Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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II.

Blanca war in Südfrankreich, in der Umgegend von Marseille geboren. Als sie dreiundzwanzig Jahre zählte, hatte sie Herrn von Rionne geheiratet. Sie war eine edle Seele, die schon früh das Elend des Daseins vorausahnte und hatte sich vorgenommen, nie einen Fingerbreit vom Wege der Pflicht abzuweichen, nie ihrer Würde das Geringste zu vergeben. Ihre Tugend und Willenskraft, dachte sie, würden eine ausreichende Schutzwehr für sie sein. Deshalb bemühte sie sich nicht einmal, als sie ihrem Vater zu Gefallen heiratete, von Rionne's Charakter näher kennen zu lernen. Sollte sie in der Ehe nicht glücklich sein, so dachte sie in ihrem naiven Stolze, würde sie zu dulden verstehen.

Das Schicksal nahm sie beim Wort und stellte ihre Standhaftigkeit auf eine harte Probe, aus der sie mit Ehren hervorging. Von Rionne war ein Mann von liebenswürdigen, feinen Manieren und von eleganter Erscheinung, der auch in moralischer Hinsicht nicht zu dürftig veranlagt war und ein guter Mensch hätte sein können, der es aber vorzog, seinem schlechteren Ich zu gehorchen. Er war dem Laster gegenüber kläglich haltlos und feige, daneben aber voll edler Absichten, und voller Mitgefühl mit allen Leiden seiner Nebenmenschen. Er that das Böse mit klarem Bewußtsein, ohne sich im geringsten zu schämen, und er konnte auch das Gute thun, wenn er wollte. Nur schade, daß es ihm keinen Spaß machte.

Anfangs sah er seine Frau nicht für voll an und spielte nur mit ihr, wie er es mit seinen Maitressen zu thun gewohnt war. Er fand sie reizend und ihre Anmut, ihre Tugend umwehte ein Duft, den er hier zum ersten Mal einsog. Aber es währte nicht lange, so bekam er sie überdrüssig. Er entdeckte allmählich in dem körperlich so zarten Wesen eine solche Willenskraft, einen so erhabenen Seelenadel, daß er sich beinah vor ihr fürchtete. Seine moralische Feigheit fühlte sich gedemütigt durch ihren unbezwinglichen Mut, so daß sich in seinem innersten Herzen ein gewisses Haßgefühl gegen sie regte. Von da an richtete er es, um sich vor Blanca keine Blößen zu geben, allmählich so ein, daß die Begegnungen zwischen ihnen selten wurden. Die unangenehmen Vergleiche, die sich in ihrer Gegenwart seinem schlechten Gewissen aufdrängten, störten doch zu sehr die Lustigkeit des seichten Genußmenschen. Er nahm also seine Junggesellengewohnheiten wieder auf, spielte, hatte Liebschaften, die an sein Herz und Hirn keine großen Zumutungen stellten, und bekümmerte sich so wenig wie möglich um seine Familie.

Blanca hatte diesen Mann wirklich geliebt, wenn auch vielleicht nur während einiger Tage. Dann aber hatte Verachtung die Zuneigung verdrängt und wenn der Riß in ihrem Herzen auch zugeheilt war, so hatte er doch weiter geschmerzt, wie eine mit glühendem Eisen gebrannte Wunde. Denn wenn sie sich auf ihren moralischen Mut verlassen hatte, so tröstete er sie nicht über die Oedigkeit ihres Daseins hinweg. Wohl bewahrte sie sich ihre Selbstachtung und hielt sich fern von dem gemeinen Getriebe, das sie überall umgab; aber das Sehnen ihres Herzens würde durch ihre majestätische Einsamkeit nicht gestillt. Hätte sie ihr Leben wieder von vorn anfangen können, so wäre sie mit der Selbstachtung allein nicht mehr zufrieden gewesen; sie hätte als zweite Stütze ihres Glückes noch die Liebe hinzugenommen.

Als sie drei Jahre verheiratet war, starben ihre Eltern und nun stand sie, da sie sonst keine Verwandten mehr hatte, so einsam und hilflos wie eine Waise da. Da genoß sie mit herbem Vergnügen ihre Verlassenheit, deren Bitterkeit ihr damals einjähriges Töchterchen in hohem Grade milderte. Dieses Kind brachte ihr unter anderer Gestalt alle zarten Freuden der Liebe. Die Zuneigung zu einem menschlichen Wesen genügt ein Dasein auszufüllen und diese notwendige und tröstliche Zuneigung widmete sie ihrer Kleinen.

