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IX

Da Claude sein grosses Bild nicht in dem kleinen Atelier der Rue de Douai malen konnte, entschloß er sich, außerhalb irgendeinen Schuppen zu mieten, der hinlänglichen Raum bot. Und er fand das Geeignete, als er auf dem Montmartre umherstrich, in der Mitte der Rue Tourlaque, dieser Straße, die sich hinter dem Friedhof hinabzieht und von der aus man Clichy bis zu den Sümpfen von Gennevilliers beherrscht. Es war der ehemalige Trockenschuppen eines Färbers; eine Baracke von fünfzehn Meter zu zehn Meter Breite, deren Planken und Gipsbewurf von allen Seiten den Wind durchließ. Man vermietete ihm das für dreihundert Franken. Der Sommer stand vor der Tür, er würde sein Bild fertigstellen und dann kündigen.

In seinem Arbeitsfeuer und der besten Zuversicht entschloß er sich zu allen notwendigen Ausgaben. Da ihm sein Erfolg ja feststand, warum sollte er ihn durch unnötige Vorsicht hemmen? So machte er denn von seinem Rechte Gebrauch, griff sein Kapital an und nahm, ohne erst viel zu rechnen. Anfangs verheimlichte er es vor Christine, denn sie hatte ihn schon zweimal davon zurückgehalten. Als er es ihr aber mitteilen mußte, bequemte auch sie sich, nachdem sie ihm eine Woche lang heftige Vorwürfe gemacht hatte, und freute sich über das gute Auskommen, in dem man jetzt lebte, und wie angenehm es war, immer bei Geld zu sein. Sie hatten auf diese Weise ein paar sorglose Jahre vor sich.

Bald lebte Claude bloß noch seiner Arbeit. Er hatte das große Atelier dürftig mit ein paar Möbeln ausgestattet: mit Stühlen, seinem alten Diwan vom Quai Bourbon, einem fichtenen Tisch, den er von einer Trödlerin für hundert Sous erstanden hatte. Die Eitelkeit, bei seiner Arbeit eine luxuriöse Ausstattung um sich her zu haben, ging ihm ab. Die einzige größere Ausgabe, die er machte, war die für eine bewegliche Leiter mit einer Plattform und beweglichen Stufen. Dann machte er sich an die Zurichtung der Leinwand, die acht Meter lang, fünf hoch sein sollte. Und er versteifte sich darauf, sie selbst aufzuziehen, bestellte den Rahmen, kaufte Leinwand in einem Stück, die er unter Beihilfe von zwei Kameraden unter großer Mühe mit Zangen aufspannte. Dann begnügte er sich, sie unter Anwendung eines Messers mit einer Lage Bleiweiß zu überziehen, wobei er darauf verzichtete, sie mit Leim zu tränken, damit sie durchlässig bliebe, was, wie er sagte, die Farbe klarer und solider machte. An eine Staffelei konnte er nicht denken, man hätte auf ihr eine so gewaltige Sache nicht, handhaben können. Deshalb dachte er sich ein Gefüge von Balken und Stricken aus, vermittels dessen er es in etwas geneigter Lage an der Wand aufhängte. An dieser gewaltigen, weißen Fläche entlang aber bewegte sich die Leiter gleich einem Gerüst vor einer im Bau befindlichen Kathedrale.

Als aber alles bereit war, bekam er es mit Bedenken. Es setzte ihm der Gedanke zu, daß er vielleicht im Freien nicht die beste Beleuchtung gewählt hatte. Vielleicht wäre Morgenlicht besser gewesen? Vielleicht hätte er eine graue Luftstimmung wählen sollen? Er begab sich wieder zur Brücke des Saints-Pères und verbrachte dort noch drei Monate.

Zu allen Stunden des Tages, bei jedem Wetter sah er zwischen den beiden Stromarmen die Cité sich erheben. An dem Tage eines verspäteten Schneefalls sah er sie wie mit Hermelin verbrämt über den schmutzfarbenen Strom in den schieferfarbenen Himmel hineinragen. Er sah sie an den ersten sonnigen Tagen ihr Wintergewand abstreifen und sich mit dem jungen Grün der großen Bäume des Erdwalles neu beleben. An einem Tage, wo ein feiner Nebel herrschte, sah er sie ungewiß verdunstet, leicht, vibrierend wie ein traumhaftes Märchenschloß. Dann wieder verschwand sie unter strömenden Regengüssen wie hinter einem ungeheueren, vom Himmel auf die Erde herabgespannten Vorhang. Er sah sie bei Gewittern im fahlen Blitzglast, düster wie eine Mörderhöhle, halbvernichtet von dem auf sie hernieder lastenden, mächtig geballten, kupferfarbenen Gewölk. Er sah sie von orkanartigen Winden umtost, winkelspitz, kahl, gepeitscht, sich vom blaßblauen Himmel abheben. Bei anderer Gelegenheit wieder, wenn das Sonnenlicht sich in den Dünsten der Seine in Staub auflöste, schwamm sie in dieser weiten Helle, schattenlos, in vollkommen gleichmäßiger Beleuchtung, fein wie ein reizendes, in lauteres Gold gefaßtes Kleinod. Und er trachtete, sie bei Sonnenaufgang zu sehen, wie sie aus den Morgennebeln auftauchte, wenn der Quai de l'Horloge sich rot färbte, während der Quai des Orfèvres noch in tiefem Dunkel blieb, oben im rosigen Himmel aber schon alles, mit Türmen und Spitzen, erwacht war und langsam von den Gebäuden wie ein fallender Mantel die Nacht herabglitt. Und er wollte sie zur Mittagszeit sehen, bei senkrecht fallendem Sonnenlicht, wenn die grelle Helle die Umrisse zernagte, wenn sie stumm und farblos wie eine Totenstadt kein anderes als ihr heißes Glutleben zeigte und das gleißende Flimmern über ihrem weiten Dächermeer. Und er wollte sie sehen bei untergehender Sonne, wie sie sich der Umarmung der mählich vom Strom aufsteigenden Nacht hingab, während oben die Firste von hinsterbenden Säumen wie von erlöschender Kohle glühten, wenn all die vielen Fenster noch in letzten Bränden flammten, die blitzenden Glasscheiben wie feurig gleißende Löcher aus den Fassaden hervorstachen. Doch von all diesen verschiedenen Cités, zu welcher Zeit, bei welchem Wetter er sie auch sah, kehrte er immer wieder zu der zurück, die er eines schönen Septemberabends gegen vier Uhr zum erstenmal gesehen hatte, zu jener heiter schönen, von einem leichten Wind umwehten Cité, jenem in die durchsichtige Luftklarheit und das unermeßliche Firmament weit hineinpulsenden, von Wölkchen überzogenen Herzen von Paris.

Dort verbrachte Claude im Schatten der Brücke des Saints- Pères seine Tage. Dort trat er unter, hatte unter ihr sein Dach und seine Bleibe. Das ununterbrochene Donnern der Kutschen, das wie ein fernes Gewitterrollen war, störte ihn nicht. Gegen den ersten Pfeiler gelehnt, unter den gewaltigen eisernen Bogen, nahm er seine Bleistiftskizzen, malte er seine Studien. Nie war er ganz zufrieden, zeichnete dieselbe Einzelheit zehnmal. Die Beamten der nahen Schiffahrtsbureaus kannten ihn schon. Ja, die Frau eines Aufsehers, die mit ihrem Mann, zwei Kindern und einer Katze in einer Art von geteerter Hütte wohnte, verwahrte ihm seine frischen Bilder, damit ihm die Mühe erspart blieb, sie jeden Tag den weiten Weg durch die Stadt heimzuschleppen. Dieser Zufluchtswinkel unter dem brausenden Paris, dessen heißes Leben er über seinem Haupte dahinrollen fühlte, war ihm eine Freude. Der Hafen Saint-Nicolas, der mit seiner unausgesetzten Tätigkeit an einen Seehafen erinnern konnte, war's, der ihn so recht inmitten des Institutsviertels zuerst begeisterte. Der Dampfkran, die »Sophie«, war in Betrieb und hob Steinblöcke aus den Kähnen; Karren füllten sich mit Sand; Menschen zogen und Tiere keuchten den gepflasterten Hang hinauf, der bis zum Wasser und zu dem granitenen Rand, wo sich eine doppelte Reihe von Zillen und Lastkähnen angestaut hatte, herniederging. Wochenlang beschäftigte er sich mit einer Studie der Lastträger, die einen mit Gips befrachteten Kahn ausluden, auf der Schulter die weißen Säcke trugen und, sie selbst weiß überpudert, einen weißen Pfad zurückließen, während dichtbei ein anderes, schon entfrachtetes Kohlenboot auf der Böschung einen tiefschwarzen Fleck zurückgelassen hatte. Dann nahm er die Skizze einer drüben am linken Ufer befindlichen Badeanstalt und eines danebenliegenden Waschbootes, dessen Fenster offen standen, und von der Reihe der Wäscherinnen, die am Rand des Wassers knieten und ihre Wäsche klopften. Dann nahm er eine Barke auf, die von einem Flußschiffer hinübergewrickt wurde; und dann, mehr gegen den Hintergrund hin, einen Schlepper, einen Kettendampfer, der sich an seiner Kette hintreidelte und eine Reihe mit Tonnen und Brettern beladener Kähne hinter sich herzog. Die Hintergründe hatte er schon seit langem; dennoch nahm er Stücke draus wieder vor: die beiden Arme der Seine, ein großes, ganz freies Stück Himmel, in dem sich bloß von der Sonne vergoldete Spitzen und Türme hineinzackten. Selten wurde er unter der gastlichen Brücke, in diesem Winkel, der so verloren lag wie ein einsamer, zwischen Felsen hinführender Hohlweg, von einem Neugierigen gestört; die Angler gingen gleichgültig vorüber; nur die Katze des Aufsehers leistete ihm Gesellschaft, putzte sich friedlich und unbeirrt von dem tosenden Leben da oben im Sonnenschein.

