Emile Zola
Das Paradies der Damen
Emile Zola

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Viertes Kapitel

Am Montag, dem zehnten Oktober, brach die Sonne siegreich durch die grauen, regenschweren Wolken, die seit einer Woche Paris verdüsterten. Die ganze Nacht war ein feiner Regen niedergegangen, der die Straßen verschmierte; allein bei Tagesanbruch hatte ein scharfer Wind die Bürgersteige getrocknet, die Wolken vom Himmel verjagt und ihn in heiterem Frühlingsblau erstrahlen lassen.

Das »Paradies der Damen« lag schon um acht Uhr im Glanz des großen Sonderverkaufs. Über dem Eingang flatterten Fahnen, der frische Morgenwind spielte mit den ausgehängten Wollwaren. Die lange Reihe der Schaufenster nach beiden Straßen mit ihren blankgeputzten Scheiben entfaltete die ganze Farbenpracht der Dekoration.

Doch zu dieser frühen Morgenstunde hatten sich erst wenige Käufer eingefunden: einige Kunden, die später keine Zeit hatten, Haushälterinnen aus der Nachbarschaft, ein paar Frauen, die sich dem Gedränge am Nachmittag nicht aussetzen wollten. Das mit Waren vollgepfropfte Geschäft war noch leer, aber sichtlich gerüstet. Die vorbeieilenden Fußgänger würdigten die Auslagen kaum eines Blicks. Nur die Bewohner des Stadtviertels, die kleinen Geschäftsleute vor allem, die durch diesen ungeheuren Aufwand an Fahnen und Dekoration in Aufruhr versetzt wurden, standen in Gruppen unter den Türen und auf der Straße und tauschten hier und da bittere Bemerkungen aus. Hauptsächlich erboste sie ein in der Rue de la Michodière vor dem Warenabgang haltender Wagen, einer jener vier, die Mouret in ganz Paris für sich Reklame machen ließ. Grün angestrichen, mit Rot und Gelb verziert, leuchtete er im hellen Sonnenschein wie Gold und Purpur. Auf beiden Seiten war der Name der Firma zu lesen, darüber eine auffallende Anzeige, die auf den heutigen großen Sonderverkauf hinwies. Nachdem der Wagen mit den restlichen Paketen vom Tag vorher vollgeladen war, preschte das prächtige Pferd im Trab davon. Baudu stand blaß auf der Schwelle seines Ladens und blickte haßerfüllt diesem Fahrzeug nach, das den verabscheuten Namen des »Paradieses der Damen« im hellen Sonnenlicht durch ganz Paris spazierenführte.

Mittlerweile waren einige Droschken angekommen und hatten sich hintereinander aufgestellt. Sooft eine Käuferin eintrat, entstand eine Bewegung unter den Laufburschen, die, in die Livree des Hauses gekleidet – hellgrüner Anzug, gelb und rot gestreifte Weste –, unter der hohen Eingangstür warteten. Der Inspektor Jouve, in Schwarz mit weißer Krawatte und allen Kriegsauszeichnungen, empfing die Damen voll ernster Höflichkeit, um sie nach den verschiedenen Abteilungen zu weisen. Dann verschwanden sie in dem Vorraum, der in einen orientalischen Saal umgewandelt war.

Schon von der Place Gaillon aus konnte man diesen Saal sehen. Decken und Wände waren mit den Schätzen des Orients verkleidet, türkischen, arabischen, persischen, indischen Teppichen in den sattesten Farben und üppigsten Mustern. Mouret selbst hatte diesen Gedanken gehabt, der alle in höchstes Erstaunen versetzte. Er hatte in der Levante zu ausgezeichneten Bedingungen eine Sammlung alter und neuer Teppiche angekauft, wie sie bisher nur bei Raritätenhändlern für teures Geld zu haben gewesen waren. Er wollte den Markt damit überschwemmen, gab sie fast zum Einkaufspreis ab und gedachte nur so viele zu behalten, wie er für die prächtige Ausstattung seines Hauses brauchte.

Als Denise, die gerade an diesem Montag ihre neue Stelle antreten sollte, um acht Uhr morgens durch den orientalischen Saal kam, war sie ganz verblüfft. Sie erkannte den Eingang gar nicht wieder und betrachtete verwirrt diese Haremsdekoration am Portal. Ein Laufbursche führte sie ins Dachgeschoß hinauf und übergab sie Frau Cabin, die damit betraut war, die Kammern der Verkäuferinnen reinzuhalten und zu überwachen. Frau Cabin wies Denise nach Nummer sieben, wohin ihr Koffer schon vorgetragen worden war. Es war ein winziger Raum mit einer Luke auf das Dach, möbliert mit einem schmalen Bett, einem Nußbaumschrank, einem Toilettentisch und zwei Stühlen. Zwanzig solcher Mansarden lagen wie Klosterzellen an einem gelb angestrichenen Gang. Von den fünfunddreißig Verkäuferinnen schliefen hier diejenigen, die in Paris keine Familie hatten, während die übrigen auswärts wohnten, darunter einige bei angeblichen Tanten oder Kusinen. Denise zog rasch ihr Wollkleid aus, das durch das viele Bürsten fadenscheinig geworden und an den Ärmeln vielfach ausgebessert war; es war das einzige, das sie aus Valognes mitgebracht hatte. Dann legte sie den Arbeitsanzug ihrer Abteilung an, ein schwarzes Seidenkleid, das auf dem Bett bereitlag. Es war ein wenig zu lang und in den Schultern zu weit; allein in ihrer Aufregung sputete sie sich dermaßen, daß sie sich bei solchen Einzelheiten nicht aufhielt. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Seide getragen. Während sie in ihrer festtäglichen Kleidung voller Unbehagen nach unten ging, fühlte sie sich gänzlich fehl am Platz.

Als sie ihre Abteilung betrat, brach eben ein Streit los; sie hörte Ciaire mit scharfer Stimme rufen:

»Ich bin vor ihr angekommen!«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte Marguerite; »an der Tür hat sie mich gestoßen, aber ich hatte schon den Fuß drinnen.«

Es handelte sich darum, wessen Name früher auf die Tafel geschrieben werden sollte, die den Turnus beim Verkauf regelte. Die Verkäuferinnen mußten sich in der Reihenfolge, wie sie ankamen, auf einer Schiefertafel eintragen; nach jedem Verkauf löschten sie oben ihren Namen und setzten ihn als letzten unten wieder an. Frau Aurélie gab schließlich Marguerite recht.

»Immer Ungerechtigkeiten!« murmelte Ciaire wütend.

Doch der Eintritt Denises versöhnte die beiden. Sie betrachteten sie und lächelten einander spöttisch zu. Wie konnte man nur so geschmacklos herumlaufen! Das junge Mädchen trat linkisch zur Schiefertafel, wo sie sich als letzte eintrug. Mittlerweile betrachtete die Direktrice sie mit unruhiger Miene; sie konnte sich nicht enthalten zu bemerken:

»Meine Liebe, in diesem Kleid hätten ja zwei von Ihrer Sorte Platz! Es muß enger gemacht werden; außerdem verstehen Sie offenbar gar nicht, sich anzuziehen. Kommen Sie her, damit ich das etwas in Ordnung bringe.«

Sie führte sie vor einen der hohen Spiegel, die abwechselnd zwischen den Schranktüren angebracht waren. Der weite Raum mit den einheitlich gekleideten und abwartend herumstehenden Verkäuferinnen wirkte unpersönlich wie die Empfangshalle eines Hotels. Jedes der Mädchen trug zwischen zwei Knöpfen an der Brust einen großen Bleistift, aus den Taschen blitzte der weiße Kassenblock hervor. Einige von ihnen hatten bescheidenen Schmuck angelegt, Ringe, Broschen, Ketten. Ihr eigentlicher Luxus aber, in dem sie bei der erzwungenen Einförmigkeit ihrer Kleidung miteinander wetteiferten, war ihr Haar, das bei allen mit dem Aufwand der raffiniertesten Toilettenkünste frisiert war.

»Ziehen Sie den Gürtel etwas mehr zu«, fing Frau Aurélie wieder an. »So, jetzt haben Sie wenigstens keinen Buckel mehr. Und Ihre Haare! Wie kann man sie nur zu einem solchen Klumpen verunstalten! Sie wären prachtvoll, wenn Sie damit umzugehen wüßten.«

Das war in der Tat Denises einzige Schönheit. Ihre aschblonden Haare fielen ihr beim Kämmen bis zu den Knöcheln herab; sie waren ihr so im Weg gewesen, daß sie sie einfach zu einem Knoten zusammengerollt und mit einem Hornkamm festgesteckt hatte. Ciaire, die beim Anblick dieser Fülle vor Neid verging, tat, als müsse sie über die linkische Art lachen, wie sie gekämmt war. Sie rief mit einem Wink eine Verkäuferin aus der Wäscheabteilung herbei, ein Mädchen mit breiten, aber angenehmen Zügen. Die beiden aneinanderstoßenden Abteilungen lagen in ständiger Fehde; wenn es sich jedoch darum handelte, sich über andere lustig zu machen, verstanden die Verkäuferinnen sich gleich.

