Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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XIII

Daniels Brief an Jeanne lautete folgendermaßen: »Verzeihen Sie mir, aber ich kann nicht schweigen; ich muß mein Herz ausschütten. Wer diese Zeilen geschrieben hat, werden Sie nie erfahren. Sie enthalten das Geständniß eines Unbekannten, der nicht den Mut hat Sie zu lieben, ohne es Ihnen zu sagen.

Ich verlange nichts, sondern wünsche nur, daß Sie dieses Schreiben lesen, damit Sie wissen, daß es einen Mann giebt, der auf den Knien liegt und weint, wenn Sie weinen. Geteiltes Leid ist leichter zu tragen. Ich, der einsam trauern muß, weiß, wie schwer die Einsamkeit auf wunden Herzen lastet.

Ich bitte nicht um Trost und will mein Elend geduldig weiter tragen; aber ich möchte, daß Sie der hohen Wonne und des süßen Friedens teilhaftig würden, den eine hochsinnige Liebe verleiht.

Deshalb schreibe ich Ihnen, daß ich Sie liebe, daß Sie nicht allein sind und nicht zu verzweifeln brauchen.

Sie kennen nicht die herben Freuden der Verborgenheit. Mir ist, als liebte ich über das Leben hinaus, als gehörten Sie mir, mir ausschließlich, in dem unendlichen Reich der Phantasie. Und Niemand dringt in mein Geheimniß ein: Ich verberge meine Liebe wie ein Geizhals seine Schätze; allein liebe ich Sie und allein weiß ich, daß ich Sie liebe.

Sie schienen mir schwermütig, als ich Sie neulich des Abends sah. Aber ach, ich kann nichts thun, Sie glücklich zu machen, und bin Ihnen nichts und darf Sie nicht bitten, mir in meine Traumwelt zu folgen. Steigen Sie höher, und noch immer höher empor; denken Sie, daß Sie mich nicht zu Gesicht bekommen werden, und lieben Sie mich.

Dann werden Sie droben die Welt finden, in der ich lebe.

Ich habe beide Hände auf mein Herz gedrückt, um es zu ersticken; aber es hat nicht aufhören wollen, für Sie zu schlagen. Da bin ich vor Ihnen wie vor einer Heiligen niedergekniet und habe Sie ekstatisch angebetet.

Ich weiß nicht mehr, wozu ich jetzt noch lebe.

Aber ich war dazu geboren, Sie zu lieben, Ihnen meine Liebe zuzuschreiben und statt dessen muß ich schweigen, auf ewig schweigen. O wäre ich doch einer von den Gegenständen, der Ihnen zum täglichen Gebrauch dient, oder nur die Erde, die Ihre Füße treten!

Vernehmen Sie nun, was mir die schwerste Sorge bereitet: Ich weiß, daß Sie sich unglücklich fühlen und daß Sie im Kampfe mit sich selbst liegen. Daher peinigt mich hier in meiner Einsamkeit die Furcht, Sie könnten etwas thun, das meinen ehrfurchtsvollen Glauben an Sie erschüttern könnte. Nicht wahr, Sie verstehen die Qualen eines Menschen, der für die Religion seines Herzens zittert?

Ich lebte droben so glücklich in meiner stummen Anbetung! Es wäre doch schön, wenn wir zusammen dort hinauf stiegen und uns im Schoße des Unendlichen liebten.«

In diesem Tone fuhr Daniel noch lange fort, mit allerlei Wiederholungen. Ein einziger Gedanke erfüllte ihn: Er liebte Jeanne und Jeanne wollte einem Andern gehören! Um diese Idee drehte sich sein ganzer Brief, dies sprach er in allen möglichen Wendungen aus, in die er die flehentlichsten Bitten hineinwebte. Es war zugleich ein Glaubens- und ein Liebesbekenntnis.

Jeanne hatte oft parfümirte Billetchen bekommen, in denen dieser oder jener Herr sich ihr zu Füßen legte. Diese Erklärungen, über die Sie nicht einmal mehr lachte, warf Sie gewöhnlich in den Papierkorb, ohne Sie zu Ende zu lesen. Daniels Brief erhielt sie früh des Morgens, kurz nach dem Erwachen aus dem Schlafe, in jener trüben Stunde, wo die Leidbedrückten vor dem Tageslicht erschrecken und sich sagen, daß ihr Elend jetzt für einen ganzen Tag von Neuem beginnt. Die junge Frau empfand daher eine tiefe Rührung, als sie die ersten Zeilen las. Das Papier zitterte in ihren Händen und Thränen feuchteten ihre Augen.