Endlich hatte Claude alle seine Vorstudien beisammen. Er entwarf in ein paar Tagen eine Gesamtskizze, und das große Werk wurde in Angriff genommen. Doch während des ganzen Sommers stand er in der Rue Tourlaque mit seiner großen Leinwand in einem schweren Kampf. Er hatte sich darauf versteift, die vergrößerte Übertragung seiner Komposition selbst vornehmen zu wollen, und er konnte, da er sich bei der geringsten Abweichung von der ihm ungewohnten mathematischen Vorzeichnung in beständige Irrtümer verwickelte, nicht zu Rande kommen. Das machte ihn ungeduldig. Er überging manches, verschob die Verbesserung auf später, begann die Leinwand eilig zu übermalen und war dabei von einem solchen Arbeitsfieber erfaßt, daß er ganze Tage oben auf seiner Leiter verbrachte, mit den riesigen Pinseln hantierte und eine Muskelkraft entwickelte, als gälte es, Berge zu versetzen. Am Abend taumelte er dann wie ein Trunkener, schlief beim letzten Bissen des Abendbrotes wie vom Blitz getroffen ein, so daß seine Frau ihn wie ein Kind zu Bett bringen mußte. Aus dieser heroischen Arbeit ging nun aber ein meisterhaftes Werk hervor, eins von jenen Werken, die aus einem noch nicht geklärten Farbenchaos die Flamme des Genius hervorbrechen lassen. Bongrand, der ihn besuchen kam, drückte den Maler stürmisch an seine breite Brust und küßte ihn, Begeisterungstränen in den Augen. Sandoz war so begeistert, daß er ein Diner gab. Die anderen, Jory, Mahoudeau, Gagnière, verbreiteten abermals die Kunde von einem Meisterwerk. Und was Fagerolles anbetraf, so war er einen Augenblick starr; dann aber fand er es außerordentlich schön und brach in Glückwünsche aus.

Doch als habe die Ironie des Wichtigtuers ihm Unglück gebracht, fing Claude an, seinen Entwurf zu verderben. Es war die alte Geschichte: mit einem Hieb, einem prächtigen Anlauf gab er sich aus, und dann vermochte er sein Werk nicht zu vollenden. Wieder fing sein Unvermögen an. Zwei Jahre lebte er nur für seine Leinwand, lebte im Innersten nichts als sie, vor unsinnigster Freude bald bis in den siebenten Himmel entrückt, bald zu Boden geschmettert, so elend, so von Zweifeln zerrissen, daß die armen Sterbenden in den Hospitälern noch glücklicher waren als er. Schon zweimal hatte er nichts in den Salon geben können; denn immer, wenn er schon hoffte, in ein paar Sitzungen zu Rande zu kommen, zeigten sich im letzten Augenblick Lücken, entglitt ihm die Komposition. Dicht vor der Eröffnung des dritten Salons hatte er wieder einmal solch eine furchtbare Krise. Vierzehn Tage begab er sich nicht in sein Atelier in der Rue Tourlaque. Und als er wieder hinging, so war's, als begäbe er sich in ein Haus, wo der Tod eine Leere geschaffen hat. Er wandte die große Leinwand gegen die Wand herum, rollte die Leiter in einen Winkel. Hätten seine bebenden Hände die Kraft dazu gehabt, so würde er alles zerrissen und verbrannt haben. Alles war aus, ein rasender Sturm hatte alles hinweggefegt. Er sprach davon, daß er, da er unfähig wäre, etwas Großes zu leisten, nur Kleines schaffen wollte.

Unwillkürlich führte ihn seine erste Absicht, das Bild in kleinem Format zu malen, zur Seine hinab und stellte ihn abermals der Cité gegenüber. Warum sollte er nicht einfach eine Ansicht in mittlerem Format geben? Doch hielt ihn eine Art von Scham, der sich eine seltsame Scheu gesellte, davon ab, sich abermals unter die Brücke des Saints-Pères zu setzen. Die Stelle kam ihm jetzt wie geheiligt vor; er durfte die Jungfräulichkeit des großen, obschon toten Werkes nicht verletzen. Er richtete sich also weiter entfernt ein, am Ende der Böschung, vom Hafen Saint-Nicolas stromaufwärts. Diesmal arbeitete er wenigstens direkt nach der Natur; er hatte den Vorteil, daß er nicht, wie es das Verhängnis bei solch ungeheuer großen Bildern war, zu fälschen brauchte. Doch das kleine Bild hatte, obgleich es sorgfältiger ausgeführt wurde als je eins, das er gemalt hatte, bei der Jury trotzdem das Schicksal der anderen. Diese wie trunken hingehauene Malweise – so lautete die Redensart, die damals durch die Ateliers lief – beleidigte. Der Schlag traf um so härter, als man von Zugeständnissen gesprochen hatte, von einem Entgegenkommen der Akademie den aufzunehmenden Sachen gegenüber. Vor Wut und Erbitterung weinte Claude, zerriß die Leinwand in tausend Fetzen und verbrannte sie, als sie zurückkam, im Ofen. Es genügte ihm nicht, sie diesmal mit einem Messerschnitt abzutun, sie sollte ganz vernichtet werden. Ein weiteres Jahr ging mit unbestimmten Versuchen hin. Er arbeitete aus Gewohnheit, brachte nichts zu Ende, sagte selber mit schmerzlichem Lächeln, er habe sich verloren und suche sich. Doch im Grunde hielt sein unvernünftiges Selbstvertrauen seine Hoffnung selbst durch die ärgsten Krisen hindurch aufrecht. Er litt wie einer, der verdammt ist, ewig einen Felsblock zu wälzen, der zurückfällt und ihn zermalmt. Doch blieb ihm ja die Zukunft, die Gewißheit, daß er den Block eines Tages mit beiden Fäusten packen und bis an die Sterne schleudern werde. Dann flammte sein Auge von einem leidenschaftlichen Feuer, und man wußte, daß er sich in der Rue Tourlaque von neuem einschließen werde. Er, der vorher immer über das augenblickliche Werk hinweg schon bei der vollkommeneren Vision des nächsten gewesen war, stieß sich jetzt die Stirn wund an diesem Motiv der Cité. Es war seine fixe Idee, die Schranke, die sein Leben abschloß. Und bald sprach er in einem neuen Auflodern seiner Begeisterung wieder offen davon und rief froh wie ein Kind aus, daß er jetzt gefunden habe und seines Sieges sicher sei.

Eines Morgens ließ Claude, der bisher seine Tür geschlossen gehalten, Sandoz das Atelier betreten. Diesem fiel dabei eine mit großem Schwung, ohne Modell, gemalte, doch in der Farbe bewunderungswürdige Skizze in die Hand. Der Gegenstand war übrigens immer derselbe: der Hafen Saint-Nicolas zur Linken, zur Rechten die Schwimmschule, im Hintergrund die Seine und die Cité. Nur war er ganz starr, als er anstelle der von dem Flußschiffer gewrickten Barke in der Mitte der Komposition eine andere, sehr große, gewahrte, in der sich drei Weiber befanden: eins im Badekostüm, das ruderte; ein anderes, das auf dem Bordrand saß und die Beine im Wasser hatte, während sich der Nacken halb entblößt zeigte; das dritte aber stand, vollkommen nackt, aufrecht am Vorderteil und strahlte in seiner Nacktheit wie eine Sonne.

»Wetter, was für eine Idee!« murmelte Sandoz. »Was machen die Weiber da?«

»Aber sie baden«, antwortete Claude ruhig. »Du siehst ja, daß sie aus dem Wasser gestiegen sind. Das gibt mir eine Gelegenheit, Nacktheit zu malen. Ein guter Fund, nicht? ... Nimmst du Anstoß daran?«

Der alte Kamerad, der ihn kannte, fürchtete, ihn wieder in seine Zweifel zu stürzen, und sagte:

»Ich? O nein! ... Bloß befürcht' ich, daß das Publikum das wieder mal nicht versteht. Dies nackte Weib mitten in Paris macht sich nicht gerade wahrscheinlich.«

Erstaunt fragte Claude:

»Ah, glaubst du? ... Das wäre ja schlimm. Aber was tut's? Wenn mein braves Weib nur gut gemalt ist! Ich brauche das, weißt du, um mich für meine Arbeit in Schwung zu bringen.«

In den nächsten Tagen kam Sandoz behutsam auf diese seltsame Komposition zurück und trat, einem Zug seines Charakters entsprechend, für die Sache der beleidigten Logik ein. Wie konnte ein moderner Maler, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, nur die Wirklichkeit zu geben, sein Werk dadurch entstellen, daß er derartige Phantasien hineinbrachte? Es war doch so leicht, einen anderen Gegenstand zu wählen, wo sich die Nacktheit ungezwungen bot! Doch Claude versteifte sich darauf, gab schlechte, an den Haaren herbeigezogene Erklärungen. Denn er wollte seinen wahren Grund nicht eingestehen; eine Idee, die so unklar war, daß er sie kaum zum Ausdruck zu bringen wußte, daß ihm nämlich ein heimlicher Symbolismus zusetzte, ein alter, romantischer Nachklang, der in dieser nackten Weibgestalt Paris selber personifizieren wollte; die unverhüllte, leidenschaftliche Stadt in ihrer strahlenden Weibschöne. Dann legte er auch seine eigene Leidenschaft, seine Vorliebe für schöne Bäuche, Schenkel und fruchtbare Brüste hinein, die mit vollen Händen zu schaffen der beständige Ausstrom seiner Kunst ihn so feurig antrieb.

