Emile Zola
Das Paradies der Damen
Emile Zola

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Elftes Kapitel

Bouthemont traf heute als erster bei Frau Desforges zum Tee ein. Sie war noch allein in ihrem großen Salon und empfing ihn, als er eintrat, mit einem kurzen:

»Nun?«

»Nun«, erwiderte der junge Mann, »ich habe ihm gesagt, daß ich bestimmt zu Ihnen gehen würde, und er hat mir in aller Form versprochen, ebenfalls zu kommen.«

»Sie haben ihm zu verstehen gegeben, daß ich heute auf den Baron zähle?«

»Aber sicher; das schien den Ausschlag zu geben.«

Sie sprachen von Mouret. Er hatte im verflossenen Jahr eine plötzliche Neigung zu Bouthemont gefaßt, die so weit ging, daß er ihn zu seinen Vergnügungen hinzuzog. Er führte ihn sogar bei Henriette ein, froh darüber, daß er jemanden bei der Hand hatte, der etwas Heiterkeit in das Verhältnis brachte, dessen er schon überdrüssig war. So war Bouthemont allmählich der Vertraute seines Chefs sowohl wie der schönen Witwe geworden: er besorgte ihre kleinen Aufträge, sprach mit dem einen von dem andern und versöhnte sie zuweilen, wenn ein kleiner Zwist ausgebrochen war. In ihren Eifersuchtsanwandlungen gar überließ sich Henriette gelegentlich einer Vertraulichkeit, die ihn überraschte; sie ließ dann alle Zurückhaltung einer Dame von Welt außer acht und wahrte nicht einmal den äußeren Schein.

Auch jetzt rief sie heftig:

»Sie hätten ihn gleich mitbringen sollen, damit ich sicher bin!«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn er mir seit einiger Zeit immer wieder entschlüpft ... Trotzdem meint er es gut mit mir; ohne ihn würde es mir schlimm ergehen.«

In der Tat war seit der letzten Inventur seine Stellung im »Paradies der Damen« bedroht. Vergebens berief er sich auf die regnerische Jahreszeit; man hielt ihm immer wieder den großen Vorrat an Phantasieseide vor. Da Hutin diesen Umstand ausbeutete und im stillen bei den Vorgesetzten gegen ihn arbeitete, fühlte er den Boden unter sich wanken. Mouret hatte ihn innerlich bereits fallen lassen; ihm war dieser Zeuge lästig, der ihn daran hinderte, das Verhältnis mit Henriette abzubrechen; zudem war er dieser Vertraulichkeit überdrüssig, die ihm keinen Vorteil brachte. Aber seiner gewohnten Taktik getreu, schob er Bourdoncle vor: Bourdoncle und die anderen Teilhaber forderten bei jeder Beratung die Entlassung Bouthemonts, während er, wie er behauptete, seinen Freund trotz vielfacher Verdrießlichkeiten, die ihm daraus entstanden, in Schutz nahm.

»Ich werde warten«, sagte Henriette. »Das Mädchen wird um fünf Uhr hier sein. Ich muß sie zusammenbringen und ihnen ihr Geheimnis entlocken.«

Sie hatte ihren Plan verwirklicht und Frau Aurélie gebeten, ihr Denise zu schicken, damit sie sich einen Mantel ansehe, der nicht recht passe. Hatte sie einmal das Mädchen in ihrem Zimmer, so würde sie schon ein Mittel finden, Mouret dazuzurufen, und dann wollte sie handeln.

Bouthemont, der ihr gegenüber saß, betrachtete sie mit seinen schönen, lachenden Augen, denen er einen ernsten Ausdruck zu geben versuchte.

»Was stört Sie eigentlich an der Sache?« wagte er endlich zu fragen. »Ich versichere Ihnen doch, daß zwischen den beiden absolut nichts vorgefallen ist.«

»Das ist es ja gerade!« rief sie, »er liebt sie wirklich. Über die anderen mache ich mich lustig, das sind Zufallsbegegnungen, vorübergehende Eintagslaunen.«

Mit Geringschätzung sprach sie von ihnen; man hatte ihr erzählt, daß Mouret nach der Weigerung Denises wieder zu Claire zurückgekehrt sei, ohne Zweifel aus Berechnung, denn er behielt sie in der Abteilung und überhäufte sie mit Geschenken, offenbar um die Sache auffällig zu machen. Überdies führte er seit drei Monaten ein reichlich ausschweifendes Leben und gab das Geld mit einer Verschwendung aus, die sprichwörtlich geworden war; einer kleinen Sängerin hatte er eine Wohnung eingerichtet, und zwei oder drei gewöhnliche Dirnen, die einander an kostspieligen und tollen Launen überboten, saugten ihn aus wie die Blutegel.

»Das ist alles die Schuld dieses Geschöpfes«, wiederholte Henriette. »Ich sehe ja, daß er sich mit anderen ruiniert, weil sie ihn abweist ... Was kümmert mich übrigens sein Geld? Ich wollte, er wäre arm. Sie, der Sie unser Freund geworden sind, wissen doch, wie sehr ich ihn liebe.«

Sie hielt beklommen inne und war nahe daran, in Tränen auszubrechen. In einer Bewegung äußerster Verlassenheit streckte sie ihm beide Hände hin. Es war wahr, sie betete Mouret wegen seiner Jugend, wegen seiner Triumphe an; noch niemals hatte ein Mann sie so vollständig beherrscht.

»Ich werde mich rächen«, flüsterte sie, »ich werde mich rächen, wenn er sich schlecht benimmt.«

Bouthemont hielt noch immer ihre Hände in den seinen. Sie war schön, aber als Geliebte mußte sie doch lästig sein; er mochte diesen Typ nicht. Indessen wollte er sich die Sache überlegen, es lohnte sich vielleicht, die Verdrießlichkeiten eines solchen Verhältnisses mit in Kauf zu nehmen.

»Warum machen Sie sich nicht selbständig?« fragte sie ihn plötzlich und machte sich los.

Er saß ganz erstaunt da. Nach einer Weile erwiderte er:

»Dazu braucht man doch beträchtliches Kapital! Im vorigen Jahr hatte ich allerdings den Plan. Ich bin überzeugt, daß sich in Paris noch immer Kundschaft für ein oder zwei große Warenhäuser finden läßt. Es handelt sich nur darum, das richtige Stadtviertel zu wählen. Das ›Bon-Marché‹ hat das linke Seineufer, das ›Louvre‹ das Zentrum. Uns im ›Paradies der Damen‹ gehören die reichen westlichen Viertel. Bleibt noch der Norden, wo man dem ›Place Clichy‹ Konkurrenz machen könnte, und ich habe da eine prachtvolle Stelle hinter der Oper entdeckt ...«

»Nun, und?«

Er lachte laut auf.

