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XII

Es war gegen drei Uhr, als sie sich in der Zugluft des rauhen Novemberwindes, der durch ihre Kammer und das Atelier strich, endlich zu Bett legten. Die von ihrem eiligen Lauf noch nicht wieder zu Atem gelangte Christine war, damit er nicht merkte, daß sie ihm gefolgt war, schnell unter die Bettdecke gekrochen. Auch Claude hatte sich, jetzt vollkommen abgestumpft, langsam nach und nach entkleidet. Er hatte dabei nicht ein Wort gesprochen. Schon monatelang war ihr Zubettgehen ein kühles. Als gingen sie sich nichts an, als wäre die Stimme des Blutes nachgerade gänzlich erloschen, lagen sie Seite an Seite ausgestreckt. Es war eine freiwillige Enthaltsamkeit, eine verstandesgemäße Keuschheit, zu der er gelangt war, um all seine Mannheit dem Gemälde zu widmen. Mit einem stolzen, stummen Schmerzgefühl hatte Christine sich trotz der Marter, mit der ihre ungestillte Leidenschaft ihr zusetzte, darein gefügt. Doch noch nie hatte sie zwischen ihrem Mann und sich eine derartige Kluft, eine so vollkommene Kälte verspürt wie diese Nacht. Es war, als ob nichts mehr in Zukunft sie wieder erwärmen und einander in die Arme legen würde.

Eine Viertelstunde etwa kämpfte sie gegen den Schlummer, der sie überwältigen wollte, an. Sie war todmüde. Die Glieder waren ihr bleischwer. Aber sie gab nicht nach, es beunruhigte sie, daß er noch wach lag. Jeden Abend wartete sie, um selber ruhig schlafen zu können, den Augenblick ab, wo er, noch vor ihr, eingeschlafen war. Er aber hatte die Kerze noch nicht ausgepustet, starrte mit offenen Augen in die ihn stechende Flamme. An was mochte er denken? Weilte er noch da unten in der schwarzen Nacht, in dem feuchten Hauch der Quais, dem von Sternchen kribbelnden Paris gegenüber? Welcher innere Kampf, welcher in ihm aufkeimende Entschluß verzerrte ihm so krampfhaft das Gesicht? Aber da überwältigte sie der Schlaf, und in ihrer übergroßen Müdigkeit vergingen ihr die Sinne.

Eine Stunde später aber fuhr sie mit einemmal zusammen. Eine Empfindung, daß irgend etwas neben ihr fehlte, ein unbestimmtes Mißbehagen, machte sie erwachen. Sogleich tastete sie nach dem schon kühl gewordenen Platz neben ihr. Er war nicht mehr da. Sie hatte es im Schlaf gefühlt. Noch schlaftrunken, mit benommenem, summendem Kopf fuhr sie erschreckt in die Höhe. Als sie aber durch die halboffene Tür vom Atelier her einen Lichtschein sah, beruhigte sie sich. Er mochte sich wohl, weil er nicht einschlafen konnte, ein Buch suchen. Als er dann aber nicht zurückkehrte, erhob sie sich leise, um nach ihm zu sehen. Doch was sie erblickte, brachte sie dermaßen aus der Fassung, daß es sie, barfuß, wie sie war, auf die Schwelle heftete und sie sich zuerst gar nicht zu zeigen wagte.

Trotz der empfindlichen Kälte in Hemdsärmeln, in aller Hast nur mit der Hose und Pantoffeln bekleidet, stand er auf der großen Leiter vor dem Bild. Die Palette lag ihm zu Füßen, mit der einen Hand hielt er die Kerze, während er mit der anderen malte. Seine Augen starrten weit wie die eines Nachtwandlers. Seine Bewegungen waren steif und genau. Aller Augenblicke bückte er sich und nahm Farbe, richtete sich dann wieder in die Höhe. Auf die Wand fiel riesengroß, phantastisch sein automatisch sich bewegender Schatten. Nicht ein Atemzug war von ihm zu vernehmen; in dem großen, dunklen Raum herrschte eine schreckliche Stille.

Erschauernd verstand Christine. Es war die Besessenheit der Stunde, die er da unten, auf dem Pont des Saints-Pères, verbracht, die ihm das Einschlafen unmöglich gemacht und die ihn in der verzehrenden Begier, es auch in dieser Nachtstunde anzusehen, hier zu seinem Bild hergezogen hatte. Ohne Zweifel hatte er die Leiter bestiegen, um sich so nah wie möglich in seinen Anblick zu versenken. Dann hatte ihn aber wohl irgendeine falsche Tönung beunruhigt, und ganz krank von dem Defekt hatte er den Anbruch des Tages nicht erwarten können, hatte, anfangs bloß um eine leichte Retusche anzubringen, dann aber zu einer Verbesserung nach der anderen hingerissen, einen Pinsel ergriffen, um schließlich, die Kerze in der Faust, bei deren bleicher, von seinen heftigen Bewegungen flackernder Flamme wie ein Besessener draufloszumalen. Wieder hatte ihn seine ohnmächtige Schaffenswut ergriffen. Die späte Nachtstunde, alle Welt vergessend, arbeitete er sich ab, wollte auf der Stelle seinem Werke Leben einhauchen.

Mit blutigem Mitleid, die Augen voller Tränen, sah Christine ihm zu. Einen Augenblick dachte sie, sie wollte ihn bei seiner unsinnigen Arbeit lassen, wie man einem Irrsinnigen das Vergnügen an seinen fixen Ideen läßt. Es stand nachgerade wohl so, daß er dies Bild niemals vollenden würde. Je mehr er sich darauf versteifte, um so mehr verlor es an Zusammenhang, um so schwerfälliger wurden seine Töne und verlor die Zeichnung an Bestimmtheit. Selbst die Hintergründe, besonders die anfangs so vortreffliche Gruppe der Auslader, wurden schlechter. Und doch versteifte er sich gerade darauf, alles zu vollenden, bevor er wieder an die Ausmalung der Mittelfigur, des nackten Weibes, ging, welches die Frucht und die Begier seiner Arbeitsstunden geblieben war, dieses unsinnigen Körpers, den er an dem Tage, wo er es sich noch einmal abzwingen würde, ihm volles Leben einzuhauchen, fertigzustellen gedachte. Seit Monaten hatte er keinen Pinselstrich mehr an ihm getan; und das hatte Christine beruhigt, hatte sie trotz ihres eifersüchtigen Hasses auf diese Gestalt duldsam gemacht und mit Mitleid erfüllt. So lange er sich nicht wieder dieser heißersehnten und gefürchteten Mätresse zuwandte, fühlte sie sich weniger verraten.

Schon fror sie auf dem kalten Fußboden an die Füße und wandte sich, um sich wieder ins Bett zu legen, als eine tiefe, seelische Erschütterung sie zurückhielt. Zuerst hatte sie nicht recht verstanden, was er machte; endlich aber sah sie es. Sein farbendurchtränkter Pinsel zog mit zärtlicher Hingabe in großen Zügen saftige Formen. Ein starres Lächeln lag um seine Lippen; er merkte nicht, wie das Stearin der brennenden Kerze ihm auf die Finger tropfte, während das leidenschaftliche Hin und Her seines Armes stumm über die Wand hinhuschte und ein gewaltiges Ineinander, eine gewaltsame Verschlingung schwarzer Gliedmaßen hervorrief. Er arbeitete an dem nackten Weibe.

Da öffnete Christine die Tür ganz und trat eilig hinzu. Zorn, eine unbezwingliche Empörung packte sie. Sie, seine Gattin, wurde, während sie da nebenan schlief, von der anderen beleidigt und betrogen. Ja, er war da bei der anderen, malte Bauch und Schenkel, und in seiner unsinnigen Ekstase vergewaltigte er die Wirklichkeit und übertrieb sie ins Übernatürliche. Die Schenkel wurden goldig wie die Säulen eines Tabernakels, der Bauch ward ein Gestirn, strahlte, aller natürlichen Wahrheit zuwider, prächtig in gelben und reinen roten Tönen. Diese seltsame Nacktheit, die wie eine Monstranz, wie zu einer religiösen Verehrung von Edelsteinen zu leuchten schien, brachte sie vollends außer sich. Sie hatte zu viel gelitten, sie wollte diesen Verrat nicht länger erdulden.

Doch gab sie zuerst nur ihrer Verzweiflung Ausdruck und verlegte sich auf dringende Bitten. Es war zuerst nur die Mutter, die ihrem närrischen großen Künstlerkind die Leviten las.

