Emile Zola
Das Paradies der Damen
Emile Zola

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Dreizehntes Kapitel

Als an einem Novembermorgen Denise eben ihre ersten Anweisungen in der Abteilung gab, kam das Dienstmädchen der Baudus, um ihr zu melden, daß Fräulein Geneviève eine sehr schlechte Nacht verbracht habe und ihre Kusine wenn möglich gleich sehen wolle. In letzter Zeit war das Mädchen von Tag zu Tag schwächer geworden, und vor zwei Tagen hatte sie sich ganz zu Bett legen müssen. Die Ursache war das plötzliche Verschwinden Colombans. Anfangs hatte er sich damit begnügt, öfters über Nacht auszubleiben, dann war er immer mehr der gehorsame Hund Claires geworden, und endlich hatte Baudu an einem Montagmorgen einen Brief von ihm erhalten, in dem er von ihm Abschied nahm, und zwar in so gesuchten Worten, als trage er sich mit Selbstmordgedanken. Vielleicht schlummerte unter diesem Streich aus Leidenschaft auch die schlaue Berechnung eines Burschen, der entzückt war, so um eine ihm immer unerwünschtere Ehe herumkommen zu können. Baudus Geschäft ging es ebenso trostlos wie seiner Tochter, und da nahm Colomban eben die Gelegenheit wahr, auf diese unschöne Weise die Beziehungen abzubrechen. Dabei hielt ihn noch jedermann für ein Opfer seiner unglücklichen Liebe.

Als Denise in den »Vieil Elbeuf« hinüberkam, war Frau Baudu allein. Regungslos saß sie hinter der Kasse und hütete den leeren Laden. Es war kein Angestellter mehr da, nur das Dienstmädchen staubte die Fächer ab. Stunden vergingen oft, ohne daß eine Kundin die Stille störte, und die Waren, die manchmal wochenlang nicht berührt wurden, verkamen mehr und mehr.

»Was gibt es denn?« fragte Denise lebhaft. »Ist etwas mit Geneviève?«

Frau Baudu antwortete nicht sofort, ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann stammelte sie:

»Ich weiß nicht, man sagt mir ja nichts. Ich glaube, es ist alles aus.«

Mit tränenumflorten Blicken sah sie umher, als fühlte sie das Haus und ihre Tochter zusammen dahinschwinden. Die siebzigtausend Franken, die sie für ihr Landgut bekommen hatten, waren in weniger als zwei Jahren durch den erbarmungslosen Wettbewerb verschlungen worden. Um gegen das »Paradies der Damen« ankämpfen zu können, das jetzt auch Herrentuche, Jagdsamte und Livreestoffe führte, hatte der Tuchhändler schwere Opfer bringen müssen. Seine Schulden waren allmählich immer größer geworden; als letzte Hilfsquelle hatte er auf das Grundstück in der Rue de la Michodière, auf dem der alte Finet, sein Vorgänger, das Haus gegründet hatte, eine Hypothek aufgenommen. Doch es war alles zwecklos, der endgültige Zusammenbruch war nur mehr eine Frage allerkürzester Zeit.

»Der Vater ist oben«, fuhr Frau Baudu mit gebrochener Stimme fort. »Wir lösen einander alle zwei Stunden ab; es muß doch jemand hier im Laden sein, nur sicherheitshalber, denn im Grunde ...«

Eine Handbewegung sagte alles. Sie hätten schließen können, wenn ihr alter kaufmännischer Stolz sie nicht daran gehindert hätte.

»Dann will ich hinaufgehen, Tante«, sagte Denise, der sich angesichts dieser Verzweiflung das Herz zusammenkrampfte.

»Ja, geh hinauf, geh rasch, mein Kind. Sie erwartet dich, sie hat die ganze Nacht nach dir gefragt. Sie hat dir etwas zu sagen.«

In diesem Augenblick kam Baudu herunter. Er trat leise auf und flüsterte, als ob man ihn oben hören könnte:

»Sie schläft.«

Er sank in einen Sessel, dann murmelte er:

»Du wirst sie gleich sehen ... Wenn sie schläft, sieht es immer aus, als würde sie wieder gesund.«

Sie schwiegen. Vater und Mutter saßen einander gegenüber und betrachteten sich stumm. Schließlich begann er sich in Klagen zu ergehen, ohne einen Namen zu nennen, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.

»Ich hätte es nicht geglaubt, meine Hand hätte ich ins Feuer gelegt ... Er war der letzte, ich hatte ihn erzogen wie meinen Sohn. Wenn einer gekommen wäre und mir gesagt hätte: ›Auch den werden sie dir nehmen, du wirst sehen, wie er seiner Wege geht‹, so hätte ich geantwortet: ›Dann gibt es keinen gütigen Gott mehr!‹ – Und er ist richtig gegangen! Dieser Unglücksmensch, er verstand sich so gut auf den wahren Handel, er dachte in allem so wie ich! ... Und warum? Wegen einer Dirne, einer jener Puppen, die in zweideutigen Häusern herumlungern ... Man könnte wahrhaftig den Verstand verlieren!«

Er schüttelte den Kopf, seine ausdruckslosen Augen starrten auf den abgenützten Fußboden.

»Wenn ihr es wissen wollt«, fuhr er dann mit noch leiserer Stimme fort, »es gibt Augenblicke, wo ich mich selbst für alles Unglück am meisten anklage. Ja, es ist meine Schuld, wenn unsere arme Tochter da oben liegt. Ich hätte sie längst verheiraten sollen, ohne meinem dummen Stolz nachzuhängen und meinem Eigensinn, in dem ich ihnen das Haus nicht in schlechterem Zustand übergeben wollte. Dann hätte sie ihn jetzt, und vielleicht hätte ihrer beider Jugend jenes Wunder zustande gebracht, das mir nicht gelungen ist ... Aber ich bin ein alter Narr, ich habe nichts begriffen, ich glaubte nicht, daß man wegen solcher Dinge krank werden könnte ... Wahrhaftig, er war ein außerordentlicher Bursche, so begabt für den Verkauf, so rechtschaffen und einfach, von solchem Ordnungssinn in allen Dingen. Ja, das war noch mal ein Schüler ...«

Immer noch verteidigte er diesen Menschen, der ihn betrogen hatte. Denise konnte es nicht mehr mit anhören, wie er sich so selbst anklagte, und als sie ihn derart niedergeschlagen sah, in Tränen gebadet, ihn, der hier einst als unumschränkter Gebieter geschaltet hatte, da sagte sie ihm alles.

