Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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XI.

Lorin zerbrach sich seit zehn Monaten den Kopf über die heiklige Frage, ob er um Jeanne's Hand anhalten solle. So machte es der kluge Mann immer, wenn er eine große Dummheit vorhatte.

Nicht als ob er besonders verliebt gewesen wäre. Das junge Mädchen hatte ihn mit ihrer stolzen Anmut und ihrer amüsanten Satire geblendet und berauscht. Er dachte, eine solche Frau zu besitzen werde ihm Ehre machen, abgesehen davon, daß sie ihm die Pforten der vornehmsten Salons weit öffnen würde. Er malte sich aus, wie er mit ihr am Arme überall empfangen werden würde, und diese Vorstellung kitzelte seine Eitelkeit mächtig. So kam es also, daß er sie mit egoistischem Verlangen liebte, ohne daß sein Herz dabei mitsprach. Aber er machte sich nie Illusionen darüber, daß der Spaß ihm viel Geld kosten würde, und deshalb sträubte er sich lange. Allmählich jedoch fing er an auszurechnen, wieviel Geld er bei dem Handel würde anlegen müssen. Er zog auch die Kleinigkeiten in Betracht und beschrieb ein ganzes Blatt mit Additions- und Multiplikationsexempeln. Die Rechnung ergab ein Facit, das ihn mit Grauen erfüllte.

Nach einer Weile begann er wieder zu rechnen, indem er verschiedene Posten strich und andre herabminderte. Er überzeugte sich nun, daß Jeanne ihm zwar noch immer sehr teuer kommen würde, die Sache aber doch zu machen sei. Gleichwohl schwanke er nun noch über vier Wochen lang. Vielleicht thäte er doch besser, er nähme sich eine Frau, die ihm Geld einbrachte, statt ihm seinen Geldbeutel zu erleichtern.

Die Liebe, die auf Eitelkeit gegründet ist, läßt sich ebenso wenig von ihrem Ziel abbringen, wie diejenige, die dem Herzen entstammt. Lorins Widerstand ließ allmählich nach und um sich vor sich selber zu entschuldigen, meinte er, ein so reicher Mann wie er dürfe sich wohl eine Laune genehmigen. Eine Dummheit wäre es ja; aber während er noch über seine Schwäche spottete, ging er auch schon zu Herrn von Rionne.

Er wußte, daß der Mann ruinirt war.

»Mein Herr,« erklärte er, »ich komme in einer wichtigen Angelegenheit und hoffe, daß Sie meine Bitte gut aufnehmen werden.«

Von Rionne glaubte einen Gläubiger zu wittern. Er rückte ihm einen Stuhl hin und sah ihn fragend an.

»Die Sache ist die,« fuhr Lorin fort. »Frau Tellier hat die Güte gehabt mich unter die Zahl ihrer Freunde aufzunehmen, und in ihrem Hause habe ich Fräulein Jeanne von Rionne kennen gelernt. Ich gebe mir die Ehre, um die Hand der jungen Dame anzuhalten.«

Der Vater, der nie daran dachte, daß seine Tochter schon im heiratsfähigen Alter stand, war so überrascht, daß er nicht gleich eine Antwort fand. Dieses Stillschweigen machte sich Lorin zu Nutze, indem er angab, wer er sei und wie hoch sich sein Vermögen belaufe. Während dieser Auseinandersetzung erhellte sich von Rionne's Gesicht und wurde seine Haltung eine ausgesucht höfliche, verbindliche: Statt daß man ihm Geld abforderte, brachte man ihm vielleicht welches zu.

Es währte also nicht lange, so waren die Herren in einem vertraulichen Gespräch begriffen. Von Rionne war so gut wie bettelarm. Was nicht beim Spiel draufgegangen war, hatte Julia verschlungen. Der Kredit war versiegt, die Gläubiger mahnten ungestüm, und er mußte schon große Anstrengungen machen, Kniffe und Listen gebrauchen, um nicht sofort in den Abgrund zu stürzen. Schon stand er vor der Frage, wo er wohl ein Obdach finden würde, sobald sein Mietskontrakt abgelaufen wäre. Denn sich an seine Schwester zu wenden wagte er nicht: die praktisch gesinnte Frau hatte ihn sehr geringschätzig behandelt.