Sie gab sich keine Rechenschaft über das Gefühl der Linderung und Beschwichtigung, das ihr ganzes Sein durchdrang, und las entzückt den Brief zu Ende, ohne zu fragen, ob sie recht oder unrecht daran thäte.

Denn dieser Brief lebte, so zu sagen, in ihren Händen. Er redete zu ihr die Sprache der Leidenschaft, er offenbarte ihr die wahre, die ganze Liebe. Jeanne las nicht, sie glaubte den unbekannten Anbeter zu hören, seine Klagen und flehentlichen Bitten zu vernehmen. Das Papier, das sie in der Hand hielt, war für sie mit Blut und Thränen benetzt und sie fühlte ein Herz schlagen in jedem Satze, in jedem Worte.

Ein Schauer der Erregung floß durch ihre Brust hin, und ihr Geist eilte in weite Ferne, um dem an ihn ergangenen Rufe zu folgen. Sie schwang sich in die Friedenswelt empor, aus der Daniels Stimme zu ihr herübertönte. Und während sie so emporstieg, läuterte sie sich durch die Religion der übermenschlichen Liebe und Hingebung.

Da schämte sie sich ihrer Schwachheiten und beschloß die Einsamkeit, in der sie nicht mehr allein war, über sich ergehen zu lassen. Ein edles Begeisterungsfieber bemächtigte sich ihrer und ihr war, als umfächle sie lind und kosend ein Freundeshauch. Von nun an begleitete ein Geist den ihrigen und stärkte sie gegen Anfechtungen. Konnte man ihr auch noch Thränen abpressen, so wurden sie doch nicht mehr von ihrem Herzen geweint, denn nun fühlte sie Frieden und Hoffnung in ihrer Brust.

Und unsägliche Freude durchbebte sie bei dem Gedanken, daß sie geliebt wurde, daß ihr Herz nicht mehr an Langeweile sterben würde. Die Welt lag jetzt in weiter Ferne unter ihr und die Männer im schwarzen Frack, die in ihrem Salon verkehrten, kamen ihr da unten in der dunklen Tiefe wie unheimliche Drahtpuppen vor. Sie lebte und webte ganz in ihrer Vision, in dem Gedanken an ihren Verehrer, der fern von ihr sein schweres Leid tragen mußte und ihr leidenschaftliche und tröstliche Worte zusandte.

Dieser Verehrer hatte keine körperliche Wesenheit. Sie betrachtete ihn mit ihrer Phantasie, ohne die Umrisse der geliebten Seele zu bestimmen. Für sie war er noch nichts als die Liebe. Er war gekommen als ein Hauch, der sie in die Regionen des Lichts emporhob, und sie ließ sich davontragen, ohne das Verlangen, die Kraft kennen zu lernen, die sie in den Himmel versetzte.

Daniel wagte acht lange Tage hindurch nicht, sich bei Lorin blicken zu lassen. Er wiegte sich in tausenderlei Chimären, fürchtete Jeanne rückfällig zu finden und dachte, es würde ihm dann nichts Andres mehr übrig bleiben als der Tod.

Endlich wagte er es doch, zur größten Freude Georgs, der ihn natürlich begleitete. Dieses mal hatten sie das Glück einen Tag zu treffen, wo Jeanne allein zu Hause war; denn Lorin war wegen dringenden Geschäften, die ihm Sorge bereiteten, nach England verreist. Die junge Frau empfing also die beiden Freunde in einem kleinen, blau gehaltenen Salon, mit unbefangen heiterem Lächeln und liebenswürdigster Herzlichkeit.

Schon bei ihrem ersten Anblick durchdrang unnennbare Freude Daniels Herz. Jeanne erschien ihm umgewandelt, wie verklärt. Sie trug ein weißes Cachemirekleid und empfing die Herren stehend. Auf ihrem Gesicht lag gleichmütige Ruhe; ihre Lippen bebten nicht mehr vor innrer Aufregung; man merkte, daß Friede in ihrem Gemüt herrschte.