»Denken Sie sich«, sagte er, »ich war so einfältig, die Sache meinem Vater gegenüber zu erwähnen! Ja ich war dumm genug, ihn zu bitten, er möge für eine solche Unternehmung in Toulouse Teilhaber suchen.«

Er schilderte ihr vergnügt den Zorn des guten Mannes, der im Dunkel seiner kleinen Provinzbude auf die großen Pariser Warenhäuser ohnehin schon so wütend war. Der alte Bouthemont, den die dreißigtausend Franken, die sein Sohn jährlich verdiente, vor Neid erblassen ließen, hatte ihm geantwortet, er wolle sein Geld und das seiner Freunde lieber den Armen schenken, als daß er auch nur einen Centime in diese Warenhäuser, diese Schandhäuser des Handels, stecke. Übrigens brauche man Millionen für ein derartiges Unternehmen, schloß der junge Mann.

»Und wenn man sie fände?« sagte ganz einfach Frau Desforges. Er schaute sie an und wurde plötzlich ernst. War das nur das Gerede einer eifersüchtigen Frau? Allein sie ließ ihm nicht Zeit, sie zu fragen, sondern fuhr fort:

»Sie wissen, wie sehr ich an Ihnen Anteil nehme. Wir werden über die Sache noch sprechen.«

Draußen klingelte es. Sie erhob sich, und er schob mit einer unwillkürlichen Bewegung seinen Stuhl zurück, als liefen sie Gefahr, von jemandem überrascht zu werden.

Der Diener trat ein und meldete:

»Herr Mouret, Herr von Vallagnosc.«

Henriette konnte eine zornige Gebärde nicht unterdrücken. Warum kam er in Begleitung? Er hatte seinen Freund sicher nur deshalb mitgebracht, weil er ein Alleinsein mit ihr fürchtete. Sie empfing indessen die beiden Herren mit charmantem Lächeln.

»Wie selten man Sie jetzt sieht! Das gilt auch Ihnen, Herr von Vallagnosc.«

Sie war seit einiger Zeit verzweifelt, daß sie immer stärker wurde. Sie zwängte sich in enge Seidenkleider, um ihre zunehmende Fülle zu verbergen. Nur ihr hübscher Kopf mit den dunklen Haaren behielt seinen feinen Liebreiz. Mouret umfing sie mit einem zärtlichen Blick und sagte in vertraulichem Ton:

»Ich brauche mich nicht nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen: Sie sind frisch wie eine Rose.«

»Oh ja, es geht mir recht gut«, erwiderte sie. »Übrigens hätte ich auch sterben können, und Sie hätten nichts davon gemerkt.« Jetzt betrachtete sie ihn. Sie fand ihn müde und nervös, die Augen eingefallen, die Gesichtsfarbe bleiern.

»Ich kann Ihnen das Kompliment nicht erwidern«, sagte sie. »Sie sehen keineswegs gut aus.«

»Das macht die viele Arbeit«, bemerkte Vallagnosc.

Mouret machte eine unbestimmte Geste, ohne zu antworten. Er hatte Bouthemont bemerkt und grüßte ihn mit einem freundschaftlichen Kopfnicken. Früher hatte er ihn selbst aus der Abteilung abgeholt und zu Henriette mitgenommen. Allein die Zeiten hatten sich geändert, und er sagte halblaut:

»Sie sind heute früh fort. Man hat Ihr Weggehen bemerkt und ist wütend auf Sie.«

Er sprach von Bourdoncle und den übrigen Teilhabern, als wäre nicht er der Chef des Hauses.

»Wirklich?« murmelte Bouthemont beunruhigt.

»Ja, ja, ich habe mit Ihnen zu reden. Warten Sie nachher auf mich, wir werden zusammen fortgehen.«

Henriette hatte sich mittlerweile gesetzt und hörte Vallagnosc zu, der ihr den Besuch Frau von Boves' ankündigte. Aber sie ließ Mouret nicht aus den Augen. Er war verstummt, betrachtete angelegentlich die Möbel und schien an der Decke etwas zu suchen. Als sie sich lachend beklagte, daß sie nur noch Herren bei ihrem Tee sehe, vergaß er sich so weit, daß er ausrief:

»Ja, und ich hoffte, Baron Hartmann bei Ihnen zu finden!«

Henriette wurde blaß. Sie wußte ohne Zweifel, daß er nur zu ihr kam, um hier den Baron zu treffen; aber mußte er ihr seine Gleichgültigkeit so ins Gesicht schleudern? In diesem Augenblick wurde abermals die Tür geöffnet, und der Diener erschien auf der Schwelle. Sie befragte ihn mit einem Blick; er trat näher und flüsterte ihr zu:

»Es ist wegen des Mantels. Gnädige Frau haben mir befohlen, Sie zu benachrichtigen; das Fräulein ist da.«

Da erwiderte sie laut, so daß alle es hören mußten, und ihre ganze Eifersucht entlud sich in ihrem geringschätzigen Ton:

»Sie soll warten.«

»Soll ich sie in das Ankleidezimmer der gnädigen Frau führen?«

»Nein, sie soll im Vorzimmer bleiben.«

Als der Diener hinausgegangen war, setzte sie ruhig das Gespräch mit Vallagnosc fort. Mouret, der in seine Teilnahmslosigkeit zurückgesunken war, hörte mit einem Ohr zu, ohne recht zu begreifen. Bouthemont, den das Abenteuer interessierte, kam ins Grübeln. Jetzt wurde die Tür geöffnet, und zwei Damen traten ein.

»Denken Sie sich«, sagte Frau Marty, »gerade als ich aus dem Wagen stieg, sah ich Frau von Boves unter den Arkaden herankommen.«

»Ja«, erklärte diese, »das Wetter ist so schön, und da mein Arzt mir empfohlen hat, viel an die frische Luft zu gehen ...«

Man begrüßte einander herzlich, dann fragte die Gräfin Frau Desforges:

»Sie nehmen eine neue Zofe?«

»Nein«, erwiderte Henriette erstaunt. »Wieso?«

»Ach, ich habe da im Vorzimmer ein junges Mädchen gesehen...«

Henriette unterbrach sie lachend.