»Nehmen Sie ihn nicht in Schutz, Onkel. Er hat Geneviève niemals geliebt, und wenn Sie die Heirat beschleunigt hätten, wäre er schon früher durchgegangen. Ich selbst habe mit ihm gesprochen. Er wußte ganz gut, daß meine arme Kusine seinetwegen litt, und wie Sie sehen, hat es ihn nicht daran gehindert, davonzulaufen – Fragen Sie nur die Tante.«

Wortlos bestätigte Frau Baudu diese Eröffnung durch ein Kopfnicken. Da wurde der Tuchhändler noch blasser und stammelte:

»Dann ist alles aus! Sie haben unser Geschäft zugrunde gerichtet, und nun bringt eine ihrer Dirnen auch noch unser Kind um.«

Keiner sprach mehr. Plötzlich in diesem düsteren Jammer hörten sie irgendwoher aus dem Haus ein dumpfes Klopfen; es war Geneviève, die erwacht war und mit einem Stock, den man bei ihr gelassen hatte, Zeichen gab.

»Gehen wir hinauf«, sagte Baudu und sprang rasch auf. »Sei ein bißchen fröhlich, sie braucht nichts zu wissen ...«

Als sie oben die Tür öffneten, hörten sie eine schwache Stimme rufen:

»Ich will nicht allein sein, laßt mich nicht allein ... Ich habe Angst, wenn ich allein bin!«

Als sie Denise eintreten sah, beruhigte sich Geneviève, ein freudiges Lächeln trat auf ihre blassen Lippen.

»Da sind Sie endlich!« sagte sie. »Wie sehnsüchtig habe ich seit gestern auf Sie gewartet! Ich glaubte schon, auch Sie hätten mich verlassen.«

Es war ein wahrer Jammer. Das Zimmer des Mädchens ging auf den Hof, es war ein kleines Gelaß, in das nur fahles Licht drang. Anfangs hatten die Eltern ihr krankes Kind in ihr eigenes Zimmer gelegt gehabt, das auf die Straße ging. Allein der Anblick des »Paradieses der Damen« da gegenüber war der Kranken eine Qual gewesen, und sie hatten sie in ihre Kammer zurücktragen müssen. Hier lag sie nun unter ihren Decken, so schmächtig und schwach, daß man ihren Körper kaum mehr wahrnahm. Ihre mageren Arme mit den fieberheißen Händen tasteten fortwährend suchend auf der Bettdecke umher.

Denise betrachtete sie, das Herz von Mitleid erfüllt. Sie hielt an sich aus Furcht, die Tränen könnten ihr aus den Augen stürzen. Endlich murmelte sie:

»Ich bin gleich gekommen. Wenn ich Ihnen nur helfen könnte! ... Soll ich hierbleiben? Kann ich etwas tun?«

Geneviève blickte sie unverwandt an und erwiderte dann stockend:

»Nein, danke, ich brauche nichts, ich wollte Sie bloß noch einmal umarmen.«

Tränen traten in ihre Augen. Denise neigte sich gerührt zu ihr hinab und küßte sie auf die fieberheißen Wangen. Die Kranke hatte die Arme um ihren Nacken gelegt, preßte sie an sich und hielt sie in einer verzweifelten Umarmung fest. Dann irrten ihre Blicke zum Vater hinüber.

»Soll ich hierbleiben?« wiederholte Denise. »Vielleicht kann ich irgend etwas für Sie erledigen?«

»Nein, nein.«

Hartnäckig sah sie auf ihren Vater. Da begriff er endlich und zog sich zurück; man hörte, wie er mit schweren Schritten die Treppe hinabging.

»Sagen Sie mir, lebt er mit diesem Frauenzimmer zusammen?« fragte die Kranke sogleich. Sie ergriff die Hand der Kusine und hieß sie sich auf den Rand des Bettes setzen. »Ja, ich wollte Sie sehen, weil nur Sie mir sagen können ... Nicht wahr, sie leben zusammen?«

Überrascht von diesen Fragen, mußte Denise stotternd die Wahrheit bekennen, all die Gerüchte erzählen, die im Geschäft in Umlauf waren. Claire war des Burschen längst überdrüssig und hatte ihm die Türe verschlossen; Colomban verfolgte sie untröstlich überallhin und suchte von Zeit zu Zeit eine Begegnung mit ihr zu erreichen; er benahm sich mit der Unterwürfigkeit eines geprügelten Hundes. Man erzählte sich übrigens, daß er im Begriff sei, im »Louvre« einzutreten.

»Wenn Sie ihn so sehr lieben, kann er ja noch zurückkommen«, fuhr Denise fort, um die Kranke mit dieser letzten Hoffnung einzuschläfern. »Sie müssen rasch gesund werden, dann wird er seinen Fehler erkennen und Sie heiraten.«

Geneviève winkte ab.

»Nein, lassen Sie's gut sein, ich weiß zu genau, daß alles vorbei ist ... Ich sage ja nichts, weil ich Papa weinen höre und weil ich Mama nicht noch kränker machen will. Aber ich fühle, daß es aus ist mit mir, und wenn ich Sie heute habe rufen lassen, dann nur aus Angst, ich könnte den Abend nicht mehr erleben ... Mein Gott, wenn ich daran denke, daß er nicht einmal glücklich ist!«

Denise wollte ihr die Todesgedanken ausreden und meinte, ihr Zustand sei keineswegs so besorgniserregend; aber Geneviève schnitt ihr kurz das Wort ab. Nach einer Weile bat sie:

»So, nun bleiben Sie nicht länger, Sie haben ja zu tun; ich danke Ihnen. Ich mußte nur Klarheit haben; nun bin ich zufrieden. Wenn Sie ihn wiedersehen, sagen Sie ihm, daß ich ihm verzeihe. Leben Sie wohl, meine gute Denise; küssen Sie mich noch einmal, es ist das letztemal.«

Denise küßte sie und versuchte abermals, ihr das auszureden.

