Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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III.

Gegen Tagesanbruch begab sich Daniel wieder auf sein Zimmer.

Der große achtzehnjährige Mensch besaß noch das Herz eines Kindes und sein liebevolles Gemüt hatten die eigenartigen Umstände, in denen er sich befand, so exaltirt, daß seine Opferfreudigkeit einen lächerlichen Anstrich annahm.

Er war, wie man gemerkt haben wird, das Waisenkind, über dessen Rettung der »Semaphore« seiner Zeit berichtet hatte. Blanca von Rionne, seine unbekannte junge Gönnerin, ließ ihn erziehen und schickte ihn, als er so weit herangewachsen war, auf das Gymnasium zu Marseille. Sie zeigte sich ihm während der ganzen Zeit nur selten, denn sie wollte, daß er sie möglichst wenig kennen und so zu sagen nur der Vorsehung dankbar sein sollte. Demgemäß erwähnte sie auch nicht, als sie heiratete, ihren Adoptivsohn von Rionne gegenüber. Was sie für ihn that, war ja nur eins der vielen christlichen Liebeswerke, die sie geheim zu halten gewohnt war.

Auf dem Gymnasium forderte Daniels linkisches Wesen und seine bei Waisenkindern gewöhnliche Blödigkeit den Spott seiner Kameraden heraus. Natürlich ging es ihm tief zu Herzen, daß er eine Pariarolle spielen mußte, aber seine Unbeholfenheit nahm dabei noch zu. Er schloß sich auch noch mehr von den Andern ab und bewahrte sich so eine seltne Unschuld der Seele. Auf diese Weise entging er der Verderbniß, in der sich die reiferen Knaben gegenseitig zu unterweisen pflegen; aber dafür blieb er auch unerfahren und lernte das Leben nicht kennen.

In der Vereinsamung, die er seiner Blödigkeit verdankte, faßte er eine glühende Liebe zur Arbeit und zwar trieb ihn seine lebhafte, leidenschaftliche Einbildungskraft, die ihn für die Poesie hätte begeistern sollen, zum Studium der Mathematik und Naturwissenschaften, die seine heiße Sehnsucht nach Wahrheit besser befriedigten.

Es machte ihm ein inniges Vergnügen sich in der scharf umgrenzten Welt der Zahlen zu bewegen, die Wahrheit Schritt für Schritt zu erforschen, sich nur mit endgültig und vollständig gelösten Aufgaben zu begnügen. Er dichtete so auf seine Weise.

Sein Charakter und die Umstände wiesen ihn also immer mehr auf sich selbst an und lehrten ihn nur an einem beschaulichen Leben Gefallen finden. In der Wissenschaft war ihm wohl zu Mute, weil sie ihn nicht mit den Menschen in Berührung brachte, weil sie ihn die Kameraden vergessen ließ, die ihn wegen seiner gelben Haare hänselten. Jeder Umgang mit Menschen flößte ihm Furcht ein; er zog ein höheres Leben vor, wollte sich nur in der reinen Spekulation, in der absoluten Wahrheit bewegen. In diesen Regionen ließ er seiner poetischen Phantasie freien Lauf und machte sich seine Sorgen um seine linkische Haltung. Wie oft begegnet man großen Dichtern unter den schüchternen Gelehrten, die sich noch im Alter einen kindlichen Sinn bewahrt haben!

Von seinen Schulkameraden verhöhnt, unausgesetzt geistig angespannt, verbarg Daniel seine ganze Liebesfähigkeit in den geheimsten Falten seines Herzens. Er hatte auf dem weiten Erdenrund nur ein Wesen, das er lieben konnte, die unbekannte Mutter, unter deren Obhut er stand, und diese liebte er mit der ganzen Gefühlsinnigkeit, die jeder ausschließlichen Liebe eigen ist. Der dichtende Mathematiker war bei ihm mit einem leidenschaftlichen Liebhaber gepaart, dessen Herz dem Gegenstand seiner Wahl um so stärker entgegenschlägt, je weniger man es sonst überall zu würdigen weiß.

