Läden geschlossen, seit Baudu in ein Altersheim gegangen war; das Haus barg sich wie eine Gruft hinter seiner leblosen Front. Lediglich in der Mitte dieser toten Wand breitete sich wie eine Siegesfahne ein großes, gelbes Plakat aus, das in halbmeterhohen Buchstaben den Sonderverkauf im »Paradies der Damen« anzeigte. Im Vordergrund der Abbildung sah man die Rue du Dix-Décembre, die Rue de la Michodière und die Rue Monsigny, angefüllt mit kleinen, schwarzen Gestalten und unwirklich ins Breite verzerrt, wie um der Kundschaft der ganzen Welt Platz zu bieten. Der Bau selbst war in übertriebener Größe dargestellt, er schien, aus der Vogelperspektive gesehen, im gleißenden Sonnenlicht dazuliegen. Jenseits davon breitete sich Paris aus, ein verkleinertes, von dem Ungeheuer schon halb verschlungenes Paris: die Häuser in der Nähe waren klein wie Hütten, weiter in der Ferne verwandelten sie sich in ein kaum unterscheidbares Gewirr von Umrissen, immer winziger werdend, bis sie sich in der endlos am Horizont sich dehnenden Ebene verloren.

Seit dem Morgen hatte die Menge stetig zugenommen. Um zwei Uhr mußte schließlich eine Abteilung von Polizisten einschreiten, um den Verkehr aufrechtzuerhalten. Kein Warenhaus hatte je durch einen solchen Aufwand an Reklame die Stadt in Aufregung versetzt. Das »Paradies der Damen« gab jetzt jährlich nahezu sechshunderttausend Franken für Anzeigen und Plakate aus; vierhunderttausend Kataloge wurden jedes Jahr versandt; für hunderttausend Franken Stoffe wurden als Muster zerschnitten.

Was die Neugierde noch mehr aufstachelte, war eine Katastrophe, von der im Augenblick ganz Paris sprach: der Brand der »Vier Jahreszeiten«, jenes großen Warenhauses, das Bouthemont in der Nähe der Oper vor kaum drei Wochen eröffnet hatte. Die Zeitungen brachten eine Fülle von Einzelheiten: wie das Feuer durch eine nächtliche Gasexplosion entstanden war, wie die entsetzten Verkäuferinnen im Hemd geflüchtet waren, wie Bouthemont fünf von ihnen heldenmütig auf seinen Armen aus dem Brand getragen hatte. Der enorme Schaden war übrigens durch eine Versicherung gedeckt; das Publikum zuckte die Achseln und sagte, das sei eine vorzügliche Reklame. Und sofort wandte das Interesse sich wieder dem »Paradies der Damen« zu. Diesem Mouret gelang doch alles! Es war, als stünden ihm sogar die Flammen zu Diensten und bemühten sich, ihm die Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Man erging sich in Berechnungen, wieviel er in diesem Monat verdienen würde, man schätzte den um so breiteren Menschenstrom ab, der sich nun durch seine Türen wälzen mußte, da der Gegenspieler notgedrungen hatte schließen müssen.

Einen Augenblick war Mouret beunruhigt gewesen durch den Gedanken, daß Frau Desforges, der er gewissermaßen sein Vermögen verdankte, jetzt gegen ihn war. Auch die finanzielle Spielerei Baron Hartmanns, der sein Kapital in zwei Konkurrenzunternehmen anlegte, verdroß ihn. Hauptsächlich aber ärgerte ihn, daß er nicht selber auf eine geniale Idee Bouthemonts gekommen war: hatte dieser Bursche doch den Einfall gehabt, sein Haus vom Pfarrer der Madeleine-Kirche einweihen zu lassen! Es war eine ganz merkwürdige Feier gewesen, das Allerheiligste mitten unter Korsetts und Damenkleidern. Die Zeremonie hatte freilich nicht verhindert, daß das Warenhaus abbrannte, aber sie war als Reklame mehr wert als Anzeigen für eine Million Franken. Mouret träumte seither davon, zu sich den Erzbischof kommen zu lassen.

Auf der riesigen Uhr über dem hohen Portal schlug es drei. An die hunderttausend Käuferinnen drängten sich um diese Zeit in den Gängen und Hallen. Draußen stand Wagen an Wagen, vom einen Ende der Rue du Dix-Décembre bis zum andern. Jede entstehende Lücke in der Reihe füllte sich sogleich wieder. Vor dem Getümmel der Wagen und Pferde flüchteten die erschreckten Fußgänger auf die Verkehrsinseln, die Bürgersteige waren schwarz von Leuten, es war ein unvorstellbarer Tumult.

Vor einem Schaufenster stand neben Frau Guibal Frau von Boves mit ihrer Tochter Blanche, beide in Bewunderung versunken.

»Schau, Mama, diese Leinenkostüme zu neunzehn Franken fünfundsiebzig!«

»Sie sind auch nicht mehr wert«, sagte Frau Guibal geringschätzig. »Diese Fähnchen gehen schon beim Ansehen entzwei.«

Seitdem Herr von Boves, von der Gicht geplagt, an einen Sessel gefesselt war, waren die Damen intime Freundinnen geworden. Die Gattin ließ sich die Geliebte gefallen; es war ihr sogar angenehmer, wenn die Sache in ihrem Haus stattfand, denn sie bekam dabei etwas Taschengeld in die Hand, kleine Summen, die ihr Mann opferte, da er auf ihre Nachsicht angewiesen war.

»Kommen Sie mit hinein«, sagte Frau Guibal, »sehen wir uns die Ausstellung an ... Wollte sich Ihr Schwiegersohn nicht hier mit Ihnen treffen?«

»Ja«, antwortete Blanche anstelle der Mutter. »Paul holt uns, wenn er aus dem Büro kommt, um vier Uhr im Lesesaal ab.«

Sie waren seit einem Monat verheiratet. Vallagnosc hatte einen dreiwöchigen Urlaub erhalten, den sie im Süden verbracht hatten; seit einer Woche war er wieder auf seinem Posten. Die junge Frau hatte bereits die Fülle ihrer Mutter, sie schien durch die Ehe noch mehr in die Breite zu gehen.

»Da ist ja Frau Desforges!« rief die Gräfin und zeigte auf einen eben haltenden Wagen.

»Unglaublich!« sagte Frau Guibal. »Nach allem, was geschehen ist ... Sie muß doch noch über den Brand der ›Vier Jahreszeitein‹ trauern!«

Es war wirklich Henriette. Sie bemerkte die Damen, näherte sich ihnen mit heiterer Miene und verbarg ihren Unmut unter der geheuchelten Liebenswürdigkeit der Dame von Welt.

»Mein Gott, ich habe mir die Sache auch ansehen wollen. Das ist doch besser, als es sich erzählen zu lassen«, erklärte sie.

»Oh, ich stehe nach wie vor auf gutem Fuß mit Herrn Mouret, obgleich man sagt, daß er wütend sei, seitdem ich an der Konkurrenz interessiert bin. Ich kann ihm nur eines nicht verzeihen, und das ist diese Heirat. Sie wissen doch, die Heirat des Laufburschen Joseph mit meinem Schützling, Fräulein von Fontenailles.«

»Wie, ist es passiert?« fragte Frau von Boves. »Abscheulich!«

»Ja, meine Liebe, und das hat er nur getan, um uns einen Hieb zu versetzen. Ich kenne ihn, er hat damit sagen wollen, daß unsere wohlerzogenen Töchter zu nichts anderem taugen, als seine Laufburschen zu heiraten.«

Sie ereiferten sich immer mehr. Alle vier standen auf dem Bürgersteig, wo sie von der Menge hin und her gedrängt wurden. Allmählich gerieten sie in den allgemeinen Sog; sie brauchten sich ihm nur zu überlassen und wurden unbewußt durch die Tür hineingetragen. Die Unterhaltung wurde lauter, da sie sich in dem zunehmenden Lärm nur mehr schwer verständlich machen konnten.

Vor ihnen breiteten sich nun die Geschäftsräume aus, die größten der Welt, wie es in der Reklame hieß. Ihre Blicke waren wie gebannt von dem Schauspiel: rings um sie her gleichsam eine schneeige Landschaft, unendliche Gletscher von schimmerndem Weiß, eine gleißende Vielfalt von Stoffen und Fertigwaren -- immer wieder in makellosestem Weiß. Die Tische verschwanden unter der blendenden Fülle, Seiden und zarte Musseline schmiegten sich weich an die Säulen, eine Flut der kunstvollsten Spitzen ergoß sich in breiten Wellen vom Gewölbe herab. So weit das Auge blickte, nichts als Weiß und doch niemals das gleiche Weiß.

»Wunderbar!« wiederholten die Damen ein ums andere Mal. Es war Mourets Glanzleistung, das genialste Werk seiner Ausstellungskunst.

Das rege Treiben in den Geschäftsräumen ließ nicht nach. Die Aufzüge wurden belagert; im Erfrischungsraum und im Lesesaal war es zum Brechen voll, ein ganzes Volk schien sich hier ein Stelldichein gegeben zu haben. Die Menge bildete lauter dunkle Punkte im schneeigen Weiß der Dekorationen; man glaubte Schlittschuhläufer auf einem zugefrorenen See zu erblicken. Im Erdgeschoß herrschte ein verworrenes Wogen, belebt durch Ebbe und Flut; man sah nichts als die erregten, entzückten Gesichter der Frauen. Dabei herrschte, besonders in den oberen Stockwerken, eine wahre Treibhaushitze. Das Gesumm der vielen tausend Stimmen war wie das Rauschen eines angeschwollenen Stroms.