Fünf Jahre lang lebte sie so zu sagen allein mit ihrer Jeanne. Denn sie duldete Niemand in der Nähe des Kindes, bediente sie sogar wie ein Kindermädchen, und leitete ihre Erziehung ausschließlich. Sie ging mit ihr spazieren, spielte mit ihr, suchte ihren Verstand und ihr Herz zu bilden. Ihr Leben hatte nur noch einen Zweck, sie existirte nur für und durch ihr Kind. Wie viel Träumen hing sie nach in dieser freiwilligen Einsamkeit! Während Jeanne zu ihren Füßen spielte, beobachtete die Mutter sie und studirte ihren Charakter. Sie wollte sie vor allen Dingen zur Rechtschaffenheit erziehen, ihr den Weg zum Glücke bahnen; indem sie sich vornahm, sie stets als Ratgeberin und Vorbild zu begleiten.

Mit Hilfe ihrer Einbildungskraft versetzte sie sich auch sogar schon oft in jene Zeit, wo Jeanne verheiratet und glücklich sein würde. Denn wenn ihr das Glück in der Ehe versagt geblieben war, so mußte sie es doch für ihre Tochter erträumen. Daß der Tod kommen und sie von ihr trennen könnte, nahm sie nie in ihre Rechnung auf.

Um so furchtbarer war ihr daher das Erwachen aus ihren Träumen, als das Unerwartete nun dennoch geschah, und wieder um so willkommener war ihr dann Daniel als Testamentsvollstrecker ihrer mütterlichen Liebe.—

Während Frau von Rionne in den letzten Zügen lag, verweilte ihr Gemahl bei Fräulein Julia, einem reizenden Geschöpf, das ihn nicht langweilte, ihn aber verteufelt viel Geld kostete. Er wußte sehr wohl, daß seine Frau krank war; erklärte aber, um nicht allzu betrübt sein zu müssen, es handle sich nur um eine geringfügige Unpäßlichkeit und es gelang ihm auch leicht genug, sich einzureden, daß er sein gewöhnliches Leben weiter leben könne und sich keine Sorge zu machen brauche.

Dies war die Art dieses netten Mannes, dessen Börse allen Hülfsbedürftigen offen stand. Er konnte einem Armen hundert Franken auf einmal hinwerfen; aber ein einziges Amüsement zu opfern, vermochte er nicht über sich zu gewinnen. Er mied alle peinlichen Aufregungen; da er aber der Herzensgüte, die er wirklich besaß, nicht zu nahe treten mochte, so suchte und fand er Gründe, um sich zu beweisen, daß Alles in Ordnung sei.

Am Morgen hatte er den Arzt gesprochen und bereute nun, ihn zu genau ausgefragt zu haben. Denn der Doktor hatte ihm nicht verhehlt, daß der Tod jeden Augenblick eintreten könne. Bei dieser schonungslosen Ankündigung war es ihm eisig kalt durch die Adern gelaufen, denn ihm graute vor dem Tode; er konnte das Wort nicht ohne einen Schauder aussprechen hören. Außerdem war ihm sofort eingefallen, daß ein Todesfall immer eine langweilige Geschichte ist. Er erlangte ja wohl seine Freiheit wieder, aber was für Unannehmlichkeiten! Welche unliebsame Störung seiner Gewohnheiten brachte die Beerdigung und die Notwendigkeit, Anstands halber seinen Vergnügungen zu entsagen, und wer weiß was noch! Kurz, sein Leichtsinn sowohl, wie seine Weichmütigkeit bebten vor der nahen Katastrophe zurück und daher hatte er, statt der schrecklichen Wirklichkeit in die Augen zu sehen, den Arzt ausgelacht. Nicht möglich! Wie könne seine Frau so plötzlich sterben, da Sie vor vierzehn Tagen doch noch gesund und munter gewesen sei! Aber er brachte diese nichtigen Einwände hastig, unsicher, in abgebrochenen Sätzen vor, ein Zeichen, daß er gegen eine innere Unruhe ankämpfen mußte, um das seelische Gleichgewicht, aus dem man ihn herausdrängen wollte, wiederzugewinnen.