Daniel war also in der Anbetung der guten Fee aufgewachsen, die ihm die Sorge um das materielle Dasein abgenommen hatte. Das Dunkel, in das sie sich vor ihm hüllte, erhöhte nur in seinen Augen ihre Heiligkeit. Er hatte sie zwei oder drei Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen und betrachtete sie als ein wunderbares Wesen, das mit der übrigen Menschheit nicht verglichen werden durfte. Eines Tages, als er schon von dem Gymnasium abgegangen war, sagte man ihm, Frau von Rionne wünsche ihn zu sprechen, und ersuche ihn, sich zu ihr nach Paris zu begeben. Diese Nachricht machte ihn so glücklich, daß er beinah den Verstand verloren hätte. War es ihm doch nun verstattet, sich an ihrem Anblick zu weiden, ihr zu danken, ihr seine Liebe zu bezeigen! Wurde doch der schönste Traum seines Lebens zur Wirklichkeit: Die gute Fee, die Heilige, seine Vorsehung nahm ihn in den Himmel auf, in dem sie wohnte. Er reiste also in höchster Eile ab.

Aber ach, in Paris angekommen, fand er Frau von Rionne auf ihrem Sterbebette. Acht Tage lang kam er jeden Abend aus seinem Zimmer herunter, betrachtete sie von ferne und weinte. So wartete er den schrecklichen Ausgang ab, sinnlos vor Herzeleid und unfähig zu begreifen, daß Heilige sterblich sein können.

Dann ward es ihm endlich vergönnt, seine Dankbarkeit zu beweisen, hinzuknieen und der Sterbenden feierlich zu versprechen, daß ihr letzter Wunsch erfüllt werden sollte.

Die folgende Nacht brachte er in Gesellschaft des Geistlichen und einer Krankenwärterin bei der Leiche zu. Von Rionne hatte sich, nachdem er eine Stunde lang auf den Knieen geblieben war, diskret entfernt.

Während der Geistliche betete und die Wärterin in einem Lehnstuhl schlummerte, überließ sich Daniel trocknen Auges, denn weinen konnte er nicht mehr, seinen trüben Gedanken. Ihm war zu Mute, als trüge er ein Gewicht im Kopfe, doch war das Gefühl ein sanftes, nicht unangenehmes, dem Uebergang zum Schlafe vergleichbares. Er sah die Gegenstände nicht deutlich und bisweilen hörte das Denken bei ihm ganz auf. Beinah zehn Stunden lang beschäftigte so ein und derselbe Gedanke sein müdes Hirn, — daß Blanca gestorben sei und die kleine Jeanne jetzt die Heilige wäre, die er lieben, für die er sich aufopfern müßte. Aber ohne daß er sich dessen klar wurde, nahm er in dieser langen Nacht an Mut zu und erstarkte zum Manne. Der schreckliche Vorgang, dem er beigewohnt, der Kummer, der ihn aufgerüttelt hatte, machten kraft der Erziehung, die das Leid dem Menschen giebt, seinem furchtsamen Kindersinn ein Ende. Diese Wirkung des Kummers fühlte er auch bei all seiner Mattigkeit und überließ sich willig der Kraft, die innerhalb weniger Stunden sein Herz und seinen Verstand reifte.

Am Morgen, als er wieder sein Zimmer betrat, war ihm zu Mute wie einem Betrunkenen, der seine Wohnung nicht wieder erkennt.

Dieses schmale und lange Zimmer lag im Dachgeschoß und gewährte eine Aussicht auf die Baumwipfel der Esplanade, die wie ein grünes Meer im Winde wogten; weiter nach links zu sah man die Höhen von Passy. Das Fenster war offen geblieben und helles Licht strömte in das Zimmer herein. Es herrschte eine gewisse Kühle darin.

Daniel setzte sich auf sein Bett. Er war müde zum Umfallen und doch fiel es ihm nicht ein, zu Bett zu gehen. So blieb er lange sitzen, starrte die Möbel an, fragte sich hin und wieder, was er hier mache, und besann sich dann auf das Geschehene. Ab und zu horchte er auf und wunderte sich, daß er nicht weinte.

Endlich erhob er sich und trat ans Fenster. Die Luft that ihm gut. Kein Geräusch aus dem Hause drang zu ihm empor. Unten in dem Gärtchen gingen schweigend Leute hin und her. Auf dem Boulevard rumpelten die Wagen, als hätte die Nacht nichts Trauriges gebracht. Paris erwachte langsam, während die matte Sonne die Spitzen der Bäume hell färbte.