»Claude, was machst du da? Und, Claude, ist es recht von dir, daß du auf derartige Einfälle kommst? Ich bitte dich, komm und leg dich schlafen; bleib nicht da oben auf der Leiter, wo du dich bloß erkälten wirst.«

Er antwortete nicht, bückte sich nur, um Farbe zu nehmen, und ließ die Leistengegend aufleuchten, die er mit zwei lebhaft glänzenden Zinnober streifen umriß.

»Claude, hörst du? Komm mit mir, tu mir die Liebe ... Du weißt, wie ich dich liebe, du siehst, wie ich mich ängstige ... Komm, o komm !Wenn du nicht willst, daß ich mich hier zu Tod erkälten soll.«

In seiner Verstörtheit schenkte er ihr keine Aufmerksamkeit. Während er dem Nabel ein blühendes Karmin auflegte, warf er bloß ein halbes Wort hin:

»Eh, laß mich zufrieden, ich arbeite!«

Einen Augenblick blieb Christine stumm. Dann aber richtete sie sich hoch auf, ihre Augen loderten in einem wilden Feuer, und ihr sonst so sanftes, anmutiges Wesen erhob sich in einer Empörung. Und dann brach sie wie ein zum äußersten getriebener Sklave los.

»Nein, ich lasse dich nicht zufrieden! ... Das Maß ist voll; ich muß dir sagen, was auf mir lastet, mich aufreibt, seit ich dich kenne ... Dein Gemälde, ja, dein mörderhaftes Gemälde, da ist es, das mein Leben vergiftet hat. Vom ersten Tag an hab' ich's vorausgeahnt. Ich fürchtete es wie ein Ungeheuer; ich fand es abscheulich, entsetzlich. Aber man ist ja schwach; aus Liebe zu dir hatte ich etwas dafür übrig, gewöhnt' ich mich schließlich an die Mörderin meines Glückes ... Aber was hab' ich dann später unter ihm gelitten, wie hat es mich gemartert! Ich wüßte seit zehn Jahren keinen Tag, an dem ich nicht Tränen vergossen hätte ... Nein, laß mich! Ich muß mich erleichtern, muß sprechen; jetzt hab' ich die Kraft dazu gefunden! ... Zehn Jahre täglich mehr verlassen, täglich mehr aufgerieben, bin ich dir heute nichts mehr, seh' ich mich mehr und mehr beiseitegedrängt und zu deiner Dienerin erniedrigt. Sie aber, die mich dir entzogen hat, hat sich zwischen dich und mich gestellt, hat dich in ihren Bann genommen, triumphiert, beleidigt mich ... Denn wage nicht in Abrede zu stellen, daß sie dich nicht, Glied für Glied, bis ins Gehirn hinein, Herz, Leib, alles, überwältigt hätte! Sie herrscht über dich wie ein Laster, frißt dich rein auf. Sie ist nachgerade wohl ganz und gar deine Frau, nicht wahr? Nicht ich mehr, sie schläft mit dir ... Ah, ich verfluche, verfluche sie!«

Kaum aus seinem verzweifelten Schaffens träum erwacht, noch nicht ganz begreifend, warum sie ihm das alles sagte, schenkte Claude jetzt dem mächtigen Ausbruch ihres schmerzvollen Leides Gehör. Als sie aber seinen stumpfen Blick sah, als sie sah, wie er erzitterte, verdutzt in seiner Ausschweifung gestört war, geriet sie noch mehr außer sich, erstieg die Leiter, riß ihm die Kerze aus der Hand und hob sie ihrerseits gegen das Gemälde.

»Da, sieh doch! Sieh doch mal, was du da machst! Das ist ja schauderhaft, bejammernswürdig, monströs! Es müssen dir doch endlich einmal die Augen darüber aufgehen. He, ist das nicht häßlich, ist das nicht kindisch?... Du siehst doch wohl, daß du besiegt bist; warum versteifst du dich noch? Da liegt ja kein gesunder Menschenverstand mehr drin. Und das ist es, was mich außer mich bringt... Wenn du denn aber kein großer Maler sein kannst, so bleibt uns ja doch noch das Leben! Ah, das Leben, das Leben ...«

Sie hatte die Kerze oben auf den Tritt der Leiter gestellt. Als er aber strauchelnd herabgestiegen war, sprang sie hinzu, um ihn zu stützen. Er war, als sie sich beide unten befanden, auf dem letzten Tritt zusammengebrochen. Sie aber ergriff, zu ihm niedergekauert, seine beiden, kraftlos hängenden Hände.

»Sieh doch, uns bleibt ja doch noch das Leben ... Verjag doch deine Hirngespinste! Laß uns leben, zusammen leben!... Ist es nicht eine Torheit, daß wir, nur zwei, schon wie Greise verkümmern, einander quälen und nicht verstehen sollten, uns gegenseitig zu beglücken? Der Tod kommt früh genug. Komm, laß es uns erst noch was warm werden; laß uns versuchen, zu leben und zu lieben. Denke an Bennecourt! ... Höre, wie ich's mir vorstelle. Am liebsten möcht' ich dich gleich morgen von hier wegbringen. Wir würden weit von diesem verfluchten Paris fortgehen, würden irgendwo einen ruhigen Winkel finden; und du sollst sehen, wie schön ich dir dann das Leben gestalten würde, wie schön das werden würde, wie wir Brust an Brust das alles vergessen würden ... Morgens liegen wir wieder miteinander in unserem großen Bett; dann machen wir im Sonnenschein unseren Spaziergang, lassen uns dann unser Frühstück schmecken, genießen am Nachmittag unsere Ruhe, den Abend verplaudern wir bei der Lampe. Keine Plackerei mehr mit Schimären, nichts als Freude und Leben! ... Genügt es dir denn nicht, daß ich dich liebe, dich vergöttere, daß ich gern deine Magd sein, einzig für dein Wohlsein leben will?... Hörst du? Ich liebe, liebe dich! Und ich habe und will nichts als das: dich lieben, das ist mir genug!«

Er hatte ihr seine Hände entzogen und sagte düster, mit einer ablehnenden Handbewegung:

»Nein, das ist nicht genug ... Ich will nicht mit dorthin gehen, will nicht glücklich sein, will malen.«

»Ich aber mag dabei zugrunde gehen, nicht wahr? Und auch du magst daran zugrunde gehen; wir können beide in Leid und Tränen verkommen, nicht wahr? ... Es gibt ja wohl nichts als die Kunst; sie ist ja das Allmächtige, die böse Gottheit, die uns vernichtet. Nur sie betest du an. Mag sie uns doch zugrunde richten: sie ist der Herr, du dankst ihr noch dafür.«

»Ja, ihr gehör' ich an, und sie mag mit mir machen, Was sie will ... Es wäre mein Tod, wenn ich nicht mehr malen dürfte. Ich will lieber malen und daran zugrunde gehen. Es ist so, nichts anderes gibt's, mag auch die Welt darüber zugrunde gehen!«

Sie richtete sich auf. Von neuem wurde sie vom Zorn überwältigt. Ihre Stimme wurde hart und hitzig.

»Ich aber bin Fleisch und Blut! Und die Weiber, die du liebst, sind tot! ... Oh, stell es nicht in Abrede! Ich weiß wohl, daß all diese gemalten Weiber deine Mätressen sind. Noch ehe ich dein war, beobachtete ich schon, mit welcher Zärtlichkeit du ihre Nacktheit liebkostest und mit was für Augen du sie dann stundenlang ansahst. War so etwas nicht unsinnig und stupid von einem Junggesellen? Mit einer solchen Sehnsucht für tote Bilder zu entbrennen, seine Arme um eine leere Einbildung zu schlingen? Und du tatest das mit vollem Bewußtsein, wolltest dir's nur nicht eingestehen ... Dann schienst du mich ja eine Zeitlang zu lieben. Damals, als du mir von deiner Liebe zu deinen lieben Weibern als von einer Torheit erzähltest, wie du sie selber, über sie spottend, nanntest. Entsinnst du dich noch? Als du mich umarmtest, konnten sie dir leid tun ... Aber das war nicht von Dauer: du bist zu ihnen zurückgekehrt. Oh, so schnell! Wie ein Irrsinniger auf seine Manie zurückkommt. Ich, die Lebendige, war nicht mehr vorhanden; nur deine Visionen waren dir noch Wirklichkeit ... Was ich damals gelitten habe, hast du nie gewußt; denn obwohl ich neben dir lebte, hast du mich nicht begriffen. Ja, ich war eifersüchtig auf sie. Wenn ich da so nackt Modell stand, gab mir nur ein Gedanke Mut dazu: kämpfen wollt' ich, wollte dich wiedergewinnen. Aber nichts! Nicht mal ein Kuß auf die Schulter, bevor ich mich wieder ankleidete! O Gott, wie namenlos hab' ich mich oft geschämt! Welche Pein hab' ich in mich hineinwürgen müssen, wenn ich mich so verschmäht und verraten sah! ... Von der Zeit an hat deine Gleichgültigkeit immer mehr zugenommen; und jetzt ist es so weit, daß wir nachts nebeneinander liegen, ohne daß du mich auch nur mit einem Finger berührst. Acht Monate und sieben Tage, ich hab's gezählt, sind es her, acht Monate und sieben Tage, daß wir keinen ehelichen Verkehr mehr miteinander gehabt haben.«

