Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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VI.

Zwölf Jahre vergingen.

Während dieses langen Zeitraums floß Daniel das Leben ereignislos dahin. Die Tage folgten einander, ruhig und gleichförmig, und gedachte er der Vergangenheit, so kamen ihm die Jahre wie Monate vor. Er vertiefte sich in sich selbst, ließ Niemand in sein Innerstes blicken und gefiel sich einzig und allein in dem Gedanken, der sein ganzes Leben bestimmte. In allen seinen Handlungen und womit sein Geist sich auch beschäftigte, immer bezog er alles auf Jeanne. Die Hochherzigkeit dieser fixen Idee erhob ihn in eine höhere Sphäre, über die Gemeinheit und Erbärmlichkeit des Erdendaseins hinaus. Zu jeder Stunde fand er eine moralische Stütze an dem blonden, kleinen Mädchen, das in seiner Vorstellung ein engelhaft lächelndes Kind geblieben war.

Dieser Ernst der Gesinnung prägte sich auch in den Gesichtszügen, in dem ganzen Wesen des jungen Mannes aus. Er glich einem Priester, der überall Gott mit sich trägt. Redete ihn Jemand unvermutet an, so schien er gleichsam mit seinen Gedanken aus einer höheren Region herunterzusteigen; er mußte sich Gewalt anthun, um sein Denken der irdischen Wirklichkeit anzupassen.

Seine Ungelenkigkeit, seine Aengstlichkeit hatte er abgelegt; er war jetzt ein Mann von sanftem Gebaren und etwas geneigter Haltung, dessen Häßlichkeit die Anmut seines Lächeln vergessen ließ. Die Frauen indeß waren ihm nicht hold, weil er sie nicht zu unterhalten verstand; in ihrer Gesellschaft kam seine alte Blödigkeit wieder zum Vorschein. Er arbeitete acht Jahre lang an dem encyklopädischen Wörterbuch. Die Beschäftigung, die seiner Kraft und Ausdauer viel zumutete, ohne ihm den verdienten Ruhm einzubringen, war ganz nach seinem Sinne. Es machte ihm Freude, daß er so still und unbekannt dahinleben konnte, bis er den Kampf mit der Welt würde aufnehmen müssen.

So fleißig er war, blickte er doch bisweilen von seinem Buch auf, baute Luftschlösser und versetzte sich in die Zeit, wo Jeanne das Kloster verlassen und er sie wiedersehen würde. Diese Träumereien waren für ihn eine köstliche Erholung, die ihm Trost für die Oedigkeit seines Daseins gewährte. Die übrige Zeit funktionirte er nur wie eine Maschine. Damit sein Geist sich frei in seinen Lieblingsgedanken ergehen könnte, hatte er den Körper an die pünktliche Erledigung seiner Handlangerarbeit gewöhnt.

Der Verfasser des Wörterbuchs hatte bald begriffen, was für einen wichtigen Dienst ihm der junge Mann leisten könnte, der wie ein Neger arbeitete und dabei nie klagte und selig vor sich hinlächelte. Schon längst sann er nämlich auf ein Mittel, wie er seine zwanzigtausend Franken verdienen könnte, ohne sich täglich nach seinem Kontor zu bemühen. Er hatte es überdrüssig auf seine Sklaven aufzupassen. Unter diesen Umständen machte er also an Daniel einen kostbaren Fund. Er übertrug ihm allmählich die Leitung des ganzen Werks, die Verteilung der Arbeit, die Durchsicht der Manuskripte, die Aussuchung der besonderen Notizen. So löste er mittelst eines Honorars von zweihundert Franken monatlich das schwierige Problem, nie eine Feder anzurühren und ein großartiges Buch zu schreiben.