»Fräulein Pauline, schauen Sie sich einmal diese Mähne an!« sagte Ciaire und stieß mit dem Ellbogen gleichzeitig Marguerite an. Sie tat, als müsse sie vor Lachen ersticken. Allein Pauline schien nicht zum Scherzen aufgelegt zu sein. Sie betrachtete Denise einen Augenblick und erinnerte sich, was sie selbst in den ersten Tagen ihres Eintritts auszustehen gehabt hatte.

»Ach was«, sagte sie, »nicht jedermann hat eine solche Mähne!« Damit kehrte sie in die Wäscheabteilung zurück und ließ die anderen verlegen zurück. Denise, die alles mit angehört hatte, sandte ihr einen dankbaren Blick nach, während Frau Aurélie ihr einen auf ihren Namen ausgestellten Kassenblock übergab und sagte:

»Jetzt machen Sie sich mit den Gewohnheiten des Hauses vertraut und warten Sie, bis Sie im Verkauf an die Reihe kommen; es wird heute heiß hergehen. Da werden wir ja sehen, was Sie können.«

Die Abteilung blieb indessen leer; es kamen in dieser frühen Morgenstunde nur wenige Kunden zur Konfektion herauf. Denise machte sich selber Mut, denn es galt, ihren Platz zu erobern. Man hatte ihr am Tag zuvor gesagt, daß sie kein festes Gehalt, sondern nur ihre Prozente bekommen werde, die übliche Provision nach jedem Verkauf. Sie hoffte dennoch, auf zwölfhundert Franken zu kommen, denn sie wußte, daß gute Verkäuferinnen es auf zweitausend brachten. Ihre Ausgaben standen fest: hundert Franken im Monat würden genügen, die Pension Pépés zu bestreiten und auch Jean etwas zuzustecken, der ja noch nichts bezahlt bekam; dabei würde ihr noch so viel übrigbleiben, daß sie selber leben und sich hier und da ein Wäsche- oder Kleidungsstück kaufen konnte. Allein um eine so hohe Summe zu erreichen, mußte sie fleißig und geschickt sein, sich die Mißgunst, die sie umgab, nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, sich wehren und, wenn nötig, den ihr zukommenden Teil sich auch mit Gewalt erobern.

Während sie sich mit solchen Gedanken beschäftigte, ging ein großer junger Mann durch die Abteilung und lächelte ihr zu. Als sie Deloche erkannte, der am Tag zuvor in die Spitzenabteilung eingetreten war, erwiderte sie lächelnd seinen Gruß, ganz glücklich über diese Freundschaft, die ihr hier plötzlich begegnete; sie sah darin eine glückliche Vorbedeutung.

Um halb zehn rief eine Glocke zur ersten Mahlzeit. Dann wurde die zweite Schicht gerufen. Immer noch kamen keine Kunden. Frau Frédéric, die zweite Abteilungsleiterin, die in ihrer ewig verdrossenen Witwenstimmung von vornherein alles schwarz sah, versicherte, der Tag sei verloren; keine vier Katzen würden erscheinen; man könne ruhig die Schränke schließen und nach Hause gehen. Diese Prophezeiung verdüsterte das platte Gesicht Marguerites, die sehr geldgierig war, während Claire schon an eine Landpartie dachte, falls das Haus Bankrott machen sollte. Frau Aurélie ging stumm und ernst in der leeren Abteilung umher wie ein General, den bei Sieg und Niederlage gleichermaßen die Verantwortung trifft. Gegen elf Uhr erschienen einige Damen. Die Reihe zum Verkaufen war an Denise. Eben wurde eine Kundin gemeldet.

»Es ist die Dicke aus der Provinz, Sie wissen ja«, flüsterte Marguerite.

Es war eine Dame von fünfundvierzig Jahren, die von Zeit zu Zeit aus einem entfernten Winkel des Landes nach Paris kam. Zu Hause legte sie monatelang ihre Ersparnisse beiseite. Wenn sie dann in der Stadt war, galt ihr erster Weg dem »Paradies der Damen«, wo sie alles bis auf den letzten Sou ausgab. Selten machte sie eine briefliche Bestellung, sie wollte sehen, was sie kaufte, wollte die Freude genießen, die Ware zu befühlen. Das ganze Geschäft kannte sie, man wußte, daß sie Boutarel hieß und in Albi wohnte; um das übrige kümmerte sich niemand.

»Es geht Ihnen hoffentlich gut, gnädige Frau?« fragte Frau Aurélie, die ihr höflich entgegenging. »Was darf es sein? Wir stehen ganz zu Ihrer Verfügung.«

Dann wandte sie sich um und rief:

»Ein Fräulein bitte!«

Denise trat näher, allein Claire war ihr zuvorgekommen. Gewöhnlich war sie ziemlich träge beim Verkauf; sie machte sich nicht viel aus dem Geld; sie verdiente außerhalb des Hauses weit mehr und ohne jede Mühe ... Doch der Gedanke, der Neuen eine Kundin wegzukapern, spornte sie an.

»Ich bin an der Reihe«, setzte sich Denise empört zur Wehr. Frau Aurélie warf ihr einen strengen Blick zu.

»Hier befehle ich. Alte Kunden können Sie noch nicht bedienen; warten Sie, bis Sie sich im Hause besser auskennen.«

Denise wandte sich ab, und da ihr die Tränen in die Augen traten, kehrte sie den anderen den Rücken und tat, als wollte sie auf die Straße hinunterschauen. Wie, versuchte man sie am Verkauf zu hindern? Sollten sich alle zusammengetan haben, um ihr die ersten Kunden wegzuschnappen? Die Sorge um die Zukunft erfaßte sie; sie fühlte sich wie erdrückt unter so viel Feindseligkeit. In ihrer bitteren Verlassenheit preßte sie die Stirn an die kalte Fensterscheibe, blickte nach dem »Vieil Elbeuf« hinüber und dachte, es wäre besser gewesen, wenn sie ihren Onkel gebeten hätte, sie zu behalten; jetzt stand sie ganz allein in diesem riesigen Haus da, wo niemand sie gern sah.

Inzwischen hörte sie hinter sich die Stimmen summen.

»Der ist mir zu eng«, sagte Frau Boutarel.

»Aber gnädige Frau«, erwiderte Claire, »die Schultern sitzen genau richtig ... Vielleicht hätten Sie lieber einen Umhang als einen Mantel?«

Denise fuhr zusammen, eine Hand hatte sich auf ihren Arm gelegt, und Frau Aurélie fragte streng:

»Nun tun Sie überhaupt nichts? Sie betrachten sich die Leute da draußen? So geht das nicht!«

»Man läßt mich ja nicht verkaufen.«

»Es gibt andere Arbeiten für Sie, fangen Sie wie alle an ... Hier, legen Sie die Sachen zusammen!«

Um die wenigen Kunden zu bedienen, die bisher gekommen waren, hatte man schon sämtliche Fächer leeren müssen; auf den beiden langen Eichentischen rechts und links lagen ganze Haufen von Mänteln, Umhängen und Kleidern aller Sorten und Größen.

Wortlos machte Denise sich daran, sie zusammenzulegen und sorgfältig wieder in die Schränke zu hängen. Es war die untergeordnetste Arbeit der Anfängerinnen. Sie widersprach nicht, da sie wußte, daß man unbedingten Gehorsam forderte; sie wartete einfach ab, ob die Direktrice sie auch verkaufen lassen werde, wie sie es anfangs vorgehabt zu haben schien.

Sie war immer noch beim Zusammenlegen, als Mouret erschien; das störte sie aus ihrer trüben Stimmung auf. Sie errötete, ohne zu wissen, weshalb, und fühlte sich wieder von jener seltsamen Angst erfaßt, denn sie glaubte, daß er sie ansprechen werde. Allein er sah sie gar nicht, er erinnerte sich nicht mehr an diese kleine Person, die ihm einmal durch einen vorübergehenden günstigen Eindruck aufgefallen war.

»Frau Aurélie!« rief er in gebieterischem Ton.