Und kühn fuhr sie fort. In unverblümter Rede sprach sie, die Züchtige, mit so glühenden Ausdrücken, die sich in Schreien ihren Lippen entrissen, von der Liebe und dann wieder mit heimlicher, stummer Andeutung über diese Dinge, mit einem verwirrten Lächeln den Kopf abwendend. Aber ihre Sehnsucht brachte sie außer sich. Diese Enthaltsamkeit war ein Schimpf. Sie täuschte sich nicht, wenn sie eifersüchtig war. Immer wieder hatte sie das Bild anzuklagen. Denn die Mannheit, die er ihr vorenthielt, bewahrte und gab er der vorgezogenen Nebenbuhlerin. Sie wußte wohl, warum er sie auf solche Weise im Stich ließ. Oft, wenn er am nächsten Tage besonders anhaltend zu arbeiten gehabt hatte und sie sich beim Schlafengehen an ihn angeschmiegt, hatte er's ihr abgelehnt, weil es ihn zu sehr ermüden würde, und hatte behauptet, daß, wenn er sie umarmt hätte, ihm das Hirn zu sehr mitgenommen wäre und er, zu jeder Arbeit unfähig, drei Tage brauchte, um sich wieder zur Arbeit zu sammeln. So hatte sich mehr und mehr der Abbruch ihres ehelichen Verkehrs vollzogen; für eine Woche, wenn er ein Bild vollenden wollte, dann für einen Monat, um sich in den Vorbereitungen zu einem neuen nicht zu stören. Dann wurden auf noch längere Zeit hinaus die Gelegenheiten unbeachtet gelassen, und es kam die langsame Entwöhnung. Schließlich wurde es überhaupt gänzlich vergessen. Und hundertmal hatte sie sich die Behauptung wiederholen lassen müssen: das Genie müsse keusch sein; es dürfe nur mit seinem Werk in Gemeinschaft stehen.

»Du stößt mich zurück«, redete sie heftig, »ziehst dich nachts von mir zurück, als ob ich mich dir verweigerte; du gehst anderswohin. Und um was zu lieben? Ein Nichts, einen bloßen, spukhaften Schein, ein bißchen Staub, ein bißchen Farbe auf einer Leinwand! ... Aber nochmals: sieh dir doch dein Weib da oben mal an! Sieh doch, was für ein Monstrum du da in deiner Narrheit zustande gebracht! Ist man denn so gebaut? Hat man denn goldene Schenkel und Blumen auf dem Bauch? ... Komm zu dir! Tu die Augen auf, komm zur Wirklichkeit zurück!«

Claude folgte der herrischen Handbewegung, mit der sie auf das Gemälde wies, erhob sich und betrachtete es. Wie mit einem feierlichen Schimmer beleuchtete die Kerze oben auf der Leiter das Weib, während der ganze übrige mächtige Atelierraum in Finsternis getaucht blieb. Endlich erwachte er aus seiner traumhaften Verlorenheit. Und wie er so ein paar Schritte zurückwich und das gemalte Weib von unten aus erblickte, erfüllte es ihn mit Entsetzen. Wer hatte dies Idol einer unbekannten Religion gemalt? Wer hatte es so aus Metall, Marmor und Edelgestein hingestellt, die mystische Rose des Geschlechtes zwischen den herrlichen Säulen der Schenkel, unter der geweihten Wölbung des Bauches entfaltet? War er's gewesen, der, ohne es zu wissen, dieses Symbol der unstillbaren Begierde geschaffen hatte, dieses übermenschliche Gebilde: war es, aus Gold und Diamant gewirkt, in der fruchtlosen Anstrengung, ihm Leben zu geben, aus seinen Händen entstanden? Ein starrender Schauer ergriff ihn vor seinem Werk, vor diesem jähen Sprung ins Drüberhinaus. Er begriff jetzt, daß er nun nicht einmal mehr imstande war, die Wirklichkeit selbst zu erreichen, nachdem er so lange gerungen hatte, sie zu besiegen und sie mit seinen Manneshänden noch wirklicher zu formen.

»Siehst du? Siehst du?« wiederholte Christine triumphierend.

Er aber stammelte leise:

»Oh, was hab' ich gemacht? ... Ich kann also nicht mehr schaffen? Unsere Hände haben also nicht mehr die Kraft, Wesen zu erzeugen?«

Sie sah, wie er wankte, fing ihn in ihren Armen auf.

»Aber wozu diese Torheiten? Warum etwas anderes als mich, die dich liebt? ... Du hast mich als Modell benutzt, du wolltest Kopien von meinem Körper. Sag, wozu? Sind sie mehr wert als mein lebendiger Leib? Sie sind scheußlich, steif, kalt wie Kadaver... Ich aber liebe dich, will dich. Soll ich dir alles sagen? Du hast nicht verstanden, daß, wenn ich um dich herum war, dir mich zum Modell darbot, ich da war, dich streifte, weil ich dich liebe, hörst du? Weil ich lebe und dich will ...«

In glühender Liebeshingabe umschlang sie ihn mit ihren Gliedern, ihren nackten Beinen. Ihr Hemd war halb heruntergefallen und ließ die Brust hervortreten, die sie gegen ihn anpreßte, mit der sie in diesem äußersten Fängen ihrer Leidenschaft in ihn eindringen zu wollen schien. Sie war die Leidenschaft selbst, deren Glut den letzten Zügel abgeworfen hatte, nicht mehr die züchtige Zurückhaltung von früher kannte; die in ihrer Hingerissenheit bereit war, alles zu sagen, alles zu tun, siegen wollte. Ihr Gesicht war angeschwollen; die sanften Augen und die klare Stirn verschwanden unter den Strähnen des aufgelösten Haares, die Kinnladen sprangen vor, das kräftige Kinn, die roten Lippen.

»Oh, nein, laß!« murmelte Claude. »Oh, ich bin zu unglücklich.«

Aber mit feuriger Stimme fuhr sie fort:

»Du glaubst mich vielleicht gealtert? Ja, du sagtest ja, daß meine Schönheit abgenommen hätte, und ich glaubte es selber, untersuchte mich, während ich Modell stand, auf Runzeln... Aber das ist nicht wahr! Ich fühle, daß ich noch nicht gealtert, daß ich noch immer jung, noch immer stark bin ...«

Dann aber, als er sich noch immer sträubte, sagte sie:

»Sieh doch!«

Sie war drei Schritte zurückgetreten. Mit einer stolzen Bewegung streifte sie das Hemd ab und stand jetzt nackt, unbeweglich, in jener Pose da, die sie damals, als sie ihm Modell stand, so endlos lange eingenommen hatte. Mit einer Kinnbewegung wies sie nach dem Gemälde hin.

»Du kannst ja vergleichen: Ich bin jünger als sie ... Magst du ihr auch Edelsteine auf die Haut gesetzt haben: sie ist dürr wie ein welkes Blatt ... Ich aber bin noch immer achtzehn Jahre alt, weil ich dich liebe.«

Tatsächlich strahlte sie im bleichen Kerzenlicht vor Schönheit. Unter dem machtvollen Aufschwung ihrer Liebe ging fein und anmutig die Linie ihrer Beine hernieder, die Hüften wölbten ihre weiche Rundung, steil standen die festen, von ihrem heiß begehrenden Blut geschwellten Brüste.

Und schon hatte sie ihn wieder ergriffen, hatte sich, vom störenden Hemd befreit, gegen ihn angedrückt. Mit leidenschaftlichem Tasten gingen ihre Hände über seine Seiten, seine Schultern, als hätten sie, in diesem zärtlichen Tasten, dieser Besitzergreifung, mit der sie sich ihn ganz zu eigen machen wollte, sein Herz gesucht. Zwischendurch aber küßte sie ihn mit unersättlichem Ungestüm auf die Haut, auf den Bart, auf die Hemdärmel, und wo es hinkam. Ihre Stimme schwand hin, es sprach nur noch ihr heißes, von Seufzern unterbrochenes Atmen:

»Oh, komm! Oh, lieben wir uns! ... Hast du denn kein Blut in den Adern, daß du dich mit Schatten begnügst? Komm! Du sollst sehen, wie schön es sich leben läßt! ... Hörst du? Laß uns wieder, einer am Hals des anderen, die Nächte in Liebe vereint, sieh, so! hinbringen. Und immer am anderen Tag wieder und wieder und wieder ...«

Er erbebte. Mählich erwiderte er die Umarmung, mit der sie sich gegen ihn preßte. Aus Angst vor der anderen, dem Idol. Und sie verdoppelte ihr glutvolles Heischen, nahm ihn hin, machte sich ihn vollends zu eigen.