Daniel ließ sich mit Freuden eine Arbeit aufbürden, die jeden Andern erdrückt hätte. Seine Leidensgenossen kompilirten, seitdem ihnen ihr Peiniger nicht mehr auf die Finger sah, so wenig wie möglich, so daß Daniel häufig einen Teil ihrer Arbeit machen mußte. Auf diese Weise erwarb er sich bedeutende Kenntnisse, denn seine großartige Veranlagung gestattete ihm Alles so weit zu behalten, daß er die verschiedenen Wissenschaften, die er studiren mußte, beherrschen lernte und sich gewissermaßen die Encyklopädie, die er meistenteils selber aufbaute, seinem Gehirn einprägte. Dieses unausgesetzte achtjährige Studium machte ihn aus einem bescheidenen Kompilator zu einem Gelehrten ersten Ranges, so vollständig ging er in seinen mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien auf, daß er des Abends, nach vollbrachtem Tagewerk, noch weiter arbeitete und sich in naturphilosophische Spekulationen vertiefte. Einsam wie er lebte und da seine Phantasie sich nur mit einem sechsjährigen Mädchen beschäftigte, behielt er für die Analyse eine Glut der Empfindung übrig, die Andre nur der Geliebten widmen.

Georg Raymond drang wiederholentlich in ihn er solle der undankbaren Beschäftigung, in der er den besten Teil seiner Kraft aufrieb, entsagen und mit ihm gemeinschaftlich ein größeres Werk verfassen. Aber Daniel hatte seine Sehnsucht nach Freiheit; ihm war wohl in seiner Sklaverei, die ihm das gab, worauf sein Sinn stand, hartnäckige, unausgesetzte Arbeit. Georg war nicht mehr der arme Schlucker, als welchen ihn Daniel im Luxemburger Garten kennen gelernt hatte. Er war dank seiner Energie und seinem Fleiße auf einen grünen Zweig gekommen und fing an durch einige vorzügliche Abhandlungen über naturhistorische Themata die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf sich zu ziehen.

Endlich entschloß sich Daniel doch, sein Bureau im Stich zu lassen und Georgs Vorschlag anzunehmen. Das encyklopädische Wörterbuch war so ziemlich zu seinem Abschluß gediehen; es fehlten nur noch einige Lieferungen, zu denen das Material übrigens auch schon herbeigeschafft war.

Die beiden Männer schienen jetzt unzertrennlich zu sein, nachdem sie freilich seit ihrer ersten Begegnung nie ihren vertraulichen Verkehr längere Zeit ausgesetzt hatten. Von nun an arbeiteten sie gemeinschaftlich und veröffentlichten mehrere von ihren Forschungen, die großes Aufsehen erregten. Daniel ließ sich dazu bewegen, den Gewinn mit seinem Freunde zu teilen, aber seine Arbeiten mit seinem Namen zu unterzeichnen, weigerte er sich hartnäckig. Betrachtete er doch diesen ganzen Abschnitt seines Lebens als verlorne Zeit, und wenn er an Wissen und Tüchtigkeit zunahm, so geschah dies, so zusagen, ohne seinen Willen, — bloß weil er nicht müßig gehen wollte.

Georg hatte, seitdem er ein bekannter, ja beinah ein berühmter Mann geworden war, eine große Wohnung in der Rue Soufflot bezogen. Daniel dagegen mochte das alte Haus in der Impasse Saint Dominique d'Enfer nicht verlassen. Es gefiel ihm in dem abgelegenen Winkel, wo der Lärm der Großstadt nicht zu ihm drang. Ihm wurde jedes Mal leichter und wohler zu Mut, wenn er die wackligen Stufen der breiten Treppe emporstieg. Und erinnerte sein schmales und hohes Zimmer an ein Grabgewölbe, so sagte ihm auch dies vollkommen zu; denn er war ja doch an einem Ort, wo er in stiller Verborgenheit die Welt vergessen konnte und dem er erst dann den Rücken zu wenden gedachte, wenn es Jeanne's Interesse erheischen würde. Einstweilen liebte er aber den Himmel und die Bäume, die man von seinem Fenster aus erblickte, weil seine Augen während seiner Zukunftsträume so oft auf ihnen geweilt hatten.

Zwölf Jahre lang wohnte er so in diesem stillen Zimmerchen. Es war für ihn ganz erfüllt von seinen Lieblingsideen, daß der bloße Gedanke an einen etwaigen Umzug ihn traurig stimmte. Er hatte die Empfindung, als würde er anderswo Jeanne nicht mehr immer vor sich sehen. Bisweilen geschah es, daß Georg am Abend Daniel nach Hause begleitete, und dann plauderten sie mit herzlichster Vertraulichkeit über die ersten Jahre ihrer Freundschaft, die sie in dem alten Hause zusammen verbracht hatten.