Trotzdem gab er sich den Anschein, als hätte die dringliche Beweisführung des Freundes ihn wankend gemacht.

»Nun gut, ich werde sehen; später kann ich es ja bekleiden, mein braves Weib, wenn sie dich geniert ... Immerhin will ich es jetzt aber malen. Weil's mir doch so viel Freude macht, nicht wahr?«

Er kam nie wieder auf die Sache zurück. Mit unbeirrbarer Beharrlichkeit schwieg er, wenn sie alle in Anspielungen ihr Erstaunen kundgaben, zwischen den Omnibussen der Quais und den Abladern des Hafens Saint-Nicolas diese Venus glorreich aus dem Schaum der Seine aufsteigen zu sehen, schwieg und zog nur unter einem verlegenen Lächeln den Rücken krumm.

Der Frühling war gekommen, und Claude machte sich wieder an sein großes Gemälde, als ein an einem Tag kluger Überlegung gefaßter Entschluß in das Leben Claudes und Christines eine Veränderung brachte. Zuweilen beunruhigte sich Christine darüber, wie schnell das Geld dahinschwand, um das sie unaufhörlich das Kapital verringerten. Seit die Quelle unerschöpflich zu fließen schien, rechneten sie nicht mehr. Dann aber, nachdem vier Jahre dahingegangen waren, erstaunten sie, als sie gelegentlich eines Überschlages wahrnahmen, daß ihnen von zwanzigtausend Franken kaum noch dreitausend verblieben waren. Sofort begannen sie sich aufs äußerste einzuschränken, sparten selbst am Brot und an den notwendigsten Bedürfnissen. Und so geschah es auch, daß sie im ersten Antrieb ihrer Absicht, sich einzuschränken, die Wohnung in der Rue de Douai aufgaben. Wozu brauchten sie zwei Wohnungen? In dem großen, noch vom Färberwasser bespritzten Raum der Rue Tourlaque war für drei Personen Platz genug und konnten sie sich ganz gut einrichten. Trotzdem ging die Instandsetzung nicht ohne Umstände ab. Denn diese fünfzehn Meter lange und zehn Meter breite Halle gewährte ihnen nur einen Wohnraum, war ein Zigeunerstall, in welchem jede Verrichtung in Gegenwart der anderen geschah. Da sein Eigentümer nichts machen lassen wollte, mußte der Maler ihn selber durch einen Bretterverschluß abteilen, hinter dem eine Küche und eine Schlafkammer eingerichtet wurde. Zwar war das Dach schadhaft, und wenn es ein großes Unwetter gab, sahen sie sich genötigt, unter die breitesten Spalten Schüsseln zu stellen, doch hatten sie an der Einrichtung ihre Freude. Der Raum zeigte eine trübselige weite Leere, in der ihre paar Möbel sich an den kahlen Wänden hin verloren. Doch waren sie froh, soviel Spielraum zu haben, und äußerten den Freunden gegenüber, daß der kleine Jacques hier wenigstens Platz hätte, sich etwas Bewegung zu machen. Der arme Junge entwickelte sich trotz seiner nunmehr neun Jahre nur langsam. Nur sein Kopf schien zuzunehmen. Man konnte ihn kaum acht Tage hintereinander zur Schule schicken; dann kam er ganz abgestumpft und krank von der Anstrengung, die es ihm machte, etwas zu lernen, wieder heim, so daß sie ihn meist auf allen vieren um sie her sein Wesen treiben und ihn sich in den Ecken herumdrücken ließen.

Jetzt leistete Christine, die sich so lange nicht mehr um Claudes tägliche Arbeit bekümmert hatte, ihm von neuem seine langen Arbeitsstunden durch Gesellschaft. Sie half ihm, die alte Leinwand abschaben und mit Bimsstein abreiben und gab ihm guten Rat, sie solider an der Wand zu befestigen. Aber sie hatten einen schlimmen Übelstand festzustellen. Die bewegliche Leiter hatte unter der durch das Dach hereindringenden Feuchtigkeit gelitten; und um einen Sturz zu verhüten, mußte Claude ihr durch eine eichene Querleiste Halt geben, wobei ihm Christine einen nach dem anderen die Nägel zureichte. Alles war jetzt zum zweitenmal bereit. Christine sah, wie er vermittels der Quadratvergrößerung den neuen Entwurf auftrug, wobei sie so lange hinter ihm stand, bis sie ermüdet niederglitt und ihm, jetzt auf dem Boden hockend, weiter zusah.

O wie gern sie ihn dieser Malerei, die ihn ihr genommen hatte, wieder hätte entreißen mögen! Und darum machte sie sich zu seiner Handlangerin und schätzte sich noch glücklich, wenn sie sich zu derartiger Arbeit erniedrigte. Aber seit sie wieder an seinem Werke teilnahm und sie so alle drei vereint waren, er, sie und diese Leinwand, fühlte sie sich von einer neuen Hoffnung belebt. Dort, in der Rue de Douai, war er ihr entschlüpft, und sie hatte einsam ihr Leid ausgeweint, während er verlockt und erschöpft bei jener geweilt hatte wie bei einer Mätresse: jetzt aber, wo sie dabei war, auch sie, mit ihrer leidenschaftlichen Liebe zu ihm, konnte sie ihn vielleicht wiedergewinnen. Mit welch eifersüchtigem Haß verfluchte sie diese Malerei! Es war nicht mehr die kleine, Aquarelle malende Bürgerin von früher, die sich gegen diese freie, stolze, gewaltsame Kunst empörte. Nein, sie hatte sie nach und nach verstehen gelernt, hatte sich ihr zunächst aus Neigung zu Claude genähert, war dann durch den Reiz des Lichtes, die eigenartige Anmut der lichten Farbtöne gewonnen worden. Heute wäre sie mit allem einverstanden gewesen, mit dem lilafarbenen Erdboden, den blauen Bäumen. Sogar eine gewisse Ehrfurcht machte sie diesen Werken gegenüber erbeben, die ihr nicht so abscheulich erschienen waren. Sie erkannte ihre Macht, sie achtete sie als Nebenbuhlerin, die keinen Spott vertrug. Ihr Groll aber war mit dieser Bewunderung gewachsen. Sie empörte sich dagegen, daß sie dieser Erniedrigung ihrer selbst beiwohnen mußte, dieser anderen Liebe, durch die sie in ihrem eigenen Heim beleidigt wurde.

So ward es denn zuerst ein heimlicher Kampf, der keine Minute aussetzte. Jeden Augenblick schob sie sich selbst, alles von ihrem Leib, was sie eben vermochte, eine Schulter, eine Hand, zwischen den Maler und sein Werk. Immer war sie gegenwärtig, hüllte ihn in ihren Atem, erinnerte ihn daran, daß er ihr gehörte. Dann verfiel sie wieder auf ihre frühere Idee, gleichfalls zu malen, ihn auf dem Boden seines Kunsteifers selbst zu finden. Einen Monat lang legte sie eine Malbluse an und arbeitete wie eine Schülerin neben ihrem Meister, kopierte mit Geschick eine seiner Studien. Und sie ließ erst dann davon ab, als sie sah, daß der Versuch sich gegen seine Absicht wandte. Denn, wie von der gemeinsamen Arbeit getäuscht, vergaß er das Weib in ihr und stellte sich zu ihr auf den Verkehrsfuß der Kameradschaftlichkeit, wie Mann zu Mann. Und so vertraute sie wieder ganz nur ihrer Weibmacht.