»Wir müssen sehen, daß wir vorwärtskommen«, sagte Frau von Boves. »Wir können doch nicht ewig auf einem Fleck bleiben.«

Der Inspektor Jouve, der in der Nähe der Tür stand, hatte sie seit ihrem Eintritt nicht mehr aus den Augen gelassen. Als sie sich einen Moment umwandte, kreuzten sich ihre Blicke. Und sobald die Damen weitergingen, folgte er in einiger Entfernung, anscheinend ohne sich weiter um sie zu kümmern.

»Schauen Sie, das ist ein netter Gedanke!« rief Frau Guibal, die vor der ersten Kasse stehenblieb.

Sie sprach von der neuesten Aufmerksamkeit, die Mouret ersonnen hatte und von der in den Zeitungen viel die Rede war. Sie bestand in kleinen Sträußen von weißen Veilchen, die er zu Tausenden in Nizza gekauft hatte und nun jeder Kundin, selbst für den geringsten Einkauf, überreichen ließ. Allmählich waren alle Damen mit Blumen geschmückt, deren Duft die Räume erfüllte.

»Ja«, bemerkte Frau Desforges nicht ohne Neid, »der Gedanke ist gut.«

In dem Augenblick, als die Damen ihren Weg fortsetzen wollten, hörten sie hinter sich zwei Angestellte über die Veilchen ihre Scherze machen. Nun sei es also wohl soweit mit der Heirat zwischen dem Chef und der Direktrice aus der Kinderabteilung? meinte der eine, ein langer Bursche. Je nun, erwiderte der andere, ein kleiner Dicker, man könne noch nichts Bestimmtes sagen; immerhin seien die Veilchen gekauft worden.

»Wie«, rief Frau von Boves, »Herr Mouret heiratet?«

»Ja, das ist das Neueste«, sagte Frau Desforges gleichgültig; »aber schließlich ist es ja das Ende vom Lied.«

Die Gräfin sandte ihrer neuen Freundin einen verständnisinnigen Blick zu. Jetzt begriffen beide, weshalb Frau Desforges trotz des offenen Bruchs in das »Paradies der Damen« gekommen war: sie wollte offenbar sehen und leiden.

»Ich bleibe bei Ihnen«, sagte Frau Guibal, deren Neugierde erwacht war. »Wir werden Frau von Boves im Lesesaal wiedertreffen.«

»Gut«, erklärte die Gräfin. »Ich habe im ersten Stock zu tun. Kommst du, Blanche?«

Sie ging, von ihrer Tochter gefolgt, hinauf, während Jouve, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ihr auf einer anderen Treppe folgte. Frau Desforges und Frau Guibal verloren sich im dichten Gewühl des Erdgeschosses.

Inmitten des Verkaufsrummels sprach man an allen Tischen von nichts anderem als von der Liebesgeschichte des Chefs. Das Abenteuer, das die Angestellten seit Monaten beschäftigte, hatte wieder einmal zu einem Zusammenstoß geführt. Man hatte erfahren, daß Denise trotz der Bitten Mourets im Begriff sei, das »Paradies der Damen« zu verlassen, unter dem Vorwand, sie brauche Erholung. Und wieder stand Meinung gegen Meinung. Würde sie gehen – würde sie nicht gehen? Man begann um hundert Sous Wetten abzuschließen. Über einen Punkt aber herrschte Einigkeit: das Mädchen zeigte ganz offenkundig die Stärke einer angebeteten Frau, die sich nicht ergeben will; der Chef hinwiederum hatte seinen Reichtum, seine Freiheit als Witwer und schließlich seinen Stolz dagegenzusetzen, der sich bei einer übertriebenen Forderung doch aufbäumen konnte. Jedenfalls hatte die Kleine ihre Sache mit vollendeter Raffinesse betrieben, und nun spielte sie die letzte Karte aus, indem sie ihn vor die Entscheidung stellte: Heirate mich, oder ich gehe!

Denise aber dachte gar nicht an solche Dinge. Sie kannte keine Berechnung und keine Forderungen. Gerade daß man so über sie sprach, bewog sie zum Gehen. Hatte sie das alles gewollt? War sie listig, kokett, ehrgeizig gewesen? Sie war doch einfach gekommen und selbst höchlichst erstaunt gewesen, daß ihr eine solche Liebe zuteil wurde. Warum wollte man heute in ihrem Entschluß, das »Paradies der Damen« zu verlassen, wieder einen geschickten Schachzug sehen? Es war doch so natürlich! Der ewige Tratsch, die hartnäckigen Bewerbungen Mourets hatten ihre Stellung unhaltbar gemacht, und sie zog es vor, zu gehen, aus Furcht, daß sie eines Tages doch nachgeben und es dann ihr ganzes Leben lang bereuen könnte. Wenn darin ein Zug von Raffinesse lag, so wußte sie nichts davon, sie fragte sich bekümmert, was sie denn nur anfangen sollte, um nicht den Anschein zu erwecken, sie wolle sich einen Ehemann angeln! Der Gedanke an eine Heirat brachte sie jetzt auf; sie war entschlossen, abermals nein, immer nein zu sagen, wenn er die Torheit so weit treiben sollte. Niemand sollte um ihretwillen ein Opfer bringen. Die Notwendigkeit der Trennung ließ die Tränen in ihr aufsteigen; doch sie sagte sich mutig, es müsse sein, wenn sie anders handelte, würde sie keine Ruhe und keine Freude mehr finden.

Als sie Mouret gekündigt hatte, war er wie erstarrt gewesen, nur mühsam imstande, seine Erregung zu meistern. Dann hatte er trocken bemerkt, daß er ihr acht Tage Bedenkzeit gewähre, bevor er seine Einwilligung zu einer solchen Torheit gebe, und als sie nach Verlauf dieser acht Tage bei ihrem Entschluß beharrt und erklärt hatte, sie wolle nach dem großen Sonderverkauf gehen, schien er sich etwas beruhigt zu haben. Er verlegte sich auf vernünftige Argumente: sie verscherze ihr Glück, sagte er, sie werde nirgends mehr eine Stellung finden, wie sie sie bei ihm gehabt habe. Hatte sie denn etwas anderes in Aussicht? Er war bereit, ihr alle Vorteile zu bieten, die sie woanders bekommen würde; und als Denise erwiderte, sie habe sich noch gar nicht umgesehen, sondern wolle erst einmal einen Monat in Valognes ausruhen, fragte er, was sie denn daran hindere, nachher wieder ins »Paradies der Damen« zurückzukehren? Gequält von diesem Verhör, schwieg sie beharrlich. Da beschlich ihn der Gedanke, daß sie vielleicht einen Liebhaber, einen zukünftigen Gatten aufsuchen wollte. Hatte sie ihm nicht eines Abends gestanden, daß sie jemanden liebte, ein Geständnis, das er seither wie eine offene Wunde im Herzen trug? Und wenn dieser Mann sie heiraten wollte, würde sie alles verlassen, um ihm zu folgen; daher ihre Hartnäckigkeit. Es war also alles aus! Sachlich und kühl fügte er hinzu, daß er sie nicht länger zurückzuhalten beabsichtige, da sie ihm die wahre Ursache ihrer Kündigung nicht sagen wolle. Und diese trockene Antwort verwirrte sie mehr als eine heftige Szene, die sie befürchtet hatte.

Während der Woche, die Denise noch in der Firma verbringen sollte, zeigte Mouret eine eisige Kälte. Wenn er durch die Abteilung ging, tat er, als sähe er sie gar nicht. Niemals schien er mehr in seiner Arbeit aufzugehen als jetzt. Allein unter dieser scheinbaren Kälte verbargen sich Unentschlossenheit und Leid. Maßlose Zornesanwandlungen trieben ihm alles Blut in den Kopf, er träumte davon, Denises Widerstand zu ersticken, sie mit Gewalt zu nehmen. Dann wurde er wieder vernünftig und suchte nach praktischen Mitteln, um sie am Fortgehen zu hindern. Allein er war ohnmächtig, all seine Stärke und sein Geld nützten ihm nichts. Allmählich indessen setzte sich ein Gedanke in ihm fest. Nach dem Tod von Frau Hédouin hatte er sich geschworen, nie wieder zu heiraten. Sein erstes Glück stammte von einer Frau, und er war entschlossen, auch seine zukünftigen Erfolge nur auf den Frauen aufzubauen. Es war bei ihm wie bei Bourdoncle eine Art Aberglaube, daß der Leiter eines großen Modewarenhauses unverheiratet bleiben müsse, wenn er seine Macht über die Kundinnen bewahren wolle: eine Frau im Haus vertreibe die anderen. Und er stemmte sich innerlich gegen den folgerichtigen Ablauf der Dinge, er wollte lieber sterben als nachgeben, und eine geheime Wut gegen Denise ergriff ihn. Er fühlte genau, daß sie die Rache verkörperte, und fürchtete, an dem Tag, da er sie heiratete, besiegt über seinen Millionen zusammenzubrechen, geknickt wie ein Strohhalm. Dann wurde er allmählich wieder schwach. Wovor hatte er denn solche Angst? Sie war so sanft und vernünftig, daß er sich ihr ohne Furcht überlassen konnte. Und zwanzigmal in der Stunde begann dieser Kampf in seinem Innern von neuem. Er verlor schließlich vollends die Vernunft, wenn er daran dachte, daß sie selbst nach dieser äußersten Unterwerfung nein sagen könnte. Am Morgen des großen Sonderverkaufs hatte er noch immer keinen Entschluß gefaßt, und am nächsten Tag sollte Denise gehen.