Die junge Frau behielt die beiden Freunde lange, verstand es sie in eine behagliche Stimmung zu versetzen, und so entspann sich bald eine gemütliche Plauderei, bei der den Dreien die Zeit rasch verging.

Daniel merkte, daß sein Geheimnis nicht durchschaut worden war, und konnte also die Freude über die Verändrung, die mit Jeanne vorgegangen war, mit voller Gemütsfreiheit auskosten. Er hörte aus der Modulation ihrer Stimme die Liebkosungen heraus, die sie an den unbekannten Freund richtete, sah, wie ihre Augen sanft aufleuchteten, und war grenzenlos entzückt über diese Zeichen der ihm gewidmeten Liebe.

Er nahm sich fest vor, sich damit zu begnügen. Die Wirklichkeit hatte etwas Schreckliches für ihn; bei dem Gedanken, daß er sich zu erkennen geben sollte, schauderte ihn, denn er fürchtete, daß es mit Jeannes Liebe dann aus sein würde.

Aber mehr als diese Gedanken, die weit in die Ferne schweiften, beschäftigte ihn die unmittelbare Gegenwart. Jeanne saß da vor ihm, voller Herzensgüte und Liebenswürdigkeit, von dem herrlichen Traum erfüllt, den er ihr zugesand hatte, und über ihrer Betrachtung vergaß er Alles.

Auch Georg war entzückt. An ihn besonders richtete die junge Frau ihre Rede, denn Daniel verhielt sich ziemlich schweigsam; er fürchtete, wenn er redete, den Faden seines schönen Traumes zu verlieren. Während er also schwieg, fragte Jeanne Georg nach seinen wissenschaftlichen Arbeiten, und so entstand eine lebhafte Sympathie zwischen ihnen. Schließlich mußte man sich aber doch trennen. Die beiden Freunde versprachen natürlich, bald wieder zu kommen, und versprachen es gern, denn beide ließen ihr Herz in dem traulichen, lauschigen Salon.

Drei Monate lang schwelgte nun Daniel in lauter Himmelswonnen. Wo er ging und stand, weilte er im Traumland, in hohen, fernen Regionen. Seine Schmerz- und Wutausbrüche kamen nicht wieder; er begehrte nichts mehr und wünschte nur, daß es ihm vergönnt wäre, im Paradiese seiner verborgnen und zufriedenen Liebe ewig bleiben zu dürfen.

Indessen hatte er dem Drange nicht wiederstehen können, von Neuem an Jeanne zu schreiben. Seine Briefe atmeten jetzt beruhigte Zärtlichkeit: »Leben wir so weiter,« so lautete ihr Hauptinhalt, »und möge ich für Sie das sein, was der Mensch der Gottheit gegenüber ist, Bitte, Anbetung, Demut und Liebkosung.« Er verwies sie auf den offnen Himmel und warnte sie vor der bösen Erde.

Jeanne gehorchte den Weisungen dieses reinen Geistes, der Liebe zu einer Sterblichen gefaßt hatte. Sie nahm ihn zum Hüter an und sah in ihm eine unsichtbare Schutzwehr gegen alle Versuchungen.

Daniel besuchte die junge Frau häufig und fand ein herbes Vergnügen an der absonderlichen Situation, die er sich geschaffen hatte. Nach jedem neuen Schreiben kam er, um auf Jeanne's Gesicht die Empfindungen zu lesen, die es bei ihr erregt hatte.

Er studirte die Fortschritte, die ihre Liebe machte, ohne an das Erwachen zu denken, das dem Traume folgen mußte. Sie liebte ihn, sie war voll von ihm und dies genügte ihm. Wenn er sich genannt, wenn er den Schleier gelüftet hätte, so wäre sie vielleicht vor ihm geflohen. Er war also noch immer ein schüchternes Kind von überzarter Gefühlsinnigkeit, das sich vor dem Licht der Oeffentlichkeit fürchtete. Die einzige Liebe, die ihm zusagte, war die heimliche Liebe zu Jeanne, bei der er nicht Gefahr lief, an sich selber zu zweifeln.

Jetzt bat er Georg ihn zu Jeanne zu begleiten, denn er getraute sich nicht allein vor sie hinzutreten, weil er sich durch Stottern und Erröten verraten hätte, weil er glaubte, sie würde ihm die Gedanken von der Stirn ablesen. War sein Freund Georg zugegen, so konnte er sich absondern und ihn plaudern lassen, während er seinen Liebesträumen nachging.