Der Stolz hatte ihn lange aufrecht erhalten, bis ihm etwas widerfuhr, das ihm die letzten Illusionen raubte und seinen Mut brach. Sein Kammerdiener Louis war ihm treu geblieben, so lange er in den Taschen seines Herrn noch etwas Stehlbares fand. Als aber in besagten Taschen der Dalles sich allzubreit machte, hatte sich der treue Diener eines schönen Morgens gedrückt, um sich zur Ruhe zu setzen. Nun ward es kund und offenbar, warum der steife, kühle Mann immer so gelächelt hatte: Die bescheidne, präcise Maschine hatte sich ganz einfach über die Goldstücke gefreut, die sie sich einverleibte. Aber in dieser Welt, so behaupten die Moralisten, soll jede böse That ihre Strafe erhalten. Im vorliegenden Falle bewahrheitete sich dies allerdings doppelt. Denn Louis, der das Stehlen nicht mehr lassen konnte, beging die Dummheit, seinem Herrn Julia zu stehlen und von Rionne wurde, als er eines Tages seine Geliebte wieder aufsuchen wollte, von seinem ehemaligen Kammerdiener an die Luft gesetzt.

So weit war es also mit ihm gekommen, als Lorin bei ihm um die Hand Jeanne's anhielt. Es war ihm bis jetzt noch gar nicht in den Sinn gekommen, daß er aus seiner Tochter Nutzen ziehen konnte und der Antrag des jungen Mannes eröffnete ihm also eine ungeahnte Perspektive. Die Zuflucht, die er überall suchte, war gefunden! Ob es ihm nicht gelingen sollte, dem Pärchen eine Jahresrente abzuknöpfen, die ihm erlauben würde, ein behagliches, nicht allzu langweiliges Dasein zu führen bis an sein seliges Ende?

Er spielte also seine Vaterrolle mit großer Würde und hütete sich, dem Freier allzu eifrig entgegen zu kommen oder ihn durch zu große Kälte und Gleichgültigkeit zu entmutigen. In Wirklichkeit fürchtete er, es würde aus der Heirat nichts werden. Aber als Lorin ihm die Versicherung gab, Jeanne liebe ihn, beruhigte sich von Rionne und zeigte sich gemütlicher, mitteilsamer. Er sprach jetzt von seiner Tochter mit wahrhaft väterlicher Rührung und versicherte, nichts liege ihm mehr am Herzen, als ihr Glück.

Es wurde mithin verabredet, daß sie sich schon am nächsten Tage nach Le Mesnil-Rouge begeben wollten; es sollte alles Nötige besprochen und abgemacht werden, noch ehe Jeanne nach Paris zurückkäme. Denn auch Lorin war es nicht unlieb, wenn die Sache mit Eile betrieben wurde; er schwankte nämlich noch immer und wollte eine vollendete Thatsache schaffen, um die Dummheit nicht wieder rückgängig machen zu können.

Demgemäß eröffneten die beiden Herren den Zweck ihrer Reise sofort bei ihrer Ankunft und auch das junge Mädchen wurde gleich nach ihrer Meinung gefragt.

Daniel that die Nacht kein Auge zu. Die Gedanken jagten sich in seinem Hirn und stießen aufeinander, ohne daß er zu einer festen Ansicht zu gelangen vermochte.

Manchmal redete er sich ein, Lorin lüge, Jeanne würde den Antrag nicht annehmen; dann überfiel ihn wieder eine entzetzliche Angst und überkam ihn der Gedanke, daß die Heirat eigentlich doch möglich sei. Am meisten aber peinigte ihn ein körperliches Weh, das mit grimmiger Flamme seine Brust durchtobte. Wenn er in Gedanken Jeanne und Lorin nebeneinander einherschreiten sah, packte ihn eine wilde Wut.