Als Bourdoncle an diesem Montag gegen drei Uhr nachmittags in Mourets Arbeitszimmer trat, saß dieser, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und die Hände an die Augen gepreßt, so in Gedanken versunken da, daß Bourdoncle ihn an der Schulter berühren mußte, um sich bemerkbar zu machen. Mouret hob sein tränenfeuchtes Gesicht, die beiden sahen sich an, dann drückten sie sich die Hände als alte Kampfgenossen, die miteinander im Handel so manche Schlacht geschlagen hatten. Bourdoncle hatte seit einem Monat seine Haltung vollständig geändert. Er beugte sich vor Denise, ja er trieb den Chef insgeheim an, er solle sie heiraten. Ohne Zweifel tat er das, um nicht durch eine Macht hinweggefegt zu werden, die der seinen überlegen war. Doch auf dem Grund dieses Sinneswandels hätte man noch etwas anderes finden können, und zwar das Wiedererwachen seines Ehrgeizes, die unbestimmte, aber allmählich erstarkte Hoffnung, nun seinerseits Mouret unterzukriegen, vor dem er so lange den Nacken gebeugt hatte. Das lag gewissermaßen in der Luft dieses Hauses. Der ewige Kampf ums Dasein weckte den Appetit, ließ ihn zur Gefräßigkeit werden, die von unten nach oben die Mageren antrieb, die Fetten aufzufressen. Nur eine Art scheue Furcht, sein Glück aufs Spiel zu setzen, hatte Bourdoncle bisher daran gehindert, zuzuschnappen. Der Chef wurde jetzt zum Kind, er schlitterte in eine unsinnige Heirat hinein, war im Begriff, sein Glück zu vernichten, den Zauber, den er auf die Kundschaft ausübte, zu zerstören. Warum sollte er ihn davon abhalten, wenn er selber die Erbschaft antreten konnte, sobald der andere erledigt in die Arme einer Frau gesunken war? Wie in kameradschaftlichem Mitgefühl drückte er ihm die Hand und sagte:

»Nur Mut, zum Teufel! Heiraten Sie sie, und die Quälerei hat ein Ende.«

Doch Mouret hatte sich schon wieder gefaßt. Er erhob sich und widersprach.

»Nein, nein, es ist zu dumm! -- Kommen Sie, wir wollen die Runde durchs Geschäft machen. Der Verkauf läuft schon, ich denke, es wird ein prächtiger Tag.«

Sie gingen hinaus und traten ihren Rundgang durch die übervollen Abteilungen an. Bourdoncle betrachtete ihn argwöhnisch von der Seite, beunruhigt durch diesen letzten Anflug von Tatkraft.

In der Kinderabteilung drängten sich zahllose Mütter mit ihren Kleinen, die fast verschwanden unter der Flut von Sachen, die man ihnen anprobierte. Auch Frau Bourdelais war da mit ihren drei Kindern, Madeleine, Edmond und Lucien; sie ärgerte sich eben über den Jüngsten, weil er nicht ruhig stehen wollte, während Denise sich bemühte, ihm ein weißes Jackett überzuziehen.

»So halt doch still! -- Glauben Sie nicht, Fräulein, daß es etwas zu eng ist? Es ist so schwer, für diese kleinen Leutchen das Richtige zu finden ... Dann brauchen wir noch einen Mantel für mein Töchterchen.«

Denise war eben im Begriff, einen Mantel für Madeleine zu suchen, als sie einen Ruf der Überraschung ausstieß.

»Wie, du bist es? Was ist denn los?«

Ihr Bruder Jean, mit einem Paket in der Hand, stand vor ihr. Er war seit acht Tagen verheiratet, und seine Frau, eine kleine Brünette mit reizendem Gesicht, hatte letzten Samstag einen langen Besuch im »Paradies der Damen« gemacht, um verschiedenes einzukaufen. Das junge Ehepaar sollte Denise nach Valognes begleiten. Es sollte eine regelrechte Hochzeitsreise werden.

»Denke dir«, sagte er, »Thérèse hat eine Menge Sachen vergessen. Ein paar sind auch umzutauschen, und da sie selbst sehr viel zu tun hat, hat sie mich mit diesem Paket hergeschickt. Ich will dir erklären ...«

Doch sie unterbrach ihn, als sie auch Pépé bemerkte.

»Wie -- Pépé hier? Und was ist mit dem Internat?«

»Meiner Treu«, sagte Jean, »er war doch zum Wochenende bei uns, und da hab ich es nicht fertiggebracht, ihn wieder zurückzubringen; er will erst am Abend hin. Der arme Kerl ist traurig genug, daß er in Paris eingesperrt bleiben muß, während wir eine Vergnügungsreise machen.«

Denise lächelte, obgleich die Arbeit ihr fast über den Kopf wuchs. Sie überließ Frau Bourdelais einer ihrer Verkäuferinnen und begab sich mit ihren Brüdern in einen Winkel der Abteilung, wo das Gedränge weniger stark war. Die Kleinen, wie sie sie nach wie vor nannte, waren recht stattliche Burschen geworden. Pépé, zwölf Jahre alt, ein hübscher Junge in seinem Internatsanzug, war schon größer als sie selbst, allein immer noch zart und anschmiegsam. Jean war breitschultrig und kräftig geworden, er überragte sie um einen ganzen Kopf; dennoch hatte er seine ganze frauenhafte Schönheit behalten. Die kleine und zarte Schwester bewahrte ihnen gegenüber die mütterliche Autorität und behandelte sie weiterhin wie große Jungen, die man betreuen muß. Sie tadelte Jean, weil er seine Jacke nicht ordentlich zugeknöpft hatte, und überzeugte sich, ob Pépé auch ein reines Taschentuch bei sich habe. Als sie sah, daß der Jüngere geweint hatte, schalt sie ihn freundlich aus.

»Sei doch gescheit, Kleiner, man darf seine Schulstunden nicht schwänzen; in den Ferien will ich dich mitnehmen. Soll ich dir etwas Taschengeld geben?«

Dann wandte sie sich zum andern:

»Du verdrehst ihm den Kopf, indem du ihm erzählst, daß wir eine Vergnügungsreise machen. Sei doch du wenigstens vernünftiger!«

Sie hatte dem älteren Bruder viertausend Franken, die Hälfte ihrer Ersparnisse, gegeben, damit er seinen Haushalt einrichten konnte. Der jüngere kostete sie im Internat viel Geld. Sie gab wie eh und je ihren ganzen Verdienst für die Brüder aus, lebte und arbeitete nur für sie, entschlossen, niemals zu heiraten.

»Da ist vor allem in diesem Paket der havannabraune Mantel, den Thérèse –«

Er unterbrach sich, und als Denise sich umwandte, um festzustellen, was Jean die Rede verschlagen hatte, sah sie Mouret hinter sich stehen.

Er beobachtete schon seit einer Weile, wie sie mit den beiden Jungen umging, sie bald ausschalt, bald zärtlich bemutterte. Bourdoncle war abseits stehengeblieben, scheinbar widmete er sich ganz dem Verkauf, in Wirklichkeit aber ließ er kein Auge von dieser Szene.

»Das sind Ihre Brüder?« fragte Mouret. Sein Ton war kalt, wie immer, wenn er jetzt mit ihr sprach.

Denise zuckte zusammen, dann erwiderte sie, bemüht, ebenso kühl zu erscheinen:

»Ja, Herr Mouret. Ich habe den älteren verheiratet, und jetzt schickt ihn seine Frau wegen verschiedener Einkäufe her.«

Mouret betrachtete die drei immer noch, schließlich sagte er: »Der jüngere ist ordentlich in die Höhe geschossen. Ich erinnere mich, ihn eines Abends mit Ihnen in den Tuilerien gesehen zu haben.«

Seine Stimme wurde bei diesen Worten gedämpfter, sie zitterte ein wenig. Denise bückte sich verwirrt und tat, als müsse sie Pépés Gürtel in Ordnung bringen. Die beiden Brüder erröteten und lächelten dem Chef ihrer Schwester zu.

»Sie sehen Ihnen sehr ähnlich«, bemerkte Mouret weiter.

»Oh«, rief Denise, »sie sind viel hübscher als ich!«

Er schien einen Augenblick die Gesichter vergleichen zu wollen. Doch er war mit seiner Kraft am Ende. So sehr liebte sie sie, diese Kinder ... Er ging ein paar Schritte weiter, kehrte indessen um und flüsterte ihr zu:

»Kommen Sie nach Geschäftsschluß in mein Arbeitszimmer. Ich habe mit Ihnen zu sprechen, bevor Sie abreisen.«

Dann entfernte er sich und nahm seinen Rundgang wieder auf. Von neuem begann der Kampf in seinem Innern. Die Verabredung mit ihr wühlte ihn auf. Welcher Regung hatte er da nur wieder nachgegeben? Es war doch lächerlich, er hatte ja gar keinen eigenen Willen mehr. Nun, er wollte ihr wenigstens ein paar Abschiedsworte sagen.