Er war blaß, die Augen aber waren hell und hatten ihre Entschlossenheit behalten. Auf seinem Gang durch die Abteilungen hatte er überall gähnende Leere vorgefunden, und bei all seinem eigensinnigen Vertrauen in sein Glück war doch plötzlich die Möglichkeit einer Niederlage in seinen Überlegungen aufgetaucht. Allerdings war es erst elf Uhr, und er wußte aus Erfahrung, daß der Hauptansturm immer nachmittags kam. Allein einige Anzeichen beunruhigten ihn: bei früheren Großverkäufen hatte sich schon am Morgen eine gewisse Bewegung gezeigt, während heute sogar die Kunden aus dem Stadtviertel fehlten, die als Nachbarinnen zu ihm zu kommen pflegten.

Eben sagte Frau Boutarel, die sonst immer etwas kaufte:

»Nein, Sie haben diesmal nichts, was mir gefällt ... Ich werde mich ein andermal entschließen.«

Mouret blickte ihr nach; als Frau Aurélie auf seinen Ruf herbeikam, nahm er sie beiseite, und die beiden wechselten rasch einige Worte. Sie machte eine Geste des Bedauerns, offenbar berichtete sie ihm, daß der Verkauf nicht recht in Schwung kommen wolle. Sie standen sich einen Augenblick wortlos gegenüber, von einem jener Zweifel gepackt, die ein Feldherr seinen Soldaten zu verbergen pflegt. Endlich sagte Mouret laut und zuversichtlich:

»Wenn Sie noch mehr Leute brauchen, nehmen Sie ein Mädchen aus dem Atelier, es wird doch etwas mithelfen können.«

Verzweifelt setzte er seine Besichtigung fort. Er vermied es schon seit dem Morgen, Bourdoncle zu begegnen, dessen sorgenvolle Bemerkungen ihn reizten. Als er die Wäscheabteilung verließ, wo das Geschäft noch schwächer ging, stieß er doch plötzlich auf ihn und mußte sein Gejammer über sich ergehen lassen. Da schickte er ihn ganz einfach zum Teufel mit all der Schroffheit, die er in schlimmen Stunden selbst seinen höchsten Angestellten gegenüber an den Tag legte.

»Lassen Sie mich in Ruhe! Es geht ja ausgezeichnet ... Ich werfe schließlich noch alle Miesmacher zur Tür hinaus.«

Dann stellte er sich an der Treppe vom Zwischenstock ins Erdgeschoß auf. Von diesem Punkt aus konnte er das ganze Geschäft überblicken. Doch nun erschien ihm die allgemeine Leere noch trostloser: In der Spitzenabteilung war nur eine alte Dame zu sehen, die sämtliche Kästen um und um wühlen ließ, ohne etwas zu kaufen; in der Wäscheabteilung feilschten drei Frauenzimmer um Kragen zu achtzehn Sous. Unten in den Seitengängen waren die Kunden zwar etwas zahlreicher, aber sie wanderten unentschlossen an den Tischen vorbei. Bei den Kurzwaren drängten sich einige Weiber; in den Abteilungen für Weißwaren und für Wollwaren dagegen war wieder kaum jemand zu entdecken. Die Laufburschen in ihren grünen Anzügen mit den breiten glänzenden Messingknöpfen warteten mit hängenden Armen auf die Kunden. Von Zeit zu Zeit ging einer der Inspektoren mit strenger Miene vorüber. Am meisten beklommen machte Mouret die Friedhofstille, die in der Halle herrschte. In dem gedämpften Licht, das durch die Milchglasdecke fiel, lag die Seidenabteilung wie im Schlaf. Langsam kamen allerdings Wagen an, man hörte, wie draußen plötzlich Pferde angehalten wurden, ein Kutschenschlag sich geräuschvoll schloß. Ein unbestimmter Lärm drang herein: Neugierige, die sich vor den Auslagen drängten, Droschken, die auf der Place Gaillon hielten. Allein noch sah Mouret die Kassierer untätig hinter ihren Schaltern sitzen, die Packtische blieben leer, anstatt sich mit Paketen zu füllen, und er hatte das Gefühl, als sei seine große Maschine zum Stehen gekommen.

»Sehen Sie sich mal den Chef an, Favier«, murmelte Hutin; »er scheint nicht gerade in rosiger Stimmung zu sein.«

»Das ist ja auch eine gräßliche Spelunke«, erwiderte Favier, »ich habe heute noch gar nichts verkauft.«

Sie tauschten ihre Bemerkungen aus, ohne einander anzublicken. Die übrigen Verkäufer der Abteilung waren damit beschäftigt, unter der Anleitung Robineaus große Stöße von »Pariser Glück« aufzulegen, während Bouthemont in ein angelegentliches Gespräch mit einer jungen Frau vertieft war und, wie es schien, eine wichtige Bestellung aufnahm.

»Ich brauche für Sonntag hundert Franken«, sagte jetzt Hutin.

»Wenn ich nicht täglich im Durchschnitt zwölf Franken herausschlage, bin ich pleite ... Ich hatte so fest auf diesen Sonderverkauf gebaut.«

»Verflucht! Hundert Franken, das ist viel!« meinte Favier. »Ich brauche nicht mehr als fünfzig oder sechzig ... Sie leisten sich noble Frauenzimmer, wie es scheint?«

»Ach wo, mein Lieber. Denken Sie sich, so etwas Dummes: ich habe gewettet und habe verloren ... Ich muß jetzt fünf Personen freihalten, zwei Herren und drei Damen. Alle Wetter! Der ersten, die mir in die Hände fällt, will ich fünfundzwanzig Meter ›Pariser Glück‹ anhängen!«

So plauderten sie noch eine Weile und erzählten einander, was sie tags zuvor gemacht hatten und was sie in acht Tagen zu tun gedächten. Favier hatte die Leidenschaft, bei Pferderennen zu wetten, Hutin dagegen war mehr für Bootsfahrten und bewegte sich überdies gern in Gesellschaft von Tingeltangelsängerinnen. Allein beide stachelte das gleiche Bedürfnis nach Geld an, sie dachten nur an Geld und plagten sich um Geld vom Montag bis zum Samstag, um dann am Sonntag alles zu verprassen. Dies war der einzige Gedanke, der sie im Geschäft beherrschte, ständig lebten sie im Kampf ums Geld. Und da kaperte dieser Schuft von Bouthemont Hutin die Botin von Frau Sauveur weg, die magere Person, mit der er eben sprach! Ein schönes Geschäft: zwei, drei Dutzend ganze Stücke ...

In diesem Augenblick hatte auch Robineau Favier eine Käuferin weggeschnappt.

»Der wird bald seine Rechnung machen müssen«, sagte Hutin, der den geringsten Anlaß dazu benutzte, die ganze Abteilung gegen den Mann aufzuhetzen, dessen Stelle er haben wollte. »Wozu mischen sich die oben auch noch in den Verkauf? Auf Ehrenwort, wenn ich jemals Zweiter werde, sollt ihr sehen, wie anständig ich sein werde!«

Er schien die Liebenswürdigkeit in Person zu sein. Favier sandte ihm einen mißtrauischen Blick zu und murmelte in seiner galligen Art:

»Ja, ich weiß ... Ich wollte, Sie wären es schon.«

Als er eine Kundin sich nähern sah, setzte er hinzu: »Aufgepaßt, da kommt etwas für Sie!«

Es war eine Dame mit kupferrotem Gesicht in einem roten Kleid mit gelbem Hut. Hutin witterte sofort, daß sie nichts kaufen würde. Er bückte sich rasch unter den Tisch und tat, als müsse er seine Schuhbänder nachziehen. Dabei brummte er:

»Kommt gar nicht in Frage! Die soll sich ein anderer nehmen. Besten Dank, das wäre verlorene Mühe.«

Allein Robineau rief nach ihm.

»Wer ist an der Reihe? Herr Hutin? Wo ist Herr Hutin?«

Als dieser keine Antwort gab, erhielt der nächstfolgende Verkäufer die kupferrote Dame. Sie verlangte tatsächlich nur Muster und Preisangaben; dabei hielt sie den Angestellten zwanzig Minuten auf und überhäufte ihn mit Fragen. Der Zweite hatte indessen bemerkt, daß Hutin sich hinter dem Tisch wieder aufgerichtet hatte. Als nun eine neue Kundin erschien, trat er mit strenger Miene dazwischen und hielt den jungen Mann zurück.

»Sie haben Ihren Einsatz verpaßt ... Ich habe Sie gerufen, da Sie aber dahinten steckten ...«

»Ich habe nichts gehört, Herr Robineau ...«

»Schluß! Schreiben Sie sich als letzter ein! Herr Favier, Sie sind an der Reihe!«

Favier sandte seinem Freund einen Blick des Bedauerns zu, war aber im Grunde entzückt. Hutin wandte sich wütend ab. Er kannte die Kundin; es war eine reizende Blondine, die oft in der Abteilung erschien. Sie kaufte immer viel, ließ alles in den Wagen schaffen und verschwand sodann. Sie war groß und elegant, mit auserlesenem Geschmack gekleidet, schien sehr reich zu sein und der besten Gesellschaft anzugehören.