»Aber nein«, sagte sie, »was quälen Sie sich nur so? Sie brauchen Pflege, sonst nichts.«

Doch die Kranke schüttelte eigensinnig den Kopf und lächelte, sie wußte es besser. Als ihre Kusine sich endlich zur Türe wandte, sagte sie noch:

»Warten Sie: klopfen Sie mit dem Stock, damit Papa heraufkommt; ich fürchte mich so, wenn ich allein bin.«

Als Baudu dann in dem kleinen, dumpfen Zimmer stand, wo er ganze Stunden auf einem Sessel sitzend verbrachte, tat sie sehr vergnügt und rief Denise zu:

»Morgen brauchen Sie gar nicht zu kommen; aber am Sonntag erwarte ich Sie, dann bleiben Sie den Nachmittag über bei mir.«

Am folgenden Morgen um sechs Uhr starb Geneviève nach einem vierstündigen schweren Todeskampf.

Die Beerdigung fand am Sonntag darauf statt, an einem düsteren, unfreundlichen Tag. Mit einem großen Strauß weißer Rosen geschmückt, stand der schmale Sarg in dem finsteren Toreingang des Hauses. Um neun Uhr kam Denise, um bei ihrer Tante zu bleiben. Doch Frau Baudu, die selbst nicht mitgehen konnte, bat sie, den Leichenzug zu begleiten und auf den Onkel achtzugeben, dessen stummer Schmerz sie beunruhigte. Unten fand Denise mittlerweile die Straße voll von Leuten. Der ganze Kleinhandel des Stadtviertels wollte der Familie Baudu seine Teilnahme bezeigen; es war zugleich wie eine Art Kundgebung gegen das »Paradies der Damen«, dem man an Genevièves langsamem Hinsterben die Schuld gab.

Endlich kam mit einiger Verspätung der Leichenwagen, und der Zug setzte sich zögernd in Bewegung. Als sie durch die Rue Neuve-des-Petits-Champs kamen, schloß sich Robineau, sehr blaß und sichtlich gealtert, ihnen an.

In der Kirche zu Saint-Roch warteten viele Frauen, die kleinen Krämerinnen des Stadtviertels, die sich nicht in das Gedränge vor dem Trauerhaus hatten begeben wollen. Die Demonstration ward jetzt fast zum Aufruhr, und als nach dem Gottesdienst der Leichenzug sich wieder in Bewegung setzte, folgte alles dem Sarg zum Friedhof, obwohl es ein weiter Weg war bis zum Montmartre. Sie mußten wieder durch die Rue Saint-Roch und am »Paradies der Damen« vorbei. In der Rue du Dix-Décembre gab es gerade vor den Gerüsten der neuen Fassade, die noch immer den Verkehr behinderten, eine Stockung. Denise, die in einen der Wagen gestiegen war, blickte hinaus und sah den alten Bourras unmittelbar neben sich einherhinken. Er hätte den Friedhof niemals erreicht. Er hob den Kopf und sah sie an, dann stieg er ein.

»Meine verdammten Knie«, sagte er. »Ich komme nicht vorwärts ... Bleiben Sie nur, Sie brauchen nicht wegzurücken. Gegen Sie haben wir ja nichts!«

Sie spürte unter seiner knurrigen Art die unveränderte Freundschart heraus. Und prompt begann er mit dem alten Lied.

»Er hat seine Berufung verloren. Zwei Jahre hat es mich gekostet und Geld genug, aber das tut nichts, unter meinem Laden wird er nicht durchkommen. Die Richter haben entschieden, eine solche Arbeit sei keine Ausbesserung. Jetzt kommt er aus der Wut gar nicht mehr heraus, er kann es nicht verwinden, daß ein alter Invalide wie ich ihm den Weg versperrt, während die ganze Welt vor seinem Geld auf den Knien liegt! ... Aber ich will nicht, niemals! Möglich, daß ich dabei auf der Strecke bleibe. Ich hab herausbekommen, daß der Lumpenkerl meinen Schulden nachspürt. Ohne Zweifel will er mir einen bösen Streich spielen. Aber das tut nichts, er sagt ja, ich sage nein und werde nein sagen, bis man mich zwischen vier Bretter einnagelt wie die Kleine, die man da vorne hinausfährt.«

Denise, die die Lage genau kannte und ihm helfen wollte, brach endlich ihr Schweigen und sagte in bittendem Ton:

»Herr Bourras, nun spielen Sie doch nicht länger den Eigensinnigen ... Lassen Sie mich die Sache in Ordnung bringen.«

Er unterbrach sie mit einer heftigen Gebärde.

»Schweigen Sie«, rief er, »das geht niemanden etwas an. Sie sind ein gutes Mädchen, ich weiß, daß Sie ihm das Leben schwer machen, diesem Kerl, der glaubte, er könne Sie ebenso kaufen wie mein Haus. Aber was würden Sie mir antworten, wenn ich Ihnen nun riete, ja zu sagen? Sie würden mich zum Teufel schicken, nicht wahr? Na also, dann mischen Sie sich auch nicht in meine Angelegenheiten, wenn ich nein sage!«

Mittlerweile war der Leichenwagen vor dem Friedhof angelangt, und die beiden stiegen aus. Die Grabstelle der Familie Baudu befand sich im ersten Gang links. Binnen weniger Minuten war die Feier beendet. Die Fernerstehenden zerstreuten sich zwischen den benachbarten Gräbern. Denise brachte ihren Onkel, der verstört dem hinabgleitenden Sarg nachgestarrt hatte, zu einem der Trauerwagen und begleitete ihn nach Hause. Der »Vieil Elbeuf« wirkte finsterer denn je. Der Laden war geschlossen, Onkel und Tante waren jetzt ganz allein.