Bourdoncle, der sich ihm aufs neue angeschlossen hatte, schien seine Unruhe nicht zu teilen. Dennoch beobachtete er Mouret auch weiterhin.

Denise hatte sich mittlerweile wieder zu Frau Bourdelais begeben.

»Paßt der Mantel?« fragte sie.

»O ja, sehr gut. Für heute hätte ich genug. Diese Kinder ruinieren einen ja vollständig.«

Denise konnte sich nun um Jean kümmern und begleitete ihn in die verschiedenen Abteilungen, wo er sich ohne Führung gewiß nicht zurechtgefunden hätte. Vor allem wollte Thérèse den havannabraunen Mantel gegen einen weißen, aber im gleichen Schnitt, umtauschen. Das Mädchen hatte das Paket genommen und begab sich, von den beiden Brüdern begleitet, in die Konfektionsabteilung. Hier sah man nur wenige Kundinnen. Fast sämtliche Verkäuferinnen waren neu. Claire war seit einem Monat verschwunden; die einen sagten, der Mann einer Kundin habe sie entführt, die anderen hingegen versicherten, sie sei unter die Straßenmädchen gegangen. Marguerite wollte endlich nach Grenoble zurückkehren, um dort die Leitung eines kleinen Ladens zu übernehmen, in dem ihr Vetter sie erwartete. Nur Frau Aurélie blieb noch, unverändert und unwandelbar in dem glatten Panzer ihres Seidenkleids, das Gesicht maskenhaft starr wie eh und je. Die schlechte Aufführung ihres Sohnes Albert machte ihr allerdings viel Kummer, und sie hätte sich bereits auf ihr Landgut zurückgezogen, wenn dieser Taugenichts von Sohn sie nicht um ein gut Teil ihrer Ersparnisse gebracht hätte. Schon richtete Bourdoncle zuweilen scheele Blicke auf sie; er war überrascht zu sehen, daß sie nicht so viel Takt besaß, sich rechtzeitig zurückzuziehen, denn sie war zu alt für den Verkauf. Bald würde für die ganze Familie Lhomme die Stunde schlagen.

»Wie, Sie sind es?« sagte sie mit übertriebener Liebenswürdigkeit zu Denise. »Sie wollen diesen Mantel umtauschen? Aber natürlich, sofort. Ah, da sind ja Ihre Brüder! Sie sind recht groß geworden.«

Ungeachtet ihres Stolzes hätte sie sich am liebsten vor Denise auf die Knie geworfen, um ihr den Hof zu machen. In der Konfektionsabteilung sprach man jetzt von nichts anderem mehr als von dem bevorstehenden Weggang des Mädchens; die Direktrice wurde ganz krank davon, denn sie hatte mit der Fürsprache ihrer ehemaligen Verkäuferin gerechnet.

»Man sagt, Sie wollen uns verlassen?« flüsterte sie. »Das ist wohl nicht möglich.«

»Doch, doch«, erwiderte das Mädchen.

Marguerite hatte zugehört; nun trat sie näher und sagte:

»Sie haben recht, das Wichtigste ist die Selbstachtung. Ich wünsche Ihnen alles Gute, meine Liebe.«

Es kamen einige Kundinnen, und Frau Aurélie forderte sie ziemlich barsch auf, sich um die Damen zu kümmern.

Als Denise den Mantel nahm, um den Umtausch selbst zu erledigen, wollte Frau Aurélie das nicht zulassen, sondern rief eine der Aushilfskräfte herbei. Diese Neuerung hatte man ebenfalls Denise zu verdanken; dadurch wurden die Verkäuferinnen entlastet.

»Begleiten Sie das Fräulein«, sagte die Direktrice und reichte der Aushilfe den Mantel.

Dann wandte sie sich wieder zu Denise und meinte:

»Ich bitte Sie, überlegen Sie sich die Sache noch ein wenig. Wir sind alle untröstlich über Ihren Weggang.«

Jean und Pépé folgten ihrer Schwester; in der Wäscheabteilung trafen sie Pauline, die, kaum daß sie Denise bemerkt hatte, auch schon mit Fragen über sie herfiel. Sie schien sehr bewegt. Was war es denn nun mit den Gerüchten, die über Denises Weggang im ganzen Haus umliefen?

»Sie werden bei uns bleiben, nicht wahr?« meinte sie. »Ich habe um meinen Kopf gewettet, daß Sie bleiben. Was soll denn aus mir werden, wenn Sie gehen?«

Als Denise erwiderte, daß sie am folgenden Tag ausscheiden werde, ließ Pauline nicht locker.

»Nein, nein, ich kann nicht daran glauben. Jetzt, wo ich ein Kind habe, müssen Sie mich zur Zweiten ernennen lassen. Baugé rechnet fest damit, meine Liebe.«

Sie lächelte und schien ihrer Sache ganz sicher zu sein. Dann kümmerte sie sich um Jeans Wünsche und rief schließlich als Ablösung eine neue Aushilfskraft herbei. Es war Fräulein von Fontenailles, seit kurzem mit Joseph verheiratet. Um ihr eine besondere Gunst zu erweisen, hatte man sie zur Aushilfe aufrücken lassen. Sie trug einen weiten schwarzen Kittel mit einer gelben Nummer auf der Schulter.

»Begleiten Sie das Fräulein«, sagte Pauline.

Dann wandte sie sich zu Denise und setzte leise hinzu:

»Ich werde Zweite, nicht wahr? Abgemacht!«

Denise versprach es ihr lachend und entfernte sich. Sie ging mit Pépé und Jean hinab, begleitet von der Aushilfe. Im Erdgeschoß kamen sie in die Wollwarenabteilung. Hier plauderte Liénard gerade mit Mignot, der Vertreter geworden war und die Stirn hatte, sich wieder im »Paradies der Damen« zu zeigen. Sie hatten ohne Zweifel von Denise gesprochen, denn sie schwiegen plötzlich und grüßten mit übertriebener Höflichkeit. So war es übrigens in allen Abteilungen, durch die sie kam; die Angestellten verneigten sich stumm, in Ungewißheit darüber, welche Rolle sie morgen spielen mochte. Man flüsterte miteinander, man fand, sie gebe sich sehr siegessicher, und die Wetten begannen von neuem.

Jean und Pépé wichen nicht von ihrer Seite, sie drängten sich an sie ganz wie damals, als sie müde von den Strapazen der Reise in Paris angekommen waren. Dieses ungeheure Geschäft, in dem sie zu Hause war, brachte die beiden Brüder in Verwirrung; sie suchten Schutz bei ihrem »Mütterchen«. Alle Blicke folgten ihnen, man lächelte über die beiden großen Burschen, die Schritt für Schritt dem schmächtigen, ernsten Mädchen folgten, alle drei von demselben Blond, einem Blond, das auf ihrem ganzen Weg durch die Abteilungen die Leute flüstern ließ:

»Das sind ihre Brüder ... das sind ihre Brüder ...«

Während Denise nach einem Verkäufer suchte, kam es zu einer Begegnung. Mouret betrat mit Bourdoncle die Galerie, und gerade als er wieder vor dem Mädchen stehenblieb, gingen Frau Desforges und Frau Guibal vorüber. Henriette unterdrückte das Beben, das ihren ganzen Körper durchlief. Sie sah Mouret an und dann Denise. Auch die beiden wechselten einen Blick mit ihr; die kleine Szene war der stumme Schlußakt, das übliche Ende eines großen Herzensdramas. Schon hatte Mouret sich entfernt, während Denise, gefolgt von ihren Brüdern, sich im Hintergrund der Abteilung verlor, noch immer auf der Suche nach einem Verkäufer. Henriette erkannte in der Aushilfe, die Denise folgte, Fräulein von Fontenailles mit ihrer gelben Nummer auf der Schulter. Bei diesem Anblick machte sie ihrem Zorn Luft und sagte mit gereizter Stimme zu Frau Guibal:

»Schauen Sie, was er aus dieser Unglücklichen gemacht hat! Ist das nicht beleidigend? Eine Marquise! ... Er zwingt sie, wie ein Hund den Geschöpfen zu folgen, die er auf der Straße aufgelesen hat.«

Sie suchte sich indessen zu beruhigen und fügte mit geheuchelter Gleichgültigkeit hinzu:

»Sehen wir uns mal die Seidenabteilung an.«

Auch hier war alles in Weiß getaucht. Favier maß soeben Foulard ab für die »hübsche Dame«, jene elegante Blondine, die regelmäßig erschien und von den Verkäufern stets nur so genannt wurde. Sie kam seit Jahren in das Geschäft, und man wußte noch immer nichts von ihr, kannte weder ihre Lebensumstände noch ihre Adresse noch ihren Namen. Übrigens suchte auch keiner Näheres zu erfahren, wenngleich sich alle in Vermutungen erschöpften, sooft sie auftauchte. Heute wirkte sie sehr heiter. Als Favier sie zur Kasse gebracht hatte und zurückkam, tauschte er mit Hutin seine Bemerkungen aus.

»Vielleicht will sie wieder heiraten.«

»Ist sie denn Witwe?« fragte der andere.

»Ich weiß es nicht; aber Sie erinnern sich doch, daß sie einmal in Trauer war ... Vielleicht hat sie auch an der Börse gewonnen. Sie hat ganz schön eingekauft.«

Hutin war indessen nicht recht bei der Sache. Er hatte zwei Tage zuvor eine lebhafte Auseinandersetzung mit der Geschäftsleitung gehabt und fühlte, daß es aus war mit ihm. Nach dem großen Sonderverkauf würde er sicherlich entlassen werden. Favier hatte bereits die Zusage, an seiner Stelle zum Abteilungsleiter ernannt zu werden. Anstatt ihn aber zu ohrfeigen, war Hutin sogar von einer gewissen Achtung für diesen gefühlskalten Burschen erfüllt, dem es gelungen war, ihn aus dem Sattel zu heben.