»Nicht wahr, alle diese Ladenmädchen sehen aus wie Dienstboten? Nein, das ist ein Fräulein, das gekommen ist, einen Mantel zum Ändern abzuholen.«

Von einem unbestimmten Verdacht ergriffen, blickte Mouret sie an. Sie fuhr mit erkünstelter Heiterkeit fort und erzählte, daß sie ihn letzten Samstag im »Paradies der Damen« gekauft habe. »Wie«, rief Frau Marty, »lassen Sie denn nicht mehr bei der Sauveur arbeiten?«

»Doch, meine Liebe, ich wollte nur einen Versuch machen. Ich habe einmal einen Reisemantel dort gekauft und war damit recht zufrieden ... Diesmal aber ist es daneben gegangen. Sie mögen sagen, was Sie wollen, in den Kaufhäusern bekommt man nichts Rechtes. Oh, ich geniere mich nicht, ich spreche es auch vor Herrn Mouret ganz offen aus. Es wird Ihnen niemals gelingen, eine Frau von Eleganz anständig anzuziehen.« Mouret fand es unter seiner Würde, sein Haus zu verteidigen. Bouthemont mußte für das »Paradies der Damen« eintreten.

»Wenn alle vornehmen Damen, die bei uns ihre Garderobe kaufen, auf einem Platz beisammen wären, so wären Sie sehr erstaunt über unsere Kundschaft, gnädige Frau ... Bestellen Sie bei uns ein Kleid nach Maß, und Sie werden genauso gut bedient sein wie bei der Sauveur, aber nur halb so teuer. Doch weil die Kleider bei uns um die Hälfte billiger sind, halten Sie sie für weniger gut!«

»Also der Mantel paßt Ihnen nicht?« fragte Frau von Boves wieder. »Ich erinnere mich jetzt auch an das Fräulein.«

»Ja«, fügte Frau Marty hinzu, »ich wußte auch nicht gleich, wo ich diese Person schon gesehen hatte ... Nehmen Sie nur keine Rücksicht auf uns.«

Henriette machte eine geringschätzige Gebärde und sagte:

»Gleich, gleich, es eilt ja nicht.«

»Sie sehen angegriffen aus, Herr Mouret«, bemerkte Frau von Boves ablenkend.

»Das kommt von der Arbeit«, wiederholte Vallagnosc mit spöttischer Ruhe.

Mouret erhob sich lebhaft, als schäme er sich, daß er sich so hatte gehen lassen. Er nahm seinen gewohnten Platz im Kreis der Damen ein und fand seine ganze Liebenswürdigkeit wieder. Zur Zeit beschäftigten ihn die Wintermodeartikel, er sprach von einer großen Spitzenlieferung. Frau von Boves fragte ihn nach dem Preis von Alençonspitzen, sie wollte vielleicht welche kaufen. Sie war jetzt in ihren Geldverlegenheiten so weit, daß sie sich die zwei Franken für einen Wagen versagen mußte, und kehrte jedesmal ganz krank heim, wenn sie stundenlang alle Auslagen angestaunt hatte.

»Herr Baron Hartmann«, meldete nach einer Weile der Diener. Henriette beobachtete mit Interesse Mouret, der dem Baron entgegeneilte. Der Eintretende begrüßte die Damen und erlaubte sich dann als Freund des Hauses die vertrauliche Bemerkung:

»Da steht ja ein reizendes junges Mädchen im Vorzimmer. Wer ist das?«

»Oh, niemand«, erwiderte Frau Desforges boshaft. »Ein Ladenmädchen, das draußen wartet.«

Die Tür war offengeblieben, der Diener brachte den Tee. Sooft er ging und kam, sah man in einen dunklen Winkel des Vorzimmers. Hier stand geduldig und unbeweglich wie ein Schatten Denise; zwar war eine mit Leder bezogene Bank da, allein ein gewisser Stolz verbot ihr, sich unaufgefordert zu setzen. Sie fühlte den ihr zugefügten Schimpf. Seit einer halben Stunde wartete sie hier, bewegungslos, ohne ein Wort, von den Damen und dem Baron im Vorübergehen prüfend betrachtet. Jetzt drangen Bruchstücke der Unterhaltung an ihr Ohr; angesichts der Gleichgültigkeit, die alle Welt ihr gegenüber an den Tag legte, war dieser liebenswürdige Luxus des Salons für sie besonders verletzend, doch sie rührte sich nicht. Plötzlich bemerkte sie durch die halboffene Tür Mouret. Auch er hatte inzwischen begriffen, wer da draußen wartete.

»Ist das eine Ihrer Verkäuferinnen?« fragte der Baron.

Mouret unterdrückte mit Mühe seine tiefe Verlegenheit.

»Zweifellos«, sagte er mit unsicherer Stimme, »aber ich weiß nicht, welche.«

»Die kleine Blonde aus der Konfektionsabteilung«, sagte verbindlich Frau Marty, »die Zweite, glaube ich.«

Henriette schaute ihm fest ins Gesicht.

»Ah!« sagte er nur.

Dann begann er von den Festlichkeiten zu sprechen, die am Abend vorher zu Ehren des Königs von Preußen stattgefunden hatten. Allein der Baron kam in boshafter Weise wieder auf die Verkäuferinnen in den großen Warenhäusern zu sprechen. Er tat, als wollte er sich unterrichten, und stellte allerlei Fragen: Woher kamen sie im allgemeinen? Waren sie wirklich so verdorben, wie man sich erzählte? Eine lange Auseinandersetzung entspann sich über dieses Thema.

»Ach nein«, meinte der Baron, »Sie denken nicht so schlecht von ihnen?«

Mouret verteidigte die Tugend seiner Verkäuferinnen mit einer Überzeugung, über die Vallagnosc lachen mußte. Da trat Bouthemont dazwischen, um dem Chef zu Hilfe zu kommen. Mein Gott, es gab anständige unter ihnen und andere, die es nicht waren. Im Durchschnitt aber hob sich ihr Niveau wohl immer mehr. Früher hatte man nur Mädchen bekommen, die im Leben Schiffbruch gelitten hatten; heute dagegen ließen selbst bessere Familien ihre Töchter für eine Stellung beispielsweise im »Bon- Marché« ausbilden. Alles in allem konnten die Mädchen ehrbar bleiben, wenn sie es nur wollten; sie brauchten wenigstens nicht für Nahrung und Unterkunft zu sorgen wie die Arbeiterinnen, die auf dem Pariser Straßenpflaster herumlungerten. Das Schlimmste war ihre unklare gesellschaftliche Stellung zwischen Arbeiterin und Dame. Durch ihre Berührung mit der großen Welt bekamen sie Geschmack am Luxus, ohne die Bildung und die Mittel für dieses bessere Leben zu haben; daher stammten ihr Elend, ihre Laster.

»Ich jedenfalls kenne keine unausstehlicheren Geschöpfe«, bemerkte Frau von Boves; »man möchte sie zuweilen ohrfeigen.« Nun ließen die Damen ihrem Widerwillen freien Lauf. Wenn schon die Verkäuferinnen eifersüchtig waren auf die gutgekleideten Damen, deren Benehmen sie nachzuahmen suchten, so war doch der Groll der weniger wohlhabenden Kundschaft gegen diese Mädchen in seidenen Kleidern, von denen sie bei einem Kauf für zehn Sous die Unterwürfigkeit einer Magd forderten, noch viel bitterer.

