Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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IV.

Die Gitterthür knarrte dumpf, als Daniel sie hinter sich zumachte. Er ließ seine Blicke um sich schweifen, ohne etwas zu sehen, und ging dann ganz von seinen Gedanken in Anspruch genommen, mit gesenktem Haupte, vor sich hin, ohne zu wissen, wohin seine Schritte ihn führten.

Noch klang ihm Jeanne's Geschrei und das Geknarr der Thür in den Ohren. Er dachte, das Kind kenne ihn nicht, liebe ihn nicht und die Thür hätte recht unheimlich geknarrt. Bis dahin hatte der Kummer sein ganzes Sein beherrscht und die Vernunft fern gehalten. Jetzt aber stellte sie sich wieder ein, sprach auf ihn ein und nun erschien ihm endlich seine Lage so, wie sie war.

Ein schmerzliches Erstaunen überwältigte ihn Angesichts der Wirklichkeit. Er verglich seine physische Schwäche, sein Elend mit der Schwierigkeit der Aufgabe, die er lösen sollte, und zitterte.

Seine Aufgabe war folgender Art: Er hatte eine Seelsorge übernommen; er mußte gegen die Welt ankämpfen und siegen; er sollte über ein Frauenherz wachen und ihm zum Glück verhelfen. Um diesen Zweck zu erreichen, wollte er immer dort hingehen, wo sein Schützling weilen würde; immer ihr zur Seite stehen, um sie gegen Andre und gegen sich selbst zu verteidigen.

Er mußte folglich bis zu ihr empor und sogar noch höher steigen, in ihrem Hause wohnen oder wenigstens sich Zutritt zu den Familien verschaffen, mit denen sie verkehrte. Es war also seine Pflicht, sich zum Weltmann auszubilden, denn nur so konnte er den Kampf mit Aussicht auf Erfolg aufnehmen.

Nun wandte er den Blick auf sich und saß über sich zu Gericht. Er war häßlich, blöde, linkisch, arm. Er hatte kein Obdach, keine Verwandte und Freude; er wußte nicht einmal, wo er zu Abend essen, wo er schlafen sollte. Die Bedienten hatten ihn mit Recht einen Bettler geschmäht, denn der Hunger konnte ihn vielleicht so weit bringen, daß er die Vorübergehenden um ein Almosen anflehte. Er lachte laut auf, so leid that er sich selber. Also er, der Habenichts, das Kind des Elends und des Leidens, sollte dem kleinen Mädchen, das in Sammt und Seide ging, das vom elegantesten Luxus umgeben war, seinen Schutz angedeihen lassen! Träumte er denn oder hatte er den Verstand verloren? Keine Möglichkeit, daß Frau von Rionne einem armen Teufel wie ihm das Schicksal ihres Kindes anvertraut hatte! Jedenfalls wollte er es bleiben lassen, einen so abgeschmackten Versuch zu wagen. Während ihm aber derartige Gedanken durch den Kopf gingen, überlegte er eifrig, wie er wohl den Wunsch seiner Wohlthäterin in Erfüllung bringen könnte. Diese Gedanken lenkten schließlich seinen Geist in eine neue Bahn. Seine Liebesfähigkeit, sein Selbstverleugnungstrieb regten sich wieder und sprachen lauter als seine Vernunft; er vergaß sich und seine Ohnmacht, die alte Begeisterung erwachte wieder.

Nun reute es ihn, daß er aus dem Hause fortgegangen war. Aber wie sollte er wieder hineinkommen? Das Geknarr der Thür, das ihm bis ins Innerste gedrungen war, bezeichnete einen Abschnitt seines Lebens, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Er schmiedete vielerlei unsinnige Pläne, wie sie im Hirn der Kinder und der Verliebten herumschwirren, und erfand auch die Mittel dazu, die eine sichere Ausführung seiner Gedanken ermöglichen sollten, die er aber immer wieder als chimärisch verwarf. Der Gedanke aber, der am häufigsten in seinem Geist auftauchte, war Verdruß darüber, daß er Jeanne nicht ganz ruhig auf den Arm genommen und mit ihr abgezogen war. Wie er sie in seiner Phantasie so im Sande spielen sah, redete er sich ein, er hätte sie sehr leicht rauben können, und daraufhin baute er auch gleich einen ganzen Roman. Er sah sich, wie er mit dem Kinde davon eilte, es innig an seine Brust gedrückt hielt, und erst Atem schöpfte, als das Unglückshaus, aus dem er sie gerettet hatte, schon weit hinter ihm lag.

Bei der Ausmalung dieses lieblichen Bildes strahlte sein Gesicht. Wie angenehm und leicht würde ihm dann die Erfüllung seiner Pflicht! Er wohnte dann mit Jeanne zusammen, arbeitete, und sie verdankte ihm Alles. Er nannte sie Tochter, sie ihn Vater. In dieser Armut und Einsamkeit erzog er ihr leicht alle möglichen Tugenden an, machte er sie stolz und stark im Guten. Schon hörte er in Gedanken die glühenden Danksagungen seiner guten Heiligen. Plötzlich blieb er stehen. Ein schrecklicher Gedanke war ihm in die Quer gekommen, nämlich, daß seine Mission eine lächerliche sei. War es eine Aufgabe für einen so jungen Menschen über ein kleines Mädchen zu wachen?