»Nun, was ist mit Ihrer Kokotte?« fragte Hutin, als Favier die Dame zur Kasse begleitet hatte und zurückkam.

»Die – eine Kokotte? Bestimmt nicht, die sieht sehr anständig aus.«

»Ach was, natürlich ist sie eine Kokotte! Die sehen heutzutage alle anständig aus. Bei den Frauen kann man nie wissen ...«

Favier sah auf seinen Block und meinte:

»Mir kann's gleich sein. Für zweihundertdreiundneunzig Franken habe ich ihr Sachen aufgehängt; das macht fast drei Franken für mich.«

Hutin verzog den Mund und begann über die Kassenblocks zu schimpfen. Auch so eine saubere Erfindung des Chefs! Überhaupt ein schöner Tag! Wenn das so weiterging, würde er nicht einmal genug verdienen, um seine Gäste mit Selterswasser zu bewirten.

Mouret, der nach einer Pause seinen Beobachtungsposten an der Treppe wieder eingenomemn hatte und sichtlich Mut schöpfte, mußte jetzt häufig Platz machen, um Kundinnen vorüberzulassen, die in kleinen Gruppen in die Wäsche- und die Konfektionsabteilung heraufkamen. In dem gedämpften Licht der Seidenhalle hatten einzelne Damen bereits ihre Handschuhe abgelegt, um das zarte Gewebe des »Pariser Glücks« besser befühlen zu können. Dabei plauderten sie halblaut wie in einem Salon. Er täuschte sich nicht länger über das Geräusch, das von außen kam, das Heranrollen der Droschken, das Zuschlagen der Wagentüren, das zunehmende Lärmen der Menge. Er fühlte sozusagen, wie die Maschine unter ihm sich in Bewegung setzte, warm wurde und neues Leben entwickelte, angefangen von den Kassen, wo das Geklimper der Goldstücke erklang, den Tischen, wo die Angestellten sich beeilten, die gekauften Waren einzupacken, bis hinab in die Tiefen des Kellers, wo die Warenabgangsstelle sich immer mehr mit Paketen füllte. Inmitten dieses Gewühls ging der Inspektor Jouve mit ernster Miene auf und ab, um nach Diebinnen Ausschau zu halten.

»Sieh einer an, du bist es!« sagte Mouret plötzlich, als ein Laufbursche Vallagnosc zu ihm brachte. »Nein, du störst mich durchaus nicht. Du brauchst nur mitzukommen, wenn du alles sehen willst, heute bleibe ich am Feind.«

Im Grunde allerdings war er noch immer nicht ganz beruhigt; zweifellos, die Leute kamen, aber würde der Sonderverkauf den erwarteten Triumph bringen? Er ließ sich jedoch nichts anmerken und gab sich sehr heiter, als er Paul mit sich zog.

»Die Sache scheint ja direkt in Fluß kommen zu wollen«, bemerkte Hutin zu Favier.

Aufmerksam sah er sich im ganzen Geschäft um. Plötzlich sagte er:

»Kennen Sie Frau Desforges, die Freundin vom Chef? Da, diese Brünette in der Handschuhabteilung, der Mignot gerade ein Paar anprobiert.«

Er schwieg, dann fuhr er flüsternd fort, als spreche er mit Mignot, von dem er kein Auge ließ:

»Ja, ja, so ist's recht, mein Kleiner: streichle ihr nur gut die Fingerchen; wird dir viel nützen! Man kennt ja deine Eroberungen!«

Zwischen ihm und Mignot, dem Handschuhverkäufer, bestand eine erbitterte Nebenbuhlerschaft; beide sahen sie gut aus, beide konnten sie es nicht lassen, mit den Kundinnen zu kokettieren. Übrigens konnte weder der eine noch der andere sich irgendeines bedeutenden Erfolgs rühmen; aber sie logen drauflos und wollten jedermann glauben machen, daß sie geheimnisvolle Abenteuer hätten, Rendezvous mit Gräfinnen, über den Ladentisch hinweg heimlich vereinbart.

»Sie sollten ihm die Dame abluchsen«, sagte Favier in seiner unbewegten Art.

»Das ist ein Gedanke!« rief Hutin. »Wenn sie in unsere Abteilung kommt, will ich sie abfangen; ich muß hundert Sous haben.«

In der Handschuhabteilung saß eine ganze Reihe von Damen vor den mit grünem Tuch überzogenen Tischen. Mignot hatte Frau Desforges schon zwölf Paar Ziegenlederhandschuhe verkauft, sechs Paar weiße, sechs Paar leichte »Paradies«-Handschuhe, die Spezialität des Hauses. Dann hatte sie noch drei Paar schwedische genommen; jetzt ließ sie sich sächsische Handschuhe anprobieren, nur fürchtete sie, daß die Nummer nicht ganz passe.

»Aber vorzüglich, gnädige Frau!« rief Mignot. »Sechsdreiviertel wäre zu groß für eine Hand wie die Ihre.«

Er hatte sich halb über den Tisch gelehnt, hielt ihre Hand, ergriff einen nach dem ändern ihre Finger und streifte ihr mit sanftem, gleichmäßigem Druck die Handschuhe über; dabei blickte er sie an, als erwarte er in ihren Zügen den Ausdruck eines wollüstigen Behagens zu lesen. Allein sie hielt den Arm auf den Tisch gestützt und überließ ihm ihre Finger mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie ihrer Zofe den Fuß entgegenstreckte, damit sie ihr die Stiefelchen zuknöpfe. Er war für sie kein Mann; sie sah ihn nicht einmal an.

»Ich tue Ihnen doch nicht weh, gnädige Frau?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Der Geruch der sächsischen Handschuhe, dieses Gemisch von Wildgeruch und Moschus, erregte sie gewöhnlich; sie hatte oft lachend ihre Vorliebe für dieses zweideutige Parfüm eingestanden. Doch an diesem einfachen Ladentisch roch sie die Handschuhe gar nicht, und der Angestellte, der seine Pflicht tat, ließ sie völlig kalt.

»Was befehlen Sie noch, gnädige Frau?«

»Nichts, danke. Bringen Sie alles zur Kasse zehn, für Frau Desforges.«

Wie es im Haus üblich war, gab sie an einer Kasse ihren Namen an und ließ alle Einkäufe dorthin schaffen, ohne sich von einem Verkäufer begleiten zu lassen. Als sie sich entfernt hatte, zwinkerte Mignot mit den Augen und wandte sich seinem Nachbarn zu, den er glauben machen wollte, daß sich soeben Außerordentliches zwischen ihm und dieser Kundin zugetragen habe.

»Das ist doch ein Weib, wie?« sagte er. »Von morgens bis abends möchte man ihr alles mögliche anprobieren!«

Inzwischen setzte Frau Desforges ihre Einkäufe fort, begab sich zu den Weißwaren, um dort Geschirrtücher zu kaufen, dann machte sie die Runde bis zur Wollwarenabteilung am Ende des Ganges. Da sie mit ihrer Köchin sehr zufrieden war, wollte sie ihr ein Kleid schenken. Bei den Wollwaren drängte sich die Menge, zumeist kleine Bürgersfrauen, die die Stoffe betasteten und sich in stumme Berechnungen verloren. Auf den Tischen türmten sich die Ballen, es war ein einziges Durcheinander.

Hinter einem Stoß Popeline stand Liénard und scherzte mit einem Mädchen, einer Arbeiterin aus dem Stadtviertel. Er verabscheute diese Großverkäufe, die ihn bloß todmüde machten, und drückte sich gern um die Arbeit; von seinem Vater bekam er genug Taschengeld, um sich wegen der Provision keine grauen Haare wachsen zu lassen. Er tat gerade so viel, daß er nicht vor die Türe gesetzt wurde.