»Es sind armselige Dinger«, schloß Henriette, »käuflich wie ihre Waren.«

Mouret fand die Kraft zu lächeln. Der Baron beobachtete ihn und bewunderte, wie sehr er sich zu beherrschen wußte. Er suchte dem Gespräch schließlich eine andere Wendung zu geben. Henriette schwieg; sie schwankte zwischen dem Wunsch, Denise noch länger draußen warten zu lassen, und der Furcht, daß Mouret, der jetzt wußte, woran er war, fortgehen könnte. Zu guter Letzt erhob sie sich doch und sagte:

»Sie erlauben wohl?«

»Aber selbstverständlich!« rief Frau Marty. »Ich werde Sie inzwischen in Ihren Hausfrauenpflichten vertreten.«

»Sie bleiben noch eine Weile?« sagte Henriette, zu Baron Hartmann gewendet.

»Ja«, erwiderte der Baron, »ich habe mit Herrn Mouret zu sprechen. Wir wollen Ihren kleinen Salon in Beschlag nehmen.«

Sie ging hinaus, während der Baron Mouret nach nebenan führte und die Damen Bouthemont und Vallagnosc überließ. In einer Fensternische des benachbarten Salons vertieften sie sich in ein leises Gespräch. Es handelte sich um die alte Sache.

Mouret war immer noch bestrebt, seinen Plan zu verwirklichen, das heißt, den ganzen Block um sich her für das »Paradies der Damen« in Anspruch zu nehmen, von der Rue Monsigny bis zur Rue de la Michodière und von der Rue Neuve-Saint-Augustin bis zur Rue du Dix-Décembre. Noch war in diesem gewaltigen Block das Randgrundstück an der neu durchgebrochenen Straße nicht in seinem Besitz, und dies genügte, um ihm seinen Triumph zu verderben; er wollte seine Eroberung unbedingt durch eine Prachtfassade an dieser Stelle krönen. Solange der Haupteingang sich in der Rue Neuve-Saint-Augustin befand, in dieser dunklen Straße, blieb sein Werk unvollständig; er wollte es dem neuen Paris an einer jener modernen Straßen vor Augen führen, wo im hellen Sonnenschein die Menge vorüberzog. Allein bisher war er am eigensinnigen Widerstand der Immobilienbank gescheitert, die an ihrem ursprünglichen Gedanken festhielt, hier dem Grand-Hotel eine Konkurrenz zu errichten. Die Baupläne waren fertig, man erwartete nur die Eröffnung der Rue du Dix-Décembre, um mit den Arbeiten zu beginnen. Bei seinem letzten Vorstoß aber hatte Mouret den Baron Hartmann fast überredet.

»Wir hatten gestern eine Verwaltungsratsitzung«, begann der Bankier, »und ich bin nur gekommen, weil ich dachte, daß ich Sie hier treffen würde. Ich wollte Sie vom neuesten Stand der Dinge informieren. Die Herren leisten noch immer Widerstand.«

»Das ist wirklich unvernünftig«, meinte Mouret mit einer ungeduldigen Geste. »Was wenden sie denn ein?«

»Mein Gott, das gleiche, was auch ich immer wieder sage: Ihre geplante Fassade sei nichts als eine Verzierung, und man müßte große Summen für eine einfache Reklame ausgeben.«

»Eine Reklame, eine Reklame!« rief Mouret. »Aber diese Reklame wird in Stein gehauen und alle anderen überdauern! Diese Reklame dient dazu, unsere Umsätze zu verzehnfachen, in zwei Jahren bringen wir das Geld herein! Das Gelände ist doch nicht verloren, wenn es uns ungeheure Zinsen trägt? Sie sollen die Menschenmenge sehen, die uns zuströmt, sobald die Kunden sich nicht mehr in der engen Rue Neuve-Saint-Augustin drängen müssen, sondern freien Zutritt haben auf der breiten Straße, wo sechs Wagen gut nebeneinander fahren können!«

»Schon recht«, sagte der Baron lachend. »Aber ich wiederhole Ihnen, Sie sind ein Schwärmer auf Ihrem Gebiet. Die Herren meinen, es wäre gefährlich, wenn Sie Ihre Geschäfte noch weiter ausdehnten. Sie wollen in Ihrem Interesse vernünftig sein.«

»Wie? Vernünftig? Das begreife ich nicht. Sprechen denn die Zahlen nicht deutlich genug? Beweisen sie nicht, daß unser Umsatz fortwährend steigt? Ich habe --«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn der Baron, »aber Sie dürfen doch nicht hoffen, daß das in diesem Verhältnis weitergeht.«

»Warum nicht?« meinte Mouret harmlos. »Ich sehe nicht ein, warum es einen Stillstand geben sollte?«

»Sie wollen also am Ende das Geld von ganz Paris bis auf den letzten Centime schlucken, wie man ein Glas Wasser austrinkt?«

»Durchaus; gehört Paris nicht den Frauen, und gehören die Frauen nicht uns?«

Der Baron legte ihm beide Hände auf die Schultern, betrachtete ihn mit väterlicher Miene und sagte:

»Sie sind ein kluger Junge, und ich habe Sie gern, man kann Ihnen nicht widerstehen. Wir wollen den Gedanken ernstlich erwägen, und ich hoffe durchzudringen. Bisher haben wir alle Ursache, mit Ihnen zufrieden zu sein. Ich glaube, Sie haben recht; es ist besser, noch mehr Geld in Ihrem Betrieb anzulegen, als es in einem Konkurrenzhotel aufs Spiel zu setzen.«

Mourets Aufregung legte sich, er dankte dem Baron, aber ohne seine gewohnte Begeisterung, und dieser sah, wie er nach der Tür des benachbarten Zimmers blickte, abermals erfaßt von jener geheimen Angst, die er zu verbergen suchte. Mittlerweile war Vallagnosc herangekommen, da er merkte, daß sie nicht mehr von Geschäften sprachen. Er stand in ihrer Nähe und hörte, wie der Baron mit der galanten Miene des ehemaligen Lebemanns Mouret zuflüsterte:

»Mir scheint, sie rächen sich schon.«

»Wer denn?« fragte Mouret verlegen.

»Nun, die Frauen; sie sind es müde geworden, Ihnen hörig zu sein, und jetzt sind Sie ihnen verfallen, mein Lieber!«

Er scherzte und zeigte sich wohlunterrichtet über die Liebeshändel des jungen Mannes. Die Geschichte von der Wohnung, die Mouret der kleinen Sängerin eingerichtet hatte, die enormen Summen, die er mit irgendwo aufgelesenen Frauenzimmern verpraßte, versetzten den Baron in Heiterkeit und waren in seinen Augen gewissermaßen eine Entschuldigung für die Torheiten, die er selbst einmal begangen hatte.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen«, wiederholte Mouret verlegen.