»Höre, ich weiß, daß du dich mit einem furchtbaren Gedanken trägst. Ja, ich wagte niemals zu dir davon zu sprechen, weil man das Unheil nicht erst noch heraufbeschwören soll. Aber ich kann nachts nicht mehr schlafen, solche Angst flößt es mir ein ... Heut nacht war ich dir nachgegangen, dort auf die verhaßte Brücke. Und ich zitterte, oh, ich glaubte, es wäre alles vorbei und ich würde dich nie mehr haben ... O Gott, was sollte dann wohl aus mir werden? Ich brauche dich, du wärst mich doch nicht dem Untergange preisgeben wollen! ... 0 komm! O komm! ...«

Jetzt gab er sich, von dieser unsäglichen Leidenschaft bezwungen, ganz hin. Er war unendlich traurig, die ganze Welt versank ihm. Auch er preßte sie jetzt in heißer Liebe an sich und stammelte unter Tränen:

»Es ist wahr, ich dachte an so etwas Abscheuliches ... Ich hätt' es vielleicht auch getan. Aber der Gedanke an das unvollendete Bild hielt mich davon ab ... Aber gibt's für mich denn noch eine Lebensmöglichkeit, wenn mich meine Arbeitskraft im Stich läßt? Wie soll ich noch leben, nachdem ich das da jetzt entstellt habe?«

»Ich liebe dich, und du wirst leben.«

»Ah, nie wirst du mich genug lieben können ... Ich kenne mich ja. Es bedarf einer Freude, die es nicht gibt; eines Dinges, das mich alles vergessen macht ... Du warst ja schon machtlos. Du wirst es nicht können.«

»Doch, doch! Du sollst sehen! ... Sieh, so werd' ich dich halten, werde dir die Augen küssen, den Mund, jede Stelle deines Körpers. An meinen Brüsten werd' ich dich wärmen, werde meine Beine um die deinen schlingen, meine Arme um deine Hüften; ich werde dein Atem, dein Blut, dein Fleisch ...«

Da war er besiegt. Er entbrannte an ihrer Glut, nahm zu ihr seine Zuflucht, wühlte das Gesicht in ihre Brüste, bedeckte sie mit Küssen.

»Ja, rette mich! Ja, nimm mich, verhüte, daß ich mich töte ... Erfinde ein Glück, laß es mich erkennen; eins, das mich zurückhält ... Schläfere mich ein, betäube mich, mach mich zu deinem Ding, zu deinem Sklaven, mach mich so klein, daß ich dir zu Füßen liege, deinen Pantoffel küsse ... Ah, herabsteigen, nur von deinem Hauch leben, dir gehorsam sein wie ein Hund, essen, dich haben, schlafen! Könnt' ich's! Könnt' ich's!«

Christine ließ einen lauten Triumphschrei hören.

»Endlich bist du mein! Nur ich bin noch da, die andere ist tot!«

Und sie riß ihn von dem verfluchten Werk fort, zog ihn mit zu sich in die Kammer hinein, in ihr Bett, murmelte triumphierende Worte vor sich hin. Oben auf der Leiter zuckte noch ein paarmal die niedergebrannte Kerze auf und erlosch dann. Die Wanduhr schlug fünf. Noch hatte sich der dicke Novemberhimmel nicht erhellt. Alles war in kalte Finsternis gesunken. Aufs Geratewohl hatten sich Christine und Claude übers Bett hingeworfen. Selbst zur Zeit ihrer ersten Liebe hatten sie nicht eine so leidenschaftliche Hingabe gekannt. Von neuem erblühte in ihrem Herzen die Vergangenheit. Doch es war etwas Grelles in diesem Wiedererstehen, es war ein delirierender Rausch. Die Finsternis rings um sie flammte. Wie mit Flammenschwingen rissen sie sich empor, hoch, hoch hinaus über alle Welt, beständig mit mächtigen Flügelschlägen immer höher und höher. Auch er stieß, weit über sein Elend hinaus entrückt, Schreie aus, vergaß, lebte die Wiedergeburt zu einem glücklicheren Dasein. Sie aber rief ihn unter einem üppig sieghaften Lachen zu Blasphemien auf. »Sag, daß die Malerei eine Torheit ist.« – »Die Malerei ist eine Torheit.« – »Sag, daß du nie mehr arbeiten wirst, daß du darauf pfeifst, daß du, um mir ein Vergnügen zu machen, deine Bilder verbrennen wirst.« – »Ich werde meine Bilder verbrennen, werde nicht mehr arbeiten.« – »Und sage, daß einzig so mich in den Armen zu halten, wie du mich jetzt hältst, alles Glück bedeutet, daß du auf die andere, die Dirne, die du da gemalt hast, spuckst. Spucke, spucke doch auf sie, so daß ich's höre!« – »Ja, ich spucke auf sie. Nur du, nur du!« Und sie preßte ihn, daß er zu ersticken meinte. Sie war's, die ihn besaß. Und von neuem wurden sie von der schwindelnden Wonne ihres Emporfluges erfaßt, der sie zu den Sternen erhob. Und wieder und wieder überwältigte es sie. Dreimal glaubten sie von dieser Erde bis in den Himmel hineinzufliegen. O welche Seligkeit! Wie hatte es nur geschehen können, daß er nicht auf den Gedanken gekommen war, in ihr Heilung zu suchen? Wieder gab sie sich ihm. Und, nicht wahr, er würde in Glück und Seligkeit leben, gerettet, jetzt, wo er diesen Rausch kannte. Der Tag erhob sich, als Christine mit einem glückseligen Lächeln, vom Schlaf überwältigt, in Claudes Armen entschlummerte. Sie hatte ihn mit der einen Lende umschlungen; ihr Bein lag über seine Beine weg, als wollte sie sich vergewissern, daß er ihr nicht entschlüpfe. Und das Haupt auf dieser Mannesbrust wie auf einem warmen Kopfkissen, atmete sie, ein Lächeln um die Lippen, in sanftem Schlummer. Er hielt die Augen geschlossen. Aber trotz seiner drückenden Müdigkeit tat er sie wieder auf, sah in die Finsternis hinein. Der Schlaf floh ihn. Aus seiner Erschöpfung erhob sich, je mehr er sich abkühlte und der ihm noch in allen Muskeln nachzitternde üppige Rausch wich, abermals eine Flucht wirrer Gedanken. Als der Morgen graute und mit einem schmutzig gelben Lichtfleck auf den Scheiben des Atelierfensters lag, fuhr er zitternd zusammen. Er glaubte, vom Hintergrund des Ateliers her einen lauten Anruf vernommen zu haben. Alle seine Grübeleien hatten sich wieder eingestellt, überschwemmten ihn, verzerrten ihm qualvoll das Gesicht, preßten ihm in einem Überdruß an allem Menschlichen die Kiefer aufeinander. Zwei bittere Falten gaben seinem Gesicht das Gepräge greisenhaften Verfalls. Jetzt lastete der Weiberschenkel da über ihn weg mit bleierner Schwere. Er litt unter ihm wie unter einer Folter; es war ihm, als war' ihm zur Strafe für ungesühnte Vergehen ein Mühlstein an die Knie gebunden. Auch ihr auf seiner Brust liegender Kopf erstickte ihn, hemmte mit bleischwerer Last die Schläge seines Herzens. Aber lange wollte er sie, trotz des allmählichen Widerstrebens seines ganzen Körpers und obgleich es sich in ihm erhob wie von einem unwiderstehlichen Haß, nicht stören. Der Duft ihres aufgelösten Haares, besonders dieser prächtige Haarduft war's, der ihn irritierte. Und da rief plötzlich ein zweites Mal mit gebieterischem Heischen vom Atelier her die Stimme. Und da entschloß er sich. Es war aus. Seine Leiden waren zu groß. Er konnte nicht mehr leben. Es trog ja eben doch schon alles, und nichts tat mehr gut. Zuerst ließ er Christines Kopf abgleiten. Dann galt es, sich mit unsäglicher Vorsicht so zu bewegen, daß er seine Beine von ihrem Schenkel losbekam, den er nach und nach auf eine Weise zurückstieß, als ob sie selbst ihn entfernte. Endlich hatte er die Kette gebrochen, war frei. Zum drittenmal der Ruf. Er hastete hinaus, in das Atelier hinein, sagte:

»Ja, ja, ich komme!«

Noch immer wollte es nicht Tag werden. Mit schmutziger Trübnis erhob sich einer von jenen Wintertagen, die hinaufsteigen, als verkündeten sie ein Unheil. Nach einer Stunde erwachte Christine. Es war ihr gewesen, als beutle sie der Frost. Sie verstand nicht. Wie kam es, daß sie sich allein fand? Dann aber erinnerte sie sich. Sie war, die Wange auf seinem Herzen, ihre Glieder mit den seinen verflochten, eingeschlafen. Wie hatte er sich also entfernen können? Wo konnte er sein? Sie riß sich aus ihrer Erstarrung jäh im Bett in die Höhe und rannte in das Atelier. Mein Gott, sollte er wirklich zu der anderen zurückgekehrt sein? Sollte die andere wirklich ihn ihr wieder geraubt haben; jetzt, wo sie ihn für immer erobert zu haben glaubte?