Als der Tag anbrach, zwang, er sich, die Sache mit mehr Ruhe zu betrachten. Wozu bloß auf Lorins Worte hin sich so verzweifelt und wütend gebärden? Vielleicht war noch nichts entschieden. Jedenfalls mußte er sich erst näher erkundigen. Mit diesem Entschlusse ging er hinunter, um die Gesichter zu studiren und sich danach ein Urteil zu bilden.

Tellier sah so aus wie alle Tage, ebenso nichtssagend und gedankenarm. Von Rionne schien seelenvergnügt und zeigte sich sehr aufmerksam gegen seine Tochter; war sie doch für ihn ein kostbares Gut, dessen Verlust er für ein großes Unglück gehalten hätte.

Was Frau Tellier betraf, so trug sie eine nervöse Heiterkeit zur Schau. Auch sie schien die Nacht schlaflos verbracht zu haben. Lorins Heiratsgesuch war natürlich nicht nach ihrem Geschmack gewesen und es hatte ihr nicht wenig Ueberwindung gekostet, um nicht einen Skandal hervorzurufen. Schließlich hatte sie ihren Aerger damit zu beschwichtigen versucht, daß sie sich sagte, Jeanne werde ihr als Nebenbuhlerin zu gefährlich, und sie thäte daher gut daran, sich ihrer so bald als möglich zu entledigen. Das kostete ihr freilich einen guten Freund, aber es war besser, sie brachte dieses Opfer, als daß sie das junge Ding, das mit seiner Lachlust alle Männer an sich zog, länger um sich behielt. Mit diesem Trost suchte sie sich zu helfen, aber sie war außer sich.

Lorin machte seiner Schönen den Hof und zwar mit vielem Geschick, da sein Herz frei war. Auch war er sich ja des Wertes bewußt, den er in den Augen der Andern hatte, und machte sich deshalb keines lächerlichen Uebereifers schuldig.

Aber am sorgsamsten beobachtete Daniel Jeannes Gesicht. Das junge Mädchen war wieder die ehemalige Salondame geworden und gab sich zwanglos der Freude hin, die junge Damen bei der Liebeswerbung eines Mannes empfinden. Bezeigte sie auch keine zu lebhafte Genugtuung, so schien sie doch entzückt über Lorins Huldigungen und sprach von Paris in den Redewendungen eines Schulmädchens, das sich auf einen Ball freut.

Nun sah Daniel ein, daß er zu schlaff gewesen war, daß er sich in dem ländlichen Schlaraffenleben zu sehr hatte gehen lassen. Er hätte ihr während der langen Kahnfahrten, wo sie der Welt so weit entrückt waren, sein Geheimnis offenbaren, ihr seine Lebensgeschichte erzählen, die Gefühle, die er für sie hegte, erklären sollen. Diese Gelegenheit war nun versäumt, jetzt drängte sich wieder die Welt zwischen ihn und sie. Für Jeanne waren die Ausflüge, das Leben auf dem Lande nur ein kindliches Vergnügen gewesen, von dem sie sich sofort abwendete, als sich ihr etwas Andres bot, und so hatte Lorins Erscheinen genügt, ihr schlechteres Ich wieder zu erwecken. Er schien ihr ein ganz netter Mensch zu sein, zwar etwas dumm und eingebildet, aber erträglich im Umgang. Als er ihr seinen Antrag machte, — den sie erwartet hatte — nahm sie ihn ohne viel Besinnen an, denn für sie bedeutete die Ehe nur ein Mittel, sich einen eignen Empfangssalon zu verschaffen.

Daniel merkte, was in dem jungen Kopfe vorging, und beschloß voller Aerger, diese Heirat nicht zu Stande kommen zu lassen. Diese Regung war eine Empörung seines Herzens gegen seine Vernunft. Er vergaß ganz seine eigentliche Lebensaufgabe und bemühte sich nicht mehr, einzig und allein dem Wunsche seiner Wohlthäterin zu gehorchen; sein ganzes Sein trieb ihn vielmehr dazu, Jeanne Lorins Armen zu entreißen.

