Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Eines Morgens begab sich Daniel wieder nach der Rue d'Amsterdam und als er am Abend heimkam, erklärte er seinem Freunde, am nächsten Tage müsse er ihn verlassen, vielleicht für immer.

Er hatte an jenem Tage erfahren, daß Jeanne aus dem Kloster definitiv zurückgekehrt sei und bei ihrer Tante wohnte. Seitdem war er außer Rand und Band, denn natürlich schwärmte er nur noch für den Gedanken, daß er in dem Hause seines Abgotts Wohnung nehmen müsse. Er sann nach, klügelte einen feinen Plan aus und ging sofort an die Ausführung. Er brachte nämlich in Erfahrung, daß Tellier endlich in das Abgeordnetenhaus gewählt worden war und einen Sekretär brauchte. Hierauf gründete er seinen Plan, bemühte sich sofort um Empfehlungen und nahm dem Verfasser des encyklopädischen Wörterbuchs, der ihm Dank schuldete, das Versprechen ab, daß er sich für ihn bei Tellier um die Stelle bewerben würde. Diese Vermittlung hatte den gewünschten Erfolg, Daniel sollte sich am nächsten Tage vorstellen und war von vornherein eines günstigen Bescheides sicher.

Als Daniel Georg seinen Entschluß, aus der alten Wohnung auszuziehen, ankündigte, konnte dieser in seiner schmerzlichen Verwundrung lange Zeit kein Wort der Erwiederung finden.

»Aber wir können doch nicht so auseinander gehn,« sagte er endlich. »Die Arbeit, die wir vorhaben, nimmt noch Jahre in Anspruch. Ich rechnete auf Dich, ich brauche Deine Mithülfe. Wo gehst Du denn hin? Was willst Du thun?«

»Als Sekretär zu einem Abgeordneten ziehen,« antwortete Daniel mit einer Ruhe, als verstünde sich das so von selber.

»Du und Sekretär eines Abgeordneten?!« Georg lachte. »Du spaßt, lieber Freund, denn Du kannst doch nicht der schönen Karriere, die Dir winkt, um einer untergeordneten und wenig einträglichen Stelle willen entsagen. Bedenke doch, daß uns die Zukunft gehört.«

Daniel zuckte sehr gleichmütig die Achseln und lächelte voll souveräner Verachtung. Was machte er sich aus Ruhm und Ehren! Was brauchte er eine Karriere, eine Zukunft, wenn er nur Jeanne glücklich machen konnte! Er opferte ihr alles, ohne Bedenken; erniedrigte sich, ordnete sich einem fremden Willen unter, bloß um das Wohl des seiner Obhut anvertrauten Kindes besser fördern zu können.

»Also Dein Meisterstück willst Du nicht mehr machen?" drängte Georg.

»Mein Meisterstück muß ich auf einem andern Gebiet machen," erwiederte Daniel sanft. »Ich gehe eben von Dir, um daran zu arbeiten. Frage mich nicht; Du bekommst eines Tages Alles zu wissen, sobald das Werk vollbracht sein wird. Vor allen Dingen bedaure mich nicht. Ich bin glücklich, denn heute ist mir eine Freude zu Teil geworden, auf die ich zwölf Jahre lang gewartet habe. Du kennst mich; Du weißt, daß ich einer sinnlosen oder schimpflichen Handlung unfähig bin. Mache Dir also keinen Kummer darüber, daß ich gehe, sondern sage Dir, daß mein Herz Befriedigung gefunden hat, und daß ich an die Erfüllung meiner Lebensaufgabe gegangen bin.«

Georg gab ihm statt der Antwort die Hand. Er begriff, daß die Trennung sich nicht umgehen ließ; er hörte aus den Worten des Freundes eine so edle Begeisterung heraus, und ahnte, daß sie sich durch keine Hindernissse aufhalten lassen, daß sie auch vor den größten Opfern nicht zurückschrecken würde.