Zuerst sah sie nichts. Leer bot sich im kalten, schmutzig trüben Morgenzwielicht das Atelier. Aber wie sie sich, da sie niemand sah, schon beruhigen wollte, hoben sich ihre Augen zu dem Bild empor, und sie stieß einen furchtbaren Schrei aus. »Claude! Oh, Claude!«

Seinem unvollendeten Werk gegenüber hatte sich Claude an der großen Leiter erhängt. Er hatte einfach einen der Stricke genommen, mit denen der Rahmen an der Wand befestigt war, war bis zum obersten Leitertritt hinaufgestiegen, hatte dort den Strick an dem eichenen Querholz befestigt, das er eines Tages hier, um der Leiter besseren Halt zu geben, festgenagelt hatte. Dann hatte er von da oben den Sprung ins Nichts getan. Im Hemd, mit nackten Füßen, fürchterlich mit der schwarz heraushängenden Zunge und den blutunterlaufenen, aus den Höhlen hervorgequollenen Augen hing er da, der Leib in regungsloser Starrheit verlängert, dem Weib mit der wie eine mystische Rose blühenden Scham gegenüber, als hätte er ihr, die er noch immer mit seinen starren Augäpfeln ansah, noch mit seinem letzten Röcheln seine Seele einhauchen wollen.

Entsetzen und ein namenloser Zorn hielten Christine starr aufrecht. Ihr Körper schwoll von einem ununterbrochenen heulenden Stöhnen, dem einzigen Laut, der sich ihrer Kehle entrang. Mit geballten Fäusten reckte sie die Arme gegen das Bild.

»O Claude! O Claude! ... So hat sie dich doch wieder genommen! Es hat dich getötet, getötet, das Weibsbild!«

Ihre Beine knickten ein, sie drehte sich um sich selbst und schlug zu Boden. Das Übermaß ihres Schmerzes hatte ihr das Blut vom Herzen abgedrängt; ohnmächtig, wie ein Toter, lag sie auf dem Fußboden, wie ein weißer Lappen, kläglich, vernichtet, zusammengebrochen unter der grausamen Hoheit der Kunst. Über ihr aber das strahlende Weib, das Ideal, das Symbol, die Malerei triumphierte, ragend, noch bis in den Wahnsinn hinein allein sie unsterblich.

Die Formalitäten, die der Selbstmord zur Folge gehabt hatte, verzögerten die Beerdigung. Erst am Montag kam morgens um neun Uhr Sandoz, um sich dem Leichenzug anzuschließen. Nur etwa zwanzig Personen standen auf dem Bürgersteig der Rue Tourlaque. In seinem tiefen Kummer war er seit drei Tagen überall herumgelaufen, hatte alles ordnen müssen. Zuerst hatte er die für tot aufgehobene Christine nach dem Hospital de Lariboisière bringen lassen müssen. Dann hatte er sich des Leichenbegängnisses wegen zur Mairie und zu der Geistlichkeit begeben, hatte alles bezahlt und sich, als die Priester den Leichnam mit der schwarzen Strangulierungsmarke um den Hals herum haben wollten, in allem gleichgültig den Bräuchen gefügt. Unter den wartenden Leuten erblickte er nur Nachbarn, denen sich ein paar Neugierige zugesellt hatten, während andere unter neugierigem Geflüster die Köpfe aus den Fenstern steckten. Die Freunde würden ja wohl noch kommen. Da er die Adresse nicht wußte, hatte Sandoz der Familie keine Mitteilung machen können. Doch er trat beiseite, als er zwei Verwandte ankommen sah, welche die drei kurzen Zeilen in den Zeitungen wohl aus ihrer Vergessenheit hervorgelockt hatten, in der Claude selbst sie gelassen. Eine bejahrte Cousine mit dem zweifelhaften Gepräge einer Trödlerin; ein kleiner, sehr reicher, dekorierter Vetter, der Inhaber eines großen Pariser Magazins. Er bot sich sehr elegant und benutzte wohl die Gelegenheit, seinen erleuchteten Kunstgeschmack zu beweisen. Die Cousine stieg sofort in das Atelier hinauf, das sie durchschritt und aus dem sie, nachdem sie das nackte Elend drin gemustert, mit gekniffenem Mund, offenbar ärgerlich darüber, daß sie sich unnütz bemüht hatte, wieder herabkam. Der kleine Vetter aber warf sich in die Brust, ging als erster hinter dem Leichenwagen her und führte den Leichenzug mit Anstand und Würde.

Als der Zug aufbrach, kam noch Bongrand und trat, nachdem er ihm die Hand geschüttelt, Sandoz zur Seite. Er war sehr trüb gestimmt und flüsterte, während er den Blick auf die fünfzehn, zwanzig Personen warf, die das Geleite gaben, Sandoz zu:

»Ah, der arme Kerl! ... Wir sind die beiden einzigen.«

Dubuche weilte mit seinen Kindern in Cannes. Jory und Fagerolles blieben fern; der eine, weil er sich vor dem Tod fürchtete, der andere, weil ihn Geschäfte abhielten. Nur Mahoudeau schloß sich noch an, als es die Rue Lepic hinaufging. Er sagte, Gagnière müßte wohl den Zug verpaßt haben.

Langsam bewegte sich der Leichenwagen den Weg, der sich mit steilem Anstieg an der Seite des Montmartre hinwand, hinan. Für Augenblicke gaben hinabführende Seitengassen –- plötzliche, lochartige Einschnitte –- den Blick über das endlose Häusermeer von Paris frei. Als man bei der Kirche Saint-Pierre anlangte und der Sarg da hinaufgebracht wurde, beherrschte er einen Augenblick die große Stadt. Es war ein grauer Winterhimmel. Von einem eiskalten Wind getrieben, jagten große Wolkengebilde dahin. In diesen Dünsten, die mit ihren drohenden Massen den Horizont füllten, schien die Stadt ins Endlose hinein vergrößert. Der arme Tote, der sie hatte erobern wollen und sich dabei das Genick gebrochen und wie eine von den großen, trüben Dunstwogen, die da über ihm hinglitten, zur Erde zurückkehrte, wurde da oben in seinem Eichensarg noch einmal an ihr vorbeigetragen.

Als man die Kirche verließ, verschwand die Cousine, auch Mahoudeau. Der kleine Vetter aber nahm seinen Platz hinter dem Sarg wieder ein. Auch sieben andere Personen entschlossen sich zu folgen. Und man brach nach dem neuen Friedhof von Saint-Ouen auf, dem der Volksmund den unheimlichen Namen Cayenne gegeben hatte. Es waren noch zehn Personen.

»Also wir bleiben wirklich die einzigen«, wiederholte Bongrand, als er sich neben Sandoz wieder in Bewegung setzte.

Jetzt bewegte sich der Zug, die Trauerkutsche mit dem Priester und dem Chorknaben vorauf, den anderen Hang des Montmartrehügels durch steile, wie Gebirgssteige gewundene Gassen hinab. Die Pferde des Leichenwagens glitten auf dem feuchten Pflaster aus; man vernahm das dumpfe Gepolter der Räder. Hinterher stolperten die zehn Leidtragenden, wichen den Lachen aus und waren von dem beschwerlichen Abstieg so in Anspruch genommen, daß keiner ein Wort sprach. Doch als man am Fuß der Rue du Ruisseau beim Clignancourter Tore auf jenes weite Gelände geriet, wo sich der Boulevardring, die Ringbahn, die Wälle und der Festungsgraben hinziehen, ließen sich Seufzer der Erleichterung vernehmen, man wechselte einige Worte und begann in gedehntem Zug zu gehen.

Allmählich waren Sandoz und Bongrand hintangekommen. Sie wollten sich von diesen Leuten, die sie niemals gesehen hatten, absondern. In dem Augenblick, wo der Zug die Barriere passierte, bog sich Bongrand zu Sandoz hin.