Nach einem langen, qualvoll zugebrachten Tage trat er am Abend plötzlich vor das junge Mädchen hin, als sie am Flusse spazieren ging, und fragte sie:

»Sie wollen heiraten?«

»Ja!« antwortete sie, erstaunt über den Ausdruck, der aus dem Ton seiner Stimme herausklang. »Kennen Sie auch Herrn Lorin gut?«

»Nun, ich habe seine Bekanntschaft schon vor zwölf Jahren gemacht und muß sagen, daß ich keine Achtung vor ihm habe.«

Jeanne warf hochmütig den Kopf empor und wollte etwas erwidern. Aber er fiel ihr heftig ins Wort:

»Reden Sie nicht! Sagen Sie nichts! Glauben Sie mir, diese Heirat ist nicht möglich. Ich will nicht, daß Sie den Mann heiraten.«

Er sprach in gebieterischem Tone, wie ein erzürnter Vater, der unbedingten Gehorsam verlangt. Jeanne aber sah ihn nur mit verächtlichem Staunen an.

Einen Augenblick durchfuhr Daniels Geist der Gedanke, er solle ihr Alles sagen und im Namen ihrer Mutter zu ihr sprechen. Dann aber besann er sich eines andern, hielt er es für geraten, die Eröffnung aufzuschieben und redete in einem weniger harten Tone:

»Bitte, überlegen Sie sich die Sache und bringen Sie mich nicht zur Verzweiflung.«

Jeanne lachte ihm ins Gesicht. Die sonderbare Keckheit des Sekretärs entwaffnete ihren Zorn.

»Sagen Sie mal, Herr Daniel,« fragte sie, »sind Sie etwa in mich verliebt?«

Gleich darauf aber lenkte sie ein, indem sie an die vielen Liebenswürdigkeiten dachte, die der arme Kerl ihr erwiesen hatte:

»Keine Torheiten, lieber Kamerad. Wir dürfen uns doch nicht erzürnen, wir müssen doch als gute Freunde auseinandergehn.«

Als sie davon gegangen war, blieb Daniel wie angedonnert stehen und wiederholte mechanisch ihre Frage: »Sind Sie etwa in mich verliebt?« Aber er hörte nicht, was er da sagte, so heftig brauste es auf einmal in seinem Kopfe. Nach einer Weile kam plötzlich wieder Leben in ihn, er rannte nach dem Park hin und stammelte:

»Sie hats gesagt! Ja ja, ich liebe sie.«

Es brannte ihm in der Brust, er taumelte wie ein Betrunkener. Ein kalter Sprühregen fiel herab, und so ging er stöhnend und seufzend, hinein in die finstre Nacht, mit dem klaren Bewußtsein seines wahren Seelenzustandes.

Ja wohl, er liebte Jeanne. Er, der Elende; das gestand er sich mit tiefstem Schmerze. Ja ja, er hatte sich selbst belogen; seine Selbstaufopferung und Treue war in Wirklichkeit nur Liebe; er warnte und hütete das junge Mädchen vor Lorin, nur um sie für sich selber zu behalten. Bei diesem Gedanken überwältigte ihn die Scham, begriff er, daß ihm der Mut und die Kraft fehlen würde, den Kampf fortzusetzen.

Was war er ihr denn? Nicht einmal ein Freund! Mit welchem Recht mischte er sich in die Angelegenheiten dieser Familie und wie würde man seine Befehle aufnehmen? Gegen seine Ohnmacht, seine Armut konnte er doch nun einmal nicht aufkommen. Gesetzt, er würde sagen, daß Lorin kein rechtschaffener Mann sei; so konnte er keine Beweise für seine Behauptung erbringen. Erzählte er, was für einen Auftrag er von Frau von Rionne erhalten hatte, so erklärte man ihn für verrückt, setzte ihm den Stuhl vor die Tür und spottete: »Nicht doch, lieber Freund, Sie sind verliebt!