Oft schon hatte Claude in seinen letzten Bildern, wenn es galt, Figuren anzubringen, bei einem Kopf, einer Armbewegung, einer Körperhaltung diese und jene Andeutung nach Christine genommen. Er warf ihr irgendeinen Mantel über die Schultern, hielt sie bei einer Bewegung fest und rief ihr zu, sie solle sich nicht rühren. Und sie war glücklich gewesen, ihm solche Dienste zu leisten. Doch sträubte sie sich dagegen, sich zu entkleiden. Jetzt, wo sie Frau war, fühlte sie sich durch das Gewerbe eines Modells verletzt. Eines Tages, als er hatte einen Schenkel malen müssen, hatte sie sich geweigert, dann aber doch so weit nachgegeben, daß sie ihr Kleid abgestreift, doch erst, nachdem sie schamhaft die Tür doppelt verschlossen hatte, aus Angst, man könnte, wenn man erst hinter die Rolle, die zu spielen sie sich herabließ, gekommen, ihre Blößen in allen Bildern ihres Gatten aufspüren. Sie hatte dabei auch noch das beleidigende Lachen der Kameraden und Claudes selbst im Ohr, als sie gelegentlich von den Bildern eines Malers gesprochen hatten, der sich auf solche Weise als Modell einzig seiner Gattin bediente und ihre anmutigen Blößen so recht eigentlich dem zweifelhaften Vergnügen der Bourgeois preisgab; denn aus jedem Bild heraus war sie mit ihren besonderen persönlichen Eigenschaften, mit dem ein wenig zu langen Fall der Lenden, dem etwas zu hohen Bauch, wiederzuerkennen gewesen. Und so ging sie ohne Hemd durch das ganze spottlustige Paris, auch wenn sie selbst bekleidet, wie in einen Panzer bis zum Kinn hinauf eingezwängt, an einem vorbeischritt.

Doch seit Claude in groben Zügen mit Reißkohle die große Gestalt des aufrechtstehenden Weibes, das sich in der Mitte des Bildes befand, eingezeichnet hatte, betrachtete Christine diesen unbestimmten Riß immer wieder mit einem sie unablässig verfolgenden Gedanken, vor dem nach und nach ihre Bedenken schwanden. Und als er davon sprach, daß er ein Modell nehmen wollte, bot sie sich an.

»Wie, du! Wo du schon bös wirst, wenn ich auch bloß deine Nasenspitze nehmen will?«

Sie hatte ein verlegenes Lächeln.

»Oh, meine Nasenspitze! Hab' ich dir damals nicht für dein ›Pleinair‹ gestanden, wo wir einander doch noch nicht gehörten? ... Ein Modell kostet dich sechs Franken für die Sitzung. Wir sind nicht so reich, könnten diese Ausgabe ebensogut ersparen.«

Der Gedanke wurde für ihn sofort ausschlaggebend.

»Ich möchte wohl schon; es ist sogar sehr nett von dir, daß du soviel Mut hast; denn du weißt ja, daß es bei mir nicht gerade eine leichte Arbeit ist ... Aber gesteh nur, Ungeheuer! Du hast Angst, daß ein anderes Weib hier eintritt, bist eifersüchtig.«

Eifersüchtig! Ja, sie war es, und so, daß es ihr fast das Herz abdrückte. Aber andere Weiber waren ihr gleichgültig. Ruhig hätten hier alle Modelle von Paris ihre Röcke ablegen können! Sie hatte nur eine Nebenbuhlerin: diese Malerei, die er ihr vorzog, die ihm den Geliebten stahl. Ihr Kleid wollte sie abwerfen, abwerfen bis auf das letzte Linnen, nackt sich ihm darbieten ganze Tage über, Wochen, nackt unter seinen Augen, und ihn so wiedergewinnen, ihn hinreißen, bis er ihr wieder in die Arme sank! Hatte sie denn etwas anderes zu bieten als sich selbst? Und war dieser letzte Kampf, in welchem sie mit ihrem Leib zahlte, nicht erlaubt und gesetzmäßig, da sie doch nichts mehr war, nichts als eine reizlose Frau, wenn sie sich von der anderen besiegen ließ?

Über ihre Bereitwilligkeit erfreut, machte Claude zunächst eine Studie nach ihr, eine einfache Aktstudie in der Pose des Gemäldes. Sie warteten, bis Jacques zur Schule gegangen war; dann schlossen sie sich ein, und die Sitzung währte Stunden hindurch. Die ersten Tage hatte Christine sehr von ihrer unbeweglichen Haltung zu leiden. Dann gewöhnte sie sich; denn aus Furcht, er könnte bös werden, wagte sie nicht zu klagen und hielt, wenn er sie unsanft umherschob, ihre Tränen zurück. Bald war man in die Gewohnheit gekommen und behandelte er sie einfach als Modell, war anspruchsvoller, als wenn er hätte bezahlen müssen, nutzte sie unbedenklich bis zum äußersten aus, denn sie war ja sein Weib. Zu allem benutzte er sie, aller Augenblicke ließ er sie sich entkleiden; sei's, daß er einen Arm oder einen Fuß brauchte, oder irgendeine Einzelheit, deren er gerade benötigte. Er erniedrigte sie zu einem Metier, gebrauchte sie als lebendige Gliederpuppe, die er aufstellte und kopierte, wie er etwa einen Krug für ein Stilleben kopiert haben würde.

Diesmal überhastete Claude sich nicht. Und bevor er an die Ausführung der großen Figur ging, ermüdete er Christine monatelang, studierte sie in allen möglichen Stellungen, weil er, wie er sagte, in den Tonwert ihrer Haut eindringen wollte. Endlich nahm er eines Tages die Ausführung in Angriff. Es war an einem Herbstvormittag, an dem eine herbe Brise wehte. Obwohl der Ofen bullerte, war es nicht gerade warm in dem großen Atelier. Da der kleine Jacques, der noch an einem seiner Stumpfsinnsanfälle litt, nicht hatte zur Schule gehen können, hatte sie sich entschlossen, ihn, nachdem sie ihn ermahnt, recht artig zu sein, in die Kammer einzuschließen. Frostbebend entkleidete sich die Mutter, stellte sich regungslos vor den Ofen und nahm ihre Pose ein.

Die erste Stunde schickte Claude, ohne ein Wort an sie zu richten, von der Höhe seiner Leiter herab von der Schulter bis zu den Knien scharfe Blicke über ihren Leib hin. Sie aber ward von einer drückenden Traurigkeit überwältigt. Sie fürchtete schlapp zu werden, wußte nicht, ob sie von der Kälte litt oder von einer Verzweiflung, die sie bitter aus einer fernen Tiefe ihres Wesens in sich aufsteigen fühlte. Ihre Ermüdung war so groß, daß sie taumelte und mühsam, mit steif gewordenen Beinen ein paar Schritte tat.

»Wie, schon müde!« rief Claude. »Aber du posierst ja erst seit einer Viertelstunde? Willst du dir nicht deine sieben Franken verdienen?«

In seine Arbeit vertieft, hatte er diesen Scherz in mürrischer Weise hingeworfen. Kaum hatte sie aber unter dem Überwurf, in den sie sich gehüllt, den Gebrauch ihrer Glieder wiedergewonnen, als er hastig rief:

»Los, los! Nicht gefaulenzt! Das ist ein wichtiger Tag heute! Es heißt, Genie zeigen oder umkommen!«

Als sie nackt, im bleichen Licht, ihre Pose wieder eingenommen hatte und er wieder malte, fuhr er ab und zu aus dem Bedürfnis, sich, wenn es mit seiner Arbeit voranging, reden zu hören, einen Satz fallen zu lassen, fort:

»Es ist seltsam, was für eine sonderbare Haut du hast! Sie saugt das Licht förmlich ein ... So bist du heute, man möchte es nicht für möglich halten, grau. Und ein andermal warst du rosig, oh, aber ein Rosa, das nicht echt schien! ... Das ist dumm; man weiß nicht, woran man ist.«

Er hielt ein, blinzelte mit den Augen.

»Und doch: wie großartig ist das Nackte als Solches! ... Das gibt eine prächtige Vordergrundsnote ... Und das vibriert, hat so ein wunderbares Leben, als sähe man das Blut durch die Muskeln pulsen ... Ah, eine gut gezeichnete Muskulatur, ein solid gemaltes Glied, im vollen Licht, da geht nichts darüber, das ist göttlich! ... Ich kenne keine andere Religion; mein ganzes Leben lang könnt' ich davor auf den Knien liegen.«

Als er gerade genötigt war, herabzusteigen und eine Tube zu holen, näherte er sich ihr und detaillierte mit wachsender Begeisterung ihren Körper, indem er mit der Fingerspitze jeden Teil, den er hervorheben wollte, betupfte.

»Da, das, unter der linken Brust, oh! Das ist reizend über alle Maßen! Diese Äderchen, die so bläulich schimmern, geben der Haut einen so zarten Ton; das ist ganz ausgezeichnet ... Und hier, bei der Wölbung der Hüfte, dies goldgeschattete Grübchen: das ist eine Lust! ... Und hier, unter der prallen Modellierung des Bauches, diese klare Leistenlinie, der leis karminrote Punkt im matten Gold! ... Besonders die Bauchlinie ist es, die mich begeistert. Ich kann keine sehen, ohne daß ich die ganze Welt verschlingen möchte. Es ist so schön, das zu malen, ein wahrer Sonnenglanz!«

Und als er dann wieder oben auf der Leiter war, rief er in seinem Schaffenseifer:

»Donnerwetter, wenn ich mit dir kein Meisterwerk zustande bringe, so bin ich ein elendes Schwein!«

Christine schwieg. Ihre Bangigkeit wuchs, denn ihre Vorahnungen gestalteten sich immer beharrlicher. Wie sie unter dem harten Zwang ihrer Pose unbeweglich dastand, litt sie unter einem Mißbehagen, das ihre Nacktheit verursachte. An jeder Stelle, wo Claudes Finger sie berührt hatte, empfand sie eine Kühle, als dränge die Kälte, von der sie zitterte, dort in ihren Körper ein. Der Versuch war gemacht, was hatte sie jetzt noch zu erhoffen? Für diesen einst über und über von seinen Küssen bedeckten Leib hatte er keinen Blick mehr; er verehrte ihn bloß noch als Künstler. Eine Tönung der Brust begeisterte ihn, eine Bauchlinie zwang ihn vor Andacht auf die Knie, während er das alles eh in blindem Drange der Umarmungen, in denen sie so ganz ineinander aufgegangen waren, ohne zu sehen an seine Brust gedrückt hatte. Ach, es war das Ende! Nicht sie mehr, er liebte in ihr bloß noch seine Kunst, die Natur, das Leben. Und die Augen ins Leere gerichtet, stand sie starr wie Marmor und hielt die Tränen zurück, von denen ihr das Herz schwoll, war so elend, daß sie nicht einmal mehr weinen konnte.