Diese Heiterkeit der Natur, diese Gleichgültigkeit der Stadt stimmten Daniel tief traurig. Die Thränen stellten sich wieder ein und diese heilsame Krisis machte ihm den Kopf leichter. Er blieb am Fenster, in der kühlen Luft, stehen und überlegte, was er nun zu thun habe.

Allmählich sah er ein, daß er nichts Gescheidtes ausdenken würde und hielt es für geraten, seine Hände zu beschäftigen. Er stellte oder legte diesen und jenen Gegenstand an einen andern Ort, kramte in seinem Koffer, nahm Sachen heraus, die er dann wieder hineinwarf. Der Kopf schmerzte ihm jetzt weniger.

Als die Nacht hereinbrach, war er sehr erstaunt. Er hätte darauf schwören können, daß es eben erst Tag geworden wäre. Der eine Gedanke, der seinen Geist unausgesetzt beschäftigte, hatte ihm so wenig Besinnung übrig gelassen, daß ihm der lange Leidenstag sehr kurz vorgekommen war.

Er ging aus, versuchte Speise und Trank zu sich zu nehmen, und wollte sich dann Frau von Rionne's Leiche noch einmal ansehen. Er konnte aber nicht in das Totenzimmer hinein. Da begab er sich in sein Stübchen hinauf, legte sich zu Bett und verfiel in einen schweren Schlummer, der ihn bis in den hellen Tag hinein gefangen hielt.

Als er erwachte, hörte er ein gedämpftes Stimmengewirr. Es kam von den Leidtragenden, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten. Er kleidete sich in aller Eile an und ging hinunter. Auf der Treppe begegnete er schon dem Sarg, den vier Mann mit Mühe davontrugen und der bei jedem Stoße, den er empfing, dumpf stöhnte. Vor dem Ausgange trat auf dem Boulevard eine Störung ein. Das Leichengefolge war zahlreich und der Zug brauchte viel Zeit, um sich zu ordnen.

Von Rionne stellte sich in Begleitung seines Schwagers an die Spitze. Seine Schwester, eine junge Frau, die klaren Auges in die Menge hineinschaute, stieg in eine Equipage. Unmittelbar hinter von Rionne kamen die Freunde der Familie und die Dienstboten. Daniel schloß sich diesen an.

Dann kam das übrige Trauergefolge in unregelmäßig verteilten, ungleichen Gruppen. So gelangte der Zug nach der mit Blumen und grünem Laub geschmückten Lieblingskirche der vornehmen Welt, der Sainte-Clotilde. Das Schiff füllte sich mit Menschen, der Gesang begann.

David kniete in einer Ecke, in der Nähe einer Kapelle, nieder. Es herrschte jetzt Frieden in seiner Seele, so daß er beten konnte. Aber den Worten der Priester vermochte er nicht zu folgen; seine Lippen blieben stumm und sein Gebet bestand nur in einem ununterbrochnen, andachtsvollen Aufschwung seiner Seele zu Gott.

Nach einiger Zeit wurde ihm der Kopf schwindlig, so daß er ins Freie gehen mußte. Der Geruch der Wachskerzen, die langen, schwarzen Behänge mit ihren weißen Kreuzen, die Klagelieder der Sänger machten ihn beklommen. Draußen ging er langsam in den Gartenanlagen, die sich um die Kirche herumziehen, spazieren. Ab und zu blieb er stehen und betrachtete die Gebüsche, während sein Herz inbrünstig weiter betete.

Als der Zug seinen Weg fortsetzte, mischte er sich wieder unter die Dienerschaft. Das Trauergefolge zog die Boulevards entlang nach dem Kirchhof des Mont Parnasse. Das Wetter war milde, die junge Sonne lockte die ersten, grünen Blätter aus den Knospen der Ulmenäste hervor. Die Klarheit der Luft ließ die Umrisse der Gegenstände am Horizont merkwürdig scharf erscheinen. Es war, als hätten die Regengüsse des Winters die Erde sorgfältig gewaschen; so strahlte sie jetzt vor Frische und Sauberkeit.

Die Leute, die hinter Frau von Rionne's Leichenwagen an jenem heiteren Morgen einhergingen, hatten zum größten Teil vergessen, daß sie einer Beerdigung beiwohnten. Man sah sehr vergnügte Gesichter unter ihnen, und die Vorübergehenden hätten auf den Gedanken kommen können, sie sähen Spaziergänger vor sich, die das schöne Frühlingswetter genießen wollten.

