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IV

Sechs Wochen später arbeitete Claude eines Morgens in einer Flut von Sonnenlicht, das zum Atelierfenster hereindrang. Anhaltende Regengüsse hatten die Mitte des Augusts verdüstert; dann war ihm mit dem blauen Himmel der Mut zur Arbeit wiedergekommen. Sein großes Bild rückte nicht vorwärts. In der stillen Einsamkeit langer Vormittage kämpfte er seinen zähen Kampf.

Da klopfte es. Er glaubte, es sei Frau Joseph, die Pförtnerin, die ihm sein Frühstück bringe. Als der Schlüssel draußen sich aber nicht herumdrehte, rief er einfach:

»Herein!«

Die Tür tat sich auf. Eine leise Bewegung, dann blieb alles still. Ohne auch nur den Kopf zu wenden, fuhr er fort zu malen. Doch die ängstliche Stille, ein banges Atmen beunruhigten ihn schließlich. Er sah hin und blieb starr. Ein Weib war da in einem hellen Kleid, das Gesicht halb von einem weißen Schleier bedeckt. Er kannte sie nicht mehr. Sie hielt einen Rosenstrauß in der Hand. Das machte ihn vollends betroffen.

Plötzlich erkannte er sie.

»Sie, Fräulein! ... Wahrhaftig, alles andere hätte ich mir eher vermutet!«

Christine war's. Er hatte diesen wenig liebenswürdigen Ausruf nicht zur rechten Zeit zurückhalten können, der immerhin der Wahrheit entsprach. Anfangs hatte er sehr viel an sie gedacht. Dann aber, wie die Zeit hinging und sie zwei Monate lang kein Lebenszeichen gegeben, war sie ihm zu einem flüchtigen, schönen Traumbild geworden, dessen Hinschwinden man bedauert, das sich eben aber verliert und das man nie wieder erblickt.

»Ja, ich bin's mein Herr ... Ich dachte, es sei nicht recht von mir, wenn ich Ihnen nicht meinen Dank abstattete...«

Sie errötete, stammelte, suchte nach Worten. Ohne Zweifel hatten die Treppen sie außer Atem gebracht. Sie hatte starkes Herzklopfen. Oder wie? War dieser Besuch, den sie so lange überlegt hatte und der ihr schließlich so durchaus natürlich erschien, am Ende doch nicht schicklich? Das Unangenehmste war, daß sie, als sie über den Quai gekommen, mit der zarten Absicht, dem jungen Manne ihre Dankbarkeit zu bezeugen, diesen Rosenstrauß gekauft hatte. Die Blumen setzten sie in die schrecklichste Verlegenheit. Wie sollte sie sie ihm geben? Was sollte er von ihr denken? Sie hatte an das alles erst gedacht, als sie die Tür öffnete.

Doch Claude, der noch viel unruhiger war als sie, erschöpfte sich jetzt mit übertriebenen Höflichkeiten. Er hatte seine Palette beiseitegetan und brachte das ganze Atelier von unterst zu oberst, um einen Stuhl für sie freizubekommen.

»Mein Fräulein, bitte, nehmen Sie Platz... Wahrhaftig, was für eine Überraschung! ... Es ist zu liebenswürdig von Ihnen ...«

Als sie dann Platz genommen, beruhigte sich Christine. Er war so drollig mit seinem bestürzten Hin und Her; sie fühlte heraus, wie furchtsam er selber war, und hatte ein Lächeln. Tapfer hielt sie ihm die Rosen hin.

»Nehmen Sie! Sie sollen doch wenigstens wissen, daß ich keine Undankbare bin.«

Zuerst sagte er nichts und sah sie bloß ganz überrascht an. Als er aber sah, daß sie sich nicht über ihn lustig machte, drückte er ihr beide Hände, als wolle er sie zerbrechen. Dann tat er den Strauß sogleich in seinen Wasserkrug und sagte immer wieder:

»Ah, wahrhaftig! Sie sind ein guter Kerl! ... Bei meiner Ehre, es ist das erstemal, daß ich einem Weibe dieses Kompliment mache!«

Er kam wieder zu ihr hin, sah ihr in die Augen und fragte sie:

»Ist es wahr, Sie haben mich nicht vergessen?«

»Wie Sie sehen«, antwortete sie und lachte.

»Warum haben Sie dann aber zwei Monate gewartet?«

Abermals errötete sie. Die Lüge, die sie vorbrachte, setzte sie für einen Augenblick wieder in Verlegenheit.

»Aber Sie wissen ja, ich bin nicht Herr meiner Zeit... Oh, Frau Vanzade ist ja sehr gut zu mir: aber sie ist gebrechlich, geht niemals aus. Sie selbst hat mich, aus Sorge für meine Gesundheit, zwingen müssen, an die frische Luft zu gehen.«

Sie erwähnte nicht die Scham, in die ihr Abenteuer vom Quai Bourbon sie die ersten Tage über versetzt hatte. Als sie sich im Heim der alten Dame im sicheren gefühlt hatte, war ihr die Erinnerung an die bei einem Mann verbrachte Nacht wie ein Vergehen aufs Gewissen gefallen. Und sie hatte schon geglaubt, so weit zu sein, daß sie diesen Mann aus ihrem Gedächtnis verbannt hätte und daß es nur ein schlimmer Traum gewesen wäre, dessen Umrisse sich verwischt hätten. Doch dann war in der großen Stille ihrer Existenz, ohne daß sie wußte wie, das Bild aus seinen Schatten wieder hervorgetreten, hatte sich deutlicher hervorgehoben, bestimmtere Umrisse gewonnen, bis es sie stündlich beschäftigt hatte. Weshalb hätte sie ihn denn vergessen sollen? Sie konnte ihm ja keinerlei Vorwürfe machen; im Gegenteil: schuldete sie ihm nicht Dank? Anfangs hatte sie den Gedanken, ihn wiederzusehen, zurückgewiesen, hatte dann lange mit sich gekämpft, ihn dann aber so lange hin und her erwogen, bis er ihr zur fixen Idee geworden war. Jeden Abend überkam sie in der Einsamkeit ihres Schlafgemachs die Versuchung von neuem, mit einem Unbehagen, das sie in Verwirrung setzte, mit einem Wunsche, über den sie sich selber nicht klar war. Bis sie endlich darin Ruhe gefunden hatte, daß sie sich diese Unruhe mit dem Bedürfnis erklärt hatte, sich ihm dankbar zu erweisen. Sie war so allein, stand so unter dem Druck ihrer eintönigen Lebensweise. Und doch brauste ihre Jugend so stark in ihr, verspürte ihr Herz ein so starkes Bedürfnis nach Freundschaft!

»So hab' ich denn jetzt«, fuhr sie fort, »diese Gelegenheit eines ersten Ausganges ergriffen ... Und dann war heut morgen so schönes Wetter nach all den vielen unfreundlichen Regentagen.«

Ganz glücklich stand Claude vor ihr und beichtete auch seinerseits, doch ohne daß er etwas zu verheimlichen hatte.

»Ich meinerseits wagte nicht mehr, an Sie zu denken ...

Nicht wahr? Sie sind wie die Märchenfeen, die aus dem Fußboden aufsteigen und durch die Wände hindurch verschwinden; immer in dem Augenblick, wo man's nicht erwartet. Ich sagte mir: Es ist vorüber; vielleicht ist es gar nicht wahr, daß sie dies Atelier betreten hat ... Und nun sind Sie da! Und das macht mir solche Freude! Oh, eine so große Freude!«

Mit einem verlegenen Lächeln wandte Christine den Kopf und tat, als wenn sie sich erst jetzt umsähe. Ihr Lächeln verschwand. Die wilde Malerei, die sie da wiedersah, die grell flammenden Skizzen aus dem Süden, die schrecklich genaue Anatomie der Akte machten sie erstarren wie das erstemal. Sie bekam es mit einer wahren Furcht und sagte ernst, mit veränderter Stimme:

»Ich störe Sie! Ich will gehen.«

»Aber nein! Aber nein!« rief Claude und hielt sie auf dem Stuhl zurück. »Die Arbeit macht mir nur zuviel zu schaffen; es tut mir gut, mit Ihnen zu plaudern ... Ah, das verwünschte Bild plagt mich schon mehr wie genug!«

Christine hob den Blick und betrachtete das große Gemälde; diese Leinwand, die damals mit der Vorderseite gegen die Wand gelehnt dagestanden hatte und die sie so gern hatte sehen wollen. Der Hintergrund, die schattige Lichtung mit ihrem Sonnenfleck hinten, war noch immer bloß mit großen Umrissen angedeutet. Doch die beiden miteinander scherzenden Weib gestalten, die blonde und die braune, kamen, so gut wie fertig, mit ihren frischen Tönen im Lichte zu bester Geltung. Mit dem schon dreimal in Angriff genommenen Herrn im Vordergrunde war's noch sehr im argen. Besonders aber arbeitete der Künstler noch an der mittleren Gestalt, dem hingelagerten Weibe. Den Kopf hatte er gelassen, wie er war; aber mit dem Körper mühte er sich ab, wechselte jede Woche mit dem Modell und war so verzweifelt darüber, sich nicht genugtun zu können, daß er, der sich etwas darauf zugute tat, keine Erfindungsgabe zu besitzen, seit zwei Tagen es ohne Vorbild zu zwingen suchte.

Sofort erkannte Christine sich wieder. Dieses sich im Grase wälzende Mädchen, das einen Arm unter den Nacken geschoben hatte und mit geschlossenen Augen lächelte, war sie. Dies nackte Mädchen hatte ihr Gesicht. Eine Empörung bemächtigte sich ihrer, als wenn es sich um ihren eigenen Leib handelte, dessen jungfräuliche Nacktheit hier so brutal entblößt war. Besonders aber fühlte sie sich von der Kraßheit dieser Malweise verletzt, die sie als Vergewaltigung und Mißhandlung empfand. Sie verstand diese Art zu malen nicht; sie erschien ihr abscheulich; instinktiv empfand sie gegen sie eine Feindseligkeit, Haß.

Sie erhob sich und wiederholte kurz:

»Ich gehe.«

Erstaunt und bekümmert über diese plötzliche Veränderung ihres Benehmens sah Claude ihr nach.