»Und was wird aus der kleinen Frau werden?« »Ah, das ist erbarmungswürdig!« antwortete Sandoz. »Ich habe sie gestern abend im Hospital besucht. Sie hat ein Nervenfieber. Der Arzt hat Hoffnung, sie durchzubringen. Aber sie wird das Hospital um zehn Jahre gealtert und geschwächt verlassen ... Sie wissen, daß sie sogar ihre Orthographie verlernt hat. Wie ist sie durch dies Elend heruntergekommen! Ein Fräulein, das bis zum Dienstboten herabgesunken ist! Ja, wenn wir uns ihrer in ihrer Hilflosigkeit nicht annähmen, müßte sie als Aufwaschfrau enden.«

»Und natürlich ist nicht ein Pfennig Geld da?«

»Nicht ein Sou. Ich dachte, ich würde die Studien vorfinden, die er nach der Natur für sein großes Bild gemacht hat, diese herrlichen Studien, von denen er nachher einen so schlechten Gebrauch machte. Aber ich habe vergeblich alles durchsucht. Er hat eben alles hingegeben, alles haben sie ihm weggeholt. Nein, nichts, was verkauft werden könnte. Nicht eine verwendbare Leinwand: nichts als dies riesige Bild, das ich eigenhändig zerstört und verbrannt habe. Ah, ich kann Ihnen sagen: mit größter Genugtuung, wie man sich an einem Feind rächt.«

Sie schwiegen einen Augenblick. Die breite Landstraße von Saint-Ouen zog sich schnurgerade ins Endlose dahin, und inmitten des flachen Landes bewegte sich durch die Schmutzpfützen der Straße einsam der armselige, kleine Leichenzug. Eine doppelte Palisadenreihe begrenzte die Straße. Zur Rechten wie zur Linken waren öde Terrains. In der Ferne bloß Fabrikschlote und, weit auseinander, schräg gestellt, ein paar hohe, weiße Häuser. Man kam über den Jahrmarkt von Clignancourt: Buden, Zirkusse, Karussells zu beiden Seiten des Weges; in der winterlichen Öde des Tages ein trübseliger Anblick. Leere Schenken, verschimmelte Schaukeln; gleich einer Dekoration aus der Opera Comique stand da, schwarz, trist, zwischen schadhaften Holzspalieren eine Bude mit der Aufschrift »Zur Farm der Picardie«.

»Ah, seine früheren Bilder!« nahm Bongrand die Unterhaltung wieder auf, »die vom Quai Bourbon! Erinnern Sie sich? Was waren das für ausgezeichnete Sachen! Und die Landschaften, die er aus dem Süden mitgebracht hatte; die bei Boutin gemalten Akte! Die Beine des kleinen Mädchens, der Frauenleib! Oh, besonders der! ... Der Vater Malgras muß ihn jetzt haben. Ein Meisterwerk! Keiner von unseren jungen Meistern bringt so etwas zustande ... Ja ja, der Kerl war kein Tropf. Mit einem Wort: ein großer Maler.«

»Wenn ich bedenke«, sagte Sandoz, »daß unsere akademischen und journalistischen Zierbengelchen ihm Faulheit und Unwissenheit vorgeworfen und einander nachgebetet haben, er habe sein Handwerk nicht lernen wollen! ... Mein Gott, er faul! Den ich nach einer ununterbrochenen Arbeit von zehn Stunden vor Erschöpfung habe zusammenbrechen sehen! Er, der sein ganzes Leben der Kunst hingab, den gerade seine Arbeitswut getötet hat! ... Und Unwissenheit! Was für ein Blödsinn! Wenn man überhaupt dem Ruhm der Kunst etwas Neues hinzuzufügen hat, muß das, was man hinzubringt, das Alte umwandeln! Das werden sie niemals begreifen! Verstand etwa auch Delacroix sein Handwerk nicht, weil er sich nicht an die regelrechten Linien halten konnte? Ach, die Einfaltspinsel! Die braven Schüler, deren Mattblütigkeit keine Inkorrektheit vermag!«

Er tat schweigend ein paar Schritte, dann fügte er hinzu:

»Ein heldenhafter Arbeiter, ein leidenschaftlicher Beobachter, dessen Schädel voll Wissen stak; ein bewunderungswürdig begabtes, großes Malertemperament ... Und: nichts hinterläßt er!«

»Absolut nichts! Nicht eine einzige Leinwand!« bekräftigte Bongrand.

»Ich kenne nichts von ihm als Entwürfe, Skizzen, flüchtig hingeworfene Notizen, künstlerisches Arbeitsmaterial, das nicht ans Publikum kommt ... Ja, er ist wirklich ein Toter; ein Toter in des Wortes eigentlichstem Sinn, den wir zur Grube tragen!«

Aber sie mußten ihre Schritte beschleunigen, da sie unter ihrer Unterhaltung zurückgeblieben waren. Vor ihnen bog der Leichenwagen, nachdem er zwischen Weinschenken und Grabdenkmalshandlungen hingefahren war, nach rechts ab in die zum Friedhof führende Allee ein. Sie holten ihn wieder ein, durchschritten mit dem kleinen Gefolge die Pforte. Der Priester im Chorhemd, der Chorknabe mit dem Weihkessel hatten die Trauerkutsche verlassen und gingen voraus.

Es war ein großer, flacher, noch neuer, nach der Schnur im weiten Gelände des Pariser Bannkreises angelegter, in schachbrettartiger Symmetrie von breiten Wegen durchschnittener Friedhof. An den Hauptwegen hin standen nur wenige Grabmäler. Da vorläufig in aller Eile nur fünfjährige Konzessionen erteilt waren, erhoben sich sämtliche, im übrigen schon um sich greifenden Gräber kaum über den Fußboden. Die Familien zauderten, ernstliche Ausgaben dranzuwenden; so waren die Grabmäler, da es ihnen an einem gehörigen Fundament fehlte, halb eingesunken, die eingepflanzten Bäume hatten keine Zeit heranzuwachsen; alles bot sich, da es auf kurze Dauer berechnet und ohne Sorgfalt hergestellt war, im öden Revier armselig, kahl, kalt und dürftig, hatte etwas von der melancholischen Sauberkeit der Kaserne und des Hospitals. Nicht ein romantisches Fleckchen, nicht eine einzige laubreiche, lauschig geheimnisvolle Wegkrümmung, kein einziges größeres Grabmal erinnerte an Dauer, an Familiengefühl. Man befand sich auf einem neuen, nach der Schnur angelegten, numerierten Friedhofe, einem jener Friedhöfe der modernen demokratischen Städte, wo die Toten in behördlichen Schachteln zu schlummern scheinen, wo die jeden Morgen hinzukommenden die am vorigen Tage gebrachten verdrängen und ersetzen, wobei alles, wie bei einem Volksfest, damit Gedränge vermieden wird, unter dem Auge der Polizei vorgeht.

»Verdammt!« murmelte Bongrand. »Hier ist's nicht lustig!«

»Warum?« sagte Sandoz. »Es ist bequem, luftig ... Und, selbst ohne Sonne, wieviel schöne Farbenstimmung!«

Tatsächlich besaßen unter dem grauen Himmel des Novembervormittags und in dem durchdringenden Schauer des Windes die niedrigen, mit Girlanden und Perlenkränzen beladenen Grabhügel sehr feine, reizende Tönungen. Je nach den benutzten Perlen gab es ganz weiße oder ganz schwarze Kränze; und dieser Gegensatz hob sich mit zartem Schimmer aus dem blassen Grün der zwerghaften Bäumchen hervor. Diesen auf fünf Jahre gemieteten Hügeln weihten die Familien einen reichen Kult. Außerdem war jüngst Allerseelentag gewesen; und so gab es einen besonders reichlich gehäuften Gräberschmuck. Nur die natürlichen Blumen blickten schon verwelkt aus ihren Papiermanschetten hervor. Einige gelbe Immortellenkränze glänzten wie neu ziseliertes Gold. Doch vor allem gab es Perlen. Ein wahres Geriesel von Perlen barg die Inschriften, die Grabsteine und Einfriedigungen. Perlen in Herzform geordnet, verschlungene Hände, Atlasschleifen, sogar Frauenphotographien, vergilbte Vorstadtphotographien, arme, rührend häßliche, linkisch lächelnde Gesichter waren in Perlen gerahmt.

Als der Leichenwagen die Hauptallee entlangfuhr setzte Sandoz, von seiner malerischen Beobachtung angeregt, die Unterhaltung fort.