Der Zug rückte langsam vor, während die Marschordnung sich immer mehr auflöste und das Geplauder immer lauter wurde. Jeder unterhielt sich mit seinem Nachbarn über seine persönlichen Angelegenheiten, Jeder wurde allmählich lebhafter und atmete freier. Daniel allein bewahrte dieselbe würdige Haltung. Den Blick zu Boden gesenkt, mit entblößtem Haupte, in tiefen Schmerz versunken, dachte er an die Mutter, die er so eben verloren hatte, rief sich die Erinnerungen seiner Jugend in die Seele zurück, ließ die geringsten Vorfälle der schrecklichen Todesnacht an seinem innern Auge vorüberziehen und gab sich ganz den traurigen Gedanken hin, die sein Herz in den tiefsten Kummer versetzten. Trotzdem hörten gleichzeitig seine Ohren, was die Dienstboten miteinander redeten, und drangen die Worte in all ihrer Roheit und mit voller Klarheit bis zu seinem Verstande vor. Ob er gleich nichts hören wollte, so entging ihm doch nichts. Während sein innres Ich blutete, während er sich ganz der Verzweiflung überließ, nahm er gewissermaßen Teil an den gemeinen Reden der Kammerdiener und Kutscher.

Hinter ihm gingen zwei Bediente, die sich sehr lebhaft unterhielten. Der Eine hielt es mit dem Herrn, der Andre nahm die Partei der verstorbenen gnädigen Frau. Dieser sagte:

»Sehr vernünftig von der armen Frau, daß sie der Welt Lebewohl gesagt hat. Da unten in der Erde ist sie besser dran, als hier oben. Denn das Leben, das sie mit ihrem Mann führte, war schon nicht mehr schön.«

»Was weißt Du denn, ob sie sich glücklich fühlte oder nicht?« entgegnete der Andere. »Sie sah doch immer ganz zufrieden aus und sie kriegte doch auch keine Prügel von ihrem Mann. Sie war bloß stolz und spielte sich als Opferlamm auf, weil sie Andre triezen wollte.«

»Ich weiß aber, was ich weiß. Ich habe sie weinen sehen und ich kann Dir sagen, es schnitt mir ins Herz. Gekeilt hat ihr Mann sie freilich nicht, aber er hielt Frauenzimmer aus, und ich denke mir, sie hat sich darüber zu Tode gegrämt, daß er sie nicht mehr lieb hatte.«

»Er hat sie bloß deshalb links liegen lassen, weil sie ihm langweilig geworden war. Sie hatte doch gar keine Lustigkeit. Ich weiß wohl, ich möchte so'ne Frau nicht haben, wie die war, so klein von Gestalt und doch grauelte man sich vor ihr, so ernst gebärdete sie sich immer. Sie hat auch bloß das Gerücht ausgesprengt, ihr Mann hielte sich Frauenzimmer. Denn hast Du etwa eine Liebste von ihm gesehen?«

»Doch! Eine, die ich selbst einen Brief von ihm gebracht habe. Eine Blondine mit 'ne kecke Fratze, die ich nicht gemocht hätte; so mager war sie. Sie lachte mich ins Gesicht, gab mich ein paar Klappse auf den Rücken und sagte Du zu mir; da konnte ich gleich sehen, was sie wert war. Als Antwort sagte sie bloß zu mir: Vergiß nicht und sage Deinem Herrn, er soll mir nicht wieder Dein dummes Gesicht schicken.«

Der andere Bediente fand die Erzählung seines Kameraden sehr ulkig. Offenbar war die Blondine nach seinem Geschmack.

»Na meinetwegen. Was is denn aber dabei, wenn ein reicher Kerl sich ein Möbel hält? Was die Vornehmen sind, die machen's Alle so. Bei meine letzte Herrschaft ging der Mann auch des Nachts oft durch. Da schaffte sich aber die Frau einen Liebsten an und auf die Weise war alle Welt zufrieden. Konnte unsre Gnädige es nicht ebenso machen, statt sich zu Tode zu grämen?«

»Das ist nicht Jeden sein Fall.«

»Ich glaube, unsere Gnädige wäre nichts für mich gewesen.«

»Ich hätte sie schon leiden können. So sanft, so gut und das Gesicht gefiel mir auch. Hübscher als den Herrn seine Blondine war sie zehnmal!«

Daniel konnte ihnen nicht länger zuhören. Er wendete sich plötzlich um, und der Aerger, der sich in seinen Mienen aussprach, schüchterte die beiden Schwätzer ein, so daß sie es für geraten hielten, sich von etwas Andrem zu unterhalten.