Den nächsten Morgen schied Daniel mit heißen Thränen von ihm. Er hatte die Nacht nicht geschlafen, um seine Sache in Ordnung zu bringen und dem lieben Zimmer, in das er gewiß nie wieder zurückkehren würde, Lebewohl zu sagen. Sein Herz pochte hoffnungsfreudig und doch beklemmte ihn auch ein Wehgefühl, nun er den Ort, wo er gehofft und geweint hatte, verlassen mußte.

Als er auf der Straße eben Abschied nahm, hielt er Georg noch einen Augenblick auf und sagte:

»Ich werde Dich besuchen, wenn ich kann. Sei mir nicht böse und arbeite für Zwei.«

Mit diesen Worten lief er schnellen Schrittes davon. Die Begleitung des Freundes hatte er abgelehnt.

Eine solche Flut von Gedanken durchwogte sein Hirn, daß er in der Rue d'Amsterdam anlangte, ohne sich des durchlaufenen Weges bewußt zu sein.

Seine Gedanken bewegten sich nur in der Vergangenheit und der Zukunft. Er sah mit den Augen seines Geistes Frau von Rionne auf ihrem Sterbebett, ging mit erstaunlicher Klarheit die verflossenen Jahre, Monat für Monat, durch und suchte die Ereignisse, die nun kommen würden, vorher auszurechnen.

Durch diese ganze Träumerei zog sich ein Bild, das der kleinen Jeanne, so wie er sie einst auf dem Sande hatte spielen sehen, und der Anblick dieses Bildes entfachte in seiner Brust ein Feuer, das sein ganzes Wesen durchglühte.

Denn die Kleine gehörte ja eigentlich ihm, ihre Mutter hatte sie ihm vermacht. Er wunderte sich, daß man sie ihm während der ganzen Zeit vorenthalten hatte; ereiferte sich über den Diebstahl und ließ sich dann wieder besänftigen durch den Gedanken, daß man sie ihm ja jetzt wiedergeben würbe. Nun würde sie ihm, ihm gang allein gehören. Nun würde er sie lieben wie er ehemals ihre Mutter geliebt, auf den Knieen, wie eine Heilige. Bei diesem Gedanken wurde der letzte Rest von Vernunft und Besonnenheit davongewirbelt und nun durchraste sein ganzes Sein ein ungeheuerlicher Drang nach Selbstaufopferung.

Seine Liebesgefühle quollen über und drohten ihn zu ersticken. Zwölf Jahre lang hatte er so manches Mal die Hände aufs Herz gedrückt, damit es sich nicht regen und sein stummes, kaltes, passives Maschinendasein nicht stören sollte. Nun aber war das Erwachen gekommen, ein gewaltiges, leidenschaftsvolles Erwachen. Es hatte sich in seinem Herzen eine geheime, unausgesetzte Umwandlung vollzogen, indem die Liebesfähigkeit aus Mangel an freiem Spielraum gereizt und gesteigert worden und zu einer fixen Idee ausgeartet war. Sein ganzes Fühlen bewegte sich in lauter Uebertreibungen; er konnte nicht an Jeanne denken, ohne die Versuchung in die Kniee zu sinken.

Er stand plötzlich in Telliers Arbeitszimmer, ohne zu wissen, wie er da hingekommen war. Dann hörte er die Antwort des Bedienten: »Bitte Platz zu nehmen, der Herr wird gleich kommen.« Er leistete auch der Aufforderung Folge und bemühte sich, seine geistige Ruhe wieder zu gewinnen.

In der That erwies sich die kurze Pause als Wohlthat für ihn. Er hätte gestottert, wäre er unmittelbar vor seinen zünftigen Chef getreten. Nun blieb ihm Zeit, aufzustehen und sich die Bibliothek, so wie die hunderterlei Gegenstände anzusehen, die auf den Stühlen und dem Schreibtisch herumstanden oder lagen. Alle diese durchweg kostspieligen Sachen schienen ihm von zweifelhaftem Geschmack.

Auf einer Konsole stand eine niedliche Statuette der Freiheit aus weißem Marmor, die Daniel für eine Venus gehalten hätte, wäre nicht die phrygische Mütze gewesen, die sie kokett auf dem krausen Haar trug.