Am Abend verlangte Mouret mit Denise zu sprechen, um sich mit ihr über ein Kinderkleid zu beraten, das er herausbringen wollte. Noch völlig erregt, konnte sie nicht an sich halten; sie wagte es, auf Bourras zu kommen, diesen armen Mann, der bereits am Boden lag und nun den letzten Stoß erhalten sollte. Doch als sie den Namen des Schirmhändlers erwähnte, geriet Mouret in Zorn. Der alte Narr, wie er ihn nannte, verbitterte ihm das Leben, verdarb ihm seinen Triumph durch seinen blöden Eigensinn, mit dem er das Haus nicht abgeben wollte, diese elende Baracke. Was sollte er denn tun? Konnte er diesen Schutthaufen an der Seite des »Paradieses der Damen« stehen lassen? Er mußte verschwinden. Um so schlimmer für den alten Narren! Er erinnerte sie an seine Angebote, bis zu hunderttausend Franken hatte er ihm geben wollen. Das war doch mehr als genug. Er wollte ja geben, was man verlangte; aber man sollte ihn sein Werk vollenden lassen!

Sie hörte ihn mit niedergeschlagenen Augen an und fand keine anderen Gegenargumente, als die das Herz ihr eingab: der gute Mann war so alt, man konnte doch seinen Tod abwarten; ein Bankrott jedenfalls wäre sein Ende. Er entgegnete, er habe die Sache nicht mehr in der Hand, Bourdoncle beschäftige sich damit; die Herren hätten übereinstimmend beschlossen, ein für allemal ein Ende zu machen.

Nach kurzem Schweigen kam Mouret auf die Familie Baudu zu sprechen. Er beklagte zunächst den Tod ihrer Tochter. Sie seien gute, rechtschaffene Leute, leider vom Schicksal verfolgt. Dann kam er wieder auf seine alte Ansicht zurück: sie seien im Grund an ihrem Unglück selber schuld; man dürfe sich nicht so eigensinnig in die alten, längst wurmstichig gewordenen Handelsbräuche verbohren. Es sei gar kein Wunder, daß das Haus ihnen über dem Kopf einstürze, er habe es zwanzigmal vorausgesagt. Es könne doch vernünftigerweise niemand von ihm verlangen, daß er sich ruiniere, nur um das Stadtviertel zu schonen! Übrigens, selbst wenn er so töricht gewesen wäre, das »Paradies der Damen« zu schließen, so wäre sofort an seiner Statt ein anderes großes Kaufhaus aus dem Boden geschossen, denn der Gedanke lag nun mal in der Luft. Er redete sich allmählich warm und wurde immer eifriger in seinem Bestreben, sich gegen den Haß seiner unbeabsichtigten Opfer zu verteidigen, gegen das Geschrei der zugrunde gehenden kleinen Geschäfte, das er rings um sich zu vernehmen glaubte. Nein, er fühle keine Gewissensbisse, er sei einfach das Werkzeug seines Zeitalters. Sie hörte ihm lange zu und zog sich dann schweigend mit beklommenem Herzen zurück.

Diese Nacht konnte Denise nicht schlafen. War es denn wirklich so, daß die einen untergehen mußten, damit die anderen leben konnten? War dieser ewige Kampf unvermeidlich? Mein Gott, wieviel Leid! Und sie konnte niemanden retten, ja sie hatte das Bewußtsein, daß all dieses Elend notwendig sei, um das Paris der Zukunft gesund zu erhalten!

Als der Tag anbrach, wurde sie ruhiger, eine tiefe, ergebene Traurigkeit hatte sie erfaßt. Sie sann nur mehr nach, wie sie die Ihren vor dem allgemeinen Ruin bewahren konnte.

Nun stieg das Bild Mourets vor ihr auf. Er würde ihr sicherlich nichts verweigern, ihr jede vernünftige Hilfe gewähren. Dann schweiften ihre Gedanken ab, sie suchte sich über ihn klar zu werden. Sie kannte sein Leben, sie wußte von seinen früheren nüchternen Liebschaften aus Berechnung, von der überlegten Ausbeutung der Frau; sie wußte, daß er sich Geliebte genommen hatte, die ihm den Weg bahnen sollten; sie wußte, daß er mit Frau Desforges ein Verhältnis angeknüpft hatte, allein zu dem Zweck, Baron Hartmann zu gewinnen; sie kannte auch alle übrigen: die Claires und die verschiedenen Schauspielerinnen, all die Vergnügungen, die er sich erkauft hatte, um gleich darauf einer wie der anderen den Laufpaß zu geben. Allein diese Anfänge eines Abenteurers der Liebe, über die das ganze Geschäft sich lustig machte, traten doch schließlich zurück hinter dem geistreichen Wesen dieses Mannes, hinter seiner überwältigenden Liebenswürdigkeit. Er war die Verführung selbst. Niemals hätte sie ihm seine frühere Verstellungskunst vergeben, die Kälte des Liebhabers unter der galanten Maske der Zuvorkommenheit. Heute aber, da er um sie litt, zürnte sie ihm nicht mehr. Durch dieses Leiden stieg er in ihren Augen. Wenn sie ihn so zerquält fand, wenn sie sah, wie er seine frühere Verachtung für die Frauen schwer büßte, erschien ihr das wie eine Sühne für seine Fehler.

Am Morgen gelang es Denise, von Mouret alle Hilfe zugesagt zu erhalten, die sie am Tag, da die Familie Baudu und der alte Bourras unterliegen mußten, für richtig halten würde. Wochen vergingen, sie besuchte fast täglich ihren Onkel, um den düsteren Laden für einige Minuten aufzuheitern. Sie war besonders beunruhigt über den Zustand ihrer Tante; seit Genevièves Tod saß sie in dumpfem Brüten da, man konnte geradezu sehen, wie sie von Tag zu Tag mehr dahinwelkte. Wenn man sie fragte, antwortete sie mit erstaunter Miene, ihr fehle nichts, sie sei bloß so müde. Im Stadtviertel schüttelte man traurig den Kopf; die Arme würde sich nicht mehr lange nach ihrer Tochter sehnen.