»Lassen Sie's gut sein«, sagte der Baron. »Die Weiber haben immer das letzte Wort. Ich habe mir gleich gedacht: das ist unmöglich, er prahlt nur, er ist gar nicht so stark -- und jetzt sind Sie soweit. Holen Sie nur alles aus den Frauen heraus, beuten Sie sie völlig aus, am Ende erwischt Sie doch eine und murkst Sie ab. Hüten Sie sich! Diese eine wird Sie schließlich mehr Blut und Geld kosten, als Sie allen andern abgezapft haben!«

Er lachte noch mehr, und Vallagnosc, der in seiner Nähe stand, genoß das Vergnügen mit, ohne sich einzumischen.

»Mein Gott, man muß alles einmal versucht haben«, sagte Mouret endlich und tat, als machte er sich selber lustig über die Sache. »Wozu das viele Geld, wenn man es nicht ausgibt?«

»Ganz recht«, meinte der Baron. »Unterhalten Sie sich nur, mein Lieber; ich wäre der letzte, der Ihnen Moral predigen wollte oder wegen der hohen Summen, die wir Ihnen anvertraut haben, zittern würde. Man muß sich austoben, dann hat man den Kopf freier. Und warum soll man sein Geld nicht hinauswerfen, wenn man der Mann danach ist, sein Glück wieder aufzubauen! Aber es gibt andere Kümmernisse ...«

Er hielt inne, ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen, durch den Scherz klang die Erinnerung an Leiden früherer Tage durch. Er hatte den Zweikampf zwischen Henriette und Mouret mit Aufmerksamkeit verfolgt und sah wohl, daß die Entscheidung gekommen war. Er ahnte den dramatischen Ausgang, denn er kannte die Geschichte mit dieser Denise, die er im Vorzimmer getroffen hatte.

»Leiden ist nicht meine Spezialität«, sagte Mouret prahlerisch. »Es ist doch genug, wenn ich bezahle.«

Der Baron betrachtete ihn einen Augenblick schweigend. Dann bemerkte er leise:

»Machen Sie sich nicht schlechter, als Sie sind. Sie lassen bei der Geschichte noch andere Dinge als Ihr Geld -- ja, Sie werden Ihr Herz dabei lassen, mein Lieber. Nicht wahr, Herr von Vallagnosc, das kommt vor?«

»Man sagt so, Herr Baron«, erwiderte Vallagnosc schlicht.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet. Mouret, der eben antworten wollte, fuhr leicht zusammen, alle drei Herren wandten sich um. Es war Frau Desforges, die mit heiterer Miene den Kopf hereinsteckte und in dringendem Ton rief:

»Herr Mouret, Herr Mouret! -- Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Ihnen Herrn Mouret auf einen Augenblick entführe. Er hat mir einen abscheulichen Mantel verkauft, und da ist es doch das wenigste, daß er mir seine Meinung sagt. Dieses Mädchen ist so dumm und einfallslos ... Kommen Sie, ich erwarte Sie!«

Er zögerte, denn er sah die Szene voraus, die jetzt folgen würde. Allein er mußte gehorchen. Der Baron sagte in seiner väterlichen und zugleich spöttischen Art:

»Gehen Sie, mein Lieber, die gnädige Frau braucht Sie.«

Mouret folgte ihr. Die Tür fiel wieder ins Schloß, und er glaubte hinter sich Vallagnoscs Spott zu hören. Es war mit seinem Mut zu Ende. Seit Henriette den Salon verlassen hatte und er wußte, daß Denise sich in der Hand dieser eifersüchtigen Frau befand, hatte sich seiner eine steigende Angst bemächtigt. Es war eine innere Marter, die ihn zwang, fortwährend die Ohren zu spitzen, als ob er jeden Augenblick ein Schluchzen vernehmen müßte. Was konnte diese Frau alles erfinden, um Denise zu quälen! Seine ganze Liebe, die ihn noch immer überraschte, flog dem Mädchen zu, gleichsam als Trost und Stütze. Noch nie hatte er so, mit diesem mächtigen, im Leid verborgenen Reiz geliebt. Seine Abenteuer als Geschäftsmann, selbst Henriette, so fein, so hübsch sie auch war, so stolz ihr Besitz ihn machte, war nichts als ein angenehmer Zeitvertreib gewesen, in dem ein gut Teil Berechnung mitspielte. Jetzt aber klopfte sein Herz beklommen, es war mit seiner Freiheit vorbei, ja er fand nachts keinen Schlaf mehr. Denise hatte ihn unaufhörlich in ihrer Gewalt. Selbst in diesem Augenblick gab es für ihn nichts als sie, und er dachte bei sich, er müsse Henriette schon deshalb folgen, damit er nötigenfalls Denise verteidigen könne.

Sie gingen durch das Schlafzimmer, das still und leer war. Dann stieß Frau Desforges eine Tür auf und trat in ihr Ankleidekabinett. Mouret folgte ihr. Es war ein geräumiges Zimmer, ganz mit roter Seide tapeziert; ein Toilettentisch und ein großer dreiteiliger Schrank mit breiten Spiegeltüren bildeten die Einrichtung. Da die Fenster auf den Hof gingen, war es in diesem Raum schon dunkel. Man hatte deshalb zwei Gasflammen angezündet.

Denise stand mitten im Zimmer unter dem hellen Gaslicht. Sie war sehr blaß, bescheiden gekleidet und hielt auf dem Arm den Mantel, den Frau Desforges im »Paradies der Damen« gekauft hatte. Als sie den jungen Mann eintreten sah, schrak sie unmerklich zusammen.

»Herr Mouret soll selbst urteilen«, sagte Henriette; »helfen Sie mir, Fräulein.«

Denise mußte nähertreten und ihr den Mantel umlegen. Sie hatte die Schultern, die nicht recht paßten, schon mit Nadeln abgesteckt. Henriette wandte sich um und betrachtete sich vor den Spiegeltüren des Schrankes.