»Hören Sie doch, Fräulein Fanny«, sagte er; »Sie haben es immer gar so eilig. Sind Sie mit dem Stoff zufrieden, den Sie neulich gekauft haben? Ich werde mir bei Ihnen die Provision abholen.«

Doch das Mädchen schlüpfte lachend davon, und Liénard sah sich Frau Desforges gegenüber. Höflich fragte er:

»Was darf es sein, gnädige Frau?«

Sie verlangte einen nicht zu teuren und doch guten, dauerhaften Stoff für ein Kleid. Um sich nicht mit dem Herabholen der Ballen abmühen zu müssen, redete Liénard ihr zu, eines der auf dem Tisch ausgebreiteten Muster zu wählen. Es lagen da verschiedene Arten von Kaschmir, Serge und Vigogne. Er versicherte ihr, es gebe nichts Besseres, Dauerhafteres. Allein keiner dieser Stoffe schien Frau Desforges zu befriedigen. Sie hatte in einem der Fächer einen bläulichen Escot bemerkt, den sie sehen wollte. Er mußte sich wohl oder übel bequemen, ihn herunterzuholen. Sie fand jedoch den Stoff zu grob. Nun ließ sie sich rein zum Vergnügen alle möglichen Gattungen von Wollstoffen vorlegen, obgleich es ihr nicht darauf angekommen wäre, den ersten besten zu wählen. Der junge Mann mußte bis zu den obersten Fächern hinaufsteigen und Ballen herbeischleppen, daß ihm die Arme weh taten. Der Tisch war im Nu mit Stoffen in allen Geweben und allen Farben überladen. Ohne daß sie nur im geringsten beabsichtigte, etwas davon zu kaufen, ließ Frau Desforges sich auch noch Grenadine und Chambéry-Gaze zeigen. Als sie dann genug hatte, meinte sie:

»Ach, mein Gott, der erste ist doch immer der beste, es ist ja nur für meine Köchin. Ja, die Serge mit den kleinen Tupfen, die zu zwei Franken der Meter.«

Und als Liénard, blaß vor Wut, den Stoff abgemessen hatte, sagte sie:

»Tragen Sie das zur Kasse zehn, für Frau Desforges.«

Als sie sich entfernen wollte, bemerkte sie Frau Marty in Begleitung ihrer Tochter Valentine, eines großen, mageren Mädchens von vierzehn Jahren, das bereits sehr begehrliche Blicke auf die Stoffe warf.

»Wie, Sie sind es, liebe gnädige Frau?«

»Ja, meine Liebe. Diese Menschenmenge, nicht wahr?«

»Reden wir nicht davon; man erstickt ja fast. Es ist ein einmaliger Erfolg! Haben Sie den orientalischen Saal gesehen?«

»Großartig, unerhört!«

Inmitten der Menge hin und her gestoßen, ergingen sie sich in Lobeserhebungen über die Teppichausstellung. Dann erklärte Frau Marty, daß sie einen Mantelstoff suche, sie wisse nur noch nicht, was für einen.

»Kommen Sie doch mit in die Seidenabteilung, sehen wir uns das vielgerühmte ›Pariser Glück‹ an«, sagte Frau Desforges.

Frau Marty zögerte einen Augenblick. Seide werde wohl zu teuer sein, meinte sie. Sie habe ihrem Mann in aller Form versprochen, vernünftig zu sein. Sie kaufte nun schon seit einer Stunde ein, eine ganze Last von verschiedenen Waren wurde bereits hinter ihr hergetragen. Schließlich gab sie aber doch nach.

Auch die Seidenabteilung hatte erheblichen Zulauf bekommen. Besonders groß war das Gedränge vor der Dekoration, die Hutin unter den Anweisungen Mourets hergerichtet hatte. Rings um eine der Säulen, die das Glasdach trugen, ergoß sich gleichsam eine Flut von Stoffen, ein schäumender Sturzbach von oben herab auf das Parkett. Helle Atlasse und zarte Seiden prangten in allen Tönen, nilgrün, indischblau, mairosa, perlmutterfarben; dann kamen stärkere Gewebe, in warmen, leuchtenden Schattierungen, in mächtigen Wellen herabfließend; ganz unten, gleichsam in einem Becken, schlummerten die schweren Stoffe, Damaste, Brokate, perlenbesetzte und durchwirkte Seiden, umrahmt von allen möglichen Samten, schwarzen, weißen, farbigen, mit Seide oder Atlas untermischt wie in einem unbeweglichen See, in dem alle Farben sich spiegelten.

»Du bist auch da?« rief Frau Desforges, als sie Frau Bourdelais vor einem Tisch sitzen sah.

»Oh, guten Tag!« erwiderte Frau Bourdelais und reichte den Damen die Hand. »Ja, ich wollte mir die Sache doch auch ein wenig anschauen.«

»Prachtvoll, wie? Man könnte davon träumen ... Hast du den orientalischen Saal gesehen?«

»Ja; er ist märchenhaft!«

Allein trotz dieser Begeisterung, welche das Zeichen des Tages blieb, bewahrte Frau Bourdelais die Nüchternheit einer praktischen Hausfrau. Sie prüfte sorgfältig ein Stück »Pariser Glück«, denn sie war bloß gekommen, um dieses günstige Angebot auszunützen. Sie war mit der Seide zufrieden und kaufte fünfundzwanzig Meter.

»Wie, du gehst schon?« fing Henriette wieder an. »Komm doch einmal mit uns herum.«

»Nein, danke; sie warten zu Hause auf mich. Ich wollte die Kinder nicht in dieses Gewühl mitbringen.«

Und sie ging mit dem Verkäufer, der die fünfundzwanzig Meter Seide trug, zur Kasse zehn, wo der junge Albert schon langsam den Kopf verlor, so stark wurde er in Anspruch genommen. Sie mußten eine Weile warten, ehe sie an die Reihe kamen.

»Hundertvierzig Franken!« rief endlich Albert den Posten auf. Frau Bourdelais zahlte und gab ihre Adresse an, denn sie war zu Fuß gekommen und wollte den Stoff nicht mit sich herumschleppen. Die Seide wurde von Joseph, der hinter der Kasse stand, verpackt und das Paket in einen der wartenden Rollkörbe geworfen und gleich darauf in die Abgangsstelle hinuntergeschafft. Wie ein unersättlicher Abgrund schien heute der Keller die Waren des Hauses verschlingen zu wollen.

Mittlerweile war in der Seidenabteilung ein solcher Andrang entstanden, daß Frau Desforges und Frau Marty nicht gleich bedient werden konnten. Sie standen eine Weile eingekeilt unter den Damen, die die Stoffe besichtigten und befühlten, ohne sich entschließen zu können. Um das »Pariser Glück« gab es geradezu einen Kampf. Sämtliche Angestellten waren mit nichts anderem beschäftigt, als diese Seide abzumessen; fortwährend hörte man das Knirschen der Scheren, und es schienen nicht genug Arme da zu sein, die gierig ausgestreckten Hände der Kundinnen zu befriedigen.

»Der Stoff ist nicht übel für fünf Franken sechzig!« sagte Frau Desforges, die sich ein Stück »Pariser Glück« vom Tisch ergattert hatte.

Frau Marty und ihre Tochter Valentine dagegen waren enttäuscht. Die Anzeigen in den Zeitungen hatten so viel von dieser Seide erzählt, daß sie etwas noch Festeres und Glänzenderes erwartet hatten. Inzwischen hatte Bouthemont Frau Desforges erkannt und eilte ihr mit seiner etwas plumpen Liebenswürdigkeit entgegen. Wie, die gnädige Frau wurde noch nicht bedient? Das war unverzeihlich. Sie möge Nachsicht üben, sie wüßten in der Tat heute nicht, wo ihnen der Kopf stehe.

»Schauen Sie mal«, murmelte Favier, während er hinter Hutin einen Kasten mit Samt herabholte, »da angelt Ihnen Bouthemont Ihre Freundin weg.«

Hutin hatte Frau Desforges schon längst vergessen, denn er war außer sich über eine alte Dame, die ihn eine volle Viertelstunde aufgehalten hatte, um dann einen Meter schwarzen Atlas zu kaufen. Wenn der Andrang zu arg wurde, hielt man sich nicht mehr an die auf der Tafel stehende Reihenfolge, sondern die Verkäufer bedienten, wie es eben kam. Gerade wollte Hutin sich Frau Boutarel zuwenden, die nun auch ihren Nachmittag im »Paradies der Damen« totschlug, nachdem sie schon vormittags drei Stunden hier zugebracht hatte, da versetzte ihn der Wink Faviers in höchste Aufregung. Wie, sollte ihm die Freundin des Chefs entgehen, von der er sich hundert Sous Provision versprochen hatte? In diesem Augenblick hörte er Bouthemont rufen:

»Meine Herren, jemand hierher!«

Da gab Hutin Frau Boutarel an Robineau ab, der eben unbeschäftigt war.