»Übrigens«, sagte Favier, »Sie wissen doch, daß sie bleibt? ... Der Chef ist wieder viel vergnügter.«

Er sprach von Denise. Das Getratsche pflanzte sich fort von Abteilung zu Abteilung.

»Verflucht!« rief Hutin. »Ich war doch recht dumm, daß ich nicht mit ihr geschlafen habe! Heute wäre ich ein gemachter Mann!«

Als er Favier unverhohlen feixen sah, errötete er und versuchte gleichfalls zu lachen. Um den Eindruck seiner Bemerkung zu verwischen, erging er sich in gehässigen Klagen und behauptete, dieses Geschöpf habe seine Stellung untergraben. Dann trat plötzlich ein Lächeln auf seine Lippen; er sah Frau Guibal und Frau Desforges in der Abteilung erscheinen.

»Haben Sie Wünsche, gnädige Frau?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Henriette. »Wie Sie sehen, gehe ich hier spazieren. Ich bin nur aus Neugierde gekommen.«

Als er sie immerhin zum Stehen gebracht hatte, dämpfte er die Stimme; ein ganzer Plan keimte in ihm auf. Er schmeichelte ihr, hechelte das Haus durch; er habe genug, sagte er, er wolle lieber gehen als solche Ungehörigkeiten länger mitmachen. Sie lauschte entzückt. In dem Glauben, ihn dem »Paradies der Damen« abspenstig zu machen, erbot sie sich, ihm die Stelle des Leiters in der Seidenabteilung bei Bouthemont zu verschaffen, sobald die »Vier Jahreszeiten« wieder eröffnet würden. Die Angelegenheit wurde abgemacht, sie flüsterten leise miteinander, während Frau Guibal aufmerksam die Dekorationen betrachtete.

»Darf ich Ihnen ein paar Veilchen anbieten?« fragte er schließlich laut und zeigte auf mehrere Sträußchen, die er sich von einer Kasse geholt hatte.

»O nein, danke!« rief Henriette abwehrend. »Ich will mit dieser Hochzeit nichts zu tun haben.«

Sie begriffen einander und trennten sich mit verständnisinnigen Blicken.

Als Henriette sich jetzt nach Frau Guibal umsah, fand sie sie zu ihrer Überraschung in Gesellschaft von Frau Marty. Diese jagte, gefolgt von ihrer Tochter Valentine, seit zwei Stunden durch alle Abteilungen, gequält von einem jener fürchterlichen Anfälle von Verschwendungssucht, aus denen sie stets völlig gebrochen hervorging. Am meisten hatten es ihr immer die neuen Abteilungen angetan. So hatte sie sich heute fast eine Stunde bei den Putzwaren aufgehalten, die in einem neuen Raum im ersten Stockwerk untergebracht waren. Sie drängte sich an sämtliche Tische, ließ sich alle Schränke ausräumen, nahm die Hüte von den Gestellen und probierte sie der Reihe nach sich und ihrer Tochter auf. Dann war sie in die Schuhabteilung hinabgestiegen, die in einer Ecke des Erdgeschosses hinter den Krawatten lag. Auch dies war eine Neueröffnung. Sie durchstöberte alle Fächer, gequält von einem krankhaften Verlangen nach einem Paar mit Schwanenflaum besetzter Pantoffeln aus weißer Seide und nach weißen Atlasstiefelchen.

»Oh, meine Liebe«, stammelte sie, »Sie glauben gar nicht ... Hüte gibt es da! Ich habe einen für mich und einen für meine Tochter genommen. Und erst die Schuhe! Wunderbar!«

»Unerhört!« fügte das junge Mädchen im Ton einer erfahrenen Frau hinzu. »Stiefelchen für zwanzig Franken fünfzig!«

Ein Angestellter schleppte den unvermeidlichen Stapel an Waren hinter ihnen her.

»Und wie geht es Herrn Marty?« fragte Frau Desforges.

»Nicht schlecht, glaube ich«, erwiderte Frau Marty, verblüfft durch diese unerwartete Frage, die sich angesichts ihrer Verschwendungssucht sehr boshaft ausnahm. Doch sie ließ das Thema gleich wieder fallen und brach in einen Ausruf des Entzückens aus.

»Schauen Sie, ist das nicht himmlisch!«

Die Damen befanden sich vor der Abteilung für Blumen und Federn, die im Mittelbau zwischen der Seiden- und der Handschuhabteilung untergebracht war. Unter dem hellen Licht des Glasdaches war eine phantastische Blütenpracht entfaltet, eine weiße Garbe, hoch und ausladend wie eine Eiche. Es begann unten mit kleinen Sträußen von Veilchen, Maiglöckchen, Hyazinthen und Margeriten, allem zarten Weiß der Blumenbeete. Darüber erhoben sich üppigere Sträuße: weiße Rosen mit einem Stich ins Fleischfarbene, riesige weiße Pfingstrosen mit einem zarten Hauch von Karmin, weiße Chrysanthemen, die wie eine gelbgestirnte Wolke emporstiegen. Immer höher, immer weiter verbreitete sich die Blütenpracht: majestätische Lilien, ganze Apfelblütenzweige, duftender Flieder, auf der Höhe des ersten Stockwerks überragt von üppigen Büscheln von Straußenfedern und anderen weißen Federn. Etwas abseits waren Arrangements aus Orangenblüten ausgestellt. Dann gab es Metallblumen, Disteln und Ähren aus Silber. Und in dem Gewirr der Zweige und Blüten schienen die seltensten kleinen Vögel zu nisten: ein exotischer Hutschmuck in allen Farben des Regenbogens.

»Ich kaufe einen Apfelblütenzweig«, erklärte Frau Marty.

»Prächtig, nicht wahr? Und dieser kleine Vogel! Schau nur, Valentine! Den nehme ich mit ...«

Frau Guibal, eingekeilt in der wogenden Menge, begann sich zu langweilen.

»Wir überlassen Sie Ihren Einkäufen und gehen hinauf«, sagte sie zu Frau Marty.

»Nein, warten Sie!« rief die andere, »ich gehe mit, da oben ist die Parfümerie, da muß ich hin!«

Diese Abteilung war erst tags zuvor eingerichtet worden und lag neben dem Leseraum. Um das Gedränge auf den Treppen zu vermeiden, machte Frau Desforges den Vorschlag, sie sollten die Aufzüge benutzen. Allein der Andrang war auch hier so groß, daß sie darauf verzichten mußten. Endlich gelangten sie hinauf; sie kamen am Erfrischungsraum vorbei, wo ein solches Gewühl herrschte, daß ein Inspektor den Auftrag erhalten hatte, die gefräßige Menge nur in kleinen Gruppen hineinzulassen. Schon hier verspürten die Damen die Nähe der Parfümerie; es war wie der durchdringende Duft eines Riechkissens, der das ganze Stockwerk erfüllte. Auf den mit Glas abgedeckten Tischen und den Kristallplatten der Etageren waren in langen Reihen Döschen und Flaschen mit Cremes, Puder, wohlriechenden Ölen und Essenzen aufgestellt, während die Bürsten, Kämme und Scheren ein besonderes Regal einnahmen. Das allgemeine Entzücken galt einem in der Mitte angebrachten silbernen Springbrunnen, aus dem ein Strahl von Nelkenessenz aufstieg, der mit melodischem Geplätscher in das Metallbecken zurückfiel. Ein köstlicher Duft verbreitete sich ringsumher, und die Damen netzten im Vorübergehen ihre Taschentücher mit der duftenden Flüssigkeit.

»Jetzt stehe ich zu Ihrer Verfügung«, sagte Frau Marty, nachdem sie sich mit Essenzen, Cremes und Zahnpasta beladen hatte, »ich bin fertig. Wir wollen nach Frau von Boves sehen.« Doch die japanische Abteilung auf dem Absatz der großen Haupttreppe hielt sie wieder fest. Dieser Zweig hatte sich bedeutend vergrößert seit dem Tag, da Mouret sich den Spaß gemacht hatte, an dieser Stelle einen kleinen Verkaufsstand für allerlei Kleinkram einzurichten, ohne zu ahnen, welchen enormen Erfolg die Sache haben würde. Mittlerweile gab es hier schon alte Bronzen, Elfenbein- und Lackholzgegenstände zu kaufen. Die Abteilung hatte einen jährlichen Umsatz von anderthalb Millionen Franken; ihre Einkäufer durchstöberten den ganzen Orient bis in die entferntesten Winkel, plünderten Tempel und Paläste. Vier Jahre hatten Mouret auf diesem Gebiet genügt, um den Antiquitätenhandel von ganz Paris an sich zu reißen. Überdies entstanden fortwährend neue Abteilungen. So hatte man im Dezember wieder zwei eröffnet, um die tote Zeit des Winterhalbjahrs zu überbrücken: eine Abteilung für Bücher und eine für Kinderspielzeug, die sicherlich ebenfalls aufblühen und wieder zwei Geschäftszweige vernichten würden.