Während dieser drei Monate fühlte sich Georg mehr und mehr zu Jeanne hingezogen und schließlich empfand er für sie, so sehr er sich dagegen wehrte, eine so starke Liebe, wie man sie nur bei tiefinnerlichen, ernst angelegten Naturen findet.

Aber er ließ seinen Gemütszustand Niemand wissen, nicht einmal Daniel und am wenigsten Jeanne. Hatte er doch die Wahrheit erst dann entdeckt, als es zur Flucht zu spät war. Da hatte er nicht mehr den Mut seiner ersten Liebe zu entsagen und suchte seine Angebetete recht häufig in ihrem blauen Salon auf, ohne sich zu fragen, wie die Sache enden würde. Bisweilen beobachtete er, daß Jeanne ihn prüfend ansah, als wollte sie in die tiefsten Falten seines Herzens eindringen und nach einem verborgenen Gedanken suchen. Wenn er diesen forschenden Blick fühlte, wurde er verwirrt und dann sah er ein feines, bedeutungsvolles Lachen um die Lippen der jungen Frau spielen.

Als eines Tages die beiden Freunde ihr wieder ihre Aufwartung machten, erfuhren sie eine sehr unerwartete Neuigkeit. Lorin war plötzlich in London gestorben. Diese Nachricht machte einen tiefen Eindruck auf die beiden Freunde. Denn sie konnten zwar keine wirkliche Trauer um Lorin empfinden, aber sie bedauerten sehr, daß der kleine, blaue Salon nun für sie geschlossen sein würde. Dieser Todesfall, der die von ihnen Beiden geliebte Frau der Freiheit zurückgab, verursachte ihnen mehr Furcht als Hoffnung. War doch jede Veränderung gefährlich für die Gewohnheiten, bei denen ihr Herz sich so glücklich fühlte.

Auch jetzt kam es nicht zu einer gegenseitigen vertraulichen Aussprache zwischen den Beiden. Sie führten ein gemeinsames Leben und doch hatte jetzt jeder sein Geheimnis und verschob seine Herzensbeichte auf unbestimmte Zeit.

Sie ließen einige Wochen vorübergehen, ehe sie es wagten, Jeanne wieder einen Besuch zu machen. Es kam ihnen vor, als sei nichts verändert. Die junge Witwe war ein wenig blaß, empfing sie mit ihrer gewöhnlichen Herzlichkeit und zeigte sich bloß etwas zurückhaltender gegen Georg. An jenem Tage sah sich Daniel gezwungen, das Wort zu führen.

Lorin hatte sich auf gefährliche Spekulationen eingelassen, die mißglückt waren, so daß seiner Frau nicht viel übrig blieb, und dies wenige ging ihr auch noch größtenteils verloren durch ihren Vater. Dieser war sehr froh über den Tod seines Schwiegersohnes, der ihn immer sehr knapp gehalten hatte. Mehr als freie Wohnung und Tisch hatte er dem Schmarotzer nie gewährt. Nun Lorin aber tot war, verlangte von Rionne unverfroren Geld von Jeanne, und diese überließ ihm auch den Rest des Vermögens, das sie nicht mochte, weil es von ihrem Manne kam. Sie behielt nur, was sie zum Leben durchaus brauchte.

Daniel, der dies Alles erfuhr, schätzte Jeanne darum noch höher. Ueberhaupt stieg sie jetzt jeden Tag in seiner Achtung und er wünschte sich Glück dazu, daß der Wunsch seiner verstorbenen Wohlthäterin in Erfüllung gegangen, daß Jeanne für immer den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Dieser Ueberzeugung verlieh er denn auch Ausdruck in einem neuen Briefe, als ihn eines Tages wieder sein altes Begeisterungsfieber packte.

Am nächsten Tage erhielt er — zu seinem nicht geringen Schrecken — ein Briefchen von Jeanne, worin sie ihn bat, sie zu besuchen. Er brach sofort auf, ohne Georg zu benachrichtigen und rannte wild aufgeregt wie ein Irrsinniger zu Jeanne.

Die junge Frau war aus der großen Wohnung, die sie mit ihrem Manne inne gehabt hatte, ausgezogen und wohnte jetzt im zweiten Stock eines ziemlich bescheidnen Hauses. Sie empfing Daniel in einem hellen, dürftig möblirten Zimmerchen.