Worin man Recht gehabt hätte. Ja wohl, er hatte Jeanne sogar schon geliebt, als sie noch ein Kind war. Das wurde er jetzt inne. Schon damals, als er noch in der Impasse Saint Dominique d'Enfer wohnte, war die Vision des lieben Kindes seine Geliebte gewesen. Späterhin hatte er das junge Mädchen vergöttert, war er ihr mit bösartiger Eifersucht auf Schritt und Tritt gefolgt, aus Furcht, ihr Herz möchte ihm gestohlen werden.

Dann ging er im Geiste die Ausflüge nach den Inseln durch und gab sich Rechenschaft über den wahren Grund der ruhigeren Gemütsstimmung, die ihn während der ganzen Zeit beherrscht hatte. Wie glücklich hatte er sich gefühlt, bloß weil er seinen Seelenzustand nicht kannte! Wie wohl war ihm gewesen, da er als Vater über die Geliebte zu wachen glaubte. Jetzt wußte er Bescheid; jetzt quälten ihn Gewissensbisse und nagte die Liebesleidenschaft an seinem Herzen.

Er warf sich auf den Boden hin, ohne des Regens zu achten, der ihn durchkältete. Durch seine Seelenpein, durch die Schimpfreden, die er an sich selber richtete, durch das Schamgefühl, das ihn niederdrückte, zog sich unausgesetzt der grausame, fürchterliche Gedanke hin, daß Jeanne einem Andern gehören würde. Vergebens wollte er dies Bild aus seiner Seele bannen, sein Verlangen nach ihr ertöten, vergebens rief er die Erinnerung an seine gute Heilige wach: Jeanne und Lorin schwebten ihm immer vor Augen, verhöhnten seinen Schmerz mit ihrem jugendlichen Lächeln. Da drohte ihm der Kopf zu bersten, da wurde es ihm rot vor den Augen. Auf diese Weise brachte er einen Teil der Nacht hin, bis die Raserei nachließ, um einer allgemeinen Dumpfheit Platz zu machen. Am Morgen stieg die Ueberzeugung in ihm auf, daß er bei den Telliers nichts mehr zu suchen habe, daß es mit dem Kampf zu Ende, daß er unterlegen sei. Er fügte sich feige in die herbe Thatsache und sehnte sich nur nach Ruhe. Er reiste auch wirklich allein ab und kam in Paris einige Stunden vor den andern Gästen von Le Mesnil-Rouge an.

Hier begab er sich sofort zu Georg, der sich aller Fragen enthielt, und lebte, wohnte, an Leib und Seele gebrochen, mehrere Monate bei ihm. Nur ein einziges Mal ging er nach der Rue d'Amsterdam, um von dem Abgeordneten Abschied zu nehmen. Im Grunde genommen trieb ihn ein unwiderstehlicher Wunsch, den er sich nicht eingestehen mochte, nach jenem Hause: Er empfand nämlich das Bedürfnis, den Hochzeitstag genau zu erkunden; er konnte die Ungewißheit nicht länger ertragen. Als er indeß seine Neugierde befriedigt hatte, härmte er sich noch mehr. Er zählte nun die Tage, und jede Stunde, die ihn dem Unglücksdatum näher brachte lastete mit immer schwererem Druck auf ihm.

Er hatte sich fest vorgenommen, der Feierlichkeit nicht beizuwohnen. Aber am Abend vor dem schrecklichen Tage packte ihn ein Fieber, das ihn wider seinen Willen nach der Kirche trieb. Hier kämpfte er, hinter einem Pfeiler versteckt, so zu sagen einen Todeskampf, so fürchterlich jagten sich allerhand Schreckbilder in seinem überreizten Hirn herum.

Als er nach Hause kam, glaubte Georg, er sei betrunken, und brachte ihn wie einen kleinen Knaben zu Bette.