Während der junge Mann neugierig das Kunstwerkchen besah und sich zu fragen anfing, was er eigenlich hier thäte, hörte er hinter sich husten.

Tellier war hereingekommen.

Er war ein beleibter Mann mit breitem Gesicht und runden, hervorspringenden Augen. Er trug den Kopf hoch aufgerichtet und machte beim Sprechen immer ein und dieselbe Bewegung mit der rechten Hand.

Daniel gab an, wer er sei und was ihn herführte.

»Ich weiß schon,« antwortete Tellier, »und ich glaube, wir werden uns verständigen. Nehmen Sie gefälligst Platz« worauf er sich selber in den Lehnstuhl niederließ, der vor dem Schreibtisch stand.

Tellier war durchaus kein schlechter Mensch und hatte bei verschiedenen Gelegenheiten Verstand bewiesen. Wenigstens in Geschäftssachen, denn außerdem verfügte er nur über drei bis vier feierliche Ideen, die so mechanisch wie die Puppen auf gewissen altmodischen Leierkasten in seinem Gehirn herumtanzten. Ruhten diese Ideen, so war er erschrecklich öde. Er litt nur an einem Laster, sich für einen großen Politiker zu halten, was eine groteske Selbstüberschätzung war. Die Maximen, die er über die Regierung der Staaten in seinen endlosen Salbadereien zum Besten gab, erinnerten nur an die schnoddrige Kritik, die Portierfrauen an den Maßregeln des Herrn Hauswirts üben. Selbstredend war er von der Wahrheit seiner Behauptungen felsenfest überzeugt und ließ sich durch nichts in der Seelenruhe stören, die ihm seine unbescheidne Dummheit verlieh.

Seine Spezialität war schon in frühester Jugend das Wohl des Volkes und die Freiheit gewesen. Als er dann späterhin zu Reichtum gelangte und über ein ganzes Heer von Arbeitern zu kommandiren hatte, setzte er sein philanthropisches Geschwabbel fort, ohne sich je den Gedanken beikommen zu lassen, daß er besser thun würde, weniger zu reden und die Löhne zu erhöhen. Das Volk und die Freiheit waren für ihn nur Abstrakta, die er nur platonisch zu lieben brauchte.

Als endlich sein Reichtum ins Kolossale gestiegen war, beschloß er ganz nach seiner Neigung zu leben und ließ sich deshalb zum Abgeordneten wählen.

In der That fand er auch seine Rechnung bei diesem Berufswechsel. Empfand er doch ein ungeheures kindliches Vergnügen, wenn in den Reden, die er mit gewissenhafter Aufmerksamkeit anhörte, recht viel pompöse Schlagwörter und lange, inhaltslose Phrasen vorkamen, und kehrte er doch jedes Mal aus der Kammer mit der aufrichtigen Ueberzeugung heim, daß er wieder einmal Frankreich gerettet habe.

Er machte stets in Opposition. Das hob ihn auch in seiner Selbstachtung, denn er war ja eine unentbehrliche Schutzwehr der Freiheit gegen die Barbarei: Im Grunde genommen wunderte er sich, daß die Leute auf der Straße nicht vor ihm niederfielen und ihn den Vater des Volkes nannten.

Er flößte aber Niemanden Achtung oder Furcht ein, weder der Regierung, noch der Opposition, und benahm sich bei verschiedenen Gelegenheiten so einfältig, daß Manche ihn für bestochen hielten. Der Arme fand jedoch keinen Käufer, weil er sich zu hoch abschätzte und zu wenig wert war. Er hatte wohl das Zeug zu einem Gecken, aber nicht zu einem Intriganten.