Bei dieser Angelegenheit hatte Daniel bemerkt, daß der Kammerdiener Louis, der neben ihm ging, der Einzige unter der Dienerschaft war, der sich anständig benahm. Der kalte, gemessene Mann hatte gewiß auch die Unterhaltung der Andern mit angehört, aber seine Würde war dieselbe geblieben, seine Lippen fältelte dasselbe geheimnißvolle Lächeln wie immer.

Daniel spann sich wieder in seine trüben Gedanken ein. Er sann jetzt nach über das geheime Herzeleid auf das Frau von Rionne angespielt hatte, und begann zu begreifen, welcher Natur ihre Leiden gewesen waren. Erklärten ihm doch die Reden, die er gehört hatte, was er in seiner kindlichen Unschuld nicht hatte erraten können. Er errötete über diese Gemeinheiten und schlug die Augen nieder, als hätte er selber all die Schlechtigkeiten begangen. Die Tote mußte ja noch in ihrem Sarge zürnen!

Ganz besonders verletzte seinen Zartsinn die freche Ungenirtheit der Schwätzer. Kaum daß die Leiche erkaltet war und während sie zu Grabe getragen wurde, fanden sich schon Leute, denen es so zu sagen Spaß machte, die Tote mit Kot zu bewerfen. Nichts war so schmerzlich für ihn, als dieser erste Einblick in die Welt des Lasters bei dem Leichenbegängnis seiner guten Heiligen.

Während er noch hierüber schwermütig sinnirte, betrat der Trauerzug den Kirchhof. Die Familie von Rionne besaß hier ein Erbbegräbnis in Gestalt einer gotischen Kapelle. Es lag an einer Stelle, wo die Grabdenkmäler dicht bei einander standen und nur schmale Gänge frei ließen.

Das Leichengefolge war hier nicht mehr so zahlreich wie in der Kirche. Die den Mut gehabt hatten, so weit mitzukommen, stellten sich zwischen den Grabsteinen im Kreise auf. Von Rionne trat vor, und die Geistlichen recitirten die letzten Gebete. Dann wurde der Sarg in die Gruft hinabgelassen. Der Wittwer gab hier wieder einen Beweis seiner moralischen Erbärmlichkeit, indem er beim Anblick der gotischen Kapelle in Schluchzen ausbrach. Seitdem er nämlich als Kind Vater und Mutter dorthin zu ihrer letzten Ruhe geleitet hatte, war sie für ihn ein Gegenstand des Grauens geworben, an den er in trüben Stunden zu denken pflegte. Er wußte, daß dort auch sein Leib einst modern würde, und deshalb erfüllte ihn der Anblick der Kapelle mit Entsetzen.

Er seufzte erleichtert auf, als er endlich wieder in seine Equipage steigen konnte. Gott sei Dank, daß die Trauerfeierlichkeit vorüber war; nun konnte er das Alles vergessen. Allerdings gestand er sich seine wahren Gefühle nicht offen ein, aber sein feiges Herz war keinen andern zugänglich.

Als alle Andern sich entfernt hatten, stand Daniel noch an dem Grabe. Er wollte der Letzte sein, um mit der teuren Verblichenen allein zu bleiben und ihr Lebewohl zu sagen, ohne daß die Menge der Gleichgültigen störend zwischen sie und ihn treten könnte. So verweilte er noch lange auf dem Kirchhof und unterhielt sich innerlich mit der Seele des entflogenen Engels.

Endlich verließ er den Friedhof und ging nach Hause.

Hier glaubte er zu bemerken, daß der Pförtner ihn mit einem eisigen Blick ansah. Es hatte den Anschein, als zögere der Mann ihn einzulassen, als hätte er Lust, ihn nach seinem Namen zu fragen, wie wenn es sich um einen Unbekannten gehandelt hätte.