Als eines Tages Denise eben von den Baudus kam, hörte man auf der Place Gaillon ein großes Geschrei. Die Menge eilte hinzu, es herrschte allgemeines Entsetzen. Ein Pferdeomnibus hatte an der Ecke der Rue Neuve-Saint-Augustin vor dem Springbrunnen einen Mann umgefahren. Der Kutscher auf seinem Bock hatte seine Pferde, zwei kräftige Rappen, aufgeregt zurückgerissen; er fluchte, was er konnte.

»Himmeldonnerwetter, geben Sie doch acht, Sie blöder Kerl!«

Die Menge umringte den Verletzten; zufällig war ein Polizist zur Stelle. Der Kutscher schrie und wütete noch immer.

»Hat man jemals einen so einfältigen Menschen gesehen? Tut mitten auf der Straße, als ob er da zu Hause wäre! Ich habe ihn noch angerufen – und auf einmal lag er unter den Rädern.«

Ein Anstreicher, der in der Nachbarschaft beschäftigt war, eilte jetzt herbei und rief dem Kutscher zu:

»Schrei doch nicht so, ich habe ja alles gesehen. Er hat sich geradezu druntergeworfen, er muß nicht ganz richtig im Kopf sein.«

Es mengten sich noch andere ein, und man kam allgemein zu der Ansicht, daß es ein Selbstmordversuch gewesen sei. Der Polizist nahm ein Protokoll auf. In diesem Augenblick kam Denise hinzu. Mitleidig beugte sie sich über den ohnmächtigen, mit beschmutzten und blutigen Kleidern auf dem Straßenpflaster liegenden Mann.

»Großer Gott, das ist ja Herr Robineau!« rief sie in schmerzlichem Erstaunen aus.

Der Polizist fragte sie sofort, ob sie Näheres wisse, und sie gab Namen und Adresse des Verunglückten an. Dank der Geschicklichkeit des Kutschers war der Omnibus noch etwas ausgewichen, so daß nur die Beine Robineaus unter die Räder geraten waren. Vier Männer nahmen den Verletzten auf und trugen ihn in eine Apotheke in der Rue Gaillon, während der Omnibus langsam weiterfuhr. Denise folgte Robineau. Es war nicht sogleich ein Arzt aufzutreiben, mittlerweile erklärte aber der Apotheker, es bestehe keine unmittelbare Gefahr; am besten schaffe man den Verwundeten nach Hause, da er ja in der Nachbarschaft wohne. Ein Mann ging zur nächsten Polizeiwache, um eine Tragbahre zu holen. Da kam Denise auf den guten Gedanken, vorauszugehen, um Frau Robineau auf den fürchterlichen Schlag vorzubereiten. Allein sie konnte sich nur mit Mühe durch die Menge durcharbeiten, die sich auf der Straße drängte; die abenteuerlichsten Gerüchte waren bereits im Umlauf, jetzt wurde schon erzählt, es handle sich um einen Ehemann, den der Liebhaber seiner Frau durch das Fenster auf die Straße geworfen habe.

In der Rue Neuve-des-Petits-Champs sah Denise von weitem Frau Robineau in der Tür ihres Ladens stehen. Sie tat, als komme sie zufällig vorüber, und begann ein Gespräch, um einen günstigen Augenblick abzuwarten. Das Geschäft zeigte die Unordnung und Öde, die das nahende Ende ankündigte. Seit zwei Monaten führte Robineau ein Höllenleben, um den Bankrott noch etwas hinauszuschieben.

»Ich habe Ihren Mann auf der Place Gaillon gesehen«, tastete sich Denise leise vor, nach dem sie endlich in den Laden getreten war.

Frau Robineau, die mit unruhigen Blicken fortwährend auf die Straße schaute, erwiderte lebhaft:

»Ach ja? Ich erwarte ihn nämlich, er sollte schon hier sein. Heute morgen ist Gaujean gekommen, und sie sind miteinander fortgegangen.«

Sie war noch immer reizend; aber sie erwartete ein Kind, und die doppelte Anspannung ihres Zustandes und der geschäftlichen Sorgen lastete sichtlich auf ihr.

»Mein liebes Kind«, sagte sie mit traurigem Lächeln, »wir wollen Ihnen nichts verbergen – Das Geschäft geht schlecht, mein armer Mann schläft überhaupt nicht mehr. Heute hat ihn Gaujean wieder wegen überfälliger Wechsel gequält ... Nun werde ich aber langsam unruhig!«

Sie wollte zur Türe gehen, allein Denise trat ihr in den Weg. Sie hatte ein dumpfes Gemurmel vernommen, das sich auf der Straße näherte; offenbar brachte man die Tragbahre. Nun mußte sie endlich sprechen.

»Beunruhigen Sie sich nicht, es ist keine unmittelbare Gefahr; ja, ich habe Herrn Robineau gesehen, es ist ihm ein Unglück zugestoßen ... Man bringt ihn schon, bitte machen Sie sich keine Sorge!«

Die junge Frau hörte sie leichenblaß an, ohne zu begreifen. Die Straße füllte sich mit Menschen, die Droschkenkutscher, die anhalten mußten, fluchten, und schon brachten die Träger die Bahre und setzten sie im Laden ab.

»Es war ein Unfall«, sagte Denise, entschlossen, den Selbstmordversuch zu verheimlichen. »Er stand auf der Straße und ist unter die Räder eines Omnibusses geglitten. Es sind nur die Beine verletzt, ein Arzt ist schon unterwegs. Beunruhigen Sie sich nicht!«

Ein Zittern befiel Frau Robineau, sie schrie auf, dann stürzte sie an der Bahre nieder. Robineau war wieder zu Bewußtsein gekommen. Als er seine Frau erblickte, rannen zwei schwere Tränen über seine Wangen. Schluchzend küßte sie ihn und sah ihn mit starren Blicken an.