Sie lebten hier sehr zurückgezogen und bekamen selten Besuch. Aber infolge dieser Vereinsamung, hatte sich auch die instinktive Anziehung, die sie ursprünglich aufeinander ausübten, in eine auf Vernunft und Überlegung begründete Achtung und Zuneigung verwandelt. Jetzt billigte bei ihnen der Verstand, was einst nur Herzenssache gewesen war. Daniel hegte für Georg vollständig brüderliche Gefühle. Er verließ sich in allem auf die Rechtschaffenheit seines Freundes, dessen eben so festen, wie milden Sinn er so oft erprobt hatte. Georg war das dritte menschliche Wesen, dem seine Liebe gehörte, und er fragte sich hin und wieder, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er ihn nicht kennen gelernt hätte. Bei dieser Frage dachte er aber keineswegs an die materielle Hülfe, die sein Freund ihm gewährt hatte. Für ihn war nur das freie Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden bestimmend, und wenn er auch dem Schicksal dankte, daß es ihm den Freund gesandt hatte, der ihm durchs Leben half, so dankte er ihm doch nur nebenbei dafür.

Georg, dessen Natur eine kältere war, hatte nicht Daniels Gefühlsüberschwänglichkeit. Er sah in ihm ein großes Kind und liebte ihn wie ein älterer Bruder den jüngeren. Es war ihm schon zu Anfang ihrer Bekanntschaft nicht entgangen, welche Schätze von Liebe das Herz des Freundes barg, welch eine treue Seele in dem unscheinbaren Körper wohnte, und er hatte sich gewöhnt, nicht mehr auf das häßliche Aeußere zu achten.

Spottete man über seinen Freund, so wunderte er sich; er konnte nicht begreifen, daß nicht Jedermann einen Mann von solchem Zartsinn und Seelenadel liebte.

Er war auch dahinter gekommen, daß Daniel ein Geheimnis in den tiefsten Falten seines Herzens verborgen hielt, ließ es sich aber nicht beifallen, ihn auszuforschen, ihm moralischen Zwang anzuthun, um ihn mitteilsamer zu machen. Er wußte, daß Daniel eine Waise war, daß eine edle Dame sich seiner angenommen hatte und daß diese Dame gestorben war. Das genügte ihm. Wenn sein Freund ihm etwas verheimlichte, so konnte es nur etwas Gutes sein. Die zwölf Jahre über ging Daniel jeden Monat einmal nach der Rue d'Amsterdam, wagte sich aber nicht immer in das Haus hinein, sondern irrte nur eine Weile in der Nähe davor herum und raffte nur hin und wieder so viel Mut zusammen, um sich nach Jeanne zu erkundigen. An solchen Tagen stand er früh auf. Er legte den weiten Weg immer zu Fuß zurück und ging schnell, voll stiller Freude, zufrieden, daß er so ganz allein war inmitten des Menschengewimmels, und immer mit der geheimen Hoffnung, es werde ihm dies Mal vergönnt sein, sein Kind endlich wiederzusehn.

In der Straße angelangt, ging er auf dem entgegengesetzten Bürgersteige erst lange Zeit hin und her, ohne ein Auge von der Hausthür abzuwenden. Dann wagte er sich näher heran und wartete darauf, daß ein Dienstbote herauskommen möchte. Bekam er dann niemand zu sehen, den er ausfragen konnte, so wandte er sich traurig und mißmutig wieder heimwärts oder er ging zu dem Pförtner hinein, der ihn schlecht empfing und ihn mißtrauisch ansah.

Aber welche Freude, wenn er Jemand aus dem Hause abfangen und nach Belieben aushorchen konnte! Er war sehr schlau geworden, erfand allerhand Ausflüchte und Geschichten, um seine Neugierde gut zu motiviren und Fräulein Jeanne von Rionnes Namen möglichst ungezwungen in das Gespräch einzuschmuggeln. Und wie klopfte ihm das Herz, während er auf die Antwort wartete! Sagte man dann: »Es geht ihr gut; sie ist groß und hübsch geworden,« so war er versucht sich bei den Leuten zu bedanken, als wenn sie ein Kind von ihm gelobt hätten.