In dem kleinen, zwischen der Einfriedigung und dem Hause gelegnen Garten, standen die Bedienten, noch in Trauerkleidern, vor dem Pferdestall und plauderten.

Ein Pferdeknecht, der bei der Beerdigung nicht zugegen gewesen war, wusch einen Wagen mit einem großen Schwamm ab.

An dieser Gruppe nun kam Daniel vorüber, da er in seiner schüchternen Bescheidenheit sich nicht durch die Hauptallee getraute und deshalb einen Umweg machen mußte. Bei seinem Anblick verstummte plötzlich die Unterhaltung und Aller Augen richteten sich auf ihn, während ein boshaftes Grinsen die plumpen Gesichter in die Breite zog.

Als Daniel näher herankam, merkte er, daß eine feindselige Stimmung gegen ihn unter dem Gesinde Platz griff. Die Beiden, die er mit seinem erzürnten Blick zum Schweigen gebracht hatte, waren da und hetzten die Andern gegen ihn, so daß auf das plötzliche Stillschweigen bald laute Hohnworte fielen.

Daniel blieb vor Scham errötend stehen und fragte sich, ob er nicht umkehren sollte. Aber der Gedanke an Frau von Rionne flößte ihm Mut ein, er schritt tapfer vorwärts.

Während er vorbeiging, hörte er ironisches Lachen und grausame Spottreden, in denen Einer immer den Andern zu überbieten suchte.

»Seht doch mal, was die gnädige Frau für einen hübschen Pagen da hatte!«

»Und das hat guten Schulunterricht genossen! Während Unsereins sich wie ein Neger abschinden muß, führt der Habenichts da ein bequemes Leben.«

»Ja wohl, und wir haben den Herrn bedienen müssen. Ein Segen, daß es jetzt anders werden wird.«

»Raus mit dem Bettler!«

Und in diesem Augenblick, wo Daniel an dem Pferdeknecht vorüberkam, rief dieser:

»Heda, guter Freund, hilf mir doch die Eklipage rein klauen!«

Das ganze Gesindel lachte laut auf.

Daniel zitterte, während er dies Alles anhören mußte. Die Leute erinnerten ihn an seine ehemaligen Schulkameraden und er wollte, wie er es früher so oft gethan, sich eiligst in seine Klause flüchten. Seine zarte Empfindsamkeit fühlte sich tief verletzt durch die rohen Schimpfreden des Bedientenpacks, das seinem Groll Luft machte, nun es Daniels Gönnerin nicht mehr zu fürchten hatte.

Indessen besann er sich, von Unwillen gepackt, sofort eines anderen, wandte sich um und sah die Unverschämten scharf an. Diese bekamen Angst, daß sie zu weit gegangen sein möchten, und schwiegen in sichtlicher Verlegenheit. Wäre er noch schroffer gegen sie vorgegangen, so hätten sie gekatzbuckelt.

Nachdem Daniel ihnen so mit seinem klaren, geraden Blick den Mund geschlossen hatte, setzte er seinen Weg fort. Aber infolge der moralischen Energie, die er hatte aufbieten müssen, fühlte er sich auch körperlich so schwach, daß er nur langsam die Treppe emporsteigen konnte.

Im zweiten Stockwerk begegnete er Herrn von Rionne, der die Treppe herunterkam, und trat, um ihm aus dem Wege zu gehen, an die Wand. Der Hausherr, der ihn so gut wie gar nicht kannte, sah ihn an, als wundre er sich, was der eigentümliche Mensch wohl in seinem Hause zu suchen haben könnte.

Daniel täuschte sich nicht über die Bedeutung dieses Blicks, konnte aber auf die stumme Frage keine Antwort geben, da ihm die Zunge so zu sagen am Gaumen festgeklebt war und er auch nicht wußte, was er sagen sollte.

Von Rionne, der selber erregt zu sein schien, blieb auch nicht stehen, und so eilte Daniel, daß er nach seinem Zimmer hinaufkam.

Hier sagte er sich eine traurige Wahrheit: Er konnte in dem Hause nicht länger weilen. Bisher hatte er diesen Gedanken nicht gehabt, so daß die plötzliche Einsicht ihn jetzt mit desto herberem Schmerz erfüllte. Er lächelte bitter über seine Naivität. Nun seine teure Beschützerin nicht mehr da war, verstand es sich doch von selber, daß er an die Luft gesetzt wurde, wenn er nicht freiwillig ging! Gleichzeitig hörte er auch noch die Dienstboten unten im Garten lachen, und kalter Schweiß feuchtete seine Schläfen. Er beschloß, sofort davonzugehen.