»Ist so etwas möglich? Sprechen Sie ganz offen.«

»Er ist in der Tat verschnitten, gnädige Frau«, sagte Mouret, um die Sache kurz abzutun. »Aber das ist ganz einfach: das Fräulein wird Ihnen Maß nehmen, und wir werden Ihnen einen anderen Mantel machen.«

»Nein, ich will diesen, ich brauche ihn sofort«, antwortete sie lebhaft, »aber er ist über der Brust zu eng, während er sich hier am Hals bauscht.«

Dann fügte sie trocken hinzu:

»Wenn Sie mich bloß anschauen, Fräulein, wird die Sache nicht besser. Suchen Sie doch, lassen Sie sich etwas einfallen, das ist ja Ihre Aufgabe.«

Wortlos begann Denise wieder mit den Stecknadeln zu hantieren. Es dauerte lange, sie mußte beide Seiten aufeinander abstimmen, einmal mußte sie sich sogar bücken, fast niederknien, um die Länge des Mantels zu korrigieren. Die ganze Zeit über zeigte Frau Desforges, die sich ihr überließ, das strenge Gesicht einer Herrin, die schwer zu befriedigen ist. Glücklich bei dem Gedanken, das Mädchen zu dieser Dienstbotentätigkeit erniedrigen zu können, gab sie ihr kurze, gemessene Befehle und beobachtete dabei unentwegt das nervöse Zucken im Gesicht Mourets.

»Nehmen Sie hier noch eine Stecknadel -- nein, nicht dort, hier neben dem Ärmel. Verstehen Sie denn nicht? ... Nehmen Sie sich in acht, Sie werden mich stechen.«

Mouret hatte schon zweimal vergebens versucht, dazwischenzutreten und dieser Szene ein Ende zu machen. Sein Herz klopfte heftig, er fühlte seine Liebe gedemütigt, und angesichts des geduldigen Stillschweigens, das Denise bewahrte, wuchs seine Zärtlichkeit für sie nur. Als Frau Desforges sah, daß sie sich nicht verraten würden, versuchte sie es auf eine andere Weise; sie lächelte Mouret zu, um ihn als ihren Geliebten auszuspielen. Da die Stecknadeln ausgegangen waren, sagte sie:

»Ach, lieber Freund, schauen Sie doch bitte in dem Elfenbeinkästchen auf dem Toilettentisch nach. Ist es leer, wirklich? Sind Sie dann so liebenswürdig und suchen auf dem Kamin im Schlafzimmer? Sie wissen ja: in der Ecke beim Spiegel.«

Sie gab so zu erkennen, daß er sich in ihrem Schlafzimmer gut auskannte, behandelte ihn wie jemanden, der auch weiß, wo Kämme und Bürsten liegen. Als er ihr die Stecknadeln gebracht hatte, nahm sie eine nach der anderen, nötigte ihn, neben ihr stehenzubleiben, schaute ihn an und sprach leise mit ihm, als wäre Denise gar nicht da.

»Ich bin doch nicht bucklig ... Geben Sie Ihre Hand her, befühlen Sie meine Schultern -- bin ich denn so schief gebaut?«

Denise hatte langsam aufgeblickt; sie war noch blasser als vorher und begann von neuem, schweigend die Nadeln festzustecken. Mouret sah nichts als ihr reiches, blondes Haar und ihren zarten Nacken; aber er glaubte das Unbehagen und die Scham auf ihrem Gesicht förmlich zu spüren. Jetzt würde sie ihn noch mehr zurückstoßen, sagte er sich, würde ihn zu dieser Frau schicken, die ihr Verhältnis selbst vor einer Fremden nicht verbarg. Seine Fäuste ballten sich krampfhaft, er fühlte nicht übel Lust, Henriette zu schlagen. Wie sollte er sie zum Schweigen bringen? Wie sollte er Denise zu verstehen geben, daß er sie anbete, daß sie allein für ihn da sei, daß er alle seine früheren Liebschaften ihr aufzuopfern bereit sei? Nicht einmal eine gewöhnliche Dirne hätte sich die zweideutigen Vertraulichkeiten dieser Frau erlaubt.

»Es ist überflüssig, daß Sie sich weiter damit aufhalten, gnädige Frau«, sagte er endlich. »Ich finde selbst, daß der Mantel verschnitten ist.«

Nun erhob sich auch Denise.

»Das ist alles, was ich tun kann, gnädige Frau«, bemerkte sie.

Sie war mit ihrer Kraft am Ende. In ihrem Kummer hatte sie sich schon zweimal mit den Stecknadeln in die Finger gestochen. War er denn mit Frau Desforges im Bunde? Hatte er sie kommen lassen, um sich für ihre Weigerung zu rächen, indem er ihr die anderen Frauen zeigte, die ihn liebten? Dieser Gedanke lähmte sie. Niemals hatte sie so sehr all ihrer Kraft bedurft wie in diesem Augenblick. Die Demütigung wog nicht schwer; aber ihn fast in den Armen einer anderen zu sehen, hier vor ihren Augen ...

Henriette betrachtete sich vor dem Spiegel, dann brach sie von neuem in harte Worte aus.

»Das ist doch die Höhe, Fräulein! Der Mantel sitzt jetzt noch schlechter als früher. Schauen Sie, wie er über der Brust spannt, ich sehe ja aus wie eine Amme!«

Zum Äußersten getrieben, ließ Denise sich ein gereiztes Wort entschlüpfen:

»Gnädige Frau sind eben etwas stark, wir können Sie beim besten Willen nicht schlanker machen.«

»Stark, stark?« wiederholte Henriette erblassend. »Jetzt werden Sie gar unverschämt, Fräulein! Sie haben es nötig, andere abfällig zu beurteilen!«

Sie betrachteten einander bleich und bebend. Da gab es keinen Unterschied mehr zwischen Dame und Verkäuferin; sie waren nur noch Frauen, einander gleich in ihrer Feindschaft.

»Es wundert mich«, fuhr Henriette fort, »daß Herr Mouret eine solche Unverschämtheit duldet. Ich dachte, Sie wären strenger mit Ihrem Personal, Herr Mouret.«

Denise hatte ihre Ruhe und Fassung wiedergefunden; sie erwiderte höflich:

»Wenn Herr Mouret mich im Dienst behält, so geschieht es wohl, weil er mir nichts vorzuwerfen hat. Ich bin bereit, mich bei Ihnen zu entschuldigen, wenn er es wünscht.«

Erschüttert von diesem Streit, stand Mouret wortlos da. Er hatte eine tiefe Scheu vor solchen Auseinandersetzungen unter Frauen. Henriette wollte ihm eine Äußerung entreißen, die das Mädchen verurteilte, und da er dieses Wort nicht fand, stachelte sie ihn durch eine letzte Demütigung auf.

»Das ist ja prächtig! Ich muß mir also in meinem eigenen Haus die Unverschämtheiten Ihrer Geliebten gefallen lassen ... Eines Mädchens, das Sie irgendwo aus der Gosse aufgelesen haben!« Schwere Tränen stiegen in Denises Augen. Lange schon hielt sie sie zurück, aber bei dieser Beschimpfung war ihre Kraft zu Ende. Als er sie so weinen sah, ohne auf diese Beleidigung mit gleicher Heftigkeit zu erwidern, in stiller, würdevoller Verzweiflung, da zögerte Mouret nicht länger. Sein Herz flog ihr in grenzenloser Liebe entgegen. Er nahm sie bei der Hand und sagte mit bebender Stimme:

»Gehen Sie rasch, mein Kind, und vergessen Sie dieses Haus.« Verblüfft und sprachlos vor Zorn blickte Henriette beide an.