Manchmal hielt er auch Reden im gesetzgebenden Körper d. h. er las langatmiges Geschwafel vor. Dabei passirte es ihm jedoch einmal, daß er seine Sache gut machte, weil sich die Debatte um die Industrie drehte, von der er etwas verstand. Dieser Erfolg hätte ihm den rechten Weg weisen, ihn lehren sollen, daß es für ihn das Beste war sich auf sein Fach zu beschränken. Aber seine Eitelkeit träumte nur von großartigen Prinzipienerörterungen und so blieb er bei den erbärmlichen Gemeinplätzen stehen, in denen sich alle Demokratien zu bewegen lieben. Seine Frau setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um ihn von der aktiven Politik fern zu halten. Denn da ihr ganzer Ehrgeiz sich um die Herrschaft im Reich des Luxus und der Mode drehte, hätte sie es gern gesehen, wenn er vor ihr zurückgetreten und bescheiden im Hintergrunde geblieben wäre. Aber er beharrte bei seinem Vorsatze und erklärte ihr, er lasse ihr volle Freiheit in ihren Amüsements, wollte aber auch seinerseits seinem Vergnügen, so wie er es auffaßte, nachgehen. Es hatte also sein Bewenden dabei, daß Jedes seinen eignen, dem des Andern diametral entgegengesetzten Weg ging. Sie wurde in ihrem Aerger immer excentrischer in ihren Toiletten, immer verschwenderischer und er donnerte in der Kammer gegen den Luxus, pries die heilsame Rauhheit der republikanischen Sitten, drosch philanthropische Phrasen. Im Grunde genommen war die Narrheit des Einen nicht besser oder nicht schlechter, als die des Andern.

Es währte nicht lange, so kannte Telliers Ehrgeiz keine Grenzen mehr. Es kitzelte ihn, unter die Schriftsteller zu gehen, die Welt mit einem weitschichtigen Werk über die Nationalökonomie zu beglücken. Leider verhedderte er sich gehörig in dieser heiklen Materie und mußte sich nach einem Sekretär umsehen, der ihm aus der Patsche helfen sollte. Daniel that sehr demütig, sehr devot, sagte Ja zu allen Bedingungen, die es Tellier beliebte ihm vorzuschreiben. Er hörte kaum hin auf das, was der Andre sagte, und hatte bloß vor, sich in dem Hause auf die Dauer festzusetzen.

»Noch Eins!« rief plötzlich der Abgeordnete, als schon alles vereinbart war. »Da wir zusammen arbeiten, muß jedem Mißverständnis zwischen uns vorgebeugt werden. Die Gedanken sind zollfrei und ich möchte Ihrem Gewissen nicht die geringste Konzession zumuten; aber sagen Sie mir doch: Welches sind Ihre politischen Meinungen?«

»Meine politischen Meinungen?« wiederholte Daniel verdutzt.

»Ja wohl. Sind Sie liberal gesinnt?«

»Natürlich bin ich liberal, so liberal wie nur möglich!" bestätigte der junge Mann, dem zur rechten Zeit die Marmorstatuette mit der Freiheitsmütze einfiel und indem er sich unwillkürlich nach der Konsole hinwandte.

»Haben Sie Die gesehen?« fragte Tellier mit feierlichem Ernst, erhob sich von seinem Sitz und nahm die Puppe in die Hand. »Dies ist die große Mutter, die irdische Jungfrau, die dermaleinst die Völker zur Wiedergeburt emporheben wird!«

Daniel sah das Ding neugierig an und wunderte sich, so pompöse Worte auf solch ein winziges Figürchen angewendet zu hören. Der Abgeordnete aber betrachtete die Statuette so zärtlich wie ein Kind, seinen geliebten Hampelmann. In der That hatte er eines Tages dieses sein Spielzeug, als er es nicht an dem gewohnten Orte fand, Stunden lang gesucht, bis er es in Jeanne's Händen fand. Die Kleine, die damals noch im Anfang ihrer Schulzeit stand, war auf einen Tag aus dem Kloster nach Hause zurückgekehrt und hatte die Göttin der Freiheit als Puppe benutzt.

Aus Telliers Rührung schloß Daniel, daß das kleine Frauenzimmerchen durchaus der Vorstellung entsprach, die sich der Phrasenheld von der derben und gewaltigen Göttin machte; die Freiheit, die er mit so großem Geschrei verlangte, war ein niedliches, lächelndes Dirnchen; kurz ein Taschenexemplar der Freiheit.