Wenn er nach einem solchen guten Bescheide von dannen ging, so herrschte himmelhohe Freude in seinem Herzen. Er glich dann eher einem Betrunkenen als einem vernünftigen Menschen. Er rannte die Vorübergehenden an und mußte sich Gewalt anthun, um nicht laut zu singen. Es duldete ihn dann auch nicht mehr in der Stadt, er mußte sich austoben, und wanderte aufs freie Feld hinaus, aß in einer Herberge zu Mittag und kehrte spät am Abend, mit Staub oder Kot bedeckt und halb tot vor Müdigkeit, nach Hause zurück.

Georg war diese Expeditionen gewöhnt. Er hatte ihn nur die ersten Male damit aufgezogen oder ihn deswegen beinah gescholten. Als der Bummler aber sich in ein scheues Schweigen hüllte, lächelte er bloß noch, wenn Daniel des Sonntags wieder ausging und dachte:

»Der hat jetzt was Liebes!«

Eines Tages ließ ihm aber die Neugierde doch keine Ruhe und als Daniel atemlos und mit strahlendem Gesicht nach Hause kam, ergriff er seine beiden Hände und fragte:

»Sag' mal, ist sie hübsch?«

Daniel gab keine Antwort, sah ihn aber so erstaunt und so vorwurfsvoll an, daß er sich bewußt wurde eine Dummheit begangen zu haben, und seit jenem Tage respektirte Georg gewissenhaft das Geheimnis seines Freundes. Ja, er liebte Daniel mehr denn je, ohne zu wissen warum, wenn dieser nach einem solchen sonntäglichen Ausfluge wieder zurückkam. In dieser Weise also lebten sie vertraulich zusammen ohne einen Dritten zwischen sich zu dulden. Anfangs zwar besuchte sie bisweilen ein junger Mann aus der Nachbarschaft, Namens Lorin, ein großer Streber, dem sie nicht gut die Thür weisen konnten. Aber sein galliges Gesicht und seine unsteten Augen mißfielen ihnen und kamen ihnen unheimlich vor. Dieser Lorin war ein geborener Ränkeschmied, der nur auf eine gute Gelegenheit wartete, dem Glück Gewalt anzuthun. Er pflegte zu sagen, die gerade Linie sei im Leben der längste Weg. Einen Beruf zu wählen, z. B. die Medizin oder die Rechtswissenschaft, hielt er für eine große Dummheit; die Aerzte und Rechtsanwälte, meinte er, müßten sich erbärmlich schinden, ehe sie es bei ihrem mäßigen Verdienst zu einem bescheidnen Wohlstand brächten. Er wollte schneller emporkommen und versicherte, er sei der Mann dazu, einen Hauptcoup zu machen, der ihm mit einem Male etwas ordentliches in den Schoß werfen würde.

Er hatte nicht blos geprahlt, der ersehnte Reichtum fiel ihm zu. Wie, bekam die Welt nie zu erfahren; er behauptete immer, er hätte an der Börse spekulirt. Mit dem so oder so erworbnen Gelde ließ er sich in industrielle Unternehmungen ein und wurde binnen wenigen Jahren, da ihm auch der Zufall wohl wollte, kolossal reich.

Daniel und Georg, die heikle Geschichten über ihn zu erfahren bekamen, waren froh, daß er sie nicht mehr mit seinen Besuchen behelligte, seitdem es ihm gut ging. Er wohnte jetzt in der vornehmen Rue Taitbout und erinnerte sich ungern der bescheidnen Impasse Saint Dominique d'Enfer.

Eines Abends jedoch kam er zu ihnen, um vor ihnen groß zu thun, mit seinem Glück zu prahlen. Er war allerdings wenigstens physisch sehr zu seinem Vorteil verändert. Der Reichtum hatte seinem Blick, seinem Auftreten Sicherheit verliehen und sein Gesicht sah nicht mehr so gelb aus, wie früher.

Die beiden Freunde empfingen ihn aber sehr kühl, so daß er nicht wiederkam.

Daniel und Georg genügten sich gegenseitig so vollkommen, daß sie keines andern Umgangs bedurften, und ihre Seelen verwuchsen so innig miteinander, daß in keinem je der Gedanke an die Möglichkeit einer Trennung aufkam.


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