Aber am nächsten Morgen stand Daniel trotz des Fiebers auf und erklärte, er werde Paris verlassen und an die See, nach Saint-Henri, zurückkehren, wo er Angesichts des weiten Horizonts so still und ruhig gelebt hatte. Vergebens widersetzte sich Georg diesem Vorhaben, da er ihn für zu schwach hielt; Daniel beharrte hartnäckig bei seinem Entschlusse und nun bat ihn Georg inständigst um die Erlaubnis, ihn wenigstens begleiten zu dürfen. Daniel wies auch diesen Vorschlag und jeden Trost ärgerlich zurück. Er sehnte sich nur nach Einsamkeit. Er reiste also, ohne dem trostlosen Freunde irgend eine Aufklärung gegeben zu haben.

Als er die blauen Fluten des unermeßlichen Meeres vor sich liegen sah, wurde ihm ruhiger zu Mute; nur eine tiefe Traurigkeit blieb zurück. Er mietete sich ein Zimmer, dessen Fenster auf die See hinausging, und lebte hier ein Jahr lang unthätig, ohne Langeweile zu empfinden und sich Sorgen darum zu machen, daß seine geringen Ersparnisse bedenklich zusammenschmolzen.

Oft verharrte er vom Morgen bis zum Abend unbeweglich Angesichts des Meeres, dessen Wogen gleichsam einen Widerhall in seiner Brust fanden und seine Gedanken einlullten. Er setzte sich gern auf einen Felsgipfel, den Rücken den Lebenden zugekehrt, und vertiefte sich in die Unendlichkeit, bis das Getöse der Wogen sein Erinnerungsvermögen eingeschläfert hatte und er sich dem Glück der Ekstase hingeben, mit offnen Augen schlafen konnte. Wenn er sich in diesem Zustande befand, unterlag er einer eigentümlichen Sinnestäuschung. Er glaubte, der Spielball der Fluten zu sein, bildete sich ein, das Meer sei bis zu ihm hinaufgestiegen und schaukle ihn sanft auf seinen Wellen.

Diese fortgesetzte Beschaulichkeit, diese Vernichtung seines ganzen Seins brachte endlich dem kranken Herzen Linderung. Die Trauer wich, er umfing Jeanne's Bild nicht mehr mit Liebesgedanken. Die vernarbte Wunde hinterließ nur eine dumpfe Schwere in ihm. Er hielt sich für geheilt.

Nun kehrte allmählich auch der Thätigkeitsdrang zurück. Wenigstens begann er auf dem felsigen Gestade herumzuklettern und so die trägen, steifen Glieder wieder geschmeidig zu machen. Dann wurden alle die Gedanken, in denen sich ehedem sein Geist zu bewegen pflegte, wieder rege. Er schrieb an Georg und fragte, was in Paris jetzt vorgehe; wagte aber nicht, von dem Meere fortzugehen, das ihn so wirksam gegen die Verzweiflung geschützt hatte.

Der neue Lebenssaft, der in ihm emporquoll, ließ ihm endlich keine Ruhe mehr und trieb ihn an, seinen wieder entfachten Mut zu betätigen. Er wollte wieder kämpfen und leiden, lieben und trauern. Nun das Fieber seine Energie nicht mehr abstumpfte, verdroß ihn seine Unthätigkeit, sehnte er sich in das Leben zurückzutreten, auf die Gefahr hin, abermals zu unterliegen.

Eines Morgens vernahm er in dem traumhaften Zustande, der dem Erwachen vorangeht eine wohlbekannte, matte und ferne Stimme, die zu ihm redete: »Wenn sie einen schlechten Mann heiratet, werden Sie viel Energie zu ihrem Schutze aufbieten müssen. Denn wenn eine Frau sich vereinsamt fühlt, braucht sie sehr viel Willenskraft, um nicht auf Abwege zu geraten. Was also auch geschehen mag, lassen Sie sie nicht im Stich!«

Am nächsten Tage reiste Daniel nach Paris mit dem Vorsatze, seine Aufgabe zu vollenden und beseelt von felsenfestem Mute, von grenzenloser Hoffnungsfreudigkeit.


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