Tellier versank schließlich wieder in seinen Lehnstuhl, nahm Daniels Dienste definitiv an und erging sich in politischen Betrachtungen von unverständlichster Tiefsinnigkeit. Der arme Mensch mußte seine Rolle als gehorsames Möbel schon früh antreten.

Mitten in einer langen Periode wurde der Redner von einer Lachsalve unterbrochen, die sich im anstoßenden Zimmer vernehmen ließ. Eine jugendliche Stimme rief vergnügt: »Onkel! Onkel!« Gleichzeitig flog die Thür auf und herein stürmte ein junges Mädchen, auf Tellier zu und zeigte ihm zwei exotische Vögel in einem vergoldeten Käfig, den sie in der Hand hielt. »Sehen Sie doch, Onkel,« sagte sie. »Wie allerliebst sie mit ihrer roten Brust, ihrem gelben Rücken und ihrer schwarzen Federkrone aussehn. Die habe ich eben geschenkt bekommen.« Dabei lächelte sie und bog, um die Gefangnen besser betrachten zu können, mit reizend geschmeidigen Bewegungen den Kopf zurück.

Sie sah noch sehr kindlich aus, obwohl sie schon völlig erwachsen und entwickelt war. Es war, als erfülle ihre Erscheinung die ernste Studirstube mit Licht und Luft; ihr weißes Kleid verbreitete einen milden, klaren Glanz; ihr Gesicht strahlte wie die rosige Morgenröte. Sie trippelte hin und her, schwenkte den Käfig, nahm den ganzen Raum für sich in Anspruch und ließ überall den frischen Duft der Jugend und Schönheit zurück. Dann richtete sie sich wieder auf und schaute mit ihren tiefen Augen ernst drein, ein Bild stolzer und noch unwissender Jungfräulichkeit.

Das war die kleine Jeanne!

Die kleine Jeanne! Daniel war bei ihrem Eintritt bebend aufgestanden und betrachtete seine liebe Tochter voller Ehrerbietung. Er hatte nie bedacht, daß sie gewachsen sein mußte. Für ihn war sie so geblieben, wie er sie zuletzt gesehen hatte, und in seiner Vorstellung von ihrem Wiedersehen neigte er sich immer zu ihr nieder, um sie auf die Stirn zu küssen.

Und nun war sie ein großes, schönes, stolzes Mädchen geworden! Nun glich sie den andern Damen, die sich über ihn mokirten! Um keinen Preis wäre er an sie herangetreten, um sie zu umarmen. Ja, bei dem bloßen Gedanken, daß sie ihren Blick nun auch auf ihn richten werde, erschrak er schon.

Sie hatten ihm sein Töchterchen ausgewechselt. Ein Kind hatte er wieder haben wollen, denn nie würde er sich erkühnen, die große und hübsche junge Dame da anzureden, die so listig lachte und so stolz auftrat. In dem Augenblick des ersten Erstaunens wußte er nicht mehr recht, was er hier machte, vergaß er ganz, was seine Wohltäterin ihm geboten hatte.

In seiner Bestürzung war er in eine Ecke zurückgewichen und stand verlegen da, ohne zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Trotz seiner Angst konnte er nicht die Augen von dem Gesicht des jungen Mädchens abwenden, denn er fand, daß sie der Mutter ähnelte, aber die Reize der Gesundheit und des Lebens vor ihr voraus hatte und fühlte eine linde Wärme in seiner Brust aufsteigen.

Jeanne, die auf die Scheltworte des Onkels hinhören mußte, sah nicht einmal den schüchternen Gast.

Der Onkel nämlich konnte die lärmvolle Lebendigkeit der jungen Mädchen nicht leiden, die ihn aus seinem tiefsinnigen Konzept brachte. Er maß Jeanne mit strengen Blicken und war nahe daran, aus dem Häuschen zu geraten.