»Ein Friedhof, für den er mit seiner Begeisterung für alles Moderne Verständnis gehabt haben würde ... Gewiß, er litt an sich; der zu starke Riß in seinem Genie, drei Gramm mehr oder drei Gramm weniger, wie er zu sagen pflegte, als er seinen Eltern vorwarf, daß sie ihn zu mangelhaft gemacht hätten, hat ihn vernichtet. Doch sein Übel lag nicht allein an ihm; er war das Opfer einer Epoche ... Ja, unsere Generation steckt noch zu tief in der Romantik. Wir sind noch immer zu sehr mit ihr imprägniert; mochten wir uns auch noch so sehr von ihr reinigen im kräftigen Bad der Wirklichkeit: der Fleck bleibt, keine Wäsche der Welt vermag seine Spur zu tilgen.«

Bongrand lächelte.

»Oh, ich stak in ihr bis über die Ohren. Meine Kunst hat sich von ihr genährt; ich bin sogar ein Hartgesottener. Wenn es zutrifft, daß mein jüngstes Erlahmen daher rührt, was tut's? Ich kann die Religion meines ganzen Künstlerlebens nicht abschwören ... Doch ist Ihre Bemerkung mit Bezug auf euch Revolutionäre ganz zutreffend. So zum Beispiel für ihn mit seinem großen, nackten Weib da inmitten der Quais, diesem extravaganten Symbol ...«

»Ach, dies Weib!« unterbrach Sandoz. »Sie hat ihm das Leben gekostet. Wenn Sie wüßten, wie er an ihr festhielt! Es war mir gänzlich unmöglich, ihn von ihr abzubringen ... Wie soll man aber klar sehen, wie soll das Gehirn gleichmäßig und solid funktionieren, wenn ein solches Hirngespinst im Schädel herumspukt? ... Ja, obgleich Ihre Generation doch schon vorangegangen war, steckt unsere noch viel zu sehr im Lyrismus, als daß sie gesunde Werke schaffen könnte. Es braucht eine Generation, zwei vielleicht, bis man dazu gelangt, logisch zu malen und zu schreiben, im hohen, reinen Geist der Wirklichkeit ... Einzig die Wahrheit, die Natur ist die mögliche Grundlage, die notwendige Versicherung. Über sie hinaus fängt der Irrsinn an. Man braucht nicht zu befürchten, daß das Kunstwerk dadurch flach wird. Es ist ja das Temperament da, das den Künstler stets emportragen wird. Denkt denn jemand daran, die Persönlichkeit zu leugnen, den unwillkürlichen Druck des schaffenden Daumens, der deformiert und die Schöpfung zu unserer armen, eigenen stempelt!«

Aber da wandte er den Kopf und fügte plötzlich hinzu:

»Was brennt denn da? ... Zünden sie denn hier Freudenfeuer an?«

Der Leichenzug war beim Rondell angelangt, wo sich das Beinhaus befand, das gemeinsame Grabgewölbe, das sich allmählich mit den aus den Gräbern genommenen Knochen füllte und dessen Deckstein mitten auf einer runden Rasenfläche unter einer Anhäufung von Kränzen verschwand, die pietätvoll auf gut Glück von den Verwandten hier niedergelegt worden waren, deren Tote keine bestimmte Grabstätte mehr hatten. Als der Leichenwagen aber langsam nach links in die Seitenallee Nummer zwei einbog, ließ sich ein Knattern vernehmen, und ein dicker Qualm quoll auf, der sich über die kleinen, den Weg säumenden Platanen erhob. Langsam gelangte man näher und bemerkte von weitem einen großen Haufen erdschwarzer Dinge, die brannten. Endlich verstand man. Der Haufen befand sich am Rande eines großen Vierecks, das man mit tiefen, parallel laufenden Gruben durchzogen hatte, um die alten Särge herauszuholen, bevor man dem Boden andere Leichen anvertraute, so wie der Bauer, bevor er von neuem aussät, sein Stoppelfeld umpflügt. Lange, leere Gräber klafften, und fettige Erdhügel trockneten in der freien Luft. Was an der einen Ecke des Vierecks aber brannte, das waren die vermorschten Bretter der Särge, ein gewaltiger Scheiterhaufen von zerspaltenen, zerbrochenen, von der Erde morsch und rotbraun wie sie gewordenen Brettern. Noch feucht von menschlichem Verwesungsstoff, wollten sie nicht recht Feuer fangen und krachten in kurzen Detonationen, so daß sich zum fahlen Himmel ein nur immer dickerer Rauch erhob, den der Novemberwind herabdrückte, in rotbraune Fetzen zerriß und über den halben Friedhof hintrieb.

Sandoz und Bongrand hatten stumm hinübergeblickt. Als sie aber an dem Feuer vorbei waren, fuhr jener fort:

»Nein, er war nicht der Mann für die Formel, die er brachte. Ich will sagen: sein Genie reichte nicht ganz aus, genügte nicht, daß er sie in einem endgültigen Werk hätte hinstellen können... Und, sehen Sie, wie rings um ihn, nach ihm, die Bestrebungen sich zersplittern! Sie bleiben alle im Entwurf stecken, in der flüchtigen Impression; nicht einer scheint das Zeug zu dem erwarteten Meister zu haben. Ist es nicht betrüblich zu sehen, wie diese neue Auffassung des Lichtes, diese leidenschaftliche, bis zur wissenschaftlichen Analyse getriebene Auffassung des Wahren, diese ganze, so eigenartig begonnene Entwicklung erlahmt, in die Hände der Fingerfertigen gerät und nicht vorwärtskommt, weil ihr erforderlicher Mann noch nicht geboren ist?... Bah, er wird geboren werden! Nichts verliert sich; es muß, es wird Licht werden!«

»Wer weiß? Nicht immer ist das so!« sagte Bongrand. »Auch das Leben kann verkümmern ... Wissen Sie, ich höre Ihnen zu: aber ich bin verzweifelt. Ich sterbe vor Traurigkeit, und mir ist, als ob alles stürbe ... Ah ja! Die Luft der Epoche ist keine gute. Dies Jahrhundertende starrt von Trümmern, von gestürzten Monumenten, von hundertmal umgewühltem Boden, der einen Modergeruch haucht! Kann man sich darin wohlfühlen? Es zerfrißt die Nerven, die große Nervenkrankheit kommt hinzu, die die Kunst trübt. Es ist das Chaos, die Anarchie, der Wahnsinn der in den letzten Zügen liegenden Persönlichkeit ... Noch nie hat man sich so herumgestritten, und nie hat man weniger klar gesehen, als seit man vorgibt, alles zu wissen.«

Sandoz war bleich geworden. Seine Blicke hafteten an den großen, roten, im Wind sich dahinwälzenden Rauchmassen.

»Es mußte so kommen«, sagte er nachdenklich mit leiser Stimme. »Dieses Übermaß von Betriebsamkeit und Stolz auf unser Wissen mußte uns in den Zweifel zurückschleudern. Dies Jahrhundert, das schon soviel Licht gebracht hat, mußte mit der Drohung einer von neuem hereinbrechenden Finsternis enden ... Ja, daher rührt unser Mißbehagen. Es wurde zuviel versprochen, zuviel gehofft; man glaubte, alles erobern und erklären zu können. Und nun grollt die Ungeduld. Was, man kommt nicht schneller vorwärts? Die Wissenschaft hat uns in hundert Jahren noch nicht die absolute Gewißheit, das vollkommene Glück gebracht? Aber wozu dann fortfahren, da man ja doch niemals alles wissen wird und unser Brot noch ebenso bitter bleibt? Es ist der Bankerott des Jahrhunderts; der Pessimismus wühlt in unserem Innersten, der Mystizismus trübt die Gehirne. Was half's, daß wir mit dem großen Lichtstrahl der Analyse die Phantome verjagten? Das Übernatürliche bietet uns von neuem Fehde, der Geist der Legende erhebt sich, will sich von neuem unser bemächtigen an dieser Raststelle der Ermüdung und Angst ... Ah, gewiß! Ich behaupte nichts; ich selbst bin in mir zerrissen. Aber ich meine, daß diese letzte Konvulsion des alten Geistes der religiösen Ekstase vorauszusehen war. Wir sind kein Ende, sondern ein Übergang, der Beginn von etwas Neuem ... Und das beruhigt mich, tut mir gut, wenn ich glaube, daß wir der Vernunft und der soliden Wissenschaft entgegengehen.«

Seine Stimme verriet eine tiefe Bewegung. Er fügte hinzu;

»Wenigstens stürzt uns der Wahnsinn nicht in seine Nacht, und wir kommen nicht um, vom Ideal erwürgt, wie der alte Kamerad, der da zwischen seinen vier Brettern ruht.«

Der Leichenwagen verließ die Allee Nummer zwei, um nach rechts in die Allee Nummer drei einzubiegen. Ohne etwas zu sagen, deutete der Maler mit seinem Blick auf ein Gräberrevier hin, an dem der Zug sich jetzt vorbeibewegte.