Aber da erhob sich von der Kammer her eine Stimme, und kleine Fäuste hieben gegen die Tür.

»Mama, Mama! Ich kann nicht schlafen, ich langweile mich ... Mach doch auf, Mama! Ja?«

Jacques wurde unruhig. Verdrießlich brummte Claude, daß man nicht einen Augenblick Ruhe hätte.

»Gleich!« rief Christine. »Schlaf! Laß deinen Vater arbeiten!«

Doch von einer neuen Unruhe ergriffen, sah sie zur Tür hin. Und endlich gab sie für einen Augenblick ihre Pose auf und hing, um das Schlüsselloch zu verdecken, ihr Kleid an die Klinke. Dann trat sie, ohne etwas zu sagen, den Kopf aufrecht, den Leib etwas zurückgebogen, mit schwellendem Busen, wieder an den Ofen.

Endlos ging die Sitzung weiter, Stunde um Stunde ging hin. Immer stand sie da, bot sich in dieser Haltung einer Badenden, die sich ins Wasser werfen will, dar; während er auf seiner Leiter meilenweit von ihr weg war, für das andere Weib brannte, das er da malte. Sie war wieder Ding geworden, eine schöne Farbenvorlage. Er sah seit dem Morgen nur sie; sie aber erblickte sich nicht mehr in seinen Augen, war für ihn von jetzt ab eine Fremde, von ihm verstoßen.

Endlich machte die Erschöpfung ihn doch aufhören, und da sah er, wie sie zitterte.

»Ist dir kalt?«

»Ja, ein wenig.«

»Das ist merkwürdig! Ich glühe ... Aber ich will nicht, daß du dich erkältest. Auf morgen!«

Als er herabstieg, glaubte sie, er werde kommen und sie küssen. Gewöhnlich lohnte er ihr, mit einer letzten Anwandlung ehelicher Ritterlichkeit, die Langeweile der Sitzung mit einem flüchtigen Kuß. Aber er war so von seiner Arbeit erfüllt, daß er es vergaß. Er wusch sofort seine Pinsel, die er kniend in einen Topf mit schwarzem Seifenwasser tauchte. Sie aber blieb, nackt wie sie war, noch stehen, wartete, hoffte noch. Eine Minute ging hin. Er verwunderte sich über den unbeweglichen Schatten, sah sie überrascht an; dann begann er kräftig seine Pinsel zu reiben. Da kleidete sie sich in ihrer furchtbaren Verwirrung darüber, so verschmäht zu sein, mit vor Hast bebenden Händen an. Sie knöpfte das Hemd zu, verwickelte sich in ihren Röcken, hakte, als wollte sie vor der Schmach ihrer ohnmächtigen Blöße, die künftig unter ihrem Hemd altern mochte, fliehen, den Schnürleib verkehrt ein. Verachtung vor sich selbst, ein Ekel ergriff sie, so tief gesunken zu sein. Sie fühlte die Niedrigkeit des Fleisches, war besiegt.

Doch am nächsten Tage mußte sie sich wieder in dieser kalten Atelierluft, in diesem brutal grellen Licht darbieten. War's nicht von jetzt ab ihr Gewerbe? Wie sollte sie's jetzt noch verweigern, wo es schon zur Gewohnheit geworden war? Sie hätte ja Claude auch keinen Verdruß bereiten mögen. Und so hub mit jedem Tage diese schmähliche Niederlage ihres Leibes von neuem an. Er aber sprach nicht einmal mehr von diesem brennenden, erniedrigten Leib. Seine Leidenschaft für ihn war in sein Werk übergegangen, auf die geliebten Tönungen, die sie ihm gab. Nur sie machten ihm das Blut rascher schlagen; sie, die Glied für Glied seinen Anstrengungen entsprangen. Wenn er dort, auf dem Lande, zur Zeit ihrer großen Liebe, gemeint hatte, das Glück zu besitzen, indem er lebend eine in seinen Armen gefühlt, so war das immer noch nichts gewesen als die ewige Illusion, da sie sich ja trotzdem fremd geblieben waren. Und er zog die Illusion, die ihm seine Kunst gewahrte, vor, diese Jagd nach der niemals erreichten Schönheit, diese rasende Sehnsucht, die sich nie zufrieden gab. Oh, sie alle zu wollen, sie so zu schaffen, wie er es träumte, die seidigen Brüste, die ambrafarbenen Hüften, die jungfräulich zarten Bäuche, und sie nur ihrer schönen Tönungen wegen zu lieben; zu empfinden, wie sie flohen, man sie nie umfangen konnte! Christine war die Möglichkeit, das erreichbare Ziel; und Claude, der Kämpfer des Unerschaffenen, wie Sandoz ihn zuweilen lachend nannte, war nur zu bald seines Besitzes satt geworden.

Monate hindurch mußte Christine sich auf solche Weise mit dem Modellstehen abquälen. Mit ihrem schönen Zusammenleben war's vorbei; es schien, als hätte er eine Mätresse ins Haus geführt, das Weib, das er da nach ihr malte, als wäre ihre Ehe eine zu dreien geworden. Das riesige Gemälde erhob sich zwischen ihnen, trennte sie wie eine unübersteigliche Mauer. Er aber lebte jenseits mit der anderen. Sie ward wie toll vor eifersüchtigem Schmerz über diese Verdoppelung ihrer Person und durfte doch nicht wagen, ihm von ihrem Elend zu sprechen; er würde sie ja ausgelacht haben. Und sie wußte, daß sie sich nicht täuschte, daß er ihr Nachbild ihr selbst vorzog, daß es von ihm vergöttert wurde, daß er einzig mit ihm sich beschäftigte, all seine Zärtlichkeit ihm gehörte. Er rieb sie mit dieser Modellsteherei auf, bloß um die andere um so schöner zu gestalten. Nur aus der anderen sog er Freude oder Trübsinn, je nachdem er sie unter seinem Pinsel sich beleben oder verkümmern sah. War das nicht Liebe? Was für ein Leiden, daß sie ihren Leib darbieten mußte, damit die andere aus ihm erstünde, das Gespenst dieser Nebenbuhlerin zwischen ihnen stand, mächtiger als die Wirklichkeit, im Atelier, bei Tisch, im Bett, überall! Ein Staub, ein Nichts, etwas Farbe auf einer Leinwand, ein bloßes Phantom, das doch all ihr Glück zerbrach, ihn stumm, gleichgültig, ja manchmal roh machte, während sie der Qual ihres Verlassenseins preisgegeben, in Verzweiflung war, diese Konkubine nicht verjagen zu können, die mit ihrer schrecklichen Bildstarre immer mehr Macht gewann.

Und von da an geschah es, daß Christine, endgültig geschlagen, die Souveränität der Kunst mit ihrer ganzen Wucht auf sich lasten fühlte. Nachdem sie diese Malweise bereits ohne Vorbehalt anerkannt hatte, erhob sie sie noch zu einem grausamen Tabernakel, vor dem sie vernichtet in den Staub sank wie vor jenen mächtigen Zorngottheiten, die man aus dem Übermaß von Haß und Furcht, das sie einflößen, anbetet. Es war eine heilige Furcht in der Gewißheit, daß sie nicht zu kämpfen hatte, daß sie, wenn sie sich noch länger widersetzte, gleich einem Halm zertreten werden würde. Die Gemälde wuchsen sich ihr jetzt zu riesigen Dimensionen aus, noch die kleinsten schienen ihr triumphreich, und selbst die minderwertigen drückten ihr Selbstgefühl zu Boden. Überwältigt, zaghaft, kritisierte sie nicht mehr, sondern fand sie alle bedrückend und antwortete auf die Fragen ihres Gatten nie mehr als:

»Oh, sehr schön!... Oh, herrlich!... Oh, das ist außerordentlich, außerordentlich!«

Doch hegte sie gegen ihn selbst keinen Zorn. Unter zärtlichen Tränen vergötterte sie ihn, wenn sie ihn sich selbst so aufreiben sah. Nachdem es ihm einige Wochen mit der Arbeit geglückt war, hatte er sich alles wieder verdorben und konnte mit seiner großen Weibgestalt nicht zu Rande kommen. Und so quälte er sein Modell aufs äußerste, arbeitete Tage hindurch ohne Rast und Ruhe. Dann gab er für einen Monat alles auf. Zehnmal hatte er die Gestalt angefangen, wieder aufgegeben, ganz neu gemacht. Ein Jahr, zwei gingen hin, ohne daß das Gemälde fertig ward. Manchmal war es so gut wie beendet, und den Tag drauf kratzte er's wieder weg, um von neuem zu beginnen.