Gegen Abend endlich flüchtete er sich in aller Eile zu Julia. Aber er war nicht ohne Sorge und wandte sich von Zeit zu Zeit um, als erwarte er jemand, der ihm eine schlechte Nachricht bringen würde. Wenn er mehrere Tage lang sein geliebtes Laster meiden sollte, so dachte er, würde er bei möglichster Eile Zeit genug haben, es noch einmal in seine Arme zu schließen. Es dauerte denn auch kaum eine halbe Stunde, so war sein Seelenfrieden wieder hergestellt. Der blaue Salon seiner Mätresse war für ihn ein traulicher Winkel, wo ihm nach allen Widerwärtigkeiten des Lebens wieder behaglich zu Mute wurde, wie einem Hund in seiner warmen Hütte.

Allerdings war Julia an jenem Tage nervös, übel gelaunt und hatte ihn sehr schlecht empfangen. Darum machte er sich aber keinen besonderen Kummer, denn was er an ihr liebte, war der Duft ihrer Haut, ihre lose befestigten Kleider, ihre Keckheit der Rede und Haltung, die Unordnung und lauschige Abgeschiedenheit ihrer Wohnung. Er zog sie mit ihrer schlechten Laune auf, machte es sich bequem und vergaß alles Ungemach. Da sie aber weiter schmollte, erbot er sich mit ihr zu einer Premiere ins Theater zu gehen. Mit diesem Vorschlag war er nahe daran über ihre Verstimmtheit den Sieg davonzutragen, als eine Kammerfrau hereintrat und ihm sagte, er werde gebeten schleunigst nach Hause zu kommen.

De Rionne fuhr es eisig durch die Glieder; sein Gewissen regte sich nun doch. Er hatte nicht den Mut seine Geliebte zum Abschied zu küssen, gab ihr nur die Hand und eilte davon. Schon auf der Treppe indeß reute ihn der unterlassene Kuß. Fürchtete er doch, er könnte sie beleidigt haben, so daß er nicht mehr wiederkommen dürfe, wenn die unangenehme Geschichte erst vorbei sei.

Unten traf er seinen Kammerdiener Louis, einen bleichgesichtigen und kalten, großen Kerl, der sich von ihm zu Allem gebrauchen ließ. Louis hatte den großen Vorzug, sich nie über irgend etwas zu erregen, nie zu räsonniren, nichts zu sehen und zu hören; kurz, er glich einer guten Maschine, die man bloß in Bewegung zu setzen brauchte, damit sie gut arbeitete. Aber wer ihn aufmerksam beobachtete, sah oft ein Lächeln die Lippen des Menschen umspielen, aus dem man schließen konnte, daß die Maschine noch ein geheimes, für eigne Rechnung arbeitendes Räderwerk enthielt.

Louis teilte seinem Herrn blos mit, daß er Fräulein Jeanne zu Hause in den Zimmern hatte herumirren sehen und daß sie nach ihrem Papa gerufen hätte. Er habe deshalb geglaubt, die gnädige Frau werde sterben und er müßte sich erlauben, seinen Herrn zu stören.

Diese Nachricht erschütterte de Rionne so heftig, daß ihm die Angst und Benommenheit Thränen abpreßte. Natürlich war aber diese qualvolle Gemütsaufregung rein persönlicher, egoistischer Natur. Hätte er sein Innerstes geprüft, so würde er gefunden haben, daß die Sorge um seine Frau mit seiner Verstörtheit nicht das Geringste zu thun hatte. Er belog sich eben selber in aller Aufrichtigkeit und hatte so den tröstlichen Glauben, daß er wirklich Kummer über Blanca's nahen Tod empfinde.

Krank vor Aufregung und verstimmt, langte er in seinem Hause an. Als er das Zimmer der Sterbenden betrat, war er einer Ohnmacht nahe. Seine Gedanken weilten zwar nicht mehr in Julias kleinem, blauen Salon, aber sein körperliches Ich hatte die Erinnerung an den parfümdurchdufteten Alkoven mitgebracht und erschauderte nun Angesichts des großen, feierlichen Raumes, in dem der eisige Odem des Todes wehte.

Er trat an das Bett, sah das bleiche Gesicht der Sterbenden und brach in lautes Schluchzen aus. Welch ein Unterschied! Julia, in ihrem breiten Lehnsessel, sah allerliebst aus, mit dem von aschblonden Haaren umrahmten Gesichtchen, das ein Lächeln aufhellte, während sie sich noch zu schmollen bemühte. Blanca hielt die Augen geschlossen und ihre, von der rauhen Hand des Todes berührten Züge erschienen länglicher und strenger; sie glich, mit ihrer schon starren Haltung, ihrer vergrößerten Stirn, ihren zusammengepreßten Lippen, einer Marmorstatue.