Obgleich sie sich vorgenommen hatte, nichts zu kaufen, ließ sich Frau Desforges bei den Japanwaren durch eine außerordentlich fein gearbeitete Elfenbeinschnitzerei verführen.

»Schicken Sie mir das zur nächsten Kasse. Neunzig Franken ist der Preis, nicht wahr?«

Da sie Frau Marty samt ihrer Tochter in einen Porzellankauf vertieft sah, rief sie ihr, Frau Guibal mit sich ziehend, zu:

»Sie finden uns oben im Leseraum ... Ich will ein wenig ausruhen.«

Im Lesesaal mußten die Damen stehenbleiben; alle Stühle rings um den großen, mit Zeitungen bedeckten Tisch waren besetzt. Da lasen dicke Herren in aller Gemütsruhe ihr Lieblingsblatt und dachten nicht daran, ihre Plätze galanterweise abzutreten. Einige Damen schrieben, die Nase dicht über das Papier gebeugt, als wollten sie geheime Herzensergüsse mit ihren breitrandigen Hüten verdecken. Frau von Boves war übrigens nicht da, und Henrierte wurde schon ungeduldig, als sie plötzlich Vallagnosc bemerkte, der seine Schwiegermutter und seine Frau ebenfalls suchte. Er grüßte und meinte:

»Sie sind gewiß in der Spitzenabteilung; sie können sich von dort nicht losreißen. Ich will mal nachsehen.«

Bevor er ging, war er so galant, den Damen Stühle zu verschaffen.

In der Spitzenabteilung wuchs das Gedränge von Minute zu Minute. Nachdem Frau Von Boves mit ihrer Tochter tatsächlich hier herumgeirrt war in dem sinnlichen Verlangen, ihre Hände in diese zarten Gewebe zu versenken, war sie zu dem Entschluß gekommen, sich von Deloche Alençonspitzen vorlegen zu lassen. Zuerst hatte er ihr Imitationen gezeigt, allein sie wollte echte sehen und begnügte sich auch nicht mit kleinen Garnituren zu dreihundert Franken, sondern verlangte Volants, Tücher und Fächer zu sieben- bis achthundert, ja tausend Franken. Bald war der Tisch mit einem Vermögen an Spitzen bedeckt. Etwas abseits stand regungslos der alte Jouve und ließ kein Auge von Frau von Boves. Der Verkäufer, den sie nun schon zwanzig Minuten aufhielt, wagte keinen Widerstand zu leisten, so sehr imponierte sie ihm durch ihre Vornehmheit, ihre Gestalt und ihre gebieterische Stimme. Allmählich aber begann er doch zu zögern, denn man hatte den Angestellten strenge Weisung erteilt, die kostbaren Spitzen auf dem Tisch nicht so aufzuhäufen.

Überdies war ihm in der vorigen Woche das Unglück passiert, daß er sich zehn Meter Mechelner Spitzen hatte stehlen lassen. Allein Frau von Boves brachte ihn in Verwirrung, sein bißchen Festigkeit wankte, und er verließ den Haufen Alençoner Spitzen, um sich umzuwenden und die verlangten neuen Muster herunterzuholen.

»Schau nur, Mama«, sagte Blanche, die daneben in einem Karton mit wohlfeilen Valenciennesspitzen herumkramte, »mit diesen kleinen Stücken könnten wir Polster besetzen.«

Frau von Boves antwortete nicht. Als sich die Tochter umwandte, sah sie, wie ihre Mutter, immer unter den Spitzen herumsuchend, ein Stück im Ärmel ihres Mantels verschwinden ließ. Blanche schien nicht sonderlich überrascht zu sein, ja sie trat näher, um die Manipulation ihrer Mutter zu verbergen. Da tauchte plötzlich Jouve zwischen den beiden Damen auf. Er neigte sich zum Ohr der Gräfin und flüsterte in höflichem Ton:

»Gnädige Frau, folgen Sie mir bitte.«

»Warum denn?« fragte Frau von Boves unwillig.

»Folgen Sie mir, gnädige Frau!« wiederholte Jouve im selben ruhigen Ton.

Angstvoll und verstört blickte sie rasch um sich. Dann ergab sie sich, gewann ihre hochfahrende Haltung wieder und ging neben ihm her wie eine Königin, die sich der Obhut eines Flügeladjutanten anzuvertrauen geruht. Niemand hatte die kleine Szene beobachtet. Deloche, der mit den Mustern zurückkehrte, sah hocherstaunt, wie Frau von Boves weggeführt wurde. Wie? Die auch? Diese vornehme Dame? Blanche, um die sich niemand kümmerte, stand blaß und zitternd unter der Menge und blickte ihrer Mutter nach, schwankend zwischen dem Gefühl, sie dürfte sie eigentlich nicht verlassen, und der Furcht, samt ihr dabehalten zu werden. Sie sah ihre Mutter in das Arbeitszimmer Bourdoncles eintreten und begnügte sich damit, vor der Tür zu warten.

Bourdoncle war gerade anwesend. Bei solchen Diebstählen pflegte er selbst das Urteil zu sprechen. Seit langer Zeit war Jouve der Gräfin auf der Spur; er hatte Bourdoncle seinen Verdacht schon mitgeteilt. Dieser war denn auch nicht sonderlich überrascht, als ihm der Inspektor von dem Vorfall Meldung machte. Es kamen ihm so außerordentliche Fälle unter die Hand, daß er Frauen für zu allem fähig hielt, wenn sie einmal die Begierde gepackt hatte. Da ihm Mourets gesellschaftliche Beziehungen zu der Diebin bekannt waren, behandelte er sie mit vollendeter Höflichkeit.

»Gnädige Frau, wir entschuldigen derartige Augenblicke der Schwäche ... Allein bedenken Sie, wohin solche Selbstvergessenheit Sie führen kann! Wenn jemand bemerkt hätte, wie Sie die Spitzen in den Ärmel Ihres Mantels gleiten ließen --«

Sie unterbrach ihn entrüstet. Sie eine Diebin! Für wen hielt er sie denn? Sie war die Gräfin von Boves, ihr Gatte hoch angesehen bei Hofe!

»Ich weiß, ich weiß, gnädige Frau«, sagte Bourdoncle ruhig.

»Ich habe die Ehre, Sie zu kennen ... Aber geben Sie vor allem die Spitzen zurück, die Sie bei sich haben ...«

Sie wehrte sich noch immer, spielte die große Dame, weinte und tobte. Jeder andere wäre wankend geworden und hätte befürdhtet, es könne ein bedauerlicher Irrtum geschehen sein.

»Nehmen Sie sich in acht!« schrie sie. »Mein Mann wird Ihr Haus zu Fall bringen; er wird Rache nehmen; er wird, wenn nötig, bis zum Minister gehen!«

»Sie sind nicht vernünftiger als die anderen, gnädige Frau. Gut: dann wird man Sie eben durchsuchen.«

Sie gab noch immer nicht nach, sondern sagte mit vernichtender Ruhe:

»Bitte, lassen Sie mich durchsuchen. Aber Sie setzen Ihre Firma aufs Spiel, ich mache Sie darauf aufmerksam.«

Jouve holte zwei Verkäuferinnen aus der Korsettabteilung. Die beiden Männer zogen sich in ein Zimmer nebenan zurück, während die beiden Mädchen die Gräfin entkleideten. Außer den Alençonspitzen -- zwölf Meter zu je tausend Franken --, die sich im Ärmel ihres Mantels fanden, wurden in ihrem Ausschnitt noch ein Taschentuch, ein Fächer und eine Krawatte entdeckt, alles in allem Spitzen im ungefähren Wert von vierzehntausend Franken. So stahl Frau von Boves schon seit einem Jahr, das Opfer einer wahnwitzigen, unwiderstehlichen Begierde. Sie stahl nicht nur Waren in den Geschäften, sie stahl auch ihrem Gatten das Geld aus der Tasche; sie stahl, um zu stehlen, triebhaft und hemmungslos.

»Das ist eine niederträchtig gelegte Falle!« schrie sie, als Bourdoncle und Jouve zurückkehrten. »Man hat mir die Spitzen zugesteckt. Ich schwöre es bei Gott!«

Sie war auf einen Sessel hingesunken und weinte Tränen der Wut. Bourdoncle schickte die Verkäuferinnen hinaus; dann sagte er gelassen:

»Gnädige Frau, aus Rücksicht auf Ihre Familie wollen wir diesen bedauerlichen Vorfall unterdrücken. Aber vorher werden Sie uns eine kurze Erklärung schreiben, nur den einen Satz: ›Ich habe im »Paradies der Damen« Spitzen gestohlen.‹ Und das heutige Datum. An dem Tag, da Sie mir zweitausend Franken für wohltätige Zwecke bringen, erhalten Sie diese Erklärung zurück.«

»Niemals werde ich so etwas schreiben, lieber sterbe ich!« schrie sie in einer neuen Aufwallung von Zorn und Entrüstung.

»Sie werden nicht sterben, gnädige Frau, sondern ich werde den Polizeikommissar holen lassen.«

Nun gab es eine greuliche Szene. Sie beschimpfte ihn und schrie, es sei niederträchtig, daß Männer eine Frau so quälten. Ihre junonische Schönheit, ihr imposantes, majestätisches Auftreten verlor sich im Wutausbruch eines Fischweibes. Dann versuchte sie, die beiden Männer zu rühren, bat sie im Namen ihrer Mütter, wollte sich ihnen zu Füßen werfen. Da sie, an solche Szenen gewöhnt, unerbittlich blieben, setzte sie sich plötzlich zurecht, ergriff die Feder und stellte mit fieberhaft zitternder Hand die geforderte Erklärung aus.