»Warten Sie einen Augenblick«, fügte er dann hinzu und legte selbst den Mantel zusammen; »nehmen Sie das mit, die gnädige Frau wird sich irgendwo einen andern kaufen. Und weinen Sie nicht, bitte! Sie wissen doch, wie sehr ich Sie schätze.«

Er begleitete sie bis zur Tür und schloß sie hinter ihr. Sie hatte kein Wort gesagt, doch eine rosige Glut war ihr in die Wangen gestiegen, während abermals Tränen in ihre Augen traten, diesmal Tränen der Freude.

Henriette, die fast erstickte, hatte ihr Taschentuch hervorgezogen und preßte es krampfhaft an ihre Lippen. Das war das Ende all ihrer Berechnungen, sie sah sich in der eigenen Falle gefangen. Sie war verzweifelt darüber, daß sie, von ihrer Eifersucht gepeinigt, die Dinge so weit getrieben hatte. Eines solchen Geschöpfes wegen verlassen zu werden, sich vor ihr so behandelt zu sehen! Ihr Stolz litt noch mehr als ihre Liebe.

»Also das ist das Mädchen, das Sie lieben?« stammelte sie mühsam, als sie allein waren.

Mouret antwortete nicht gleich. Er ging mit langsamen Schritten im Zimmer auf und ab, um seiner heftigen Erregung Herr zu werden. Endlich blieb er stehen und sagte sehr höflich, aber auch sehr kühl:

»Ja, gnädige Frau.«

Henriette sank in einen Sessel, zerknüllte das Taschentuch zwischen ihren fieberhaft zitternden Fingern und sagte ein ums andere Mal:

»Mein Gott, wie unglücklich ich bin!«

Er betrachtete sie einige Sekunden stumm, dann ging er ruhig hinaus. Sie blieb allein und weinte lange vor sich hin.

Als Mouret in den kleinen Salon zurückkehrte, fand er hier nur Vallagnosc; der Baron hatte sich wieder zu den Damen begeben. Da er noch in höchster Aufregung war, setzte er sich auf ein Sofa im Hintergrund des Zimmers. Als sein Freund ihn so verstört sah, stellte er sich barmherzig vor ihn, um ihn etwaigen neugierigen Blicken zu entziehen. Eine Weile sahen sie einander wortlos an. Dann fragte Vallagnosc, den die Verlegenheit Mourets innerlich erheiterte, spöttisch:

»Amüsierst du dich immer noch?«

Mouret schien die Frage nicht gleich zu verstehen. Als er sich jedoch ihres früheren Gesprächs über die Hohlheit und unnütze Quälerei des Lebens erinnerte, antwortete er:

»Gewiß, nie habe ich so gern gelebt. Ja, mein Lieber, du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen. Die kürzesten Stunden des Lebens sind die, in denen man vor Leid zu sterben glaubt.« Er dämpfte die Stimme und fuhr dann etwas heiterer fort, während er seine Bewegtheit kaum zu unterdrücken vermochte:

»Du weißt Bescheid, nicht wahr? Sie haben eben alle beide mein Herz zu zerreißen versucht. Doch auch das ist noch wonnevoll, fast ebenso wonnevoll wie ihre Liebkosungen. Ich bin ganz zerschlagen, ich kann nicht mehr, aber das tut nichts; du kannst dir nicht denken, wie sehr ich das Leben liebe! Ich werde dieses Kind schließlich doch bekommen, und wenn es noch so widerspenstig ist!«

Vallagnosc begnügte sich damit, zu sagen:

»Und dann?«

»Nun, dann habe ich sie. Ist das nicht genug? Du hältst dich für sehr stark, weil du nicht leiden und keine Dummheiten begehen willst. Du bist aber nur ein Narr, nichts weiter. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man mit allen Fasern hinter so einem Mädchen her ist. Da kann eine Minute Entschädigung genug sein für alle Leiden. Ich will und werde sie besitzen! Und wenn sie mir entkommt, sollst du mal die Maschinerie sehen, die ich mir aufbauen werde, um mich zu kurieren! ... Du verstehst das nicht, mein Lieber. Sonst würdest du wissen, daß die Aktivität schon ihren Lohn in sich trägt. Handeln, schaffen, sich mit den Tatsachen herumschlagen und sie besiegen oder von ihnen besiegt werden: darin liegt alle Freude, alle Kraft des Menschen beschlossen!«

»Nichts als eine Art, sich zu betäuben«, murmelte der andere.

»Nun, dann will ich mich eben betäuben. Ich will lieber vor Leidenschaft vergehen als vor Langeweile!«

Da lachten sie alle beide. Dennoch erging sich Vallagnosc weiter in Reden über die Nichtigkeit des Lebens. Warum sollte der Mensch sich auch anstrengen, wenn doch niemals etwas so ging, wie man wollte. Er führte seinen künftigen Schwiegervater als Beispiel an, der in Madame Guibal eine nachgiebige, gefällige Blondine, die Laune einer Stunde, zu finden gehofft hatte; und nun war sie wie mit Peitschenhieben hinter ihm her, brauchte seine letzten Kräfte auf. Während man ihn auf einer Inspektionsreise nach Saint-Lô glaubte, saß er mit ihr in einem kleinen Landhaus in Versailles und vertat den Rest seines Vermögens.

»Er ist glücklicher als du«, sagte Mouret und erhob sich.

»O gewiß«, erklärte Vallagnosc. »Überhaupt scheint nur das Schlechte amüsant zu sein.«

Mouret hatte sich wieder gefaßt und dachte daran, zu gehen, aber er wollte nicht, daß es nach einer Flucht aussehe. Er kehrte daher mit seinem Freund in den Salon zurück, wo man noch immer beim Tee war. Baron Hartmann fragte ihn, ob der Mantel endlich passe, und Mouret erwiderte ohne jede Verlegenheit, daß er die Sache aufgegeben habe.

Er setzte sich neben Bouthemont, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Auf dessen Fragen erklärte er ihm ohne viel Umstände, daß die Herren in einer gemeinsamen Beratung beschlossen hätten, auf seine ferneren Dienste zu verzichten. Er tat dabei, als sei er ganz verzweifelt über diesen Beschluß. Aber was könne er tun? Er könne sich mit seinen Teilhabern wegen einer Personalfrage nicht überwerfen. Bouthemont hörte ihm blaß und schweigend zu und mußte ihm für sein Wohlwollen auch noch danken.