»Hier, gnädige Frau, wenden Sie sich bitte an den Zweiten; er wird Sie besser bedienen als ich.«

Damit ging er los und ließ sich von dem Verkäufer aus der Wollwarenabteilung die Sachen von Frau Marty geben, die dieser hinter den Damen hergetragen hatte. Eine nervöse Aufregung schien heute seinen sonst so feinen Spürsinn zu trüben. Gewöhnlich konnte er beim ersten Blick auf eine Kundin sagen, ob und wieviel sie kaufen werde. Je nachdem benahm er sich dann und beeilte sich, mit ihr fertig zu werden, um zu einer anderen überzugehen, indem er sie totredete und sie zu überzeugen suchte, daß er viel besser wisse als sie selbst, welchen Stoff sie brauche.

»Was für eine Art Seide darf es sein?« fragte er Frau Desforges mit seiner liebenswürdigsten Miene.

Sie hatte kaum den Mund geöffnet, um zu antworten, als er auch schon fortfuhr:

»Ich weiß, ich weiß – ich habe genau, was Sie brauchen.«

Als das Stück »Pariser Glück« auf einer Ecke des Tisches unter verschiedenen anderen Seidenstoffen, die bergeweise überall herumlagen, aufgerollt war, traten Frau Marty und ihre Tochter näher. Hutin, etwas enttäuscht, begriff, daß es sich zunächst um einen Kauf dieser beiden handelte. Halblaut geflüsterte Worte wurden ausgetauscht, Frau Desforges beriet die Damen.

»Natürlich, eine Seide zu fünf Franken sechzig wird niemals so gut sein wie eine zu fünfzehn oder auch nur zu zehn Franken.«

»Sie ist recht dünn«, meinte Frau Marty; »ich finde sie zu leicht für einen Mantel.«

Diese Bemerkung veranlaßte Hutin, sich einzumengen. Er lächelte und sagte mit der überlegenen Höflichkeit des Mannes, der sich einfach nicht täuschen kann:

»Gnädige Frau, die Schmiegsamkeit ist eben die hervorstechende Eigenschaft dieser Seide, sie gibt nach, sie zerreißt nicht ... Dieser Stoff wird zu Ihnen am besten passen.«

Unter dem Eindruck einer solchen Entschiedenheit schwiegen die Damen; sie nahmen den Stoff wieder zur Hand und prüften ihn, als jemand sie an der Schulter berührte. Es war Frau Guibal, die schon seit einer Stunde im Geschäft herumspazierte und ihre Augen an den hier aufgestapelten Reichtümern weidete, ohne auch nur einen Meter Kaliko zu kaufen. Jetzt ging das Schwatzen von neuem los.

»Wie, Sie sind es?«

»Ja, ich bin es, und schon reichlich herumgestoßen.«

»Nicht wahr, ein Riesenandrang! Man kann kaum vorwärtskommen. Haben Sie den orientalischen Saal gesehen?«

»Ja, er ist hinreißend.«

»Mein Gott, welcher Erfolg! Bleiben Sie noch, wir gehen zusammen hinauf.«

»Nein, danke, ich komme von oben.«

Hutin wartete und verbarg seine Ungeduld mühsam unter einem gleichbleibenden Lächeln. Würden sie ihn noch lange so aufhalten? Die Frauen genierten sich doch gar nicht, es war gerade, als wollten sie ihm das Geld aus der Tasche stehlen. Endlich setzte Frau Guibal ihren Weg fort; langsam, mit entzückter Miene machte sie die Runde um die große Seidendekoration.

»Ich an Ihrer Stelle würde den Mantel fertig kaufen«, sagte Frau Desforges, plötzlich auf das »Pariser Glück« zurückkommend.

»Das wird billiger für Sie.«

»Sie können recht haben; wenn ich das Anfertigen und die Zutaten rechne ...«, murmelte Frau Marty. »Und dann habe ich unter den fertigen Mänteln eine größere Auswahl.«

Alle drei hatten sich erhoben. Frau Desforges wandte sich an Hutin und sagte:

»Wollen Sie uns in die Konfektionsabteilung führen?«

Er stand verblüfft da, an solche Mißerfolge war er nicht gewöhnt. Wie, die brünette Dame kaufte nichts? Sollte seine Spürnase ihn getäuscht haben? Er ließ Frau Marty fahren und bemühte sich um Henriette. Er legte seine ganze Verführungskunst in seine Stimme, als er sie fragte:

»Wünschen gnädige Frau unseren Atlas, unseren Samt nicht zu sehen? Wir haben ganz außerordentlich günstige Angebote.«

»Danke, ein andermal«, erwiderte sie ruhig und blickte ihn so wenig an wie vorher Mignot.

Hutin mußte nun die Einkäufe Frau Martys aufnehmen und vor den Damen hergehen, um sie in die Konfektionsabteilung zu führen. Dabei hatte er noch den Kummer, zu sehen, wie Robineau Frau Boutarel eine große Partie Seide verkaufte. Ganz entschieden, mit seiner feinen Nase war es vorbei; er würde kaum vier Franken zusammenbringen. Unter der äußeren Liebenswürdigkeit wuchs sein Zorn.

»Im ersten Stock, meine Damen«, sagte er, noch immer lächelnd. Es war nicht so leicht, zur Treppe zu gelangen. Durch sämtliche Gänge schob sich ein dichter Strom von Köpfen, der mit seinen Ausläufern bis in die Mitte der Halle reichte. Die Stunde des Nachmittagsgetümmels war gekommen. Insbesondere in der Seidenabteilung schien eine Art Fieber um sich zu greifen: Das »Pariser Glück« hatte so viele Menschen in Bewegung gesetzt, daß Hutin mehrere Minuten keinen Schritt vorwärts tun konnte. Als Henriette, atemlos, fast erdrückt von der Menge, nach oben blickte, sah sie Mouret an der Treppe stehen. Sie lächelte in der Hoffnung, daß er herabkommen und ihr eine Bahn brechen werde. Allein er bemerkte sie nicht inmitten des Gewühls; er war noch in Begleitung Vallagnoscs und damit beschäftigt, diesem mit strahlender Miene das Haus zu zeigen. Das Getöse im Innern erstickte jetzt die von draußen kommenden Geräusche; man hörte weder mehr das Rollen der Droschken noch das Zuschlagen der Wagentüren. Das Getriebe des Großverkaufs ließ nichts anderes mehr aufkommen als die Empfindung von der Unermeßlichkeit dieses Paris, dieser riesigen Stadt, in der an Käuferinnen kein Mangel bestand.

Hutin bahnte den Damen mühsam einen Weg. Allein als sie oben ankamen, fand Henriette Mouret nicht mehr vor. Trunken von seinem Erfolg, hatte er sich mit Vallagnosc mitten in das Gewimmel gestürzt.

»Links, meine Damen«, sagte Hutin, trotz seiner Erbitterung immer höflich.

Oben wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Alles war überfüllt, selbst die Möbelabteilung, die sonst am wenigsten besucht war. Bei den Umhängen, den Pelzwaren, der Wäsche wimmelte es von Menschen. In der Spitzenabteilung trafen die Damen neue Bekannte: Frau von Boves saß da mit ihrer Tochter Blanche, beide in Betrachtung von Mustern versunken, die Deloche ihnen zeigte. Hier mußte Hutin, mit den Paketen beladen, abermals Station machen.

»Guten Tag! Eben habe ich an Sie gedacht.«

»Und ich habe Sie überall gesucht; aber wie soll man in diesem Gewühl jemanden finden?«

»Herrlich, nicht wahr?«

»Blendend! Man kann sich kaum auf den Beinen halten.«

»Sie kaufen auch?«

»Oh nein; wir sehen uns nur einiges an. Es ist uns eine Erholung, kurze Zeit zu sitzen.«

In der Tat ließ Frau von Boves, die nur so viel Geld bei sich hatte, als sie brauchte, um den Wagen zu bezahlen, sich allerlei Spitzen vorlegen, bloß um sie anzuschauen und zu befühlen. Sie hatte in Deloche sofort den Anfänger erkannt, der in seiner linkischen Unbeholfenheit nicht wagte, sich den Launen der Damen zu widersetzen; sie mißbrauchte seine Gefälligkeit und hielt ihn seit einer halben Stunde auf, indem sie immer neue Artikel zu sehen verlangte. Der Tisch war schon überfüllt; sie tauchte ihre Hände in diese steigende Flut von Mechelner, Valenciennes- und Chantillyspitzen, die Finger bebend vor Begierde, das Gesicht allmählich in sinnlichem Verlangen gerötet. Die Damen unterhielten sich noch eine Weile. Hutin, der sie am liebsten geohrfeigt hätte, stand unbeweglich da und wartete, bis es ihnen gefällig war, weiterzugehen.