Ganz gewiß wäre den Vorübergehenden seine edle Naivität recht komisch vorgekommen, wenn sie seine Gedanken hätten lesen können. Es trat jetzt wieder die alte Aengstlichkeit seiner Schuljahre hervor. Wie, er sollte ewig ein Paria bleiben? Denn wenn er schon von Natur so unbeholfen war, wie sollte er je im Leben weiter kommen, nun ihm eine so absonderliche Pflicht aufgebürdet war?

Aber diese schlechte Regung, diese Rücksicht auf die praktische Wirklichkeit konnte nicht lange die Oberhand über seinen Geist behalten. Allmählich kehrten seine Gedanken zu der gewohnten Ruhe zurück; er wurde wieder der unwissende Knabe, der er immer gewesen war. Er sah nur noch Frau von Rionne ihm zulächeln und hörte sie liebevoll reden. Da war es vorbei mit der egoistischen Angst, mit der Rücksicht auf die Meinung der Welt. Er hegte nur noch den Wunsch gut zu sein.

Dieser Kampf zwischen den verschiedenen Gedanken und Empfindungen machten schließlich seinen Kopf so matt und müde, daß sein Geist die Dinge nicht mehr scharf ins Auge zu fassen vermochte. Er stand von weiteren Grübeleien ab und nahm sich nur fest vor, daß er der Eingebung seines Herzens folgen wolle; dann könne sein Werk nur gut ausfallen. Alles Andere überließ er dem Willen des Schicksals.

Nun ging er aus sich heraus, bekümmerte sich um die Außenwelt, sah sich die Vorübergehenden an, freute sich der linden Abendluft. Und damit trat auch das materielle Leben bei ihm wieder in seine Rechte; er fing an sich zu fragen, wo er hingehen, was er thun solle.

Der Zufall hatte ihn vor eins der Thore des Luxembourg gebracht, dasjenige, das der Rue Bonaparte so ziemlich gegenüber liegt. Er trat in den Garten und sah sich nach einer Bank um, denn er war wie gerädert vor Müdigkeit.

Unter den Kastanienbäumen spielten, liefen und jauchzten die Knaben und Mädchen. Die Kindermädchen in ihren hellen Frühlingskleidern standen dabei und hörten vergnügt auf die Schmeichelreden, die ihnen die Männer zuflüsterten.

In der hereinbrechenden Abenddämmerung gingen und kamen eine Menge kleiner Leute, wie sie das gewöhnliche Publikum der öffentlichen Gärten und Parke bilden. Von den Bäumen senkte sich ein grüner, durchsichtiger Schimmer herab; die Decke, die das Laub über den Köpfen ausbreitete, war niedrig und wehrte den Durchblick nach dem Himmel; am Horizonte blieben Lücken, durch die man die weißen Marmorstatuen und Geländer sah.

Daniel hatte Mühe eine unbesetzte Bank zu finden. Er fand endlich eine abseits gelegene und setzte sich mit einem Seufzer des Behagens. An dem andern Ende der Bank saß ein junger Mann und las. Er richtete den Kopf empor, sah den Ankömmling an und tauschte mit ihm ein Lächeln aus.

Da das Tageslicht abnahm, klappte der junge Mann bald sein Buch zu und ließ seine Blicke über die Umgebung hinschweifen. Daniel, dem der Andre sympathisch war, vergaß seine Sorgen und folgte mit den Augen jeder Bewegung seines Nachbars.

Dieser war von hohem Wuchse und hübschem, etwas strengem Gesicht. Seine weit aufgeschlagenen Augen hatten einen geraden Blick; seine prallen, starken Lippen zeugten von Energie und Rechtschaffenheit und auf der hohen Stirn spiegelte sich ein großherziger Charakter ab. Er schien etwa zwanzig Jahre alt zu sein. Seine weißen Hände, seine einfache Kleidung, die ruhige Haltung verrieten einen fleißigen Studenten.

Nach Verlauf einiger Minuten wandte er den Kopf und heftete auf Daniel einen geraden, durchdringenden Blick. Dieser neigte die Stirn, um nicht das spöttische Lächeln zu sehen, mit dem man ihn sonst überall empfing. Aber als er dreister wurde und die Augen wieder aufschlug, las er in den Zügen des Andern nur freundschaftliches Entgegenkommen. Dankbar gestimmt, wagte er an den unbekannten Freund näher heranzurücken, mit der Bemerkung, es wäre schönes Wetter, und der Luxemburger Garten sei doch ein wahres Paradies für müde Spaziergänger.