»Wie, so schnell?«

»Ja, ich werde erwartet. Adieu!«

Und schon war sie bei der Tür, als es ihm noch gelang, ihre Hand zu ergreifen. Er wagte zu fragen:

»Wann seh' ich Sie wieder?«

Ihre kleine Hand ward in der seinen nachgiebiger. Einen Augenblick schien sie zu zögern.

»Ja, ich weiß nicht. Meine Zeit ist so sehr in Anspruch genommen.«

Dann zog sie ihre Hand zurück und ging, nachdem sie in aller Eile noch gesagt hatte:

»Sobald ich kann. In den nächsten Tagen... Adieu!«

Claude stand noch auf der Schwelle. Was hatte sie denn gehabt? Weshalb war sie plötzlich so zurückhaltend, so verhalten gereizt gewesen? Er schloß die Tür, ging, ohne zu verstehen, mit hängenden Armen ins Atelier hinein, suchte vergeblich nach einer Redewendung, einer Bewegung, mit der er sie verletzt haben könnte. Aber dann ward er zornig, stieß einen Fluch hervor und zuckte heftig die Achseln, als wolle er diese törichten Grübeleien abschütteln. Kannte man sich denn je mit den Weibern aus! Doch der Anblick des über den Krug wegquellenden Rosenstraußes besänftigte ihn. Wie schön er duftete! Das ganze Atelier war voll Wohlgeruch. Und in diesen herrlichen Duft gehüllt, machte er sich schweigend wieder an die Arbeit.

Abermals waren zwei Monate hingegangen. In den ersten Tagen wandte Claude vormittags bei dem geringsten Geräusch, wenn Frau Joseph ihm sein Frühstück oder Briefe brachte, lebhaft den Kopf gegen die Tür hin und empfand jedesmal eine unwillkürliche Enttäuschung. Er ging nicht mehr vor vier Uhr aus. Eines Abends hatte ihm die Pförtnerin, als er heimkam, gesagt, um fünf wäre ein junges Mädchen dagewesen und hätte nach ihm gefragt. Und er war sehr unruhig gewesen, bis er erfahren hatte, daß es sich um ein Modell, Zoé Piédefer, gehandelt. Dann, als Tag nach Tag verstrich, hatte er's mit der Arbeitswut bekommen und war für jedermann unzugänglich gewesen. Außerdem war er in seinen theoretischen Erörterungen so heftig, daß sogar seine Freunde ihm nicht zu widersprechen wagten. Er hatte Gesten, als wolle er die ganze Welt wegfegen. Mochte man seinetwegen Eltern, Kameraden, namentlich aber die Weiber alle erdrosseln: er wollte von nichts mehr wissen als von seiner Malerei. Aus dieser Fieberhitze war er dann in eine klägliche Verzweiflung geraten. Eine ganze Woche quälte er sich mit sich herum, glaubte sich vollkommen stumpf geworden. Dann erholte er sich wieder, kam wieder in seinen gewohnten, resignierten, einsamen Kampf mit seinem Bild hinein. Eines nebligen Vormittags gegen Ende Oktober aber erzitterte er plötzlich und tat eilig die Palette beiseite. Es war nicht angeklopft worden; aber er hatte auf der Treppe einen Schritt vernommen, den er kannte. Er öffnete, und sie trat ein. Endlich war sie da.

Christine trug diesmal einen großen, grauen Tuchmantel, der ihre ganze Gestalt umhüllte. Sie hatte einen kleinen, dunklen Sammethut auf, und an ihrem schwarzen Spitzenschleier hing der Nebel in feinen Perlchen. Er fand, daß der erste Schauer des Winters sie sehr aufgemuntert hatte. Sie entschuldigte sich, daß sie ihren Besuch so lange aufgeschoben hätte. Dabei lächelte ihr ehrliches Gesicht, und sie gestand, daß sie unentschlossen gewesen wäre, daß sie beinahe nicht hätte wiederkommen wollen. Ja, so wegen gewisser Gedanken, die sie sich gemacht; wegen gewisser Dinge – er werde ja verstehen. Er verstand nicht, fragte auch nicht danach, ob er verstand oder nicht: genug, sie war da. Es genügte ihm, daß sie nicht bös auf ihn war, daß es ihr zusagte, ab und zu als guter Kamerad zu ihm heraufzukommen. Es gab keine weiteren Erklärungen; jedes behielt die peinvollen Seelenkämpfe, die es die vergangene Zeit über gelitten, für sich. Fast eine volle Stunde unterhielten sie sich im besten Einvernehmen; nichts verborgen Feindseliges schien mehr zwischen ihnen zu sein; ohne ihr Wissen schien, während eins dem anderen fern gewesen war, sich das Einverständnis hergestellt zu haben. Sie schien die Skizzen und Studien an den Wänden nicht mehr zu sehen. Einen Augenblick richtete sie einen scharfen Blick auf die große Leinwand, auf das Gesicht des nackten, im hellen Sonnenglast daliegenden Weibes. Aber nein: das war nicht sie; das Mädchen hatte weder ihr Gesicht noch ihren Körper. Wie hatte es nur sein können, daß sie sich aus dieser greulichen Farbenschmiererei hervor zu erkennen geglaubt hatte? Und es überkam sie ein freundschaftlich gerührtes Mitleid mit dem wackeren Burschen, der einen noch nicht einmal ähnlich malen konnte. Als sie aber ging, war diesmal sie es, die ihm auf der Schwelle herzlich die Hand hinstreckte.

»Also, ich komme wieder.«

»Jawohl, in zwei Monaten.«

»O nein, nächste Woche ... Sie sollen sehen! Donnerstag.«

Und pünktlich kam sie am Donnerstag. Und dann regelmäßig einmal die Woche. Zuerst ohne bestimmtes Datum, wenn es sich gerade einmal traf, daß sie frei hatte. Dann aber wählte sie den Montag, da Frau Vanzade ihr diesen Tag, im Bois de Boulogne frische Luft zu schöpfen, bewilligt hatte. Sie hatte um elf Uhr wieder zurück sein sollen, und so hatte sie sich, da sie den Weg zu Fuß gemacht, beeilt und war mit vom Gehen lieblich gerötetem Gesicht angelangt; denn von Passy bis zum Quai Bourbon war ein gehöriges Stück Weg. Die vier Wintermonate über, vom Oktober bis Februar, kam sie, ob es regnete oder die Seine sich in Nebel hüllte oder ob bleicher Sonnenschein die Quais wärmte. Sie kam sogar seit dem zweiten Monat bisweilen ganz unvermutet, an einem anderen Wochentage, wenn sie die Gelegenheit einer Besorgung wahrnahm, die sie in Paris zu machen hatte. Doch konnte sie bloß ein paar Minuten bleiben, so daß man gerade noch Zeit hatte, sich guten Tag zu sagen, und sie bald wieder auf der Treppe war, von wo sie ihm noch einen letzten Gruß zurief.

Jetzt fing Claude an, Christine kennenzulernen. Bei seinem ewigen Mißtrauen den Weibern gegenüber war ihm noch ein Argwohn zurückgeblieben: der Gedanke, sie könnte in der Provinz ein galantes Abenteuer gehabt haben. Aber ihre sanften Augen, ihr klares Mädchenlachen hatten ihm all solchen Verdacht gescheucht, und er sah, daß sie ein unschuldiges großes Kind war. Sobald sie da war, plauderte sie ohne jede Verlegenheit, nach Herzenslust, als sei sie bei einer Freundin, ununterbrochen munter drauflos. Oft schon hatte sie ihm von ihrer Kindheit in Clermont erzählt, und sie kam immer wieder darauf zurück. An dem Abend, wo ihr Vater seinen letzten Anfall gehabt hatte und wie vom Blitz getroffen aus seinem Sessel wie eine Masse auf den Boden gefallen war, waren ihre Mutter und sie gerade in der Kirche gewesen. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie nach Haus gekommen waren, und dann an die schreckliche Nacht, wie der sehr kräftige und beleibte Kapitän lang auf einer Matratze gelegen hatte, den vorspringenden Unterkiefer nach oben. So genau erinnerte sie sich daran, daß sie sich ihn in ihren Kindheitserinnerungen gar nicht anders vorstellen konnte. Sie selbst hatte dies kräftige Kinn. Und wenn ihre Mutter sie nicht anders zu bändigen vermochte, hatte sie ihr zugerufen: »Ah, du Pantoffelkinn! Dich wird das Blut auffressen wie deinen Vater!« Die arme Mutter! Wie hatte sie ihr mit ihren heftigen Spielen und den tollen Anfällen ihres Übermutes zugesetzt! Soweit sie zurückdenken konnte, sah sie sie vor dem gleichen Fenster: klein, schmächtig, mit ihren sanften Augen ihre Fächer malen. Ihre Augen: alles, was sie heute noch mit ihr gemeinsam hatte. Man hatte es der Teueren manchmal gesagt, wenn man ihr eine Freude machen wollte: »Sie hat Ihre Augen!« Und sie hatte gelächelt, war glücklich darüber, daß sie wenigstens mit diesem Fleckchen Anmut im Gesicht ihrer Tochter lebte. Seit dem Tode ihres Mannes hatte ihre Mutter so viel gearbeitet, daß ihre Augen darunter gelitten hatten. Aber wovon hätten sie sonst leben sollen? Die sechshundert Franken Witwenpension, die sie bezogen hatte, hätten kaum hingereicht, den Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. Fünf Jahre hindurch hatte sie so die Mutter immer bleicher und magerer werden sehen, jeden Tag etwas mehr, bis sie nur noch ein Schatten gewesen. Noch heute machte sie sich Gewissensbisse darüber, daß sie nicht artiger gewesen war und sie mit ihrem Mangel an Fleiß oft zur Verzweiflung gebracht. Mit Beginn jeder Woche hatte sie immer die besten Vorsätze gefaßt und geschworen, sie wollte bald verdienen helfen: aber ihre Beine und Arme gingen mit ihr durch; wenn sie sich ruhig hielt, wurde sie krank. Dann hatte ihre Mutter eines Morgens nicht mehr aufstehen können und war gestorben. Ihre Stimme war erloschen gewesen; aber in ihren Augen hatten noch die dicken Tränen gestanden. Und nun hatte sie sie immer so vor Augen: schon tot, die großen, offenen, noch immer weinenden Augen fest auf sie gerichtet.