Er konnte kein Wort hervorbringen, so beklemmt war er; aber Sie bemerkte seine Aufregung nicht, als sie ihn Platz zu nehmen bat.

»Sie sind mein bester, mein einziger Freund, begann Sie mit rührender Vertraulichkeit, und ich bedaure, daß ich Ihre Herzensgüte nicht früher erkannt habe. Verzeihen Sie mir meine Unachtsamkeit?«

Sie ergriff seine Hand, sah ihn mit feuchten Augen an und fuhr denn fort, ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen:

»Ich weiß, daß Sie mich gern haben, und möchte Ihnen daher ein Geheimniß anvertrauen und Sie um eine große Gefälligkeit bitten.«

Daniel erblaßte und bekam wieder einen Anfall seiner alten hülflosen Blödigkeit, denn er bildete sich ein, die junge Frau wäre hinter sein Geheimniß gekommen und wolle von seinen Briefen sprechen.

»Lassen Sie hören,« stotterte er.

Jeanne errötete, zögerte eine Weile und sagte dann mit fliegender Eile:

»Ich empfange seit einigen Monaten Briefe, deren Verfasser Ihnen nicht unbekannt sein kann. Deshalb wollte ich mich an Sie wenden, um die Wahrheit zu erfahren.«

Daniel war einer Ohnmacht nahe. Eine heiße Blutwelle stieg ihm ins Gesicht.

»Sie antworten nicht,« fuhr die junge Frau fort. »Sie wollen also nicht Ihren Freund verraten. Gut! Dann werde ich reden: die Briefe sind von Herrn Georg Raymond. Leugnen Sie nicht. Ich weiß Alles. Ich habe seine Liebe in seinen Augen gelesen und so viel ich auch herumgeraten habe, ist mir kein Andrer eingefallen, der solche Briefe schreiben könnte.« Sie hielt inne, um sich zu besinnen, wie sie fortfahren sollte. Daniel unterdessen war wie vernichtet und starrte sie regungslos an.

»Ich betrachte Sie als meinen Bruder,« sagte sie langsamer, »und deshalb spreche ich offen mit Ihnen. Ihr Freund hat gestern wieder an mich geschrieben. Er darf das nicht mehr thun, denn Briefe sind jetzt überflüssig. Wie gesagt, ich weiß Alles; das Spiel würde gefährlich und lächerlich werden. Sagen Sie also Ihrem Freunde, er solle kommen, und kommen Sie mit.« Was ihr Mund noch nicht gesagt hatte, gestanden ihre Augen: Jeanne liebte Georg.

Daniel, dessen Blut zu Eis erstarrt war, überkam plötzlich eine unheimliche Ruhe. Ihm war zu Mute, als wäre seine Seele davon gegangen und als fahre der Leib noch fort zu leben. Mit vollständig ruhiger Stimme sprach er mit Jeanne über Georg und versprach er, die gewünschte brüderliche Vermittelung zu übernehmen.

Dann stand er auf der Straße und dann war er zu Hause. Da erwachte das tierische Element in seinem Innern, und es erfolgte ein fürchterlicher Anfall von wahnsinniger Verzweiflung. Daniels Sinne empörten sich endlich, sein Herz wollte nichts von Aufopferung wissen. Er konnte sich nicht darein finden, daß er so bei Seite gesetzt werden sollte. Wenn er immer zurückgetreten war, sich immer im Hintergründe gehalten, sich immer zum Schweigen verurteilt hatte, so schwebte ihm noch immer die Hoffnung auf eine Belohnung vor; so stark, sich wieder aufzuopfern, wieder zu schweigen, fühlte er sich nicht.

Also einer so lächerlichen Selbsttäuschung hatte er sich hingeben können! Er schlug eine höhnische Lache auf, so schämte er sich. Monate lang hatte er sich egoistisch über eine Liebe gefreut, die ihm nicht gehörte, hatte Jeanne angestarrt und siehe da, Jeanne dachte an einen Andern. Er sah sich im Geiste wieder in dem kleinen blauen Salon, wie er ihr Gesicht studirte, ihre zärtlichen Blicke, ihr liebreiches Lächeln auf sich bezog; er erinnerte sich seiner Verzückungen, seiner Hoffnungen seiner gränzenlosen Vertrauensseligkeit.