De Rionne blieb eine Weile stumm vor ihrem unbeweglichen Antlitz, das für ihn eine grausige Beredsamkeit hatte.

Hierauf wünschte er, daß sie den Mund aufthäte, denn er dachte, daß ein Lebenszeichen von ihr seine Beklommenheit lindern würde. Er neigte sich also zu ihr nieder und fragte sie mit bebender Stimme:

»Blanca, — hörst Du mich? Bitte sprich mit mir!«

Ein leichtes Zittern ging über ihr Gesicht und sie richtete die Wimpern empor, so daß ihre unsicher blickenden, tiefklaren Augen sichtbar wurden. Sie irrten wie geblendet umher, bis sie auf Rionne haften blieben. Dieser hatte noch nie einen Menschen sterben sehen und wurde, da er nicht den ächten Kummer empfand, nicht den Kummer, der mit sehenden Augen nicht sieht, der die kalte Leiche eines geliebten Wesens mit glühender Leidenschaft umarmt, die Schrecknisse des Todeskampfes inne. Er dachte an sich und stellte sich vor, wie er einst sterben und daß er ebenso aussehen würde.

Blanca sah ihm voll ins Gesicht und erkannte ihn. Ein Seufzer hob ihre Brust, sie versuchte zu lächeln, während ein versöhnlicher Gedanke in ihr aufstieg. Indessen gab sie dieser bessern Regung erst nach einigem Kampfe Raum. Der alte Groll bäumte sich wieder empor; um nachsichtig sein zu können, mußte sie sich vorhalten, daß sie ja für diese Welt nicht mehr vorhanden sei, daß die Erbärmlichkeiten des Erdenlebens ja nicht mehr auf ihr lasteten. Uebrigens besann sie sich gar nicht mehr, daß sie ihren Mann hatte rufen lassen. Es war ihr nur einen Augenblick, da sie sonst Niemand hatte, dem Sie ihre Tochter anvertrauen konnte, der Gedanke gekommen, sie solle ihm die denkbar feierlichsten Versprechungen abnehme, daß er seinen Pflichten als Vater nachkommen würde. Nun sie sich aber die Sorge vom Herzen abgewälzt und ihrer Tochter einen Hüter beigestellt hatte, dachte sie nicht mehr an ihre Angst und deren Ursache.

Sie wunderte sich also beinahe, als sie ihren Mann vor sich sah, und blickte ihn ohne Groll an, wie einen guten Bekannten, den man freundlich anlächelt, wenn man Abschied von ihm nimmt. Ja, als das Bewußtsein noch voller zurückkehrte, regte sich bei ihr eine Art Mitleid mit diesem Manne, den seine moralische Feigheit zu einem schlechten Menschen machte.

»Lieber Mann,« hauchte sie matt, »es ist hübsch von Dir, daß Du gekommen bist. Nun werde ich ruhiger sterben.«

De Rionne, durch diese sanfte Rede gerührt, schluchzte von Neuem.

Blanca fuhr fort.

»Jammre nicht. Ich habe keine Schmerzen mehr, in meiner Seele herrscht Frieden und stilles Glück, und ich habe nur noch den Wunsch, daß alle Mißstimmung, die zwischen uns bestanden hat, beseitigt werde. Es wiederstrebt mir, mit Uebelwollen dahinzugehen und zu denken, daß Dein Gewissen Dir in Zukunft auch nur die geringsten Vorwürfe machen könnte. Wenn ich Dich also gekränkt habe, so verzeihe mir, wie ich Dir verzeihe.«

Diese Worte wirkten so stark auf Rionne's Nerven, daß er ganz weichmütig wurde und er sich nicht mehr gegen die unangenehme Aufregung des Weinens sträubte.

»Ich habe Dir nichts zu vergeben,« stammelte er. »Du bist ja immer gut gewesen, und ich bedaure, daß die Verschiedenheit unsrer Charaktere uns von einander getrennt hat. Du siehst, ich weine, ich bin außer mir vor Schmerz.«

Blanca beobachtete ihn und empfand Mitleid mit ihm. Der Mann ließ es sich ja nicht beikommen zu denken, daß er irgend welche Schuld tragen konnte, daß er mit gefalteten Händen um Verzeihung bitten müßte! Ihm raubte bloß das Todesgrauen jedwede Besinnung. Sie begriff, daß er, wenn Gott wunderbarer Weise ihr Leben schonte, Tags darauf seinen alten Lebenswandel wieder aufgenommen und Sie wieder allein gelassen hätte. Daß sie starb, war keine Lehre für ihn. Sondern nur ein beklagenswerter Zwischenfall, bei dem er leider zugegen sein mußte.