Wenn bei anderen Gelegenheiten Claude Christine nach Clermont fragte, vergaß sie all ihre Trauer und gab ihre heiteren Erinnerungen zum besten. Dann lachte sie über ihre Wohnung in der Rue de l'Éclache hellauf. Sie war in Straßburg geboren; der Vater war Gascogner, die Mutter Pariserin. Und alle drei waren sie in diese Auvergne verschlagen worden, die sie verabscheuten. Die Rue de l'Éclache, die zum Jardin des Plantes führte, war eng und feucht, trübselig wie ein Keller. Kein einziger Laden, nie ein Passant, nichts als die düsteren Häuserwände mit ihren stets geschlossenen Jalousien. Doch gegen Süden, auf die inneren Höfe hinaus, hatten die Fenster ihrer Wohnung volles Sonnenlicht gehabt. Das Speisezimmer hatte sogar einen breiten Balkon, eine Art Holzgalerie, um deren Arkaden Glyzinen wucherten. Dort war sie, zuerst in der Nähe ihres gelähmten Vaters, dann ans Zimmer gefesselt mit der Mutter, die sich vom geringsten Ausgang erschöpft fühlte, aufgewachsen. Sie wußte von der Stadt und ihren Umgebungen so wenig, daß sie und Claude sich schließlich darüber belustigten, wenn sie seine Fragen mit ihrem ewigen: Ich weiß nicht! beantwortete. Das Gebirge? Ja, nach der einen Seite hin konnte man am Ausgang der Straße Berge sehen. Aber nach der anderen Seite hin sah man, wenn man andere Straßen hinaufging, endlos auf flache Felder. Aber dorthinaus ging man nicht, das war zu weit. Nur an den Puy de Dôme erinnerte sie sich; er war ganz rund wie ein Höcker. Aber in der Stadt selbst würde sie den Weg zur Kathedrale wohl mit geschlossenen Augen finden. Man ging über die Place de Jaude und dann durch die Rue des Gras. Aber nach mehr durfte er sie nicht fragen; alles übrige verwirrte sich, Gäßchen und geneigte Boulevards, war ein lavadunkles Häusermeer, von dem bei Gewitter unter fürchterlich zuckenden Blitzen das Wasser in Strömen herabschoß. Oh, was es dort für Gewitter gab! Sie schauerte noch heute davor. Vor ihrer Kammer, über den Dächern, hatte der Blitzableiter des Museums immer in Flammen gestanden. Im Speisezimmer, das zugleich als Salon diente, hatte sie ein Fenster für sich gehabt, eine tiefe Nische, die groß wie eine Stube gewesen war, wo ihr Arbeitstisch und all ihre kleinen Sachen gestanden hatten. Hier hatte ihr ihre Mutter das Lesen beigebracht. Dort auch war sie, während sie ihren Lehrern zuhörte, eingeschlafen; so hatten die Unterrichtsstunden sie ermüdet. So machte sie sich denn auch jetzt über ihre Unwissenheit lustig. Ah, ein gebildetes Fräulein, die kaum die Namen der französischen Könige und ihre Lebensdaten aufzusagen wußte! Eine berühmte Musikerin, die es bis zu den »Kleinen Booten« gebracht hatte! Eine ausbündige Aquarellmalerin, die keinen Baum fertig bekam, weil die Blätter so schwer nachzuahmen waren! Plötzlich ging sie dann zu den fünfzehn Monaten über, die sie nach dem Tode ihrer Mutter in dem Kloster »Zur Heimsuchung« zugebracht hatte, einem großen Kloster außerhalb der Stadt, mit himmlischen Gärten. Unerschöpflich war sie in den Geschichten von den guten Schwestern, von Eifersüchteleien, allen möglichen Torheiten, unschuldigen Vergehen. Obgleich die Kirche sie bedrückte, hatte sie Nonne werden sollen. Alles war schon so weit, als die Oberin, der sie sehr zugetan gewesen, selber ihrem Aufenthalt im Kloster ein Ende gemacht und ihr die Stelle bei Frau Vanzade verschafft hatte. Noch immer wunderte sie sich, wie die hochwürdige Mutter so klar hatte in ihrer Seele lesen können. Denn seit sie in Paris wohnte, fühlte sie sich der Religion tatsächlich vollkommen entfremdet.

Waren die Erinnerungen aus Clermont erschöpft, wollte Claude wissen, wie sie bei Frau Vanzade lebte, und jede Woche gab sie ihm neue Einzelheiten. In der stillen, verschlossenen Villa in Passy ging das Leben mit einförmiger Regelmäßigkeit, dem Ticken der alten Hausuhr dahin. Zwei altmodische Dienstboten, eine Köchin und ein Bedienter, die seit vierzig Jahren in der Familie waren, gingen geräuschlos in Pantoffeln wie Phantome durch die leeren Zimmer. Manchmal kam, hin und wieder einmal, ein Besuch; irgendein achtzigjähriger General, der so dürr und ausgetrocknet war, daß sein Schritt auf dem Teppich kaum eine Spur hinterließ. Es war ein Haus des Schattens. Die enggeschlossenen Jalousien ließen das Sonnenlicht nur wie den Schein eines Nachtlämpchens durch. Seit die Dame in den Knien das Reißen hatte und blind war, verließ sie nicht mehr das Zimmer und genoß keine andere Zerstreuung, als daß sie sich endlos aus frommen Büchern vorlesen ließ. Oh, wie fühlte sich das junge Mädchen von diesen ewigen Vorlesungen bedrückt! Hätte sie sich doch auf eine Handarbeit verstanden! Mit welcher Freude würde sie Kleider genäht, Hüte garniert, künstliche Blumen gemodelt haben! Daß sie, die soviel gelernt hatte, nichts verstand und daß sie bloß das Zeug zu einer Stütze der Hausfrau, einer halben Bedienten hatte! Außerdem litt sie unter diesem verschlossenen, steifen Haus, aus dem das Leben verbannt schien. Sie bekam es wieder mit Schwindelanfällen, wie in ihrer Kindheit, wenn sie sich ihrer Mutter zuliebe hatte zur Arbeit zwingen wollen. Ihr Blut lehnte sich auf; sie hätte in ihrem trunkenen Bedürfnis nach Leben schreien, davonlaufen mögen. Allein Frau Vanzade war so gütig zu ihr, schickte sie hinaus und trug ihr weite Gänge auf, so daß sie sich schwere Gewissensbisse darüber machte, wenn sie ihr, vom Quai Bourbon zurück, etwas vom Bois de Boulogne vorlügen, irgendeine kirchliche Feier erfinden mußte, obschon sie nie einen Fuß in die Kirche setzte. Täglich schien sich die Neigung der alten Dame für sie zu vermehren. Fortwährend erhielt sie Geschenke von ihr, ein Seidenkleid, eine kleine, antike Taschenuhr, sogar Wäsche. Auch sie war der Dame sehr zugetan. Eines Tages waren ihr die Tränen gekommen, als sie von ihr ihre Tochter genannt worden war, und sie hatte sich von da an, im innersten Herzen von Mitleid bewegt, wie sie sie so alt und gebrechlich sah, geschworen, sie niemals verlassen zu wollen.

»Bah!« sagte Claude eines Morgens. »Sie wird sich schon erkenntlich erweisen, wird Sie zu ihrer Erbin machen.«

Christine war ergriffen.

»Oh, meinen Sie? ... Es heißt, sie hat drei Millionen ... Nein, nein! An dergleichen hab' ich nie gedacht. Ich weiß gar nicht, was dann aus mir werden sollte.«

Claude, der sich abgewandt hatte, fügte in seiner barschen Weise hinzu:

»Wetter, Sie würden reich werden! ... Zuvor wird sie Sie aber sicher verheiraten.«

Aber mit einem hellen Lachen unterbrach sie ihn.

»Etwa mit einem ihrer alten Freunde, vielleicht dem General mit dem silbernen Kinn? ... Ach, lieber Gott!«

So standen sie beide miteinander, als hätten sie sich schon seit langem gekannt, in guter Kameradschaft. Er war in allen Dingen fast ebenso unerfahren wie sie. Über dem Alltag des Lebens stehend, nur mit den romantischen Gestalten seiner Einbildung lebend, hatte er gelegentlich nur mit einem zufällig aufgegriffenen Mädchen zu tun gehabt. Es erschien ihnen, ihr wie ihm, als etwas ganz Natürliches und Einfaches, daß sie sich solchermaßen im geheimen sahen, in aller Freundschaft, ohne jede weitere Galanterie als einen Händedruck, wenn sie kam, und einen, wenn sie wieder ging. Er fragte sich nicht einmal mehr danach, was sie etwa schon vom Leben und vom Manne wissen könnte. Dagegen fand sie ihn schüchtern und beobachtete ihn manchmal mit einem ungewissen, prüfenden Blick, in welchem das unruhige Staunen der Leidenschaft war, die sich selbst noch nicht kannte. Doch noch störte keinerlei heißere Erregung die Freude, die sie aus ihrem Beisammensein zogen. Ihre Hände blieben kühl; munter sprachen sie von allem, disputierten manchmal auch, ganz wie Freunde, die wissen, daß sie einander nicht betrüben können. Doch gestaltete sich diese Freundschaft zu einer so lebhaften, daß sie einander nicht mehr entbehren konnten.