»Herr des Himmels!« rief er, »Du kommst ja hier herein wie ein Sturmwind. Kannst Du denn nicht vergessen, daß Du nicht mehr im Institut bist? So nimm Dich doch zusammen und sei ein wenig gesetzt.«

Jeanne, die sich beleidigt fühlte, hatte während dieser Strafpredigt eine ernste Miene angenommen, und ein kaum merkliches Lächeln der Geringschätzung zuckte um ihre Rosenlippen. Man konnte ihr anmerken, daß sie rebellisch gesinnt war. Offenbar hatte sie schon herausgefunden, wieviel dummer Dünkel sich hinter dem feierlichen Ernst des Onkels verbarg, denn in ihren Augen spiegelte sich malitiöse Heiterkeit, die gegen die ihr zugemutete Ehrpussligkeit Einspruch erhob.

»Zumal Jemand bei mir ist,« setzte Tellier mit gewichtigem Nachdruck seiner Vermahnung hinzu.

Jeanne wandte sich nach dem Jemand um und bemerkte Daniel in seiner Ecke. Sie sah ihn einige Sekunden lang neugierig an und hob die Lippen mit einem Anflug von Mißvergnügen. Sie hatte bis jetzt nur für die Heiligenbilder ihres Klosters geschwärmt, und der hagre Gesell mit den unregelmäßigen, unschönen Gesichtszügen und dem linkischen Wesen erinnerte doch in keiner Hinsicht an die reinen Profile und seidigen Bärte, mit denen ihr Gebetbuch illustrirt war.

Daniel senkte unter ihrem Blick den Kopf, während er eine Blutröte in sein Gesicht aufsteigen fühlte. Es war ihm weh ums Herz. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, daß die so lange Jahre hindurch herbeigesehnte Zusammenkunft ihm so viel Pein verursachen würde. Er gedachte der stürmischen Erregung, die noch kurz zuvor, als er nach der Rue d'Amsterdam eilte, sein Innres durchtobt hatte, rief sich sein Bild wieder vor die Seele, wie er, rasend vor Begeisterung, Jeanne in Gedanken in seine Arme schloß, um sie davonzutragen. Und nun stand er, an allen Gliedern bebend, vor dem jungen Mädchen und konnte kein Sterbenswörtchen finden sie anzureden.

Gleichwohl trieb ihn ein dunkler Drang zu Jeanne hin. Es wandelte ihn, nachdem die erste Schüchternheit vorbei war, das Gefühl an, als müßte er auf die Kniee niedersinken. Wenn er dies unterließ, so war es keineswegs Telliers Gegenwart, die ihn daran hinderte; denn er hatte vollständig vergessen, wo er sich eigentlich befand: Der furchtbare Gegensatz zwischen seiner Traumwelt und der Wirklichkeit hielt ihn festgebannt.

Vor allen Dingen aber merkte er, daß Jeanne ihn nicht wieder erkannte. Er hatte wohl gesehen, wie verächtlich sie bei seinem Anblick den Mund verzogen hatte, und nun erfüllte gränzenlose Scham und Bitterkeit sein Herz. Also sie liebte ihn nicht und würde ihn nie lieb gewinnen. Darunter verstand er, daß sie nie zu ihm wie zu ihrem Vater aufsehen und er an ihr nie eine Tochter haben würde.

Während diese Gedanken sein Hirn durchkreuzten, that Jeanne in ratloser Verlegenheit einige Schritte, nahm dann ihren Käfig wieder zur Hand und trippelte schleunigst davon, ohne die Schelte ihres Onkels mit einem einzigen Wort zu erwidern.

Als sie heraus war, fuhr Tellier zu dociren fort:

»Also, mein junger Freund, ich war bei der Theorie der Association stehen geblieben. Gesetzt, zwei Arbeiter thun sich zusammen,...«

Und so ging es eine gute Stunde lang weiter. Daniel hörte nicht hin und nickte bloß beifällig mit dem Kopfe. Statt aufzupassen, sah er verstohlen nach der Thür, durch die Jeanne verschwunden war, und hing trübsinnigen Grübeleien nach.


 << zurück weiter >>