Es war der Friedhof der Kinder. Nichts als Kindergräber, ins Endlose gereiht, von regelmäßig angeordneten, schmalen Wegen getrennt, eine Totenstadt der Kleinen. Ganz kleine weiße Kreuze, kleine, weiße Einfriedigungen, die unter dem Schmuck weißer und blauer Kränze auf dem flachen Gelände fast verschwanden. Der weiche, milchblaue Ton des stillen Planes schien eine Ausblüte der hier in die Erde gebetteten Kinderscharen. Die Kreuze gaben das Alter an: zwei Jahre, sechzehn Monate, fünf Monate. Ein ärmliches Kreuzchen ohne Einfriedigung stand etwas abseits schräg in die Allee hinein und enthielt nichts als die Worte: »Eugenie, drei Tage«. Sie war noch nicht einmal zum Leben erwacht und schlief schon hier, abseits, wie die Kinder, die die Eltern an Festabenden am Extratischchen speisen lassen!

Doch endlich hielt der Leichenwagen mitten in der Allee. Als Sandoz an der Ecke des benachbarten Viereckes dem Friedhof der Kleinen gegenüber die offene Grube sah, flüsterte er bewegt:

»Ah, mein alter Claude, großes Kinderherz, du wirst dich hier neben ihnen wohlfühlen!«

Die Träger hoben den Sarg vom Wagen herab. Vom Wind belästigt, wartete der Priester. Die Totengräber hielten ihre Schaufeln bereit. Drei Nachbarn hatten unterwegs den Zug verlassen; von den zehn waren nur noch sieben übrig. Der kleine Vetter, der, seit man die Kirche verlassen, trotz des schlechten Wetters den Hut in der Hand hielt, trat hinzu. Auch alle anderen entblößten das Haupt. Die Gebete sollten beginnen, als ein greller Pfiff alle aufblicken machte.

Es war an diesem noch freien Ende am Ausgang der Seitenallee Nummer drei ein Eisenbahnzug der Ringbahn, der auf dem hohen, den Friedhof beherrschenden Damm vorbeifuhr. Die grasbewachsene Böschung stieg an mit den geometrischen Linien der schwarz vom grauen Himmel sich abhebenden, durch ihre feinen Drahtfäden miteinander verbundenen Telegraphenstangen. Ein Wärterhäuschen stand da; eine Signalscheibe setzte ihren grellroten Fleck in das Grau. Als der Zug vorbeidonnerte, konnte man genau wie in einem chinesischen Schattenspiel die einzelnen Waggons unterscheiden, und durch die hellen Fensteröffnungen sogar die Gestalten der Passagiere. Und dann waren die Gleise wieder frei und schnitten mit schwarzer Linie am Horizont hin. In der Ferne aber wurden unaufhörlich andere Pfiffe laut; klagend, mit schrillem Zorn, rauh, leidend, angstbeklommen. Dann der dumpfe Schall eines Signalhorns.

»Revertitur in terram suam unde erat ...«, rezitierte der Priester hastig aus seinem Buch.

Aber man vernahm ihn nicht mehr. Fauchend war eine große Lokomotive genaht, die gerade während der Leichenfeierlichkeit hin und her manövrierte. Sie hatte eine gewaltige, überwältigend melancholische Stimme, ließ ein rauhes Zischen hören. Wie ein schwerfälliges Monstrum entfernte sie sich, kehrte zurück, ächzte. Plötzlich ließ sie mit wütendem Brausen Dampf ab.

»Requiescat in pace!« sagte der Priester.

»Amen!« antwortete der Chorknabe.

Alles wurde von der betäubenden Entladung der Maschine verschlungen, die sich endlos anhörte, wie eine gewaltige Schießerei. Gepeinigt wandte Bongrand sich nach der Lokomotive herum. Sie verstummte. Man fühlte sich erleichtert. Sandoz waren die Tränen in die Augen getreten. Die Worte, die er, als er vorhin hinter dem Leichnam des toten Kameraden hergeschritten war, unwillkürlich vor sich hingesprochen hatte, bewegten ihn, als hätte er mit ihm eine von ihren ehemaligen berauschenden Plaudereien gehabt. Es war ihm, als hätte man seine eigene Jugend begraben. Ein Teil von ihm selbst, und der beste, war es, seine Illusionen und Begeisterungen, was die Totengräber da aufhoben, um es in die Tiefe dieser Grube hinabgleiten zu lassen. Aber in diesem furchtbaren Augenblick sollte ein Zufall seinen Kummer noch vermehren. Es hatte die letzten Tage geregnet, und das Erdreich war so weich, daß sich ein plötzlicher Einsturz ereignete. Einer der Totengräber mußte in die Grube springen, um die Erde wieder herauszuschaufeln, was er mit langsamen, rhythmischen Bewegungen tat. Das dauerte und dauerte endlos. Der Priester und die vier Nachbarn, die, ohne daß man wußte warum, bis zuletzt standgehalten hatten, wurden ungeduldig. Oben aber, auf dem Damm, hatte die Lokomotive ihre Manöver wieder aufgenommen. Heulend fuhr sie rückwärts, während bei jeder Umdrehung ihrer Räder aus ihrem offenen Feuerloch ein Funkenregen in den düsteren Tag hineinstob.

Endlich war die Grube leer, der Sarg wurde hinabgelassen, man reichte sich den Weihwedel. Es war vorüber. In seiner liebenswürdig korrekten Art machte der kleine Vetter die Honneurs, drückte all diesen Leuten, die er nie in seinem Leben gesehen hatte, zum Gedächtnis dieses Verwandten, dessen Name ihm bis gestern unbekannt gewesen war, die Hand.

»Er ist sehr nett, dieser Krämer!« sagte Bongrand, der seine Tränen verschluckte.

Weinend wiederholte Sandoz:

»Ja, sehr nett!«

Alle brachen auf. Das Meßkleid des Priesters und der Chorknabe verschwanden zwischen den grünen Bäumen, die Nachbarn zerstreuten sich zwischen den Gräbern und lasen die Inschriften.

Als Sandoz sich entschloß, das halbzugeworfene Grab zu verlassen, sagte er:

»Wir sind die einzigen, die ihn gekannt haben ... Nichts bleibt von ihm, nicht mal ein Name!«

»Er ist glücklich«, sagte Bongrand. »Er hat kein angefangenes Bild da unten in seiner Grube ... Besser sich davonmachen, als sich, wie wir, abzuquälen, unvollkommene Kinder hervorzubringen, denen immer etwas fehlt, die Beine oder der Kopf, und die nicht lebensfähig sind.«

»Ja, es muß einem wahrlich an Stolz fehlen, wenn man sich mit dem Ungefähr und der verlogenen Halbheit zufriedengibt ... Ich, der ich meine Bücher bis zu Ende bringe, verachte mich oft selbst, weil ich sie, trotz all meiner Mühe, unvollkommen und unwahr finde.«

Mit bleichem Gesicht gingen sie langsamen Schrittes Seite an Seite am Rand der weißen Kindergräber dahin, der Romandichter in aller Blüte seiner Schaffenskraft und seines Ansehens, der Maler gebeugt schon, doch mit Ruhm bedeckt.

»Wenigstens ist er logisch gewesen und mutig«, fuhr Sandoz fort. »Er hat sein Unvermögen zugestanden und sich getötet.«

»'s ist wahr«, sagte Bongrand. »Wenn uns unsere Haut nicht so lieb wäre, würden wir tun wie er ... Ist's nicht so?«

»Meiner Treu, ja! Da wir nichts schaffen können, da wir nur schwache Nachbildner sind, wär's das beste, uns auf der Stelle abzutun.«

Sie waren wieder bei dem brennenden Scheiterhaufen angelangt. Er stand jetzt in hellem Brand, zischte und krachte. Aber noch immer sah man keine Flammen; der Qualm war nur noch dicker geworden. Ein scharfer, dichter Qualm, den der Wind in großen Wirbeln dahintrieb und der den ganzen Friedhof in ein Trauergewölk hüllte.

»Wetter, elf Uhr!« sagte Bongrand, der die Uhr gezogen hatte.

Sandoz stieß einen überraschten Ruf hervor.

»Was, schon elf Uhr!«

Er ließ über die niedrigen Gräber, über das weite, perlenschimmernde, so regelmäßige, frostige Gebiet hin einen langen, noch tränenfeuchten, verzweifelten Blick gleiten. Dann fügte er hinzu:

»Gehen wir an die Arbeit!«


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