Wenn Christine da war, zog Claude den außen steckenden Schlüssel ab. Sie selbst forderte das, damit niemand sie stören konnte. Schon nachdem sie die ersten Besuche gemacht, hatte sie sich des Ateliers bemächtigt, als wäre sie drin zu Hause. Sie hatte es mit dem Vorsatz, es ein wenig in Ordnung zu halten; denn die hier herrschende Verwahrlosung fiel ihr auf die Nerven. Aber das war keine leichte Sache. Verbot der Maler doch Frau Joseph, aus Angst, daß sich der Staub auf die frischen Gemälde legen könnte, auszufegen. Und als seine Freundin zum erstenmal ein klein wenig hatte aufräumen wollen, hatte er sie mit einem beunruhigt bittenden Blick verfolgt. Warum sollten die Sachen anders gestellt werden? Genügte es nicht, daß man sie zur Hand hatte? Doch sie bestand in so munterer Weise auf ihrem Vorsatz, schien so glücklich darüber, die Hausfrau spielen zu können, daß er ihr schließlich ihren Willen gelassen hatte. Und nun ging sie, sobald sie gekommen war, die Handschuhe ausgezogen und ihr Kleid, um es nicht zu beschmutzen, mit Nadeln in die Höhe gesteckt hatte, ans Werk und brachte den großen Raum in drei Stunden in Ordnung. Der Aschenhaufen vorm Ofen war jetzt verschwunden, vor Bett und Waschtisch stand der Schirm, die Chaiselongue war abgebürstet, spiegelblank glänzte der Schrank, vom fichtenen Tisch waren das Geschirr abgeräumt und die Farbenflecke abgewischt. Die Stühle waren symmetrisch aufgestellt, die zerbrochenen Staffeleien lehnten an der Wand, die große, mit ihren karminroten Blumen prangende Wanduhr schien volltönender zu ticktacken. Es war herrlich; man erkannte den Raum gar nicht wieder. Verblüfft sah er ihr zu, wie sie singend hin und her ging, sich drehte und wendete. War sie noch der Faulpelz, der bei der geringsten Arbeit die schrecklichsten Kopfschmerzen bekam? Aber sie lachte. Bei Kopfarbeit, ja; doch die Arbeit, wozu es Hände und Füße brauchte, die tat ihr gut; sie richtete sich dabei auf wie ein junger Baum. Wie eine Art schlechten Geschmack gestand sie ihre Vorliebe für die niederen häuslichen Arbeiten ein. Das hatte schon ihre Mutter zur Verzweiflung gebracht, deren Erziehungsideal die Kunst, sich anmutig zu benehmen, die Erzieherin mit den feinen Händen, die nichts Grobes anfaßte, gewesen war. Was für Ermahnungen hatte sie daher hören müssen, wenn sie, noch als ganz Kleine, dabei überrascht worden war, wie sie fegte, abwischte und mit Wonne Köchin gespielt hatte! Noch heute würde sie sich weniger gelangweilt haben, wenn sie sich bei Frau Vanzade mit dem Staub hätte herumschlagen dürfen. Aber was hätte die dazu gesagt? Sofort wäre sie keine Dame mehr gewesen. So tat sie sich wenigstens hier, am Quai Bourbon, eine Güte und arbeitete sich, während ihre Augen von dem Vergnügen, von einer verbotenen Frucht zu naschen, leuchteten, rechtschaffen ab.

So fühlte Claude sich jetzt von der liebevollen Sorgfalt einer Frau umgeben. Um sie dazu zu bringen, sich hinzusetzen und in Ruhe mit ihm zu plaudern, bat er sie zuweilen, ihm einen ausgerissenen Ärmel oder das Futter einer Weste zu nähen. Von selber hatte sie sich auch angeboten, seine Wäsche nachzusehen. Aber das machte sie nicht gern; sie hatte es lieber, wenn sie sich rühren konnte. Erstlich verstand sie sich nicht auf das Nähen; sie hielt die Nadel wie ein Mädchen, das in der Verachtung der Näharbeit erzogen worden war. Dann aber brachten sie das unbewegliche Dasitzen, die Aufmerksamkeit, die sie aufwenden mußte, damit die Stiche gleichmäßig wurden, zur Verzweiflung. Das Atelier strahlte von Sauberkeit wie ein Salon, doch der Maler ging noch immer in schadhafter Kleidung umher. Und darüber lachten sie, fanden es drollig.

Wie glücklich verbrachten sie hier im Atelier, wo der rotglühende Ofen wie eine Orgelpfeife summte, die vier kalten, regnerischen Monate! Der Winter isolierte sie noch mehr. Wenn der Schnee die benachbarten Dächer bedeckte und die Spatzen mit den Flügeln an das Fenster schlugen, freuten sie sich darüber, daß sie's warm hatten und mitten in der großen, still gewordenen Stadt so schön für sich waren. Aber ihr Glück beschränkte sich nicht bloß auf diesen engen Winkel: sie hatte ihm schließlich auch gestattet, sie heimzugeleiten. Lange hatte sie allein gehen wollen, da sie es mit der Scham hatte, draußen am Arm eines Mannes gesehen zu werden. Doch als eines Tages plötzlich ein Platzregen niedergegangen war, hatte sie ihm schon gestatten müssen, ihr mit dem Regenschirm das Geleit zu geben. Als der Regen dann aber gleich auf der anderen Seite der Brücke Louis-Philippe aufhörte, hatte sie ihn zurückgeschickt; sie hatten bloß noch ein paar Minuten zusammen vor der Brustwehr gestanden und glücklich, daß sie unter freiem Himmel noch ein wenig beieinander waren, auf die Promenade hinabgeblickt. Unten hatten sich in vier Reihen die großen Apfelkähne ans Hafenpflaster gelehnt, so dicht beieinander, daß die Bretter zwischen ihnen Fußsteige bildeten, auf denen Kinder und Frauen gingen. Und sie hatten ihr Vergnügen an den kollernden Früchten, an den mächtigen Haufen, mit denen die Kähne bis über den Rand gefüllt waren, an den hin und her getragenen Körben; während ein kräftiger, fast schäumender Ruch, ein Ruch wie nach gärendem Apfelmost hauchte, der sich dem feuchten Dunst des Flusses einte. Als in der nächsten Woche wieder sonniges Wetter herrschte und Claude ihr die Einsamkeit der Quais um die Insel Saint-Louis herum rühmte, war sie mit einem Spaziergange einverstanden. Sie gingen den Quai Bourbon und den Quai d'Anjou hinauf. Jeden Augenblick blieben sie, von dem Leben auf der Seine in Anspruch genommen, stehen: Da war das Baggerschiff mit seinen kreischenden Eimern, das Waschboot, von dem das Keifen der Weiber herüberschallte, ein Kran, der unten eine Lastzille entlud. Besonders hatten sie zu staunen, wie es möglich war, daß der lebensvolle Quai des Ormes, der Quai Henri IV. mit seiner mächtigen Böschung, seinem Strand, auf dessen Sandhaufen sich Scharen von Kindern und Hunden tummelten, daß all diese Weitsicht der tätig bevölkerten Stadt die Sicht des verwunschenen Stadtbildes war, die sie in jener ersten Nacht im blutigen Blitzschein erblickt hatte. Dann gingen sie, indem sie ihren Schritt noch mehr verlangsamten, um die Spitze der Insel herum, um die stille Einsamkeit, welche die alten Paläste hauchten, zu genießen. Sie sahen das Wasser zwischen dem Bollwerk der Palisaden der Estakade hinstrudeln. Dann gingen sie den Quai de Béthune und den Quai d'Orleans hin zurück. Angesichts der mächtigen Flußweite drückten sie sich eins an das andere, während ihr Blick dem Port-au-Vin und dem Jardin des Plantes zugewandt war. Im bleichen Himmel blauten die Kuppeln der Monumentalbauten. Als sie zur Brücke Saint-Louis gelangten, mußte er ihr Notre-Dame nennen, die sie nicht wiedererkannte. So von hinten gesehen, bot sie sich zwischen ihren Strebepfeilern, die wie ruhende Tatzen waren, wie ein riesenhaftes, hingekauertes Ungeheuer, dessen langer Rücken von dem Doppelkopf der Türme überragt wurde. Doch ihr eigentlicher Fund war an diesem Tage die westliche Spitze der Insel, dieser beständig vor Anker liegende Schiffsbug, der mitten in der Flucht der beiden Stromarme immer nach Paris hinübersieht, ohne es jemals zu erreichen. Sie stiegen eine sehr steile Treppe hinab und fanden ein einsames, mit großen Bäumen bestandenes Ufer. Es war ein entzückender Schlupfwinkel, mitten in allem Getriebe ein Asyl. Über die Quais, die Brücken hin das ringsum brausende Paris, während sie hier am Rande des Wassers die Wonne kosteten, allein, von niemandem beachtet zu sein. Von da an war dieser Uferhang ihr ländlicher Winkel, ihr Freiluftland, wo sie, wenn die Glühhitze des Ateliers, in dem der rote Ofen bullerte, ihnen zu drückend ward und ihnen die Hände in eine Fieberglut setzte, vor der ihnen bangte, sonnige Stunden kosteten.

Doch hatte sich Christine seither noch immer nicht weiter begleiten lassen als bis zur Promenade. Am Quai des Ormes verabschiedete sie sich jedesmal von Claude, als hätte Paris mit dieser langen Zeile der Quais, der sie folgen mußten, mit seinem Menschengetriebe und der Möglichkeit, daß sie jemandem begegneten, seinen Anfang genommen. Aber Passy war so weit entfernt, und es langweilte sie so, einen so weiten Marsch so ganz allein zu machen, daß sie mit der Zeit nachgab und ihm zunächst gestattete, sie bis zum Hôtel de Ville, dann bis zum Pont-Neuf, dann bis zu den Tuilerien zubringen. Sie vergaß die Gefahr. Alle beide gingen sie jetzt Arm in Arm wie ein junges Ehepaar. Und dieser beständig wiederholte Spaziergang, diese langsame Wanderung auf immer demselben Bürgersteig am Wasser hin, hatte einen unendlichen Reiz gewonnen und erfüllte sie mit einem so schönen Glück, wie sie ein größeres nie wieder empfinden sollten. Im tiefsten Innern gehörten sie eins dem anderen, ohne daß sie sich schon einander hingegeben hatten. Es war, als stiege die Seele der gewaltigen Stadt vom Fluß her zu ihnen herauf und als ob sie sie mit all der Zärtlichkeit umfange, deren warmer Pulsschlag zwischen diesen alten Steinen die Jahrhunderte her gelebt hatte.