Welch ein Ringen voll Blut und Tränen, in dem er sich da aufrieb, um Fleisch zu bilden, ihm Leben einzuhauchen! Immer war er im Kampf mit der Wirklichkeit und war er der Besiegte. Es war das Ringen mit dem Engel. Er brachte sich mit dem unmöglichen Streben um, die volle Natur auf die Leinwand zu bannen, erschöpfte mit der Zeit in diesen beständigen schmerzhaften Anspannungen seine Muskeln, ohne daß seine Wehen seinen Genius gebären machten. Das, was den anderen genügte, die ungefähre Wiedergabe, die unerläßlichen Notbehelfe, schuf ihm quälende Gewissensbisse, brachte ihn auf wie eine feige Schwäche. Und er begann von neuem, verwarf das Gute um des Besseren willen, fand, daß es noch nicht »sprechend« sei, war unzufrieden mit seinen lieben Weibern, wie es die Kameraden scherzend nannten, weil sie nicht mit ihm schlafen wollten. Woran fehlte es eigentlich, daß er sie nicht lebendig gestalten konnte? Ohne Zweifel ein Nichts. Vielleicht war es ein Zuwenig, vielleicht ein Zuviel. Eines Tages vernahm er hinter seinem Rücken den Ausdruck »unvollkommenes Genie« und fühlte sich davon geschmeichelt und zugleich erschreckt. Ja, das war es wohl: der zu kurze oder zu lange Anlauf, der Mangel an Gleichgewicht der Nerven, der sein Gebrechen war, die angeborene Unvollkommenheit, die um ein paar Gramm mehr oder weniger anstatt eines großen Mannes einen Narren geschaffen hatte. Wenn eine Anwandlung von Verzweiflung ihn aus dem Atelier vertrieb und er sein Werk floh, war es dieser Gedanke einer verhängnisvollen Ohnmacht, der ihn hatte und der wie eine beständig tönende Glocke ihm im Schädel summte.

Sein Leben wurde bejammernswürdig. Noch nie hatte der Zweifel, den er an sich selbst hegte, ihm in einem derartigen Grade zugesetzt. Er verschwand für ganze Tage. Einmal blieb er sogar eine ganze Nacht fort und kehrte dann stumpf und gebrochen am nächsten Morgen heim, ohne sagen zu können, wo er gewesen war. Man konnte denken, daß er, um sich nur nicht seinem verfehlten Werke gegenüber zu befinden, sich in der Umgegend von Paris umhergetrieben hatte. Seit dies Werk ihn nur noch mit Scham und Haß erfüllte, war es seine einzige Erleichterung, vor ihm zu fliehen und erst dann zurückzukehren, wenn er wieder so viel Mut fühlte, es von neuem mit ihm aufzunehmen. Kehrte er dann zurück, wagte seine Frau ihn gar nicht erst zu fragen. Sie war nach all ihrem angstvollen Warten schon froh, daß er überhaupt wieder da war. Von einem Bedürfnis getrieben, sich herabzuwürdigen, mit Tagelöhnern zu verkehren, irrte er durch Paris wie ein Wilder, besonders durch die Vorstädte, und brachte bei jeder derartigen Krise seinen alten Wunsch zum Ausdruck, der erste, beste Maurergeselle zu sein. Damals, als er noch bei Gomard im »Chien de Montargis« gefrühstückt hatte, wo er mit einem gewissen Limousin befreundet gewesen war, einem großen, munteren Kerl, den er um seine kräftigen Arme beneidet hatte, hätte er sich anwerben lassen sollen. Wenn er dann aber mit mürben Beinen und leerem Schädel wieder nach der Rue Tourlaque zurückkam, warf er auf sein Gemälde einen scheuen, schmerzbetäubten Blick, als sähe er in einem Sterbegemach einen teuren Toten vor sich. Bis ihm dann neue Hoffnung, ihn endlich doch zum Leben zu erwecken, ihre fiebernde Flamme in die Wangen trieb.

Eines Tages stand ihm Christine. Die Weibgestalt schien wieder einmal vollendet. Allein seit einer Stunde war Claudes Miene finster geworden, und er hatte all die kindliche Freude, die er zu Anfang der Sitzung gezeigt, verloren. So wagte Christine denn kaum zu atmen. Sie fühlte an ihrem eigenen Unbehagen, daß wieder einmal alles mißraten war, und fürchtete die Katastrophe, wenn sie auch nur einen Finger rührte, zu beschleunigen. Und tatsächlich ließ er plötzlich einen Schmerzensschrei vernehmen und tat einen furchtbaren Fluch.

»Ah, gottverdammt!«

Er schleuderte seinen Pinsel von der Leiter herab, und blind vor Wut tat er in die Leinwand hinein einen Fausthieb.

Christine reckte ihre bebenden Hände nach ihm aus.

»Lieber, Lieber!«

Doch als sie den Überwurf über die Schultern geworfen und sich ihm genähert hatte, empfand sie im tiefsten Herzen eine übermäßige Freude, die wie der Ausbruch eines gestillten Rachegefühls war. Der Fausthieb war mitten in die Brust der anderen gefahren, es klaffte ein großes Loch. Endlich war sie vernichtet.

Starr über seine Tat blickte Claude auf die in dieser Brust klaffende Höhle. Und es überkam ihn ein unsäglicher Schmerz. Es war, als ob aus der Wunde das Lebensblut seines Werkes entflöhe. War es möglich? War er es gewesen, der das, was ihm das Liebste auf der Welt war, hatte vernichten können? Sein Zorn wich einer Betäubung. Er tastete mit den Fingern über die Leinwand hin, zog an den Rändern des Risses, als hätte er die Lippen einer Wunde zusammenfügen wollen. Es war ihm, als müsse er ersticken. Von einem unendlich zärtlichen Schmerz überwältigt wimmerte er:

»Sie ist entzwei ... Sie ist entzwei ...«

Christine fühlte sich bis ins Innerste bewegt. All ihr mütterliches Gefühl für ihr großes Kind verzieh ihm wie immer. Und da sie sah, daß er nur den einen Gedanken hatte, den Riß sofort wieder auszubessern und das Übel zu heilen, so half sie ihm. Sie hielt die Lappen, während er von hinten ein Stück Leinwand draufklebte. Als Christine sich wieder ankleidete, war die andere, unsterblich, auf der Herzgegend nur eine winzige Narbe, die den Maler vollends hinnahm, von neuem da.