»Ach«, sagte Frau Marty, »Sie sehen sich ja die Taschentücher an, die ich Ihnen neulich gezeigt habe!«

Sie hatte recht. Frau von Boves, die seit Samstag nicht mehr hatte schlafen können, wenn sie an Frau Martys Spitzen dachte, hatte der Versuchung nicht widerstehen können, die gleichen Stücke wenigstens zu besichtigen und in den Händen zu fühlen, da sie nicht genug Geld besaß, um sich etwas davon zu kaufen. Sie errötete und erklärte, Blanche habe sich eigentlich Spitzenkrawatten ansehen wollen. Dann fügte sie hinzu:

»Sie gehen in die Konfektionsabteilung? Ich komme gleich nach. Wollen wir uns im orientalischen Saal treffen?«

»Gut, im orientalischen Saal. Er ist großartig, nicht wahr?«

Sie trennten sich endlich. Deloche, glücklich, daß er beschäftigt war, fuhr fort, Karton um Karton vor der Gräfin und ihrer Tochter auszuleeren. Unterdessen ging der Inspektor Jouve gemessenen Schritts an den Tischen entlang. Als er hinter Frau von Boves vorbeikam und zu seiner Überraschung sah, wie ihre Arme in diesem Haufen von Mechelner und Valenciennesspitzen verschwanden, warf er einen argwöhnischen Blick auf ihre fieberhaft bewegten Hände.

»Rechts, meine Damen«, sagte Hutin, der seinen Weg wieder aufnahm.

Er war außer sich. War es noch nicht schlimm genug, daß er ihretwegen unten einen Verkauf verpaßt hatte? Nun hielten sie ihnen noch obendrein an jeder Ecke des Geschäfts auf.

»Fräulein Ciaire!« rief er mit verdrossener Stimme, als er endlich in die Konfektionsabteilung gekommen war.

Doch diese ging an ihm vorüber, ohne ihn zu hören; sie war bis über die Ohren mit einem Verkauf beschäftigt. Der Raum war gedrängt voll, eine endlose Menschenschlange wand sich hindurch.

»Fräulein Marguerite!« rief Hutin.

Als auch diese nicht stehenbleiben wollte, fluchte er zwischen den Zähnen:

»Verdammte Dirnen!«

Nichts war ihm mehr zuwider, als wenn er sich die Treppe heraufbemühen mußte, um den Verkäuferinnen hier oben auch noch Kundinnen zuzuführen. Die Stoffabteilungen und die Konfektion lagen in ständiger Fehde, machten einander die Käuferinnen streitig und suchten sich gegenseitig um ihre Provisionen zu bringen. Die Angestellten aus den Stoffabteilungen waren jedesmal wütend, wenn eine Dame sich für ein fertiges Stück entschied, nachdem sie sich des langen und breiten alle Meterware hatte zeigen lassen.

Jetzt bemerkte er plötzlich Denise. Seit dem Morgen beschäftigte man sie mit dem Zusammenlegen der Kleidungsstücke; man hatte ihr nur einige wenige zweifelhafte Kunden überlassen, mit denen sie nichts anzufangen wußte.

»Ach, Fräulein, bedienen Sie doch die Damen hier!«

Damit hängte er ihr die Einkäufe Frau Martys auf, die er bis jetzt herumgeschleppt hatte. Er lächelte nun wieder, und in seinem Lächeln lag die geheime Bosheit des erfahrenen Verkäufers, der bereits die Verlegenheit ahnte, in die er sowohl die Damen wie auch das junge Mädchen brachte.

Denise indessen war ganz verblüfft angesichts dieses unverhofften Verkaufs. Zum zweitenmal erschien ihr Hutin wie ein unbekannter brüderlicher Freund, allzeit bereit, ihr beizustehen. Ihre Augen leuchteten, dankbar blickte sie ihm nach.

»Ich möchte mir Mäntel ansehen«, sagte Frau Marty.

Denise begann zu fragen. Welche Art Mäntel sollte es sein? Allein die Kundin wußte es nicht zu sagen, sie hatte keine Vorstellung, sie wolle die Modelle des Hauses sehen, sagte sie. Das Mädchen, ohnehin schon müde und ganz verwirrt von dem ungewohnten Trubel, verlor den Kopf. Sie hatte bei Cornaille in Valognes nur hie und da Kundschaft bedient; sie kannte die Modelle hier noch nicht, auch wußte sie nicht, wo sie in den Schränken zu finden waren. So kam es, daß sie die beiden Damen nicht rasch genug bedienen konnte und diese ungeduldig wurden. Frau Aurélie erkannte in diesem Augenblick Frau Desforges, von deren Verhältnis zum Chef sie zu wissen schien, denn sie beeilte sich, sie zu fragen:

»Werden die Damen bedient?«

»Ja, von diesem Fräulein, das dahinten etwas sucht«, erwiderte Henriette; »sie scheint aber noch nicht recht eingearbeitet zu sein, denn sie findet nichts.«

Die Direktrice ging sogleich auf Denise zu und murmelte:

»Sie sehen ja, daß Sie nichts verstehen. Verhalten Sie sich wenigstens ruhig, bitte.«

Dann rief sie:

»Fräulein Marguerite, einen Mantel!«

Sie blieb da, während Marguerite Modelle zeigte. Als diese Frau Marty sagen hörte, daß sie nicht über zweihundert Franken hinausgehen wolle, machte sie ein Mäulchen. Die gnädige Frau werde schon etwas zulegen müssen, meinte sie, für zweihundert Franken sei nichts Elegantes zu haben. Sie warf mit nachlässiger Geste verschiedene einfache Mäntel auf den Tisch, als wollte sie sagen: Sehen Sie sich das an, es ist dürftig genug. Frau Marty wagte nicht zu gestehen, daß sie ihr genügten. Sie neigte sich zu Frau Desforges und flüsterte ihr ins Ohr:

»Sagen Sie, lassen Sie sich nicht auch lieber von Männern bedienen? Man kann sich ungenierter aussprechen.«

Endlich brachte Marguerite einen schwarz abgesetzten Seidenmantel, von dem sie mit mehr Achtung sprach. Jetzt rief Frau Aurélie plötzlich Denise herbei.

»Kommen Sie her, damit Sie doch zu etwas gut sind. Ziehen Sie diesen Mantel über.«

Mit hängenden Armen war Denise stehengeblieben; sie bezweifelte, daß sie in diesem Haus jemals weiterkommen würde. Sicherlich würde man sie entlassen, dachte sie. Und die Brüder? Der Lärm der Menge summte ihr im Kopf, sie fühlte ihre Beine zittern, ihre Arme waren wie zerschlagen von dem Schleppen der schweren Mäntel, einer Arbeit, die sie nicht gewohnt war.

Marguerite warf ihr den Mantel um und ordnete ihn auf ihr wie auf einer Puppe.

»Halten Sie sich gerade«, sagte Frau Aurélie.

Doch fast im gleichen Augenblick war Denise vergessen. Mouret war eben mit Vallagnosc und Bourdoncle eingetreten; er begrüßte die Damen und nahm ihre Komplimente entgegen. Insbesondere der orientalische Saal wurde gerühmt. Vallagnosc allerdings, der seinen Rundgang durch die Abteilungen beendet hatte, zeigte sich mehr überrascht als begeistert; im Grunde, meinte er in seiner pessimistischen Teilnahmslosigkeit, sei das alles doch nichts weiter als eine Menge Zeug auf einem Haufen. Bourdoncle hinwiederum vergaß ganz, daß er zum Hause gehörte; auch er beglückwünschte den Chef, um ihn seine Zweifel vom Morgen vergessen zu machen.

»Ja, ja, es geht, ich bin zufrieden«, wiederholte Mouret strahlend und beantwortete die zärtlichen Blicke Henriettes mit einem Lächeln. »Aber ich will Sie nicht stören, meine Damen.«

Jetzt wandten sich alle Augen wieder Denise zu. Sie überließ sich vollkommen den Händen Marguerites, die sie sich langsam drehen hieß.

»Was meinen Sie?« fragte Frau Marty Frau Desforges.

»Er ist gar nicht übel und originell geschnitten; nur in der Taille scheint er mir nicht gut zu sitzen.«

»Oh«, warf Frau Aurélie ein, »da müssen wir ihn erst an der gnädigen Frau selbst sehen. Wissen Sie, an diesem Fräulein wirkt er nicht richtig, sie hat nicht genug Figur. – Halten Sie sich doch gerade, Fräulein, bringen Sie doch den Schnitt des Stücks zur Geltung!«

Alle lächelten. Denise war ganz blaß geworden. Sie schämte sich, so wie ein Stück Holz behandelt zu werden, das man in der Hand hin und her drehte, besichtigte und mit dem man nach Belieben Scherz trieb. Von instinktiver Abneigung getrieben und durch das sanfte Gesicht des Mädchens gereizt, setzte Frau Desforges boshaft hinzu:

»Bestimmt würde der Mantel besser sitzen, wenn das Kleid des Fräuleins nicht so weit wäre.«

Dabei warf sie Mouret den spöttischen Blick der Pariserin zu, die sich über das lächerliche Aussehen der Frauen aus der Provinz lustig macht. Er empfand sehr gut die zärtliche Liebkosung dieses Blicks, den Triumph der Frau, die glücklich ist über ihre Schönheit und ihre Toilettenkünste. Die Dankbarkeit des Mannes, der sich angebetet weiß, verleitete ihn, auch seinerseits seinen Spaß zu treiben, trotz seines Wohlwollens für Denise, die auf ihn einen gewissen unnennbaren Reiz ausübte.