Seit die großen Dezemberfröste herrschten, kam Christine nur noch nachmittags. Gegen vier Uhr, wenn die Sonne sich neigte, führte Claude sie am Arm zurück. An Tagen mit klarem Himmel entrollte sich, sobald sie die Brücke Louis-Philippe überschritten hatten, der ganze gewaltige Graben der Quais vor ihren Blicken ins Endlose. Von einem Ende bis zum anderen hüllte die schiefstrahlende Sonne die Häuser des rechten Ufers in einen warmen Goldstaub, während sich das linke Ufer, die Inseln, die Gebäude gegen die Flammenglorie des Sonnenunterganges mit einer schwarzen Linie abhoben. Zwischen diesem leuchtenden und diesem dunklen Rand funkelte mit tausend Glanzlichtern die Seine. Unterbrochen von den winzigen Querstrichen ihrer Brücken: den fünf Bogen der Brücke Notre-Dame, unter dem einzigen der Brücke d'Arcole; dann die Brücke au Change, dann der Pont-Neuf; je weiter entfernt, um so feiner, wobei jede über ihrem Schatten einen lebhaften Lichtschein zeigte und blauseiden mit weißen Spiegellichtern das Wasser glänzte. Während aber zur Linken das dämmernde Profil der Häuser mit dem Schattenriß der spitzen, scharf und schwarz wie Kohle in den Äther stechenden Türme des Palais de Justice abschloß, zog sich die helle Front zur Rechten so weich und weit verfließend dahin, daß sich weit unten der wie eine Zitadelle vorspringende Pavillon de Flore inmitten des rosigen Horizontdunstes wie ein blauduftig lebendes Traumschloß ausnahm. Unter den blattlosen Platanen in Sonne gebadet, wandten die beiden ihre Blicke von all dem Glanz ab und erfreuten sich an bestimmten, immer gleichen Stellen; besonders an einer: dem Quadrat der sehr alten Häuser über der Promenade. Untenkleine Läden mit Eisenblechwaren und Fischereigeräten als erster Stock, darüber ragend Terrassen mit Lorbeerbäumen und wildem Wein bewachsen, und dahinter dann die höheren Gebäude mit ihren verwitterten Fassaden, Wäsche in den Fenstern; alles eine Anhäufung von barocken Bauarten, ein wüstes Durcheinander von Bretter- und Mauerwerk, verfallenen Mauern, schwebenden Gärten, in denen Glaskugeln wie Sterne blitzten. Und sie wanderten weiter. Bald hatten sie die aufeinanderfolgenden großen Bauwerke hinter sich, die Kaserne, das Stadthaus, und wandten ihre Aufmerksamkeit der Stadt auf der anderen Flußseite zu, einem enggeschichteten, glatten Häuserblock, ohne Uferböschung. Über den düsteren Häusermassen glänzten die Türme von Notre-Dame wie frisch vergoldet. Büchertrödlerbuden fingen an, die Brustwehren zu beleben; eine mit Kohlen beladene Zille kämpfte unter einem Bogen der Notre-Dame-Brücke gegen die reißende Strömung an. Hier verweilten sie auch gern an Tagen, wo ungeachtet der rauhen Jahreszeit Blumenmarkt war, atmeten den Duft der ersten Veilchen und des frischblühenden Goldlacks. Zur Linken aber, wo der Fluß weithin frei sich darbot, hinter den steinernen Schilderhäuschen des Justizpalastes, waren inzwischen die kleinen, blassen Häuser des Quai de l'Horloge bis zu den Baumgruppen des Erdwalles aufgetaucht. Dann, wie sie weiterwanderten, traten andere Quais aus dem Nebel der Ferne hervor, der Quai Voltaire, der Quai Malaquais, die Kuppel des Instituts, das viereckige Gebäude des Münzamtes; dann ein langer, grauer Wall von Häuserwänden, bei denen man nicht einmal die Fenster unterscheiden konnte; ein Vorgebirge von Dächern, deren Rauchfangröhren an eine felsige Düne erinnerten, die sich in ein schimmerndes Meer hineinschiebt. Gegenüber aber bot einen Gegensatz der Pavillon de Flore, der jetzt in der letzten Flammenglut des sinkenden Gestirns deutlicher hervortrat. Dann zur Rechten, zur Linken, an beiden Rändern des Wassers, die tiefen Perspektiven des Boulevard Sebastopol und des Boulevard du Palais. Und die neuen Bauwerke des Quai de la Mégisserie, gegenüber die neue Polizeipräfektur, der alte Pont-Neuf mit dem tintenschwarzen Fleck seiner Statue; dann der Louvre, die Tuilerien; dann, im Hintergrund, über Grenelle hin, die endlosen Fernen, das felsige Sèvres und im weiten Strahlentau die Felder. Niemals ging Claude noch weiter mit. Stets hielt Christine ihn vor dem Pont-Royal in der Nähe der großen Bäume des Bades Vigier an. Wenn sie sich dort aber unter einem letzten Händedruck im rot gewordenen Sonnenglanz umwandten und einen Blick zurücktaten, so fanden sie am jenseitigen Horizont die Insel Saint-Louis wieder, von wo sie gekommen waren, und überschauten das undeutliche Ende der Hauptstadt, auf das im Osten vom schiefergrauen Himmel schon die Nacht ihre Schatten breitete.

Oh, was genossen sie gelegentlich dieser allwöchentlichen Streifereien für herrliche Sonnenuntergänge! Die Sonne begleitete sie all diese lebenatmende Heiterkeit der Quais entlang: das Leben auf der Seine, der Tanz der Lichtreflexe auf der dahingleitenden Flut, die vergnüglichen Kaufläden, die warm wie Treibhäuser waren, die Topfblumen der Samenhändler, die zwitschernden Käfige der Vogelhändler, all dieser muntere Lärm von Tönen und Farben, der am Rande des Wassers die ewige Jugend der großen Städte erstehen läßt. Während sie vorwärts wanderten, dunkelte der Glutbrand des Sonnenunterganges zu ihrer Linken über der dunklen Häuserlinie mehr und mehr ins Purpurne hinein. Das Gestirn schien sie zu erwarten, neigte sich gemach, rollte langsam zu den entfernten Dächern hinab, bis sie die Notre-Dame-Brücke überschritten hatten und sich dem breit gewordenen Fluß gegenüber befanden. Über keinem hundertjährigen Hochwald, keiner Gebirgsstraße, keiner Prärie gibt es einen so glorreichen Sonnenuntergang wie hinter der Kuppel des Instituts. Das ist das unter diesem Glorienschein entschlummernde Paris. Bei jedem ihrer Spaziergänge war dieser Glanz ein anderer. Neue Gluten woben ihre Brände in die flammende Krone. Eines Abends, als ein Regenschauer sie überrascht hatte, kam die Sonne hinter dem Regen noch einmal zum Vorschein und entzündete das ganze Gewölk, und es war nur noch dieser glühende, blau und rot irisierende Wasserstaub ihnen zu Häupten. An Tagen mit heiterem Himmel aber stieg die Sonne wie eine Feuerkugel majestätisch in einen stillen Saphirsee hinab. Einen Augenblick wurde ihr Rand von der schwarzen Kuppel des Instituts beschnitten, so daß sie dem abnehmenden Mond glich; dann gewann sie eine bläuliche Nuance und versank in dem blutig gewordenen See. Vom Februar ab weitete sich ihr Tagesbogen, sie sank gerade in die Seine hinein, die in der Ferne wie unter der Annäherung eines glühenden Eisenballes zu sieden anzufangen schien. Doch die größte Pracht, die größten Zauberwunder der Höhen flammten erst an wolkigen Abenden auf. Dann waren es, je nach der Laune des Windes, Schwefelmeere, die an korallene Klippen anbrandeten, und es war wie Paläste und Türme, deren gehäufte Verzierungen und Ränder, wie sie brannten und zusammenstürzten, durch ihre Bresche glühende Lavaströme hindurchfluten ließen. Oder mit einemmal durchdrang das schon verschwundene Gestirn diesen Wall mit einem solchen stäubenden Lichtstrom, daß es wie von Funkengarben aufsprühte, die von einem Ende des Himmels bis zum anderen dahinfuhren wie Schwärme von goldenen Pfeilen. Dann kam die Dämmerung, und sie nahmen, diesen letzten Glanz noch in den Augen, voneinander Abschied. Und ihnen war, als nähme dies triumphierende Paris teil an ihrer Freude, die sie unersättlich gelegentlich dieses Spazierganges an den alten steinernen Böschungen hin immer wieder von neuem empfanden.

Eines Tages aber ereignete sich das, was Claude, ohne es auszusprechen, gefürchtet hatte. Christine schien nicht mehr daran zu glauben, daß man gesehen werden könnte. Wer kannte sie denn übrigens? Sie glaubte stets unbekannt so mit ihm gehen zu können. Er aber dachte an die Kameraden. Und zuweilen hatte er es mit einem kleinen Schreck, wenn er von fern den Rücken eines seiner Bekannten zu erkennen glaubte. Eine Scham setzte ihm zu, und der Gedanke, daß man das junge Mädchen fixieren, es anreden, gar mit ihm scherzen könnte, verursachte ihm ein unerträgliches Mißbehagen. Gerade an diesem Tage aber, wie sie sich, als sie dem Pont des Arts nahten, enger an seinen Arm schmiegte, stieß er auf Sandoz und Dubuche, die die Stufen der Treppe herabstiegen. Ihnen auszuweichen war unmöglich; man befand sich beinahe einander gegenüber. Übrigens hatten ihn die Freunde ohne Zweifel bemerkt, denn sie lächelten. Sehr bleich ging er weiter. Schon glaubte er alles verloren; denn er sah, wie Dubuche eine Bewegung auf ihn zu machte. Doch schon hielt Sandoz ihn zurück und führte ihn fort. Mit gleichgültiger Miene gingen sie vorbei und verschwanden, ohne sich auch nur umzuwenden, im Hofe des Louvre. Beide hatten das Original jenes Pastellkopfes erkannt, den der Maler mit der Eifersucht eines Liebenden vor ihnen verborgen hatte. Ohne etwas bemerkt zu haben, setzte Christine weiter ihren Weg fort. Claude aber, der es mit einem heftigen Herzklopfen hatte, antwortete ihr mit erstickter Stimme. Er war über den Takt der Freunde bis zu Tränen gerührt und floß vor Dankbarkeit über.