Um die Neugierigen abzuwehren, hatte Denise den Rolladen an der Tür herabgelassen. In dem Halbdunkel, das nun über dem Geschäft lag, kniete Frau Robineau immer noch vor ihrem Mann und stöhnte:

»Oh, mein Lieber, mein Lieber ...«

Sie fand nichts als diese Worte; er aber legte angesichts dieses Schmerzes ein Geständnis ab.

»Verzeih mir, ich war wahnsinnig ... Als der Rechtsanwalt mir in Gegenwart Gaujeans erklärte, daß morgen die Siegel angelegt werden sollten, war mir, als drehte sich alles vor meinen Augen. Weiter erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich ging die Rue de la Michodière hinab, ich glaubte, die Leute im ›Paradies der Damen‹ machten sich über mich lustig, dieses verdammte Haus schien über mich hereinzustürzen ... Als dann der Omnibus um die Ecke bog, habe ich mich einfach daruntergeworfen ...«

Entsetzt über dieses Geständnis sank Frau Robineau zu Boden. Großer Gott, er hatte sich das Leben nehmen wollen! Sie ergriff die Hand Denises, die sich voll tiefsten Mitleids zu ihr hinabgebeugt hatte. Der Verwundete, durch die Aufregung erschöpft, hatte abermals das Bewußtsein verloren. Da erleichterte Frau Robineau ihr Herz.

»Ach, wenn ich Ihnen erzählen würde ... Meinetwegen wollte er sterben. Fortwährend hat er gesagt: ich habe dich bestohlen, das Geld gehörte dir. In der Nacht hat er von diesen sechzigtausend Franken geträumt. Wenn er aufwachte, war er in Schweiß gebadet und machte sich die schwersten Vorwürfe; wenn man kein tüchtiger Kaufmann sei, dürfe man nicht das Geld anderer aufs Spiel setzen. Sie wissen ja, daß er immer nervös und leicht erregbar war. Schließlich sah er mich in seinen schrecklichen Träumen auf der Straße in Lumpen gehen, mich, die er so liebte, die er reich und glücklich sehen wollte ...«

Sie wandte sich wieder zu ihm, und als sie sah, daß er abermals die Augen geöffnet hatte, fuhr sie mit bebender Stimme fort:

»Ach, mein Lieber, warum hast du das getan? Hältst du mich für so schlecht? Es ist mir ganz gleichgültig, ob wir ruiniert sind oder nicht. Wenn wir nur zusammenbleiben, sind wir schon glücklich. Laß sie alles nehmen, gehen wir irgendwohin, wo du nichts mehr von ihnen hörst; du wirst arbeiten, und es wird alles gut werden.«

Sie lehnte ihre Stirn an die blasse Wange ihres Mannes, und beide schwiegen. Das Geschäft schien hinter der geschlossenen Tür im Zwielicht zu schlummern. Draußen hörte man den Lärm der Straße, das Rollen der Wagen, das Gedränge auf den Bürgersteigen. Denise, die alle Augenblicke hinausschaute, rief endlich:

»Der Arzt ist da!«

Die Untersuchung ergab, daß bloß das linke Bein gebrochen war; es war ein einfacher Bruch, man brauchte keinerlei Verwicklung zu befürchten. In dem Augenblick, als sie sich anschickten, die Tragbahre in das dahinterliegende Zimmer zu bringen, erschien Gaujean, um zu berichten, daß auch der letzte Schritt, den er unternomemn hatte, fehlgeschlagen war; die Konkurserklärung war unausweichlich geworden.

»Was ist geschehen?« murmelte er.

Denise erzählte es ihm kurz. Er wurde sehr verlegen. Robineau sagte mit schwacher Stimme zu ihm:

»Ich bin Ihnen nicht böse, aber ein wenig ist es doch Ihre Schuld.«

»Mein Gott, es hätten festere Schultern dazu gehört als die unsrigen; Sie wissen, daß es mir nicht viel besser geht als Ihnen.«

Man hob die Tragbahre empor. Der Verwundete fand noch die Kraft zu sagen:

»Auch festere Schultern wären darunter zusammengebrochen. Ich begreife ja, daß die alten Starrköpfe wie Bourras und Baudu dabei auf der Strecke bleiben – aber wir, die wir jung sind und dem neuen Gang der Dinge aufgeschlossen ... Nein, Gaujean, da bricht eine Welt zusammen.«

Man trug ihn fort. In einer Aufwallung, in die sich fast ein Schimmer von Freude mischte, daß die Mühsal mit dem Geschäft nun endlich vorbei war, umarmte Frau Robineau Denise. Gaujean entfernte sich mit dem jungen Mädchen und erklärte ihr unterwegs, dieser arme Teufel von Robineau habe ganz recht, es sei unsinnig, gegen das »Paradies der Damen« ankämpfen zu wollen. Auch er sei verloren, wenn er drüben nicht wieder in Gnaden aufgenommen werde. Er hatte tags zuvor bei Hutin im geheimen den ersten Schritt unternommen, aber er machte sich nicht viel Hoffnung und suchte daher Denise, deren Einfluß ihm ohne Zweifel bekannt war, für sich zu gewinnen.

»Mein Gott, es ist, wie Sie selbst damals sagten: Wir Fabrikanten müssen uns durch bessere Organisation und neue Verfahren dem Fortschritt anschließen. Dann wird sich alles regeln; Hauptsache, daß das Publikum zufrieden ist.«

Denise erwiderte lächelnd:

»Sagen Sie dies alles Herrn Mouret selbst, Ihr Besuch wird ihn freuen. Er ist nicht der Mann, Ihnen etwas nachzutragen, wenn Sie ihm nur einen Vorteil von einem Centime bieten.« –