»Und dann sollte sie sich erst mal frisieren«, meinte er.

Das gab der Armen den Rest. Der Chef geruhte zu scherzen, folglich brachen alle in ein Gelächter aus; selbst aus der Wäscheabteilung waren einige Verkäuferinnen herbeigekommen, um an der allgemeinen Heiterkeit teilzunehmen. Denise war noch blasser geworden inmitten all dieser Leute, die sich über sie lustig machten, sie fühlte sich entehrt, gleichsam entkleidet durch all diese Blicke, denen sie wehrlos ausgesetzt war. Was hatte sie denn getan, daß man wegen ihrer schmächtigen Gestalt und ihres üppigen Haars dermaßen über sie herfiel? Insbesondere kränkte sie das Lachen Mourets und Frau Desforges', deren Verbindung sie unwillkürlich ahnte. Nur mühsam unterdrückte sie das Schluchzen, das in ihr aufstieg.

»Sie wird sich morgen hoffentlich anständig frisieren«, wiederholte, zu Frau Aurélie gewandt, der fürchterliche Bourdoncle, der vom ersten Moment an etwas gegen Denise gehabt hatte.

Endlich nahm die Direktrice ihr den Mantel von den Schultern und flüsterte ihr dabei ins Ohr:

»Ein schöner Anfang, Fräulein! Wenn Sie uns zeigen wollten, was Sie können, hätten Sie es nicht ungeschickter machen können.«

Aus Furcht, in Tränen auszubrechen, wandte Denise sich eilig ab und begab sich wieder an die Mäntel, die sie auf dem Tisch zusammenzulegen und zu ordnen hatte. Hier war sie wenigstens unbeachtet inmitten der Menge. Plötzlich erblickte sie neben sich Pauline, die Verkäuferin aus der Wäscheabteilung, die sie schon am Morgen in Schutz genommen hatte. Sie hatte die ganze Szene mit angesehen und flüsterte ihr nun zu:

»Seien Sie nicht so empfindlich. Sie müssen es überwinden, sonst wird man Ihnen noch ganz andere Streiche spielen ... Ich bin aus Chartres, Pauline Cugnot; meine Eltern haben dort eine Mühle. Man hätte mich hier in den ersten Tagen gefressen, wenn ich mich nicht zur Wehr gesetzt hätte ... Nur Mut! Geben Sie mir die Hand, wir werden uns gelegentlich ein bißchen ausplaudern.«

Denise drückte verstohlen die Hand, die ihr entgegengestreckt wurde, und beeilte sich dann, sich einen Packen aufzuladen, denn sie fürchtete, man könnte sie wieder schelten, wenn man merkte, daß sie eine Freundin besaß.

Mittlerweile hatte Frau Aurélie den Mantel Frau Marty selbst umgelegt, und sofort riefen alle: »Sehr gut! Ausgezeichnet!« So sah das Kleidungsstück doch gleich anders aus! Frau Desforges erklärte, etwas Besseres könnten sie gar nicht finden.

Mouret empfahl sich daraufhin, während Vallagnosc, der in der Spitzenabteilung Frau von Boves und ihre Tochter bemerkt hatte, sich dorthin begab. Marguerite stand bereits bei einer der Kassen im Zwischenstock und ließ Frau Martys Einkäufe registrieren. Frau Desforges fand ihre Sachen alle beisammen an Kasse zehn im Erdgeschoß. Die Damen trafen sich wie vereinbart noch einmal im orientalischen Saal und brachen dann, immer noch voller Bewunderung, endgültig auf.

Das Publikum verlor sich allmählich; es war bereits zu den beiden ersten Abendmahlzeiten geläutet worden, bald mußte das dritte Zeichen kommen. Die Abteilungen leerten sich, man sah nur noch wenige Käuferinnen, die sich in ihrem Eifer nicht losreißen konnten. Von draußen drang des Geräusch der letzten abfahrenden Droschken herein. Im Innern sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Todmüde von der anstrengenden Arbeit standen die Angestellten inmitten des Wirrwarrs ihrer Fächer und Tische. Nur mit Mühe konnte man durch die Gänge des Erdgeschosses kommen, überall war der Weg durch Stühle verrammelt. Im Keller aber war die Warenabgangsstelle noch in voller Tätigkeit; ununterbrochen wurden Pakete hinaufgeschafft und abgefahren.

Die Seidenabteilung war vollständig geräumt, der ganze ungeheure Vorrat an »Pariser Glück« war fort, als wären Heuschreckenschwärme über die Abteilung hinweggegangen. Inmitten dieser Leere standen Hutin und Favier und blätterten in ihren Kassenblocks, berechneten ihre Prozente, noch völlig erhitzt vom Kampf. Favier hatte es auf fünfzehn Franken gebracht, Hutin nur auf dreizehn; er war somit geschlagen worden und wütend über sein Mißgeschick. Das ganze Geschäft um sie her war von der gleichen Profitsucht erfaßt.

»Nun, Bourdoncle, zweifeln Sie noch immer?« fragte Mouret. Er stand wieder auf seinem Lieblingsposten oben an der Treppe zum Zwischenstock. Beim Anblick dieses Durcheinanders von Stoffen erschien ein triumphierendes Lächeln auf seinen Lippen. Die Schlacht war gewonnen, der Kleinhandel des Stadtviertels vernichtend geschlagen, Baron Hartmann mit seinen Millionen und seinen Grundstücken überwunden. Während er die Kassierer betrachtete, die, über ihre Bücher gebeugt, die langen Zahlenreihen addierten, während er den Klang der Goldstücke hörte, die aus ihren Händen in die kupfernen Schalen fielen, sah er das »Paradies der Damen« bereits ins Unermeßliche wachsen, sich bis zur Rue du Dix-Décembre erstrecken.

»Nun, Bourdoncle«, sagte er noch einmal, »jetzt sehen Sie es selbst: das Haus ist zu klein; wir hätten zweimal soviel verkaufen können.«

Bourdoncle ergab sich, im Grunde froh, daß er unrecht behalten hatte. In diesem Augenblick bot sich ihnen ein Schauspiel, das ihre Mienen ernst werden ließ. Lhomme, der erste Kassierer, hatte, wie jeden Abend, die Einnahmen der verschiedenen Abteilungen zusammengetragen. Er pflegte die Banknoten in eine Geldtasche, die Gold- und Silberstücke in Säcke zu tun und das Ganze zur Hauptkasse zu bringen. Heute herrschten Gold und Silber vor, und er stieg, mit drei großen Säcken beladen, mühevoll die Treppe empor. Man hörte ihn schon von weitem keuchen; so wankte er siegreich und von der kostbaren Last schier zu Boden gedrückt durch die Reihen der achtungsvoll zur Seite tretenden Angestellten daher.

»Wieviel ist es heute, Lhomme?« fragte Mouret gespannt.

Der Kassierer erwiderte:

»80 742 Franken und 10 Centimes.«

Ein freudiges Lachen ging durch das ganze »Paradies der Damen«. Die Zahl machte die Runde; es war die höchste Einnahme, die jemals ein Modewarenhaus an einem einzigen Tag verzeichnet hatte. –

Als Denise am Abend ins Dachgeschoß hinaufstieg, um zu Bett zu gehen, mußte sie sich an der Wand stützen. In ihrem Zimmer angekommen, warf sie sich auf das Bett, da sie sich kaum mehr auf den Beinen zu halten vermochte. Lange betrachtete sie mit trauriger Miene den Toilettentisch, den Schrank, diese ganze Dürftigkeit, wie sie nur in Mietshäusern zu finden ist. Hier also sollte sie leben; und sie sah diesen ersten abscheulichen Tag vor sich, der in einer unendlichen Reihe wiederzukehren drohte. Niemals würde sie die Kraft zu einer solchen Existenz finden. Ein Schluchzen schüttelte sie, und beim Gedanken an ihre beiden Geschwister brachen die so lange zurückgehaltenen Tränen in einem nicht enden wollenden Strom hervor.


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