»Da haben Sie, mein Herr! Ich weiche der Gewalt!«

Bourdoncle nahm das Papier, faltete es sorgfältig zusammen und verschloß es in einem Schubfach, wobei er sagte:

»Wie Sie sehen, gnädige Frau, befindet sich Ihre Erklärung in zahlreicher Gesellschaft; denn alle die Damen, die zuerst sterben wollen und hernach doch schreiben, was von ihnen verlangt wird, vergessen später, ihre Billetts abzuholen.«

Sie brachte ihre Kleider in Ordnung und beachtete ihn nicht. Dann fragte sie kühl:

»Ich kann wohl gehen?«

Bourdoncle war bereits mit einer anderen Angelegenheit beschäftigt. Auf Jouves Bericht hin beschloß er, Deloche zu entlassen. Dieser Verkäufer war unfähig; er ließ sich fortwährend bestehlen und würde wohl von den Kunden niemals für voll angesehen werden.

Frau von Boves wiederholte ihre Frage; da sie mit einem zustimmenden Kopfnicken entlassen wurde, warf sie nur noch einmal einen mörderischen Blick auf die beiden Männer und ging hinaus, die Tür geräuschvoll hinter sich zuschlagend.

»Ihr Gauner!« murmelte sie dabei.

Blanche hatte inzwischen vor der Tür des Arbeitszimmers ausgeharrt. Da sie nicht wußte, was drinnen vorging, und den Inspektor und die Verkäuferinnen kommen und gehen sah, war sie tief bestürzt; sie dachte schon an Polizei, an Gericht, an Gefängnis. Um ihren Schrecken aufs höchste zu steigern, erschien mit einemmal Vallagnosc, dieser Mann, der erst seit einem Monat ihr Gatte war und dessen Du sie noch in Verlegenheit brachte. Erstaunt über ihre Verstörtheit, fragte er sie:

»Wo ist deine Mutter? ... So sag doch! Du regst mich auf ...« Es wollte ihr keine halbwegs glaubwürdige Lüge einfallen. In ihrer Beklemmung dämpfte sie die Stimme und stotterte:

»Mama ... Mama ... sie hat gestohlen.«

»Wie, gestohlen?«

Endlich begriff er. Entsetzt starrte er in das aufgedunsene Gesicht seiner Frau, die blaß und völlig außer sich war.

»Spitzen hat sie genommen, in den Ärmel ihres Mantels geschoben«, stammelte die Unglückliche weiter.

»Und du hast zugesehen?« murmelte er.

Es überlief ihn kalt bei dem Gedanken, daß sie vielleicht die Mitschuldige ihrer Mutter war. Schon wandten einzelne Leute die Köpfe nach ihnen um. Was tun? Eben hatte er sich dafür entschieden, zu Bourdoncle hineinzugehen, als er Mouret erblickte, wie er durch die Galerie schritt. Er befahl seiner Frau, ihn hier zu erwarten, nahm den Arm seines alten Freundes und erzählte ihm in einigen hastig hervorgestoßenen Worten, was vorgefallen war. Mouret führte ihn rasch in sein Arbeitszimmer, wo er ihn über die möglichen Folgen beruhigte. Er versicherte, daß seine Vermittlung unnötig sei, und erklärte ihm, wie die Sache ungefähr ablaufen werde. Er selbst schien übrigens über diesen Diebstahl nicht sonderlich überrascht zu sein, als hätte er ihn seit langer Zeit vorausgesehen. Allein Vallagnosc wollte, als eine sofortige Verhaftung nicht mehr zu befürchten war, das Abenteuer nicht mit der gleichen Ruhe hinnehmen. Er lehnte sich im Sessel zurück und erging sich in Klagen über sein eigenes Schicksal. Da sei er also in eine Diebesfamilie geraten! rief er. Dabei sei er auf diese dumme Heirat nur dem Vater zuliebe eingegangen. Er brach in Tränen aus, sehr zum Erstaunen Mourets, der sich seines früheren teilnahmslosen Pessimismus erinnerte. Hatte er ihn nicht zwanzigmal sagen hören, daß das Leben gar nichts tauge und höchstens das Schlechte noch einigen Spaß verspreche? Um den anderen zu zerstreuen, machte nun er sich das Vergnügen, ihm in freundschaftlich scherzhaftem Ton Gleichgültigkeit zu predigen. Vallagnosc aber wurde böse; er konnte sein gestörtes Gleichgewicht nicht wiederfinden, seine ganze spießbürgerliche Erziehung lehnte sich empört gegen seine Schwiegermutter auf. Bei der geringsten Berührung mit menschlicher Schwäche lag dieser Spötter verzagend am Boden. Es sei abscheulich, meinte er, man ziehe die Ehre seines Geschlechtes in den Schmutz! Die Welt schien ihm aus den Fugen geraten zu sein.

»So beruhige dich doch«, ermahnte ihn Mouret, von Mitleid ergriffen. »Ich rate dir, hinunterzugehen und Frau von Boves deinen Arm anzubieten, das ist besser, als einen Skandal zu machen.«

Da erhob sich Vallagnosc und befolgte den Rat seines ehemaligen Mitschülers. Sie betraten in dem Augenblick die Galerie, als Frau von Boves das Zimmer Bourdoncles verließ. Sie nahm majestätisch den Arm ihres Schwiegersohnes, und als Mouret sie mit äußerster Höflichkeit grüßte, hörte er sie flüstern:

»Sie haben sich tausendmal entschuldigt; wahrhaftig: es geschehen hier schreckliche Mißgriffe.«

Blanche hatte sie eingeholt und ging stillschweigend hinter ihnen her. Sie verloren sich allmählich im Gewühl der Kauflustigen.

Allein und nachdenklich schritt Mouret von neuem durch das Geschäft. Auf der Höhe der Mitteltreppe blieb er stehen und betrachtete lange den ungeheuren Bau, in dem sein Frauenvolk sich drängte.

Es schlug sechs Uhr. Draußen ging der Tag zur Neige, und das Licht wich allmählich aus den noch immer übervollen Gängen. Man zündete eine nach der anderen die elektrischen Lampen an, deren strahlende Milchglaskugeln in ihrer endlosen Zahl erst die ganze Ausdehnung der Geschäftsräume ahnen ließen. Als alle brannten, stieg ein Gemurmel des Entzückens empor; die große Weißwarenausstellung nahm in dieser neuen Beleuchtung einen feenhaften Glanz an. Es war, als verwandelte sich diese Fülle von Weiß ebenfalls in eine schimmernde Lichtquelle.

Mouret stand oben auf der Haupttreppe und betrachtete seine weibliche Kundschaft in dieser flammenden Helle. Die Käuferinnen brachen allmählich auf, die Fächer zeigten große Lücken, das Gold klang hell auf den Kassentischen. Ausgeplündert, überwältigt, mit zerknitterter Kleidung gingen sie davon, mit gesättigter Wollust und geheimer Scham wie ob eines in einem zweideutigen Gasthof befriedigten Verlangens. Er war es, der sie in dieser Weise besaß; er hielt sie in seiner Gewalt, hatte sie sich untertan gemacht, beherrschte sie wie ein Despot, dessen Launen in jeden Haushalt den Ruin tragen. In ihrer seit zehn Jahren sorgfältig genährten Sucht nach Luxus sah er sie trotz vorgerückter Stunde immer noch durch die Stockwerke irren. Frau Marty und ihre Tochter waren jetzt ganz oben in der Möbelabteilung. Von ihren Kindern festgehalten, konnte Frau Bourdelais sich von den Pariser Spezialitäten nicht trennen. Dann kam die höhere Gesellschaft: Frau von Boves, am Arm ihres Schwiegersohnes und gefolgt von Blanche, in jeder Abteilung haltmachend, noch immer mit stolzer Miene die Stoffe besichtigend. Und mitten in diesem Meer von Frauen, die von Lebenskraft und Begierde strotzten und sämtlich mit Veilchensträußen geschmückt waren wie bei der zu einem Volksfest gewordenen Hochzeitsfeier einer Königin, sah er Frau Desforges, die mit Frau Guibal in der Handschuhabteilung stehengeblieben war, sie allein ohne Veilchenstrauß. Trotz ihrer eifersüchtigen Rachsucht kaufte auch sie, und er fühlte sich wieder einmal als Sieger, auch sie lag zu seinen Füßen.

Mechanischen Schritts ging Mouret durch die Galerien, dermaßen in Gedanken versunken, daß er sich vom Besucherstrom schieben ließ. Als er aufblickte, befand er sich in der neuerrichteten Abteilung für Putzwaren, deren Fenster auf die Rue du Dix-Décembre gingen. Von da aus betrachtete er die hinausströmende Menge. Die untergehende Sonne vergoldete die Giebel der Häuser, der blaue Himmel dieses schönen Tages wurde allmählich fahl, ein frischer Abendwind strich durch die in Dämmerung gehüllten Straßen, die nur vor dem »Paradies der Damen« durch die elektrischen Lampen der Geschäftsräume hell erleuchtet waren. In den Straßen nach der Oper und der Börse zu standen noch immer in dichter Folge die Wagen, jeden Augenblick hörte man eine Nummer oder einen Namen ausrufen, und gleich darauf bog eine Droschke oder ein Privatwagen aus den Reihen, um eine Dame aufzunehmen und sich in schnellem Trab zu entfernen.