Einige Tage darauf gab's noch einen Schreck. Er hatte Christine gerade nicht erwartet und Sandoz zu sich geladen. Dann aber, als sie im Vorüber für eine Stunde zu ihm heraufgekommen war – eine von den Überraschungen, die sie gern mochte –, hatte sie nach ihrer Gewohnheit den Schlüssel abgezogen. Gleich darauf aber wurde vertraulich mit der Faust an die Tür gehämmert. Sofort wußte er an dieser Art sich anzukündigen, wer kam, und in seiner Bestürzung über das Abenteuer riß er einen Stuhl um. Jetzt war es unmöglich, nicht zu antworten. Aber Christine war erbleicht und beschwor ihn mit einer so verzweifelten Handbewegung, daß er den Atem anhielt und sich nicht regte. Die Schläge gegen die Tür dauerten weiter. Eine Stimme rief: »Claude! Claude!« Doch noch immer rührte er sich nicht, kämpfte aber mit sich, mit bleichen Lippen, den Blick zu Boden gesenkt. Es blieb ein Schweigen. Dann ging es hinab, die Holzstiegen knackten. Ein tiefschmerzlicher Seufzer entrang sich ihm; jeder dieser sich entfernenden Schritte durchzuckte ihn mit Gewissensbissen, als hätte er die Freundschaft seiner ganzen Jugend verleugnet.

Doch eines Nachmittags klopfte es wieder an. Claude konnte bloß noch verzweifelt flüstern: »Der Schlüssel steckt!«

Tatsächlich hatte Christine vergessen, ihn abzuziehen. Sie erschrak, flüchtete sich hinter den Schirm, sank, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, um das Geräusch ihres Atems zu ersticken, in sitzender Haltung auf das Bett.

Es wurde stärker gepocht, gelacht, und der Maler mußte »Herein!« rufen.

Sein Mißbehagen wuchs, als er Jory bemerkte, der ritterlich Irma Bécot hereinführte. Seit vierzehn Tagen hatte Fagerolles sie ihm abgetreten, oder vielmehr, er hatte sich, aus Furcht, er könnte sie ganz verlieren, ihrem Einfall gefügt. Sie war zur Zeit mit einer solchen Raserei auf die Ateliers versessen, daß sie jede Woche in einem anderen ihre drei Hemden zusammenpackte und es verließ, um, wenn ihr der Sinn danach stand, einmal für eine Nacht wiederzukommen.

»Sie hat dein Atelier besuchen wollen, und hier bring' ich sie«, erklärte der Journalist.

Aber ohne weitere Umstände ging sie schon umher und rief ganz ungeniert:

»Oh, wie drollig ist das hier! ... Ach, was für komische Malerei! ... He, seien Sie lieb, zeigen Sie mir alles, ich will alles sehen ... Wo schlafen Sie?«

Claude war außer sich vor Angst, sie könnte den Bettschirm öffnen. Er stellte sich vor, wie Christine dahinter zumute war, und war schon über das untröstlich, was sie da zu hören bekam.

»Weißt du, um was sie dich bitten will?« fuhr Jory munter fort. »Wie, du entsinnst dich nicht? Du hast ihr doch versprochen, etwas nach ihr zu malen ... Sie wird dir zu allem stehen, was du willst. Nicht wahr, Schatz?«

»Natürlich! Sofort!«

»Es ist nur ...«, sagte der Maler in tausend Ängsten. »Mein Bild hier wird mich noch bis zum Salon in Anspruch nehmen ... Es ist da eine Figur, die mir nicht geraten will! Unmöglich, daß ich's mit diesen verwünschten Modellen schaffe!«

Sie stellte sich vor das Bild, hob altklug das Näschen.

»Das nackte Weib da wohl, im Grase? ... Gut! Sagen Sie doch: kann ich Ihnen vielleicht von Nutzen sein?«

Sofort begeisterte sich Jory dafür.

»Wahrhaftig, das ist 'ne Idee! Du suchst ja immer nach einem schönen Mädchen und findest es nicht! ... Sie soll sich ausziehen! Zieh dich aus, Schatz! Zieh dich 'n bißchen aus, daß er sieht.«

Mit der einen Hand riß Irma schnell ihren Hut herab und nestelte mit der anderen ungeachtet des energischen Widerspruchs Claudes, der sich wehrte, als wolle man ihm Gewalt antun, an den Haken ihres Korsetts.

»Nein, nein! Es ist unnötig! ... Die Dame ist zu klein ... Es ist nicht das, was ich brauche, gar nicht!«

»Aber das macht ja nichts!« sagte sie. »Sie können ja mal versuchen.«

Auch Jory blieb hartnäckig.

»Laß doch! Du machst ihr doch ein Vergnügen damit ... Sie steht sonst nicht Akt, sie braucht's nicht. Aber sie zeigt sich gern. Am liebsten würde sie ohne Hemd leben ... Zieh dich aus, Schatz! Bloß die Brust, wenn er Angst hat, du könntest ihn fressen.«

Endlich erreichte Claude, daß sie sich nicht auszog. Er stotterte Entschuldigungen. Später würde er sich sehr glücklich schätzen; aber in diesem Augenblick fürchte er, daß ein neues Modell ihm die Sache verwirren könnte. Sie begnügte sich, während sie ihn mit ihren hübschen, leichtfertigen Augen und einem verächtlichen Lächeln fixierte, die Achseln zu zucken.

Dann plauderte Jory von den Freunden. Warum war Claude letzten Donnerstag nicht bei Sandoz gewesen? Man sah ihn ja gar nicht mehr. Dubuche beschuldige ihn schon, daß er sich von einer Schauspielerin aushalten ließe. Oh, zwischen Fagerolles und Mahoudeau habe es mit Bezug der Anwendung der schwarzen Kleidung bei einer Skulptur einen Krach gegeben. Und Gagnière sei letzten Sonntag aus einer Wagnervorstellung mit blaugeschlagenem Auge heimgekehrt. Er selber, Jory, hätte im Café Baudequin bei einem Haar wegen eines seiner »Tambour«-Artikel ein Duell auf den Hals bekommen. Er nähme aber auch die Viersousmaler der erstohlenen Berühmtheiten gründlich vor. Sein Feldzug gegen die Jury des Salons hätte einen Heidenlärm erregt; es sollte auch kein heiler Fetzen an diesen Talmiidealisten bleiben, die den Einzug der Natur in die Kunst hemmten.

Mit brennender Ungeduld hörte Claude das alles mit an. Er hatte wieder zur Palette gegriffen und bewegte sich vor seiner Leinwand hin und her, als ob er Stecknadeln unter den Füßen hätte. Endlich verstand der andere.

»Ach, du willst arbeiten. Na, wir wollen nicht länger stören.«

Noch immer ließ Irma ihr wunderlich beobachtendes Lächeln an dem Maler haften. Sie war verwundert, daß dieser Simpel sie nicht mochte, und hatte es mit der Laune, ihn sich nun erst recht zu angeln. Sein Atelier war greulich und er selber nichts weniger als eine Schönheit; aber warum spielte er sich auf den Tugendhaften hinaus? In ihrer raffiniert jugendlichen Verdorbenheit machte sie sich einen Augenblick innerlich über ihn lustig und sah schon ihren Sieg vor Augen. An der Tür bot sie sich ihm noch einmal an, wobei sie mit einem langen, warmen Druck seine Hand hielt.

»Jederzeit!«

Sie waren fort. Claude mußte selber den Schirm beiseiteschieben. Denn es fehlte Christine an Kraft, sich vom Bettrand, auf dem sie saß, in die Höhe zu bringen. Sie sprach von diesem Mädchen mit keinem Wort, erklärte nur, daß sie große Angst ausgestanden hätte, und wollte sofort aufbrechen. Sie befürchtete, es möchte noch einmal so anklopfen. Ihr unruhiger Blick verriet den Aufruhr ihres Inneren und die Dinge, die sie für sich behielt.

Lange war übrigens die rohe Kunst, von der sie sich hier umgeben sah, das mit all diesen gewaltsamen Bildern angefüllte Atelier ein Gegenstand des Mißbehagens für sie geblieben. Sie konnte sich nicht an die unverhüllten Nacktheiten der Aktstudien gewöhnen, an die krasse Wirklichkeit der in der Provence gemalten Studien, fühlte sich von ihnen verletzt und abgestoßen. Sie verstand von alldem hauptsächlich aus dem Grunde nichts, weil sie in der liebevollen Bewunderung einer anderen Kunst aufgewachsen war: jener zarten Aquarelle ihrer Mutter, jener traumhaft zarten Fächer, auf denen lilafarbene Liebespaare in blauen Gärten schwebten. Oft hatte auch sie selbst gern kleine, schülerhafte Landschaften gezeichnet; zwei, drei immer wieder benutzte Motive: einen See mit einer Ruine, eine Wassermühle, eine Sennhütte mit weißbeschneiten Tannen. Sie konnte sich nicht genug darüber wundern, wie es bloß möglich war, daß ein intelligenter Bursch so häßlich, falsch, so ganz wider alle Vernunft zu malen imstande war. Denn sie fand diese Wirklichkeit nicht bloß bis zum Monströsen unschön, sondern auch jeder erlaubten Wahrheit zuwider. Er mußte darin doch reinweg nicht recht normal sein.

Eines Tages wollte Claude durchaus ein Skizzenbüchlein sehen, ihr altes Album aus Clermont, von dem sie ihm gesprochen hatte. Nachdem sie sich lange gesträubt, brachte sie es, im Grunde geschmeichelt und sehr begierig, was er dazu sagen würde, mit. Lächelnd durchblätterte er es. Als er aber schwieg, war sie es, die das Wort ergriff und flüsterte:

»Sie finden das schlecht, nicht?«

»Ach nein«, antwortete er. »Harmlos ist es.«

Trotz des gutmütigen Tones, der es zu einer liebenswürdigen machte, fühlte sie sich von dieser Äußerung verletzt.

»Ich habe allerdings bloß ein paar Stunden bei Mama gehabt! ... Ich liebe an einem Bild, daß es sauber gemacht ist und daß es anspricht.«

Jetzt ließ er ein herzliches Lachen vernehmen.