An einem hellen, sonnigen Nachmittag im Januar starb Frau Baudu. Schon seit vierzehn Tagen hatte sie nicht mehr in den Laden hinuntergehen können. Sie saß in ihrem Bett, auf allen Seiten durch Kissen gestützt. Nur die Augen in ihrem blassen Gesicht verrieten noch Leben, und diese Augen waren unablässig auf das »Paradies der Damen« gegenüber gerichtet. Baudu, der selbst unter diesem Bann litt, wollte manchmal die Vorhänge herablassen. Allein sie bat ihn, es nicht zu tun, sie wollte eigensinnig bis zu ihrem letzten Atemzug dieses Schauspiel vor sich haben. Das Ungeheuer hatte ihr alles genommen, ihr Haus, ihr Kind, und sie selbst schwand Zug um Zug mit ihrem alten Geschäft dahin. Als sie fühlte, daß das Ende herannahte, bat sie ihren Mann, beide Fenster weit zu öffnen. Es war mildes Wetter, die Sonne vergoldete mit ihren Strahlen das »Paradies der Damen«, während das Zimmer in dem alten Haus der Baudus im kühlen Schatten lag. Frau Baudu starrte auf dieses Triumphgebäude hinüber, hinter dessen hellen Spiegelscheiben sich die Menschen stauten. Ihre Augen wurden glanzlos, die Finsternis senkte sich auf sie herab, und als sie im Tod erloschen, blieben sie weit offen, immer noch auf den Gegner gerichtet.

Wieder sah man den ganzen Kleinhandel des Stadtviertels in dem Trauerzug. Und hinter dem Leichenwagen schritt Baudu mit dem gleichen schwerfälligen, gemessenen Gang einher, mit dem er seine Tochter hinausgeleitet hatte. –

Denise war in letzter Zeit sehr bekümmert. Sie hatte Pépé in ein Internat geben müssen, denn Frau Gras hatte erklärt, sie könne den Jungen nicht länger behalten, er sei nun zu groß. Außerdem machte Jean ihr viel Schererei; er war dermaßen verliebt in die Nichte eines Konditors, daß er seine Schwester gebeten hatte, für ihn um deren Hand anzuhalten. Dann kam der Tod der Tante. Diese Schläge drückten das arme Mädchen zu Boden. Mouret hatte sich ihr abermals zur Verfügung gestellt und erklärt, daß er alles im vorhinein gutheiße, was sie für ihren Onkel und ihre übrigen Verwandten tun wolle. Eines Morgens hatte sie wieder eine Unterredung mit ihm, nachdem sie erfahren hatte, daß Bourras auf die Straße gesetzt worden war und Baudu im Begriff sei, den Laden zu schließen.

Nach dem Essen ging sie fort in der Hoffnung, wenigstens diesen beiden einen Trost bringen zu können. Bourras stand in der Rue de la Michodière auf dem Bürgersteig, seinem Haus gegenüber, aus dem man ihn tags zuvor vertrieben hatte. Es war ein hübscher Streich, den Mourets Rechtsanwalt da ersonnen hatte. Da Mouret mehrere Zahlungsverpflichtungen des Alten aufgekauft hatte, war es ihm schließlich ein leichtes gewesen, den Schirmhändler zum Konkurs zu treiben und bei einem Zwangsverkauf den Mietvertrag für fünfhundert Franken an sich zu bringen; so hatte der eigensinnige Alte für fünfhundert Franken hergeben müssen, was er kurz vorher nicht für hunderttausend hatte herausrücken wollen. Man hatte übrigens den Polizeikommissar holen müssen, um ihn hinauszuwerfen. Die Bestände waren verkauft, die Zimmer geräumt, er aber blieb hartnäckig in dem Winkel, wo er seine Schlafstätte hatte und aus dem man ihn aus Mitleid noch nicht verjagt hatte. Die Arbeiter gingen daran, ihm das Dach über dem Kopf abzudecken. Man riß die mit Moos überzogenen Ziegel heraus, die Decken stürzten ein, die Mauern krachten, er aber blieb. Erst als die Polizei kam, ging er endlich seines Weges. Doch schon am folgenden Morgen war er wieder auf dem Bürgersteig gegenüber erschienen, nachdem er die Nacht in einem benachbarten Hotel zugebracht hatte.

»Herr Bourras!« sagte Denise in sanftem Ton.

Er hörte sie erst gar nicht, seine flammenden Blicke verschlangen die Abbrucharbeiter, deren Spitzhacken die Fassade des armseligen Bauwerks in Angriff nahmen. Durch die leeren Fensteröffnungen konnte man jetzt in das Innere blicken, sah die elenden Zimmerchen, das finstere Treppenhaus, in das seit zweihundert Jahren kein Sonnenstrahl gedrungen war.

»Ach, Sie sind es«, sagte er endlich, als er sie erkannte. »Sie arbeiten rasch, diese Diebe, nicht wahr?«

Im Innersten bewegt durch den traurigen Anblick dieses alten Hauses, wagte sie nichts weiter zu sagen. Sie konnte selbst die Blicke nicht abwenden von diesem jammervollen Ende. Stück um Stück brach aus dem Mauerwerk und polterte zu Boden. Ganz oben, in einem Winkel des Zimmerchens, das sie einst bewohnt hatte, sah sie noch in schwarzen, unsicheren Buchstaben das Wort »Ernestine«, das einst mit Kerzenruß an die Decke geschrieben worden war, und sie erinnerte sich der traurigen Tage der Not, die sie hier verbracht hatte.

Mittlerweile waren die Arbeiter, um die Sache zu beschleunigen, auf den Gedanken gekommen, die Hacken unten anzusetzen. Die Mauer wankte.

»Wenn sie euch nur alle begraben würde!« schrie Bourras wütend.

Man vernahm ein fürchterliches Krachen, entsetzt stoben die Arbeiter nach allen Richtungen auseinander. Die Mauer stürzte nieder und riß im Fall die ganze Behausung mit. Nicht eine Zwischenwand blieb stehen; als die Staubwolke sich verzogen hatte, sah man nur mehr einen Trümmerhaufen.

»Mein Gott!« hatte der Alte aufgeschrien, als sei ihm der Schlag durch alle Glieder gefahren.

Bestürzt stand er da, niemals hätte er geglaubt, daß das Ende so rasch kommen würde. Er starrte auf die Lücke an der Seite des »Paradieses der Damen«, das endlich von dem Schandfleck befreit war.