Eine Lüge, ein grausames Spiel, eine gräßliche Täuschung war alles gewesen! Die zärtlichen Blicke, das liebreiche Lächeln galt Georg; ihn liebte Jeanne; durch ihn war sie lieb und gut. »So viel ich mich auch umgesehen habe, so lauteten ihre Worte, ich habe keinen gefunden, der solche Briefe schreiben und mich so lieben könnte.« Also er, Daniel, existirte nicht; er figurirte bloß als einfacher Statist. Seine Hingebung, seine Liebe machte sich jetzt ein Andrer zu Nutze; man bestahl ihn und es blieb ihm nichts, gar nichts — als Thränen und Verlassenheit.

Und Jeanne suchte sich noch gar ihn aus, um ihre Liebe zu bekennen, beauftragte ihn, sie einem Andern zuzuführen! Selbst dieses Leid, dieser Hohn blieb ihm nicht erspart. Sie glaubte also, ein so unansehnlicher, so unbedeutender Mensch habe keine Herz. Sie bediente sich seiner wie einer nützlichen Maschine und ahnte nicht, daß solch eine Maschine für eigne Rechnung leben und lieben könnte!

Also sollte er nie lieben dürfen mehr, nie geliebt werden. Denn an Frau von Rionne dachte er nicht im entferntesten.

Er war seiner Rolle überdrüssig. Immer blos Bruder, nie Geliebter: Um diesen Punkt schwirrten alle seine Gedanken.

Die Krise währte lange. Der Schlag war zu heftig, zu unvermutet gefallen. Nie wäre es Daniel in den Sinn gekommen, daß Georg und Jeanne sich verbünden könnten, ihm solches Weh anzuthun. Er hatte Niemand anders auf der Welt, den er liebte, als sie, und nun marterten sie ihn so gräßlich. Wie glücklich war er noch Tags zuvor gewesen! Das verflossene Jahr hatte ihm die einzigen Freuden gebracht, die ihm auf dieser Welt beschieden waren. Und jetzt traf ihn solch ein fürchterlicher Stoß, und die Hände, die ihn in den Abgrund stießen, waren Georg's und Jeanne's Hände!

Ab und zu beruhigte er sich etwas, dann aber schluchzte er wieder los, oder es tauchten grimmige, verbrecherische Gedanken in seinem Hirn auf. Er fragte sich dann, wie er sich rächen sollte. Die wütende Bestie in ihm drehte sich um sich selber und sah sich nach einem Opfer um.

Dann schämte er sich wieder seiner Wut, sank gebrochen zusammen, weinte mildere Thränen. Der Sinnenmensch in ihm schwieg, und er konnte die langsamen, melancholichen Schläge seines Herzens hören, das leise klagte und warten mußte, bis das Blut und die Nerven sich ausgetobt hatten.

Nun zog er die Gardine zu, weil das Tageslicht ihm weh that, und starrte, regungslos, in die Dunkelheit hinein. Die Thränen flossen nicht mehr, die Fieberschauer waren vorbei. Wer vermöchte es zu erklären, was nun in diesem Wesen vorging? Daniel riß sich von dem Menschentum los und schwang sich in den unendlichen und absoluten Himmel der Liebe empor. Droben ermannte er sich zur höchsten Güte, zur vollkommensten Selbstverleugnung. Ein sanftes Gefühl durchdrang sein ganzes Sein; ihm war, als werde sein irdischer Leib leichter, und als danke ihm seine Seele, daß er sie von ihm befreie. Sein Denken ruhte, er gehorchte dem dunklen Drange, denn er begriff, daß die wahre Liebe in ihm einzog und in ihm ein großes Werk vollbrachte.

Als es vollbracht war, lächelte Daniel wehmütig. Er war allen Torheiten dieser Welt abgestorben. Nun aber das Fleisch überwunden war, fühlte er, daß die Seele bald von hinnen gehen würde.

Allmählich tauchte jetzt auch das Bild Frau von Rionne's wieder vor seinem Geiste auf, und er fühlte sich bereit, den Wunsch der Dahingeschiednen zu erfüllen. Seine durchdringenden und klaren Augen sahen die Thatsachen wie sie waren, und sein Herz trieb ihn, das Opfer zu vollziehen.

Er erhob sich und suchte Georg auf.