In diesem zunehmenden Hinschwinden seines Gleichgewichtes gelangte Claude zu einer Art von Aberglauben, zu einem frommen Glauben, daß alles von den Vorbereitungen abhinge. Er verwarf das Öl, sprach von ihm wie von einem persönlichen Feind. Dagegen sollte Essenz die Farben matt und solid machen. Außerdem hatte er alle möglichen, von ihm geheimgehaltenen Mittel, die er benutzte: Ambralösungen, flüssigen Kopal und noch andere Harze, die schnell trockneten und das Rissigwerden des Gemäldes verhüteten. Einen beständigen Kampf aber hatte er gegen das schreckliche Einschlagen der Farben zu führen; denn seine ungeleimte Leinwand sog sofort das wenige Öl der Farben auf. Stets hatte ihm auch die Wahl der Pinsel Sorge gemacht. Sie mußten von einer besonderen Beschaffenheit sein. Die aus Marderhaar verwarf er, verlangte gedörrtes Roßhaar. Ein Hauptgewicht legte er auch auf die Palettenmesser, die er, wie Courbet, für die Hintergründe verwandte. Er besaß von ihnen eine ganze Sammlung: lange, die biegsam waren, kurze kräftige, besonders aber ein dreieckiges, wie es die Glaser gebrauchen, das er sich eigens für seinen Gebrauch hatte anfertigen lassen, das wahre Messer Delacroix'. Übrigens gebrauchte er niemals den Schaber, auch nicht den Kratzer; er fand deren Gebrauch unanständig. Doch gestattete er sich sonst beim Auftragen des Tones alle möglichen Arten von geheimen Kunstgriffen und dachte sich Rezepte aus, mit denen er jeden Monat wechselte; auch glaubte er plötzlich das Geheimnis der guten Malerei damit entdeckt zu haben, daß er das leichtflüssige Öl verschmähte, wie man es früher verwendet hatte. Er arbeitete mit allmählichen Pinselstrichen, übermalte, bis er den genauen Tonwert erzielt hatte. Lange war es eine seiner Manien gewesen, von rechts nach links zu malen. Ohne es einzugestehen, war er überzeugt, daß ihm das Glück bringe. Ganz besonders wurde ihm aber seine Theorie von den Komplementärfarben verhängnisvoll. Schon Gagniere, der gleichfalls sehr zu technischen Spekulationen neigte, hatte ihm davon gesprochen. Aber dann hatte er nach seiner beständigen, übertrieben leidenschaftlichen Art selbst dies wissenschaftliche Prinzip noch auf die Spitze getrieben, das aus den drei primären Farben, Gelb, Rot, Blau, die drei sekundären, Orange, Grün, Violett, dann eine ganze Folge von komplementären und gleichartigen hervorgehen läßt, deren Komponenten sich die eine aus der anderen mathematisch bedingen. So drang die Wissenschaft in die Malerei ein, und es war eine Methode logischer Beobachtung geschaffen. Man brauchte bloß die Hauptfarbe eines Gemäldes zu nehmen, deren Komplementär- oder Similärfarbe zu bestimmen, um auf experimentellem Wege zu den sich daraus ergebenden Variationen zu gelangen. So wandelte sich zum Beispiel ein Rot neben einem Blau in ein Gelb; eine ganze Landschaft änderte durch die Reflexe und die Zersetzung des Lichtes, je nachdem Wolken vorübergingen, ihren Ton. Daraus zog er den richtigen Schluß, daß die Dinge keine feste Farbe haben, daß sie sich nach Maßgabe wechselnder Umstände färben. Einen großen Übelstand bedeutete es aber, daß, wenn er dann zur direkten Beobachtung überging, er, von dieser wissenschaftlichen Angelegenheit voreingenommen, die feinen Nuancen forcierte und die Genauigkeit der Theorie durch zu lebhafte Noten bekräftigte. Und so wurde aus seiner so eigenartigen, klaren Darstellung des schwingenden Sonnenlichtes ein waghalsiges Experiment, das alle Gewohnheit des Auges über den Haufen warf und violette Leiber unter trikoloren Himmel setzte. Das konnte nur auf den Wahnsinn hinauslaufen. Die materielle Not gab Claude vollends den Rest. Sie war, seit man ohne zu rechnen vom Kapital lebte, mit der Zeit immer größer geworden; und als von zwanzigtausend Franken nicht ein Sou mehr übrig war, ereignete sich der unabwendbare Zusammenbruch. Christine wollte Arbeit suchen; aber sie verstand sich ja auf nichts, nicht einmal aufs Nähen. Die Hände im Schoß jammerte sie und verwünschte ihre törichte Erziehung, die ihr bloß die einzige Möglichkeit ließ, sich, wenn ihre Lage sich nicht besserte, als Magd zu verdingen. Claude aber, der der Spott von Paris geworden war, konnte schlechterdings nichts absetzen. Eine unabhängige Ausstellung, in der er zusammen mit Kameraden ein paar Bilder gezeigt hatte, gab ihm bei den Kunstliebhabern noch ganz den Rest, so sehr machte sich die Öffentlichkeit über seine in allen Farben des Regenbogens spielenden Bilder lustig. Die Kunsthändler flohen ihn. Einzig Herr Hue kam nach der Rue Tourlaque, geriet vor seinen tollsten und wirrsten Sachen in Ekstase, konnte aber bloß bedauern, daß er sie nicht mit Gold aufzuwiegen vermöchte. Der Maler hatte gut sagen, daß er sie ihm schenke, daß er ihn beschwöre, sie anzunehmen; der kleine Bürger war in dieser Beziehung von einer außerordentlichen Gewissenhaftigkeit, sparte sich von seinem Lebensunterhalt ab, um ab und zu eine Summe zusammenzubringen, worauf er dann die betreffende Verrücktheit, die er neben seine Meisterwerke hing, andachtsvoll davontrug. Aber solch eine Aushilfe kam zu selten vor. So hatte Claude sich entschließen müssen, für den Handel zu arbeiten. Er tat es mit solchem Widerstreben, war so verzweifelt, in diesen Bagno, den er ja so verschworen hatte, hinabzusinken, daß er, hätte er nicht für die zwei armen, mit ihm leidenden Wesen zu sorgen gehabt, lieber Hungers gestorben wäre. Er lernte den Leidensweg der zum Ramschpreis angefertigten Arbeit kennen, malte dutzendweis bezahlte Heiligenbilder, mit der Schablone vorgezeichnete Rouleaus, all jenen elenden Kram, der die Malerei zu einer stumpfsinnigen, aller Empfindungen baren Tusch er ei erniedrigt. Doch er erlebte sogar die Schmach, daß ihm die Porträts zu fünfundzwanzig Franken zurückgegeben wurden, weil sie nicht getroffen sein sollten. Und sogar zur letzten Stufe sank er herab: er arbeitete »nach der Nummer«. Elende Kleinhändler, wie sie auf den Brücken hausieren und auch an die Wilden exportieren, kauften ihm Bilder ab, die sie, je nach ihrer Größe, mit zwei, drei Franken bezahlten. Es brachte ihn physisch herunter. Er nahm ab, wurde krank, unfähig zu jeder ernstlicheren Arbeit. Auf sein großes Bild blickte er mit einer wahren Angst, wie ein Verdammter, rührte es, als ob er seine Hände besudelt und entehrt fühlte, oft wochenlang nicht an. Kaum hatte man Brot. Die große Baracke, diese Halle, die Christine, als sie sich in ihr eingerichtet, so herrlich gefunden hatte, war im Winter unbewohnbar. Sie, die ehemals so tätige Hausfrau, drückte sich jetzt umher, hatte kaum noch Lust auszufegen. Alles verkam in Unordnung. Der kleine Jacques war durch Unterernährung geschwächt. Ihr Mahl war ein Stück im Stehen verzehrtes trockenes Brot; ihr ganzes verwahrlostes Leben versank in den Schmutz jener Armut, die selbst ihrer Menschenwürde verlustig gegangen ist.

Noch ein Jahr war vergangen, als Claude an einem der Tage, wo er seiner Depression verfallen war und sein verfehltes Bild floh, eine Begegnung hatte. Diesmal hatte er geschworen, nicht mehr zurückzukehren. Seit Mittag durchirrte er, als wäre das bleiche Gespenst der großen, nackten Gestalt hinter ihm her, beklage sich, nie über die Retusche hinauszukommen, immer unvollendet zu bleiben, und verfolge ihn mit ihrer schmerzlichen Sehnsucht, geboren zu werden, Paris. Ein Nebel ging in einen gelblichen Sprühregen über. Die Straßen waren schmutzig. Gegen fünf Uhr überschritt er auf die Gefahr hin überfahren zu werden, in seiner zerlumpten Kleidung, mit Kot bespritzt bis zum Rücken hinauf, die Rue Royale, als plötzlich eine Kutsche hielt.

»Claude! He, Claude! ... Kennen Sie Ihre Freunde nicht mehr?«

Es war Irma Bécot. Sie trug eine entzückende Toilette aus grauer Seide mit Spitzenüberwurf. Sie hatte lebhaft das Fenster heruntergelassen und sah mit einem strahlenden Lächeln aus dem Schlag.

»Wo wollen Sie hin?«

Verdutzt antwortete er, daß er nirgends wohin ginge. Sie lachte belustigt auf und sah ihn mit ihrem lüsternen Blick an, wobei ihre Lippen jenes perverse Zucken hatten, das manche Damen zeigen, wenn sie ein plötzlicher Appetit auf eine vulgäre Speise in den ersten besten Hökerladen treibt.

»Steigen Sie also ein! ... Wie lange hat man sich nicht gesehen! ... Steigen Sie doch ein, Sie werden ja überfahren!«

Tatsächlich wurden die Kutscher ungeduldig und trieben mitten im Gedränge ihre Pferde an. Betäubt stieg er ein. Und sie entführte ihn, wie er war, durchnäßt, mit seinem armseligen, verwilderten Äußeren, in dem kleinen, blauseidenen Coupe, wo er halb auf ihrem Spitzenkleid saß, während die Fiaker über die Entführung ulkend wieder in das sich von neuem in Bewegung setzende Getriebe einlenkten.

Irma Bécot hatte endlich ihren Traum, an der Avenue Villiers ihr eigenes Heim zu besitzen, verwirklicht. Aber sie hatte Jahre dazu gebraucht. Den Baugrund hatte ihr ein Liebhaber gekauft. Dann hatten andere die fünf hunderttausend Franken für den Bau und dreihunderttausend für die Möbel gespendet. Es war eine fürstliche, mit auserlesenstem Luxus, besonders aber mit einem auf den Sinnenkitzel berechneten äußersten Raffinement ausgestattete Behausung, ein einziges, großes Hetärenboudoir, ein einziges Bett der Wollust, von den Teppichen der Vorhalle bis zu den seidenbespannten Wänden der Gemächer. Doch wie große Kosten es auch verursacht hatte: es rentierte sich. Denn man hatte für die Berühmtheit dieser purpurseidenen Betten zu zahlen; die Nächte, die man hier verbrachte, waren teuer.

Als sie mit Claude angelangt war, gab Irma Weisung, daß sie niemanden empfinge. Um ihre Laune zu befriedigen, würde sie ihr ganzes Vermögen haben in Flammen aufgehen lassen. Als sie miteinander den Speisesaal betraten, machte ein derzeit zahlender Herr trotzdem den Versuch, hineinzugelangen; aber sie befahl, ohne sich darum zu kümmern, ob sie gehört werden könnte, mit lauter Stimme, daß er abgewiesen werde. Dann, bei Tisch, war sie munter wie ein Kind, aß, obgleich sie für gewöhnlich nur wenig genoß, von allem. Ganz entzückt musterte sie den Maler und hatte an seinem vernachlässigten Bart und seinem Arbeitsjackett, an dem die Knöpfe fehlten, ihr Vergnügen. Wie im Traum ließ er sie gewähren, aß mit Heißhunger. Während sie aßen, sprachen sie nicht. Der Diener servierte mit großer Würde.