O, wie wohltuend sind doch manche gemütlichen Plaudereien, die aus einer zufälligen Begegnung entstehen und bisweilen eine Freundschaft für das ganze Leben einleiten! Man sieht sich zum ersten Mal, und siehe da! man schüttet sein Herz aus, man läßt den Andern mit gänzlich unvermittelter, unüberlegter Vertrauensseligkeit in die tiefsten Falten seines Innern blicken. Man findet eine wahre Wonne darin, so aufs Geratewohl zu beichten und sich vollständig gehen zu lassen.

Nach einigen Minuten kannten sich die beiden jungen Leute, als wenn sie seit ihrer Kindheit beständig zusammen gelebt hätten. Sie waren auf der Bank dicht aneinander gerückt und scherzten wie Brüder miteinander.

Zuneigung entsteht sowohl aus der Aehnlichkeit wie aus der Unähnlichkeit der Charaktere. Daniels neuer Freund hatte sich offenbar zu ihm hingezogen gefühlt durch seine Aengstlichkeit, sein linkisches Wesen, seinen sanften Gesichtsausdruck, seine ganze absonderliche Erscheinung. Stark und wohlgestaltet, wie er war, gefiel er sich darin, den Schwachen Güte zu bezeigen.

Als sie eine Weile geplaudert hatten, fühlten sie, daß ihre Herzen ein Bund auf Lebenszeit vereinte. Beide waren elternlos, beide hatten sich die Erforschung der Wahrheit als Lebensziel gesteckt, beide waren auf sich selbst angewiesen. Sie waren Geistesverwandte und die Gedanken, die der Eine äußerte, weckten ähnliche in dem Geiste des Andern. Daniel erzählte im Laufe des Gesprächs seine Lebensgeschichte, ohne jedoch der Aufgabe Erwähnung zu thun, der er sein Leben geweiht hatte. Dazu brauchte er sich auch keine Gewalt anzuthun, denn diesem Geheimnis hatte er ein für allemal einen besonderen so tief verborgenen Platz in seinem Innern angewiesen, daß es für immer allen Blicken unzugänglich war.

Er erfuhr, daß sein Freund mutvoll gegen die Armut ankämpfte. Ohne einen Heller in Paris angekommen, hatte der mannhafte, geistig hochveranlagte junge Mensch sich vorgenommen ein hervorragender Gelehrter seines Jahrhunderts zu werden. Einstweilen aber fiel es ihm schwer, sein Leben zu fristen; er mußte sich zu harter, schlecht bezahlter Arbeit hergeben und konnte nur des Abends und des Nachts studiren.

Während sich die Beiden so mit all der Vertraulichkeit der Jugend unterhielten, war die Dunkelheit unter den Kastanienbäumen dichter geworden. Man sah nur noch die weißen Schürzen und Hauben der Kindermädchen. Aus den abgelegensten Winkeln des Gartens ließ sich leises Gemurmel und Lachen vernehmen.

Da erschallten die Trommeln, die dem Publikum das Zeichen gaben, den Garten zu räumen. Auch Daniel und sein Kamerad erhoben sich jetzt und lenkten gemeinsam ihre Schritte auf die kleine Gitterthür zu, die damals nach der Rue Royer Collard hinausführte.

Auf dem Bürgersteig der Rue de l'Enfer blieben sie einen Augenblick stehen und plauschten weiter. Da unterbrach plötzlich der Andere seinen Gedankengang und fragte Daniel:

»Wo gehen Sie hin?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Daniel ruhig.

»Was? Haben Sie denn keine Wohnung, kein Obdach für die Nacht?«

»Nein.«

»Aber zu Abend gegessen haben Sie doch wenigstens?«

»Auch nicht.«

Beide lachten. Daniel sah ganz so aus wie Einer, der sich in einer spaßhaften Lage befindet. »Kommen Sie mit mir,« sagte der Andre, als handelte es sich um etwas Selbstverständliches. Er ging mit ihm zunächst zu einer Obst- und Gemüsehändlerin, die eine Speisewirtschaft hatte und bei der er seine frugalen Abendmahlzeiten einzunehmen pflegte. Sie wärmte ein Ragout für Daniel, das dieser gierig verschlang; er hatte seit dem Abend des vergangenen Tages nichts genossen.

Nachher nahm er ihn mit nach dem Zimmer, das er in der Impasse Saint Dominique d'Enfer Nr. 7 bewohnte. Das Haus ist jetzt niedergerissen. Es war ein mächtiges Gebäude, einst ein Kloster, mit breiten Treppen und hohen Fenstern. Die nach hinten hinaus gelegenen Dachstuben überragten große, mit schönen Bäumen bepflanzte Gärten.

Die beiden jungen Leute setzten sich an das offne Fenster und enthüllten einander, die Augen auf die dunklen Kronen der Ulmen gerichtet, mehr und mehr ihr Innerstes. Um Mitternacht saßen sie noch so, Hand in Hand und plauderten eifrig.

Daniel legte sich auf ein Sofa zur Ruhe nieder, dessen roter Bezug schon arg zerfetzt war. Als die Lampe ausgelöscht war, fragte sein Freund noch:

»Beiläufig gesagt, ich heiße Georg Raymond. Und Sie?«

»Daniel Raimbault.«


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