»Gestehen Sie, daß Sie meine Malerei nicht vertragen können. Ich habe schon gemerkt, Sie verziehen den Mund und haben ganz angstvolle Augen ... Ah, gewiß, das ist keine Malerei für Damen und noch weniger für junge Mädchen ... Aber Sie werden sich daran gewöhnen; das Auge muß nur erst dazu erzogen werden. Dann werden Sie sehen, daß das, was ich da mache, sehr gesund und sehr anständig ist.«

Und tatsächlich gewöhnte sich Christine nach und nach daran. Doch anfangs fiel ihr der neue Kunstgeschmack nicht leicht. Um so weniger als Claude infolge der Verachtung, die er dem weiblichen Urteil entgegenbrachte, sie nicht unterwies, im Gegenteil vermied, mit ihr über Kunst zu sprechen, als Wollte er diese Leidenschaft seines Lebens für sich behalten und gesondert von der neuen, die ihn jetzt ergriffen hatte. Allein Christine kam in die Gewohnheit hinein. Sie nahm schließlich Anteil an diesen abstoßenden Bildern, als sie wahrnahm, welche herrschende Stelle sie in der ganzen Existenz des Malers einnahmen. Das war die erste Stufe. Sein Eifer, diese vollkommene Hingabe seines ganzen Wesens an die Arbeit, berührte sie tief. War das nicht rührend? War's nicht ein sehr guter Zug von ihm? Als sie dann aber die Freuden und Schmerzen wahrnahm, die ihn erschütterten, je nachdem ihm die Arbeit gut oder schlecht vonstatten gegangen war, gelangte sie von selbst dazu, daran teilzunehmen. Sie war traurig, wenn er traurig war, und war er bei froher Stimmung, so freute sie sich. Und jetzt war es ihre erste Sorge, wenn sie kam: war's ihm mit der Arbeit geglückt, war er: mit dem, was er, seit sie sich zuletzt gesehen, gemacht hatte, zufrieden? Nach Ablauf des zweiten Monats war sie so weit gewonnen, daß sie sich ohne Furcht vor die Bilder hinstellte. Zwar billigte sie diese Malweise noch immer nicht; aber sie fing an, gewisse Kunstausdrücke zu wiederholen, erklärte sie für »kräftig gemalt, keck im Aufbau, gut belichtet«. Er erschien ihr so gut, sie war ihm so zugetan, daß sie, nachdem sie es zuerst entschuldigt hatte, daß er so greuliche Sachen hinschmierte, jetzt dazu gelangt war, Vorzüge herauszufinden, um auch sie ein wenig zu lieben.

Doch mit dem großen, für die nächste Ausstellung bestimmten Gemälde vermochte sie sich noch immer nicht zu befreunden. Die Aktstudien aus dem Atelier Boutin und die Studien aus Plassans betrachtete sie schon ohne Mißfallen: doch noch immer nahm sie an dem nackten Weib im Gras Anstoß. Es handelte sich hier um einen persönlichen Groll, um die Scham darüber, daß sie einen Augenblick geglaubt hatte, sich selbst in ihm wiederzuerkennen, um eine heimliche Befangenheit diesem großen Körper gegenüber, der sie noch immer verletzte, obgleich die Ähnlichkeit immer mehr aus ihm verschwand. Anfangs hatte sie ihren Protest damit zum Ausdruck gebracht, daß sie den Blick davon abwandte. Jetzt aber blieb sie minutenlang davor stehen und verharrte in stummer, angestrengter Betrachtung. Wie kam es, daß die Ähnlichkeit so ganz verschwunden war? In dem Maße, als der Maler sich verbiß, niemals zufrieden, hundertmal auf dieselbe Einzelheit zurückkommend, verlor sich die Ähnlichkeit jedesmal um ein weniges. Und ohne daß sie sich's zu erklären vermochte, ohne daß sie sich's auch nur zu gestehen wagte, empfand sie, deren Schamgefühl sich gelegentlich ihres ersten Besuches so empört hatte, jetzt einen wachsenden Verdruß, als sie sah, daß so gar nichts mehr in der Gestalt von ihr übrigblieb. Es war ihr, als müßte ihre Freundschaft darunter leiden; mit jedem Zug, den er entfernte, fühlte auch sie sich um etwas von ihm ferner gerückt. Liebte er sie nicht, daß er sie solcherweise aus seinem Werk verbannte? Und wer war das neue Weib, das unbekannte Gesicht, das unbestimmt unter dem ihren hindurchblickte?

Claude, der darüber verzweifelt war, den Kopf verdorben zu haben, wußte nicht recht, wie er es anfangen sollte, sie zu bitten, daß sie ihm für ein paar Stunden Modell stand. Sie hätte sich nur hinzusetzen brauchen, er würde bloß Andeutungen genommen haben. Aber er hatte sie schon so mißgelaunt gesehen, daß er befürchtete, sie noch mehr aufzubringen. Nachdem er sich schon vorgenommen, sie mit unbefangener Munterkeit darum zu bitten, hatte er dann doch nicht das rechte Wort gefunden, hatte sich, als hätte es sich um etwas Unschickliches gehandelt, mit einemmal geschämt.

Eines Nachmittags erschreckte er sie durch einen jener Zornanfälle, denen er selbst ihr gegenüber nicht Herr werden konnte. Nichts war ihm die Woche über geglückt. Er sprach davon, daß er seine Leinwand abschaben wollte, raste wütend hin und her, ließ seine üble Laune an den Möbeln aus. Mit einemmal aber faßte er sie bei den Schultern und drängte sie auf die Chaiselongue:

»Ich bitte Sie! Leisten Sie mir diesen Dienst, oder bei meiner Ehre, ich gehe daran zugrunde!«

Sie war ganz verdutzt, verstand nicht.

»Was? Was wollen Sie?«

Dann aber, als sie sah, wie er nach seinen Pinseln griff, fügte sie ohne weitere Überlegung hinzu:

»Ah so ... Warum haben Sie mir das nicht schon längst gesagt?«

Sie lehnte sich von selbst auf ein Kissen zurück und schob den Kopf unter den Nacken. Doch dann wurde sie ernst. Sie war bestürzt und in Verwirrung, daß sie ihm so schnell nachgegeben hatte. Denn sie hatte ja eigentlich keine Neigung dazu, hatte ja geschworen, ihm nie wieder als Modell dienen zu wollen.

Er aber rief entzückt:

»Wirklich! Sie willigen ein? ... Wetter, was für ein herrliches Weib will ich nach Ihnen bilden!«

Von neuem sagte sie, ohne zu überlegen:

»Oh, aber nur den Kopf!«

Er aber stotterte in der Befürchtung, zu weit gegangen zu sein:

»Natürlich, natürlich! Bloß den Kopf!«

Es trat ein verlegenes Schweigen ein. Er machte sich an die Arbeit, während sie, die Augen verloren vor sich hingerichtet, unbeweglich dalag und sich unruhige Gedanken machte, ein so unbedachtes Wort gesagt zu haben. Schon verursachte ihr ihr Entgegenkommen Gewissensbisse, als hätte sie sich etwas zuschulden kommen lassen, wenn sie gestattete, daß das nackte, in der Sonne liegende Weib ihre Züge trüge.

In zwei Sitzungen stellte Claude den Kopf fertig. Er jauchzte vor Freude, rief, daß das das Beste wäre, was er zustande gebracht. Und tatsächlich hatte er nie ein so lebensvolles, in einem so wahren Licht gebadetes Gesicht gemalt. Erfreut darüber, ihn so glücklich zu sehen, war Christine guten Mutes. Sie fand ihren Kopf sehr schön; nicht sehr ähnlich zwar, doch von erstaunlichem Ausdruck. Lange stand sie vor dem Bild, blinzelte, trat bis zur Wand zurück.

»Jetzt«, sagte er endlich, »mache ich die Sache schon mit einem Modell ... Ah, endlich werd' ich mit diesem verwünschten Weib fertig!«

In einem Anfall knabenhafter Ausgelassenheit ergriff er Christine und tanzte mit ihr umher, was er den »Siegestanz« nannte. Sie lachte hellauf, war ganz entzückt von dem Tanz, und alles Mißbehagen, all ihr unruhiges Bedenken war geschwunden.

Doch in der folgenden Woche zeigte sich Claude wieder finster und verstimmt.

Er hatte als Modell für den Leib Zoé Piédefer gewählt; doch sie hatte ihm nicht gegeben, was er brauchte. Der Kopf, der so fein geworden war, wollte, wie er sagte, nun nicht mehr zu den schlechten Schultern stimmen. Trotzdem wollte er es zwingen, kratzte weg, fing von neuem an. Gegen Mitte Januar packte ihn die Verzweiflung, und er ließ von dem Bilde ab, lehnte es wieder gegen die Wand. Dann fing er vierzehn Tage drauf mit einem anderen Modell wieder an, der langen Judith. Das zwang ihn wieder, die Abtönung zu ändern. Wieder wurde es nichts. Er ließ noch einmal Zoé kommen, wußte nicht mehr, wo er sich hintun sollte, war vor Ungewißheit und Angst ganz krank. Das Schlimme war, daß ihm bloß noch die Mittelfigur soviel Mühe machte. Denn das übrige, Bäume, die beiden kleinen Weibgestalten, der Herr im Jackett waren fertig und durchaus gelungen, stellte ihn vollkommen zufrieden. Februar ging zu Ende; es blieben bloß noch ein paar Tage, dann mußte das Bild in die Ausstellung. Er war niedergeschlagen bis zum äußersten.

Eines Abends fluchte er vor Christine, und es entfuhr ihm dei zornige Ausruf: »Zum Donnerwetter! Setzt man denn den Kopf eines Weibes auf den Rumpf eines anderen? ... Ich verdiente, daß ich mir die Hand abhaute!«

In seinem Innern lebte jetzt nur noch ein Gedanke: von Christine zu erreichen, daß sie ihm für die ganze Gestalt säße. Langsam war ihm das so gekommen. Zuerst war es bloß ein flüchtig aufgetauchter Wunsch gewesen, den er als unsinnig verworfen hatte. Dann hatte er es immer wieder von neuem erwogen, und endlich war es unter der harten Notwendigkeit zu einem stachelnden Wunsch geworden. Ihr Busen, den er damals für einige Minuten gesehen hatte, setzte ihm mit hartnäckiger Erinnerung zu. Er sah ihn in seiner jugendlichen Frische wieder vor sich, war ihm unentbehrlich. Wenn er ihn nicht haben konnte, konnte er nur gleich auf sein Bild verzichten; denn keine andere würde ihm Genüge leisten. Wenn er stundenlang, auf einen Stuhl gesunken, dasaß und sich in ohnmächtiger Verzweiflung verzehrte, weil er auch nicht einen Pinselstrich mehr. zu tun vermochte, gelangte er zu heroischen Entschlüssen: Sobald sie hereinträte, wollte er ihr all seine Pein sagen, mit so rührenden Worten, daß sie vielleicht einwilligte. Aber dann kam sie mit ihrem kameradschaftlich zutraulichen Lächeln, in ihrem züchtigen Kleid, das nichts von ihrem Körper sehen ließ, und er verlor den Mut, wandte aus Furcht, sie könnte ihn dabei überraschen, wie er unter ihrem Leibchen nach der weichen Linie ihres Körpers suchte, den Blick ab. Man konnte von einer Freundin nicht einen solchen Dienst fordern; niemals würde er die Kühnheit dazu vermögen.