Mouret betrachtete traumverloren dieses Schauspiel; und in diesem seinem Triumph, angesichts der Stadt, die er erobert hatte, angesichts der Frauen, die er beherrschte, empfand er eine plötzliche Schwäche, ein Nachlassen seiner Willenskraft, die Überlegenheit einer höheren Macht. Es war wie ein Bedürfnis, mitten in seinem Triumph überwunden zu werden, der Wahnwitz eines Kriegers, der am Tag nach seinem Sieg sich den Launen eines Kindes fügt. Er, der sich seit Monaten wehrte, der sich noch am Morgen geschworen hatte, seine Leidenschaft zu ersticken, gab auf einmal nach, wie von einem Schwindel erfaßt, glücklich darüber, sich für etwas entschieden zu haben, was er für eine Torheit hielt. Sein so plötzlich gefaßter Entschluß nahm von einer Minute zur anderen solche Festigkeit an, daß er in der Welt nichts Zwingenderes und nichts Notwendigeres mehr sah als dies.

Am Abend, als die letzte Schicht gegessen hatte, wartete er in seinem Arbeitszimmer. Zitternd wie ein Jüngling, der sein Glück aufs Spiel gesetzt sieht, ging er auf und ab, es duldete ihn nicht auf einem Fleck. Wenn Schritte nahten, klopfte sein Herz heftiger. Jetzt eilte er zur Tür, denn er hatte aus der Ferne ein Gemurmel gehört, das immer näher kam.

Es war Lhomme, der die Tageseinnahme brachte. Sie wog so schwer, daß er zwei Laufburschen zu Hilfe genommen hatte. Diese trugen in zwei mächtigen Säcken die kleinen Münzen, während er selbst mit den Banknoten und dem Gold vorausging. Keuchend und schwitzend kam er aus dem Hintergrund des Geschäfts, umgeben von der wachsenden Erregung der Verkäufer. Alles war entzückt angesichts dieser wandernden Schätze. Im ersten Stock hatten die Leute in sämtlichen Abteilungen ehrfurchtsvoll Spalier gebildet. Je näher der Kassierer kam, desto höher stieg das Getöse, es war wie der Jubel des Volkes, das das goldene Kalb begrüßt.

Mouret hatte inzwischen die Tür geöffnet, und Lhomme erschien, von den zwei Burschen gefolgt, die unter ihrer Last fast zusammenbrachen. Der Kassierer hatte gerade noch genug Kraft, um keuchend die Gesamtsumme hervorzustoßen:

»1 000 227 Franken 95 Centimes!«

Endlich die Million! Eine Million an einem Tag! Die Zahl, von der Mouret so lange geträumt hatte! Dennoch machte er eine zornige Bewegung, wie jemand, der in einer ungeduldigen Erwartung enttäuscht worden ist, und sagte:

»Gut, gut, legen Sie es hin!«

Lhomme wußte, daß der Chef es liebte, die Einnahmen auf seinem Schreibtisch zu sehen, bevor man sie in die Hauptkasse schaffte. Die Million bedeckte die ganze Fläche, überflutete die Papiere, drängte fast das Tintenfaß über den Rand. Das Gold, das Silber, das Kupfer floß aus den Säcken, bildete einen riesigen Haufen, jedes Stück aus den Händen der Kundschaft gekommen, noch warm und gleichsam lebendig.

In dem Augenblick, als der Kassierer, verdrossen über die Gleichgültigkeit des Chefs, sich zurückzog, kam Bourdoncle und rief fröhlich aus:

»Diesmal haben wir die Million, wie?«

Doch er bemerkte die fieberhafte Erregung Mourets und begriff. Helle Freude blitzte in seinen Augen auf, und nach kurzem Stillschweigen sagte er:

»Sie haben sich endlich entschlossen? Mein Gott, Sie haben recht.«

Da richtete sich Mouret plötzlich vor ihm auf und rief:

»Sie triumphieren zu früh, mein Lieber! Sie meinen, ich sei am Ende! Nehmen Sie sich in acht! Ich lasse mich nicht so leicht auffressen!«

Aus der Fassung gebracht durch den heftigen Angriff dieses verteufelten Menschen, der alles erriet, stammelte Bourdoncle:

»Sie scherzen ... Ich, der ich so voller Bewunderung für Sie bin!«

»Lügen Sie nicht!« rief Mouret noch heftiger. »Hören Sie, wir waren dumm mit unserem Aberglauben, daß die Ehe uns zugrunde richte. Ist die Ehe nicht das einzig Gesunde, die Kraft und die Ordnung des Lebens selbst? Nun ja, ich werde sie heiraten, und wenn ihr euch zu widersetzen wagt, werfe ich euch alle hinaus, Sie zuallererst, Bourdoncle!«

Er verabschiedete ihn mit einem Wink. Bourdoncle fühlte seine Niederlage, er war besiegt – besiegt von einer Frau. Er entfernte sich eben in dem Augenblick, als Denise eintrat. Mit einer tiefen Verbeugung grüßte er sie.

»Endlich sind Sie da«, sagte Mouret sanft.

Denise war blaß und erregt. Eben hatte sie wieder einen Kummer gehabt. Deloche hatte ihr seine Entlassung mitgeteilt. Sie versuchte ihn zurückzuhalten und bot an, bei der Geschäftsleitung eine Fürbitte für ihn zu tun. Allein er lehnte ab; er wolle lieber verschwinden, sagte er. Wozu sollte er auch glücklichen Leuten im Weg stehen? Sie hatte unter Tränen von ihm Abschied genommen. Suchte sie nicht auch das Vergessen? Alles sollte zu Ende gehen, und sie wünschte nichts als die Kraft und den Mut zur Trennung. Wenn sie stark genug war, ihrem Herzen Schweigen zu gebieten, würde sie binnen weniger Minuten gehen können, um ihren Tränen in der Abgeschiedenheit freien Lauf zu lassen.

»Sie wollten mich sehen«, sagte sie beim Eintreten; »ich wäre übrigens ohnedies gekommen, um Ihnen für alle Güte zu danken.«

Sie hatte die Million bemerkt, die sich auf dem Schreibtisch ausbreitete, und der Anblick dieses Geldes verletzte sie. Ihr gegenüber an der Wand hing das Porträt von Frau Hédouin; es war, als wollte sie aus ihrem goldenen Rahmen herab mit ihrem ewigen Lächeln auf den Lippen die Szene mit ansehen.

»Sie sind noch immer entschlossen, uns zu verlassen?« fragte Mouret mit unsicherer Stimme.

»Ja, es muß sein.«

Da ergriff er ihre Hände und rief in einem Ausbruch von Zärtlichkeit:

»Und wenn ich Sie heiratete, Denise, gingen Sie auch dann noch fort?«

Sie zog hastig ihre Hände zurück und wehrte voller Schmerz ab.

»Ach, Herr Mouret, schweigen Sie bitte! Quälen Sie mich nicht mehr! ... Ich kann nicht! Gott ist mein Zeuge, daß ich nur gehe, um einem solchen Unglück vorzubeugen.«

Sie fuhr fort, sich in hastigen, abgebrochenen Worten zu wehren. Hatte sie nicht schon genug gelitten unter den ewigen Tratschereien des ganzen Hauses? Nein, nein! Sie besaß Kraft genug, um ihn von einer solchen Torheit zurückzuhalten. Von Seelenqual gepeinigt, hörte er ihr zu und wiederholte immer wieder:

»Ich will es aber, ich will es!«

»Nein, es ist unmöglich! ... Und meine Brüder? Ich habe mir geschworen, nicht zu heiraten; ich kann Ihnen doch nicht zwei Kinder ins Haus bringen.«

»Sie werden auch meine Brüder sein! Sagen Sie ja, Denise!«

»Nein, nein! Lassen Sie mich! Sie quälen mich!«

Dieser Widerstand bis zuletzt machte ihn fast rasend. Was, selbst um diesen Preis weigerte sie sich noch? Aus der Ferne hörte er das geschäftige Treiben seiner dreitausend Angestellten, die mit vollen Händen in seinem königlichen Reichtum wühlten. Und die lächerliche Million vor ihm – sie wirkte wie ein kränkender Hohn, er hätte sie am liebsten auf die Straße geworfen.

»So gehen Sie!« rief er, in Tränen ausbrechend; »gehen Sie zu dem, den Sie lieben ... Das ist doch wohl der Grund Ihrer Weigerung; Sie haben es mir ja neulich angedeutet.«

Angesichts dieser wilden Verzweiflung brachen endlich die so lange verschwiegenen Regungen ihres Herzens hervor. Mit der Leidenschaftlichkeit eines Kindes warf sie sich an seinen Hals und sagte schluchzend:

»Ach, Herr Mouret, Sie sind es doch, den ich liebe!«

Ein letztes Getöse drang aus den Abteilungen herauf wie der Beifallsruf einer vieltausendköpfigen Menge. Das Bild Frau Hédouins lächelte noch immer. Mouret war inmitten seiner Million auf den Schreibtisch niedergesunken. Er hielt Denise umschlungen und sagte ihr, jetzt könne sie ruhig abreisen. Sie solle einen Monat in Valognes zubringen, um den Leuten in Paris den Mund zu stopfen; dann werde er selbst sie abholen und sie stolz und glücklich an seinem Arm heimführen.


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