»Herr Bourras«, fing Denise wieder an, während sie den Alten wegzuführen versuchte, »Sie wissen, daß man Sie nicht im Stich lassen wird. Es wird für Sie gesorgt werden.«

Er richtete sich hoch auf.

»Ich brauche nichts ... Sie sind von diesen Herrschaften geschickt, nicht wahr? Sagen Sie ihnen, daß der alte Bourras noch arbeiten kann und Arbeit findet, wo er will. Es wäre wirklich gar zu einfach, gegenüber Leuten, die man niedergetrampelt hat, hinterher den Gnädigen zu spielen.«

»Ich bitte Sie, nehmen Sie es doch an«, flehte sie. »Tun Sie mir diesen Kummer nicht an.«

Aber er schüttelte seine Löwenmähne.

»Nein, nein, es ist aus, guten Abend ... Leben Sie glücklich! Sie sind jung, hindern Sie die Alten nicht, mit ihren Ansichten dahinzugehen.«

Er warf einen letzten Blick auf den Schutthaufen, dann schlich er fort. Sie blickte ihm eine Weile nach; an der Ecke der Place Gaillon bog er ein und verschwand.

Denise stand einen Augenblick da, dann trat sie bei ihrem Onkel ein. Der Tuchhändler war allein in seinem dunklen Laden. Nur am Morgen und am Abend kam eine Haushälterin, um ihm seine einfachen Mahlzeiten zu bereiten und ihm beim Schließen der Fensterläden behilflich zu sein. Er verbrachte ganze Tage in seiner Einsamkeit, ohne daß ihn jemand störte, und wenn doch hier und da eine Kundin kam, war er so betroffen, daß er die verlangten Waren kaum zu finden vermochte.

»Geht es Ihnen besser, Onkel?« fragte Denise.

»Ja, ja, sehr gut, danke«, erwiderte er und ließ sich in seiner ewigen Wanderung von einem Ende des finsteren Ladens zum andern gar nicht stören.

»Haben Sie das Getöse gehört?« fragte sie; »das Haus nebenan ist eingestürzt.«

»Ach ja«, murmelte er mit erstaunter Miene, »es muß das Haus gewesen sein. Ich fühlte, wie der Boden zitterte ... Als ich heute morgen die Arbeiter auf dem Dach sah, habe ich meine Tür geschlossen.«

Er machte eine Geste, als ob er sagen wollte, daß diese Dinge ihn nicht mehr interessierten.

Jedesmal wenn er an der Kasse vorbeikam, betrachtete er das leere Bänkchen, auf dem seine Frau und seine Tochter so lange gesessen hatten. Das Haus war verwaist; alle, die er geliebt hatte, waren fort, und sein Geschäft stand vor einem schmählichen Ende. Sein regelmäßiger, schwerer Schritt hallte zwischen den alten Mauern wider, als wanderte er auf dem Grab seiner Liebe herum.

Endlich wagte Denise auf den Zweck ihres Besuchs zu kommen.

»Sie können nicht länger hier bleiben, Onkel, Sie müssen einen Entschluß fassen.«

Ohne in seinem Auf und Ab innezuhalten, erwiderte er:

»Ganz recht, aber was soll ich anfangen? Ich habe versucht, auszuverkaufen, aber es ist niemand gekommen ... Mein Gott, eines Morgens werde ich schließen und meiner Wege gehen.«

Sie wußte, daß ein Bankrott nicht mehr zu befürchten war. Die Gläubiger hatten es angesichts dieser Schicksalsschläge vorgezogen, sich zu vergleichen. Wenn alles bezahlt war, saß der Onkel ganz einfach auf der Straße.

»Aber was werden Sie dann tun?« murmelte sie, um einen Übergang zu dem Anerbieten zu finden, das sie nicht auszusprechen wagte.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Man wird mich wohl irgendwo auflesen.«

»Hören Sie, Onkel«, stotterte Denise endlich verlegen, »es gäbe vielleicht eine Inspektorstelle für Sie ...«

»Wo denn?« fragte Baudu.

»Mein Gott, drüben bei uns; sechstausend Franken und keine anstrengende Arbeit.«

Er blieb plötzlich vor ihr stehen; aber anstatt böse zu werden, wie sie befürchtet hatte, war er vor schmerzlicher Erregung blaß geworden.

»Drüben, drüben?« stammelte er wiederholt. »Du willst, daß ich drüben eintrete?«

Denise war selbst tief bewegt. Sie sah im Geist den langen Kampf der beiden Geschäfte vor sich, sie meinte wieder am Leichenzug ihrer Kusine Geneviève und ihrer Tante teilzunehmen, sie stand hier in diesem Geschäft, dem das »Paradies der Damen« den Garaus gemacht hatte. Und der Gedanke, daß ihr Onkel nun drüben als Inspektor sein Leben beschließen sollte, drückte ihr das Herz ab.

»Wäre so etwas möglich, Denise, mein Kind?« sagte er einfach, während er seine zitternden Hände ineinanderlegte.

»Nein, nein, Onkel«, rief sie in einer Aufwallung ihres gütigen und gerechten Wesens. »Das wäre schlimm; verzeihen Sie mir bitte!«

Sie ging, und er nahm seinen Weg durch das leere, grabesstille Haus wieder auf.

Denise verbrachte abermals eine schlaflose Nacht. Sie hatte ihre Ohnmacht eingesehen, selbst den Ihren konnte sie keine Hilfe bringen. Sie mußte dem Leben seinen Lauf lassen. Ergeben schickte sie sich drein, sie wehrte sich nicht länger, aber ihr weiches Herz war von unendlichem Mitgefühl mit all den Leidenden erfüllt. Seit Jahren befand sie sich selbst zwischen den Zahnrädern der Maschine. Hatte nicht auch sie dabei gelitten, war nicht auch sie gequält, verhöhnt, herumgestoßen worden? Mouret hatte dieses ungeheure Triebwerk geschaffen, er hatte das ganze Stadtviertel mit Ruinen übersät, die einen geplündert, die anderen umgebracht. Und sie liebte ihn dennoch, gerade um der Größe seines Werkes willen.


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