Und doch, als er sich eines Abends anschickte, sie heimzubegleiten, und sie, während sie den Hut aufsetzte, die Arme hob, standen sie ein paar Minuten Auge in Auge einander gegenüber: er erzitternd vor dem Anblick der Spitzen ihrer in die Höhe gehobenen, sich durch den straff gespannten Stoff hindurchzeichnenden Brüste; sie so ganz mit einemmal ernst und bleich, daß er sich erraten fühlen mußte. Die Quais entlang sprachen sie kaum. Es blieb auch zwischen ihnen angesichts des herrlichen kupferroten Sonnenuntergangs so. Hernach las er noch zweimal ihrem Blick ab, daß sie um den ihn beständig bewegenden Gedanken wußte. Tatsächlich hatte von dem Augenblick an, wo er daran dachte, ganz unwillkürlich auch sie daran gedacht, zumal ihre Aufmerksamkeit durch unfreiwillige Anspielungen seinerseits geweckt worden war. Anfangs war sie von der Sache nur obenhin berührt worden. Aber dann mußte sie sich immer wieder damit beschäftigen. Doch glaubte sie nicht, daß sie erst nötig haben würde, sich zu wehren; denn es schien ja so ganz außer aller Möglichkeit, eine Einbildung, von der man sich ja schämen mußte, auch nur geträumt zu haben. Es kam ihr auch nicht einmal der Gedanke, daß er es wagen könnte, sie darum zu bitten. Sie kannte ihn jetzt hinreichend. Mit einem Hauch würde sie ihn zum Schweigen gebracht haben, bevor er auch nur die ersten Worte gestottert haben würde. Selbst gegen seine plötzlichen Zornausbrüche fühlte sie sich gewappnet. Die Sache war einfach töricht. Niemals! Niemals!

Tage gingen hin. Die fixe Idee, die sich zwischen ihnen festgesetzt hatte, wuchs. Sobald sie beieinander waren, konnten sie an nichts anderes denken. Sie ließen keinen Laut darüber fallen, doch ihr Schweigen war beredt genug. Sie wagten keine Bewegung, tauschten kein Lächeln mehr, ohne daß diese Sache hineinspielte, die laut auszusprechen unmöglich war und die sie doch bis zum Überströmen erfüllte. Bald hatte es sich ihres ganzen kameradschaftlichen Verkehrs bemächtigt. Wenn er sie ansah, kam sie sich durch seinen Blick wie entkleidet vor. Ganz harmlose Worte schienen voller sinnlicher Anspielung. Jeder Händedruck, den er ihr gab, schien über das Handgelenk hinauszugehen und überrieselte ihren Leib mit einem leisen Schauer. Das, was sie bis jetzt vermieden hatten, das unruhige Sichbewußtwerden ihrer Vereinigung, das Erwachen des Mannes und des Weibes in ihrem schönen Freundschaftsverhältnis, kam endlich beim beständigen Heraufbeschwören der Vorstellung von ihrer jungfräulichen Nacktheit zum Durchbruch. Ohne daß sie selbst davon wußten, wurde dieses heimliche Fieber ihnen allmählich offenbar. Gluten stiegen ihnen in die Wangen; sie erröteten, wenn sie sich auch nur mit dem Finger streiften. Von jetzt ab peitschte ihr Blut eine beständige Erregung. Und in dieser Ergriffenheit ihres ganzen Wesens steigerte sich die Marter, die sie sich verschwiegen, ohne sie doch verbergen zu können, bis zu Beklemmungen und tiefen Seufzern, die sich ihrer Brust entrangen.

Gegen Mitte März fand Christine Claude gelegentlich eines ihrer Besuche ganz aufgerieben vor Kummer vor seinem Bild sitzen. Er hatte sie nicht einmal kommen hören, blieb regungslos, die Augen leer und hohl auf das unvollendete Werk gerichtet. In drei Tagen war der Termin für die Beschickung des Salons abgelaufen.

»Nun?« fragte sie sanft, über seinen verzweifelten Zustand auch ihrerseits in Verzweiflung.

Er fuhr zusammen und wandte sich nach ihr um.

»Nun! Es ist aus! Ich kann dies Jahr nicht ausstellen ... Ah, und wieviel hab' ich mir davon versprochen!«

Beide verfielen wieder in ihre, von der so wichtigen Angelegenheit verworren erregte Niedergeschlagenheit. Dann fuhr sie, laut vor sich hindenkend, fort:

»Noch wär' es Zeit!«

»Zeit? Ah, nein! Dann müßte sich wohl ein Wunder ereignen. Wo, denken Sie, soll ich noch ein Modell herbekommen? ... Wissen Sie, seit heut' morgen plag' ich mich damit ab und glaubte einen Augenblick schon eine Idee zu haben: Ja, daß ich allenfalls dies Mädchen aufsuchen könnte, diese Irma, die damals kam, als Sie hier waren. Ich weiß wohl, daß sie klein und rund ist, daß ich vielleicht alles ändern müßte: aber immerhin ist sie jung, ginge es wohl mit ihr ... Ja, ich will's mit ihr versuchen ...«

Er unterbrach sich. Die brennenden Augen, mit denen er sie ansah, sagten deutlich: »Ah, Sie sind da! Ah, es wäre das erwartete Wunder, der sichere Sieg, wenn Sie nur dies äußerste Opfer bringen könnten! Ich flehe Sie an, ich bitte Sie wie eine angebetete Freundin, die schönste, die keuscheste!«

Hochaufgerichtet, sehr bleich vor ihm stehend, vernahm sie jedes dieser unausgesprochenen Worte; und seine so heiß bittenden Augen verfehlten nicht, ihre Macht auf sie zu üben. Ohne Hast nahm sie Hut und Pelzmantel ab. Dann fuhr sie mit derselben ruhigen Bewegung fort, nestelte das Leibchen auf, zog es ab, auch das Korsett, ließ die Röcke fallen, knöpfte auf den Schultern das Hemd auf und ließ es bis zu den Hüften herabgleiten. Sie hatte nicht ein Wort gesprochen, schien abwesend, so wie sie sich an den Abenden zu entkleiden pflegte, wo sie in ihre Kammer eingeschlossen sich in irgendeiner Träumerei verlor: mechanisch, ohne darauf zu achten. Warum sollte sie eine Nebenbuhlerin ihren Leib darbieten lassen, da sie ihm ja doch schon ihr Gesicht geliehen? Mit all ihrer Neigung, ganz wollte sie auf dem Bilde sein; sie ward sich bewußt, welch eifersüchtigen Schmerz ihr dieser monströse Bastard da auf dem Bilde schon seit langem verursacht hatte. Noch immer stumm legte sie sich in ihrer jungfräulichen Nacktheit auf die Chaiselongue, schloß die Augen, tat einen Arm unter den Kopf, nahm die Pose ein.

Starr vor übermächtiger Freude hatte er zugesehen. Und er erkannte sie wieder. Die so oft in Gedanken heraufbeschworene Vision gewann mit einem Schlage wieder Leben. Es war die noch schmächtige, aber schon weiche, jugendfrische, kindliche Anmut, wie er sie damals an ihr gesehen hatte. Von neuem erstaunte er: Wo barg sie diesen erblühten Busen, daß man ihn unterm Kleid vor kaum wahrnahm? Nicht ein Wort sprach er mehr, machte sich in dem tiefen Schweigen, das eingetreten war, an die Arbeit. Und drei lange Stunden hindurch förderte er sie mit solchem Feuer und einer derartigen Hingabe, daß er ein herrliches Abbild ihres ganzen Körpers fertigstellte. Noch nie hatte ihn der weibliche Körper bis zu einem solchen Grade berauscht; das Herz pochte ihm wie einer nackten Göttin gegenüber. Er näherte sich ihr unter der Arbeit nicht, war überrascht von dem verklärten Ausdruck ihres Gesichtes, dessen etwas derbe und sinnliche Kinnladen durch die sanfte, ruhige Bildung der Stirn und der Wangen gemildert wurden. Drei Stunden lang rührte sie sich nicht, atmete kaum, gab ihre jungfräuliche Schönheit hin, ohne sich zu schämen oder zu erschauern. Beide fühlten, daß, wenn sie auch nur ein Wort sprächen, sie aus dem Gleichgewicht kommen würden. Hin und wieder aber tat sie ihre klaren Augen auf und heftete ihren Blick auf einen unbestimmten Punkt, blieb so einige Zeit, ohne daß Claude etwas von ihren Gedanken zu erraten vermochte, schloß sie dann wieder, sank mit dem geheimnisvollen, ihr von ihrer Pose vorgeschriebenen Lächeln in ihre schöne, marmorgleiche Ruhe zurück.

Mit einer Handbewegung sagte Claude endlich an, daß er fertig war. Wieder in seine Schüchternheit gefallen, rannte er, als er ihr möglichst schnell den Rücken zukehren wollte, gegen einen Stuhl an, während Christine hocherrötend die Chaiselongue verließ. Hastig, von einem jähen Frösteln überlaufen und so erregt, daß sie ihr Kleid schief zuhakte, kleidete sie sich wieder an, zog ihre Ärmel herunter und den Kragen in die Höhe, damit kein Teilchen ihrer Haut entblößt bliebe. Sie hatte sich schon in ihren Pelz gehüllt, als er, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, noch immer nicht wagte, einen Blick auf sie zu richten. Doch dann trat er zu ihr hin, und zögernd, in einer Bewegung, die ihnen beiden die Rede benahm, sahen sie einander an. War es Traurigkeit, eine unsägliche, unbewußte, unschuldige Traurigkeit, die sie erfüllte? Dann, als hätten sie ihre Existenz zerstört und an alle Tiefe des menschlichen Elends gerührt, schwollen ihre Lider von Tränen. Dann aber küßte er sie, ohne auch nur ein Wort des Dankes finden zu können, gerührt und blutenden Herzens auf die Stirn.


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