Bei diesem Gedanken lächelte sie wieder und sah ihm mit ruhiger Ueberlegenheit voll ins Gesicht.

»Sag' mir Lebewohl,« hob sie wieder an. »Ich schwöre Dir, daß ich keinen Groll gegen Dich hege. Vielleicht ist diese meine Versicherung dermaleinst ein Trost für Dich. Ich wünsche es von Herzen.«

Sie schwieg.

»Welches sind Deine letzten Wünsche?« fragte von Rionne.

»Ich habe keinen Wunsch,« lautete ihre Antwort. »Ich verlange nichts von Dir und habe Dir nichts vorzuschreiben. Handle, wie es Dein Herz Dir eingiebt.«

Von ihrer Tochter mochte Sie nicht sprechen. Sie hielt es jetzt für verkehrt und sündhaft, ihn ein Versprechen beschwören zu lassen, das er nicht zu halten im Stande war.

»Lebe wohl,« fuhr sie in noch milderem Tone fort. »Weine nicht.«

Sie wehrte ihn langsam mit der Hand ab und schloß die Augen, zum Zeichen, daß Sie ihn nicht mehr sehen wollte. Er trat auch bis an das Fußende des Bettes zurück, vermochte aber nicht die Augen von dem schrecklichen Schauspiel abzuwenden.

Mittlerweile war der Arzt gerufen worden. Er kam jetzt, obschon er recht wohl wußte, daß seine Gegenwart überflüssig sein würde. Ein alter Geistlicher, der am Morgen der Sterbenden die letzte Oelung gegeben hatte, war gleichfalls erschienen. Er lag auf den Knien und recitirte halblaut die Gebete für die Sterbenden.

Blanca's Kräfte nahmen mehr und mehr ab. Das Ende war gekommen. Da richtete sie sich plötzlich auf und verlangte nach ihrer Tochter. Da ihr Mann sich nicht rührte, so ging Daniel, der noch stumm in der Fensternische stand und seine Thränen niederkämpfte, und suchte Jeanne, die er im Nebenzimmer beim Spiel fand. Die arme Mutter betrachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie geistesgestört, ihr Kind und wollte die Arme nach ihr ausbreiten. Aber sie konnte sie nicht mehr emporheben und Daniel mußte Jeanne, die sich mit den Füßchen gegen das Bettgestell anstemmte, fest halten.

Die Kleine weinte nicht und betrachtete nur mit naivem Erstaunen das verstörte Gesicht der Mutter.

Dann aber, als sich der Friede auf dieses Antlitz senkte, als es sich allmählich mit himmlischer Freude erfüllte und von Milde erstrahlte, erkannte das Kind das gütige Lächeln wieder und lächelte gleichfalls, während sie ihre Händchen nach der Mama ausstreckte. Und so starb Blanca, mit einem Lächeln auf dem Antlitz und mit dem Lächeln ihres Kindes vor Augen.

Ihren letzten Blick richtete sie auf Daniel, flehend und gebieterisch zugleich. Der junge Mann hielt Jeanne aufrecht und machte so den Anfang mit der Erfüllung, seines Versprechens. Als seine Frau verschieden war, fiel von Rionne auf die Knie nieder, denn er erinnerte sich, daß es bei solchen Gelegenheiten die Schicklichkeit vorschreibt, niederzuknien. Der Arzt war eben gegangen und eine der Krankenwärterinnen zündete eilends zwei Kerzen an. Der Geistliche, der aufgestanden war, um Blancas Lippen das Kruzifix darzubieten, nahm seine Gebete wieder auf.

Daniel behielt noch eine Weile Jeanne in seinen Armen; dann ging er, da die Luft in dem Sterbezimmer stickig wurde, in das Gemach nebenan und weinte dort still, während das kleine Mädchen sich damit amüsirte, den Laternen der Droschken und Equipagen nachzublicken. Die Luft war windstill. In der Ferne hörte man die Signalhörner der Militärschule, die den Zapfenstreich bliesen.


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