»Das muß ein schrecklicher Mantel sein«, erklärte jetzt Frau Marty. »Henriette will wohl gar nicht mehr wiederkommen?«

In der Tat begann das lange Ausbleiben der Hausfrau alle zu beunruhigen. Endlich erschien Frau Desforges.

»Haben Sie es auch aufgegeben?« rief Frau von Boves.

»Wieso denn?«

»Nun, Herr Mouret hat erklärt, es sei alles umsonst, der Mantel werde Ihnen niemals passen.«

Henriette tat sehr erstaunt.

»Herr Mouret hat sicher gescherzt; der Mantel sitzt jetzt vortrefflich!«

Sie schien sehr ruhig und lächelte. Ohne Zweifel hatte sie ihre Augen gewaschen, denn sie waren frisch und zeigten nicht die geringste Röte. Als wohlerzogene Dame fand sie die Kraft, ihr Leid unter der Maske der Anmut zu verstecken. Sie bot mit ihrem gewohnten Lächeln Vallagnosc ein belegtes Brötchen an. Nur der Baron, der sie sehr gut kannte, bemerkte das leise Beben ihrer Lippen und das dunkle Feuer ihrer Augen. Er ahnte, was vorgefallen war.

»Mein Gott, jeder nach seinem Geschmack«, sagte Frau von Boves. »Ich kenne Frauen, die nicht einmal einen Meter Band anderswo als im ›Louvre‹ kaufen würden. Andere wieder schwören aufs ›Bon-Marché‹ – das ist Ansichtssache.«

»Das ›Bon-Marché‹ ist doch sehr provinziell«, murmelte Frau Marty, »und im ›Louvre‹ ist immer so ein schreckliches Gedränge!«

Damit waren die Damen wieder bei den großen Warenhäusern angelangt, und Mouret mußte seine Ansicht äußern. Er trat in ihre Mitte und tat, als wolle er nur gerecht sein. Das »Bon-Marché« sei ein ausgezeichnetes Haus, urteilte er, solid und anständig, aber das »Louvre« habe die bessere Kundschaft.

»Und über allen steht das ›Paradies der Damen‹«, sagte lachend der Baron.

»Gewiß«, erwiderte Mouret ruhig. »Bei uns werden die Wünsche und der Geschmack der Kunden berücksichtigt, und man begegnet ihnen mit der meisten Zuvorkommenheit.«

Alle anwesenden Damen waren derselben Ansicht. Das war es: sie fühlten sich dort fortwährend umschmeichelt und angebetet. Auf dieser galanten Verführungskunst beruhte ja der enorme Erfolg des Hauses.

»Übrigens«, warf Henriette ein, »was macht mein Schützling, Herr Mouret, Fräulein von Fontenailles?«

Sie wandte sich zu Frau Marty und fügte erklärend hinzu:

»Eine Marquise, meine Liebe, ein armes Mädchen, das in Schwierigkeiten geraten ist.«

»Mein Gott«, sagte Mouret, »sie verdient in der Stoffmusterabteilung drei Franken täglich. Ich denke, ich werde sie mit einem meiner Laufburschen verheiraten.«

»Pfui, was für eine schreckliche Idee!« rief Frau von Boves. Er sah sie an und sagte ruhig:

»Warum denn, gnädige Frau? Ist es nicht besser, einen wackeren Jungen und tüchtigen Arbeiter zu heiraten, als Gefahr zu laufen, daß man auf den Straßen durch irgendeinen Taugenichts aufgelesen wird?«

Vallagnosc glaubte, sich ins Mittel legen zu müssen, und bemerkte scherzend:

»Treiben Sie ihn nicht zu weit, gnädige Frau, sonst wird er Ihnen noch sagen, daß alle alten Familien Frankreichs besser daran täten, sich dem Handel zu widmen.«

»Das wäre für viele von ihnen wirklich ein ehrenvolles Ende«, erklärte Mouret.

Alle lachten; das erschien ihnen doch zu widersinnig. Er aber fuhr fort, sich in Lobpreisungen über das zu ergehen, was er den Adel der Arbeit nannte.

Mittlerweile saß Bouthemont regungslos in seinem Sessel. Noch klangen ihm die Worte Mourets in den Ohren; endlich erhob ei sich und sagte leise zu Henriette:

»Er hat mir eben meine Entlassung mitgeteilt, allerdings in sehr höflicher Weise ... Aber er soll es bereuen! Ich habe schon einen ausgezeichneten Firmennamen, ›Zu den vier Jahreszeiten‹. In der Nähe der Oper will ich mich niederlassen.«

Sie schaute ihn an, ihre Augen brannten in einem dunklen Feuer.

»Zählen Sie auf mich, ich bin dabei«, flüsterte sie ihm zu.

»Warten Sie einen Augenblick.«

Sie zog den Baron Hartmann in eine Fensternische. Hier empfahl sie ihm Bouthemont als einen gewitzten Jungen, der bald ganz Paris in Aufruhr bringen werde, denn er sei im Begriff, sich selbständig zu machen. Als sie nun aber von einer Unterstützung ihres neuen Schützlings sprach, konnte der Baron, der an sich über nichts mehr erstaunte, doch eine Geste der Verwunderung nicht unterdrücken. Das war das vierte Genie, das sie seiner Fürsorge anvertraute. Er fühlte, daß er lächerlich zu werden begann. Indessen lehnte er nicht rundweg ab. Die Idee, dem »Paradies der Damen« selbst ein Gegengewicht erstehen zu lassen, gefiel ihm sogar; auch in seinem Bankgeschäft war er schon darauf verfallen, sich in dieser Weise selber eine Konkurrenz zu schaffen, um gefährlicheren Widersachern die Lust zu irgendwelchen Versuchen zu nehmen. Er versprach, die Angelegenheit zu erwägen.

»Wir müssen heute abend noch über die Sache reden«, flüsterte Henriette Bouthemont ins Ohr. »Kommen Sie pünktlich um neun Uhr; der Baron ist so gut wie gewonnen.«

Lautes Stimmengewirr erfüllte den geräumigen Salon. Mouret hatte mitten unter den Damen seine gute Laune wiedergefunden. Er verteidigte sich heiter gegen den Vorwurf, sie mit lauter Tand und Flitter zu ruinieren, und wollte mit Zahlen den Nachweis liefern, daß sie bei ihm dreißig Prozent an ihren Einkäufen sparten. Der Baron betrachtete ihn mit einer Art brüderlicher Bewunderung. Er hielt den Zweikampf für entschieden; Henriette war besiegt, sie war also nicht die Frau, die da kommen sollte. Und wieder glaubte er das zarte Gesicht des jungen Mädchens vor sich zu sehen, das er im Vorzimmer bemerkt hatte. Geduldig hatte sie dagestanden, gefährlich in ihrer Sanftmut.


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