Was aus ihm werden sollte, wo er für die Nacht einen Unterschlupf finden würde, fragte er sich nicht. Das war Alles Nebensache. Er besaß ja noch die mutige Sorglosigkeit der Jugend, die das Leben nicht kennt. Vorwärts zu gehen, immer auf dem geraden Wege vorwärts, war der einzige Gedanke, den er hatte.

Aber wie konnte er der kleinen Jeanne nützlich sein, wenn er das Haus verließ? Trieb ihn die Notwendigkeit hinaus, so hielt ihn andrerseits der letzte Wunsch seiner verstorbenen Wohltäterin zurück, so mußte er doch wohl allerlei Schmach und Demütigung ihretwillen über sich ergehen lassen? Aber nein, das durfte er nicht! Frau von Rionne hatte ihm befohlen, immer erhobenen Hauptes und geradeaus seinen Weg zu wandeln. Er handelte in ihrem Sinne, wenn er ging.

Zunächst mußte er fort; wie er dann seiner Aufgabe gerecht werden könnte, das mußte er sich später überlegen.

Er erhob sich also von seinem Sitze. Sein Koffer stand offen da und zeigte die Kleidungsstücke, die auszupacken und in den Schränken unterzubringen er noch nicht die Zeit gefunden hatte. Der Tisch lag voller Bücher und Papiere und auf dem Kaminsims befand sich eine Börse mit etwas Geld.

Er rührte von alledem nichts an, nahm nichts mit. Die Hohnreden der Dienstboten klangen ihm noch in den Ohren; es war ihm, als gehöre ihm das alles nicht. Er hätte sich eines Diebstahls schuldig zu machen geglaubt, wenn er die geringste Kleinigkeit mitgenommen hätte.

Er verließ also das Haus, wie er ging und stand, mit nichts als den Kleidern, die er anhatte, und indem er den Schlüssel in der Thür stecken ließ.

Als er den Garten durchquerte, bemerkte er die kleine Jeanne, die im Sande spielte, und konnte dem Verlangen sie zum Abschied zu umarmen nicht widerstehen.

Aber das Kind fürchtete sich vor ihm und wich zurück.

Da fragte er sie, ob sie ihn denn nicht kenne. Sie sah ihn aufmerksam an, antwortete aber nicht. Das sonderbare Gesicht, das sie da anlächelte, kam ihr recht merkwürdig vor und sie sann nach, wer das eigentlich sei. Darüber fing sie aber an ängstlich zu werden und sie machte Anstalten, von der Erde aufzustehen und davonzulaufen.

Daniel hielt sie mit sanfter Gewalt zurück.

»Wenn Du mich nicht erkennst,« sagte er, »so sieh mich doch recht genau an. Siehst Du, ich habe dich sehr lieb, und Du wirst mich sehr glücklich machen, wenn Du mich auch recht lieb hast. Ich will dein Freund sein.«

Jeanne verstand nur unvollkommen diese inhaltsschweren Worte, aber der liebreiche Klang der Stimme beruhigte sie. Sie lachte.

»Von nun an mußt Du mich immer wiedererkennen« sagte Daniel, gleichfalls lachend. »Ich gehe jetzt fort, aber ich komme wieder und dann erzähle ich Dir viele schöne Geschichten, wenn Du artig gewesen bist. Giebst Du mir noch einen Kuß, wie Du's mit Deiner Mama gemacht hast?«

Er neigte sich nieder. Aber als die Kleine von ihrer Mutter sprechen hörte, begann sie zu weinen, stieß Daniel heftig zurück und rief: »Mama! Mama!«

Der arme Mensch wußte nicht, was er sagen und thun sollte. Da kam ein Dienstmädchen aus dem Hause, und so ging er davon, tief betrübt, daß er so von dem Kinde scheiden mußte, dessen Wohlergehen er sein ganzes Leben widmen wollte.

Und nun stand er auf der Straße, von Allem entblößt und vor sich eine schwere Aufgabe. Nur seine Dankbarkeit und Treue hielt ihn aufrecht.

Es war vier Uhr Nachmittags.


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