Er trat vor ihn hin mit einem herzlichen Lächeln, und seine Hand zitterte nicht, während sie die des Freundes drückte. Nichts regte sich mehr in seinem ertöteten Fleische, er war nur noch Seele.

Es war ihm klar geworden, daß Georg Jeanne leidenschaftlich liebte. Der Schleier war zerrissen, und er verstand jetzt vieles, was er früher nicht beachtet und in seiner Bedeutung erkannt hatte. Deshalb sprach er in dem Tone eines Mannes, der seiner Sache sicher ist, ruhig und liebevoll. Er kam, um selber seine Liebe vollends zu töten.

»Lieber Freund,« begann er, »ich kann Dir jetzt das Geheimnis meines Lebens beichten.«

Er erzählte ihm nun in schlichten Worten die Geschichte seiner Lebensaufgabe, sagte ihm, daß er Jeanne's Vater und Bruder gewesen sei, erinnerte ihn an seine geheimen Sonntagsausflüge, erklärte ihm, weshalb er die Sekretärstelle bei Tellier angenommen, und warum er sich so gegrämt hatte über Jeanne's Vermählung mit Lorin. Als die Triebfeder aller seiner Handlungen bezeichnete er seine Dankbarkeit gegen Frau von Rionne und stellte sich hin als einen uneigennützen Wächter, als einen Beschützer, dem alle menschlichen Schwächen fremd waren.

»Heute,« schloß er mit gerührter Fröhlichkeit, »ist meine Mission zu Ende. Ich will jetzt meine Tochter verheiraten, Sie einem Manne geben, der ihrer würdig ist, und dann bleibt mir nichts weiter übrig, als zurückzutreten. Errätst Du, wen ich gewählt habe?«

Georg, der seinem Freund tief bewegt zugehört hatte, erbebte vor Freude.

»Vollende mein Werk,« fuhr Daniel fort. »Mache sie glücklich. Dir vermache ich meine Mission. Du liebst unsre teure Jeanne, also mußt Du die Seele der armen Toten beruhigen und trösten. Meine Tochter erwartet Dich.«

Georg warf sich ihm, keines Wortes mächtig, um den Hals. Daniel erschien ihm wirklich als Jeanne's eigentlicher Vater, und er blickte mit Bewundrung und Hochachtung zu ihm empor, denn er ahnte, daß ein übermenschlicher Odem in ihm wehte.

Daniel war erstaunt, daß der Schmerz kein größerer war. Er fand Lindrung in seiner erhabnen Lüge. Auch erwähnte er noch die Briefe, die er an Jeanne geschrieben hatte, aber nur in unbestimmten Worten. Sein Herz schwieg ja, und er wollte nicht mehr an die Zeugen seiner Leidenschaft denken, die ihm fast aus dem Gedächtnis entschwunden waren.

Georg, der sich einer wahren Kinderfreude hingab, schöpfte keinen Verdacht. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß der Mann, der so liebevoll und so ruhig mit ihm sprach, eben noch fürchterlich gegen ihn gerast hatte!

Nun erzählte er, wie sehr er Jeanne bewunderte und liebte, schwor David, er werde sie glücklich machen, und entwarf ihm eine begeisterte Schilderung all der Freuden, die er mit ihr kosten würde. Er konnte nicht müde werden, immer von neuem zu beschreiben, wie glücklich er sein werde.

Daniel hörte ihm lächelnd zu, fürchtete aber doch, seine moralische Kraft möchte nicht mehr ausreichen, sich nun noch über das Glück seines Nebenbuhlers zu freuen, und sagte daher, als sie sich ausgesprochen hatten:

»Nun alles erledigt ist, will ich mich ausruhen. Ich kehre nach Saint-Henri zurück.«

Georg erhob lebhaften Einspruch und bat ihn, an seinem Glück wenigstens Teil zu nehmen. Aber Daniel schüttelte den Kopf:

»Nein, ich würde Euch stören. Verliebte bleiben gern unter sich. Laß mich also ruhig reisen. Ihr könnt ja nachkommen, wenn Ihr Lust habt.«

Er brach in der That am nächsten Tage auf. Uebrigens war es auch nicht eine Ausrede, daß er der Ruhe bedurfte. Er fühlte eine große Schwäche in der Brust und überhaupt erschlaffte eine allgemeine tödliche Mattigkeit sein ganzes Sein.  


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