»Louis, bringen Sie den Kaffee und den Likör in mein Zimmer.«

Es war kaum acht Uhr, aber Irma wollte sich sofort mit Claude einschließen. Sie schob den Riegel vor und scherzte: »Gute Nacht, Madame ist schlafengegangen!«

»Mach's dir bequem, ich behalte dich da ... Lange genug ist davon die Rede gewesen, nicht? Dumm! Endlich mußte es ja doch mal werden!«

Ganz ruhig zog er in dem üppigen Gemach mit den malvenseidigen, mit Silberspitzen besetzten Wänden, dem riesigen, mit alten Gobelins verhangenen Bett, das wie ein Thron war, sein Jackett aus. Da er gewohnt war, in Hemdsärmeln zu sein, fühlte er sich wie zu Hause. Konnte er nicht ebensogut hier schlafen wie unter einer Brücke, da er ja doch geschworen hatte, nie wieder heimzukehren? In aller Heruntergekommenheit seiner Existenz erstaunte ihn das Abenteuer nicht einmal mehr. Sie aber hatte für diese brutale Vernachlässigung kein Verständnis; sie fand es zum Totlachen und war ausgelassen wie die Straßendirne, die sie eh gewesen. Selber schon halb entkleidet, zwickte, biß sie ihn und gebrauchte ihre Hände wie ein richtiger kleiner Taugenichts der Gasse.

»Du weißt: mein Tizian, wie sie's heißen, meine Frisur für die Gimpel, ist nicht für dich ... Ah, du bist was anderes!«

Und sie packte ihn, sagte ihm, wie sie sich nach ihm gesehnt hätte, weil er so struppig aussähe, und konnte vor Lachen kaum sprechen. Sie fand ihn so garstig, so komisch, daß sie ihn wie verrückt überall mit Küssen bedeckte.

Gegen drei Uhr früh streckte sich Irma in dem zerknitterten, zerwühlten Bett, nackt, gedunsen von ihrer Ausschweifung, und stammelte träg:

»Und dein Verhältnis? Hast du's geheiratet?«

Claude, der am Einschlafen war, öffnete trag die Augen.

»Ja.«

»Und du schläfst noch immer bei ihr?«

»Natürlich.«

Sie lachte und fügte nur hinzu:

»Ach, mein armer Dicker, mein armer Dicker, muß das langweilig sein!«

Als Irma am anderen Tag, rosig wie nach einer in festem Schlaf verbrachten Nacht, korrekt in ihrem Morgenkleid, frisiert und völlig gestillt, Claude entließ, hielt sie noch einen Augenblick seine Hände in den ihren und betrachtete ihn mit einem gleichzeitig gerührten und spöttischen Blick.

»Mein armer Dicker, dir hat das kein Vergnügen gemacht ... Nein, schwöre nicht! Wir Weiber verstehen so was ... Aber mir sehr viel; oh, sehr viel! ... Dank, schön Dank!«

Und damit war's aus. Er hätte schon arg teuer zahlen müssen, wenn sie ihn noch einmal hätte empfangen sollen.

Von dem Abenteuer tief berührt, kehrte Claude geradeswegs nach der Rue Tourlaque zurück. Er empfand ihm gegenüber eine seltsame Mischung von geschmeichelter Eitelkeit und Gewissensbiß, die ihn zwei Tage lang gegen das Malen gleichgültig stimmte und ihn darüber nachgrübeln ließ, ob er nicht vielleicht doch sein Leben verfehlt habe. Übrigens war er bei seiner Rückkehr so sonderbar, so voll von dem, was er diese Nacht erlebt, daß er, als Christine ihn gefragt hatte, zuerst irgend etwas hinstammelte, dann aber alles gestand. Es gab einen Auftritt. Lange weinte sie. Dann aber verzieh sie ihm aus unendlicher Nachsicht mit seinen Schwächen doch noch; war dann aber aus Sorge, eine derartige Nacht könnte ihn zu sehr ermüdet haben, in Unruhe. Doch auf dem Grunde ihres Kummers erhob sich eine unwillkürliche Freude, ein Stolz, daß er so geliebt worden und er eines solchen Streiches fähig gewesen war, zugleich die Hoffnung, daß er wieder zu ihr zurückkehren werde, da er doch auch zu einer anderen gegangen war. Sie erschauerte vor dem Hauch des Verlangens, das er mitbrachte; nur eine einzige Eifersucht bewegte ihr Herz: gegen dies verwünschte Gemälde. Sie warf ihn lieber einem Weibe in die Arme als dem Weib auf dem Bild.

Doch gegen die Mitte des Winters nahm Claudes Mut einen neuen Aufschwung. Eines Tages, als er zwischen alten Malrahmen kramte, fiel als letztes ein Stück von einem Bild heraus. Es war die nackte Gestalt, das liegende Weib des »Pleinair«, das er, als er das Gemälde, nachdem er's aus dem Salon der Zurückgewiesenen zurückerhalten, zerschnitten, aufbewahrt hatte. Als er es aber aufrollte, entrang sich ihm ein bewundernder Schrei.

»Wetter, ist das schön!«

Sogleich heftete er's mit vier Nägeln an die Wand. Und dann stand er stundenlang und betrachtete es. Seine Hände zitterten, eine Blutwelle schoß ihm in die Wangen. War es möglich, daß er ein solches Meisterwerk gemalt hatte? Er hatte also Genie besessen? Waren ihm Hirn, Augen, Hände ausgewechselt? Und es packte ihn ein derartiges Fieber, ein solches Bedürfnis, sich mitzuteilen, daß er schließlich seine Frau herbeirief:

»Komm doch, sieh! ... He, ist das nicht gemalt? Sind das nicht fein ausgeführte Muskeln? ... Sieh, dieser in Licht gebadete Schenkel! Und hier die Schulter, bis zur Schwellung des Busens hin! v... Ah, mein Gott! Hat das ein Leben! Ja, ich fühle sie leben, als ob ich sie berührte! Die weiche, warme Haut! Ich spüre förmlich ihren Hauch!«

Christine, die neben ihm stand, schaute und antwortete mit kurzen Worten. Diese Auferstehung ihrer selbst, nach Jahren, so wie sie mit achtzehn Jahren gewesen war, schmeichelte und überraschte sie zunächst. Aber als sie sah, wie er sich begeisterte, empfand sie ein zunehmendes Mißbehagen, eine unbestimmte Gereiztheit, über deren Ursache sie sich nicht klar war.

»Wie? Du findest sie nicht zum Anbeten schön?«

»Doch, doch ... Aber sie hat nachgedunkelt.«

Aufgeregt widersprach Claude. Ach, wie denn, nachgedunkelt! Niemals könne sie nachdunkeln, ihre Jugend sei unvergänglich. Eine Liebesempfindung bemächtigte sich seiner, er sprach von ihr wie von einerlebenden Person, hatte immer wieder das Verlangen, sie anzusehen, und bei solchen Gelegenheiten ließ er alles stehen und liegen, als renne er zum Stelldichein.

Dann ergriff ihn eines Morgens eine mächtige Arbeitswut.

»Aber verdammt! Hab' ich das gemacht, so kann ich es doch wieder machen! ... Gib acht, wenn ich nicht ganz und gar zum Trottel geworden bin, sollst du was erleben!«

Und auf der Stelle mußte Christine ihm Modell stehen; denn er war schon oben auf der Leiter, brannte vor Begier, sich wieder an sein großes Bild zu machen. Einen Moment lang nötigte er sie, ihm, obgleich ihr die Beine infolge der fortwährenden Bewegungslosigkeit wie zerschlagen waren, ohne ihrer Erschöpfung wegen Mitleid zu empfinden, da er ja doch selber trotz seiner eigenen Ermüdung eine so ausdauernde Kraft fühlte, nackt Modell zu stehen. Er versteifte sich darauf, ein Meisterwerk zustande zu bringen, stellte sich die Anforderung, daß seine stehende Figur der liegenden, die er da von der Wand herschimmern sah, gleichwertig werden sollte. Beständig holte er sich bei ihr Rat, verglich sie, ganz verzweifelt und gepeitscht von seiner Angst, er könne das niemals mehr erreichen. Bald warf er einen Blick auf sie, bald auf Christine und erging sich, wenn er nicht zufrieden war, in Verwünschungen. Schließlich fiel er über seine Frau her.

»Übrigens, lieber Schatz, bist du auch nicht mehr, wie du damals am Quai Bourbon warst! Ah, ganz und gar nicht! ... Es ist recht merkwürdig: dein Busen war so frühzeitig entwickelt. Ich erinnere mich, wie es mich überraschte, als ich diese reife Fülle gegen den übrigen Körper sah, der noch ganz kindlich war ... Und so frisch, so rosig, eine wahre aufbrechende Knospe, solch eine lenzliche Anmut ... Gewiß, ja! Du kannst dir was drauf einbilden: dein Körper war außerordentlich schön gebaut!«

Er hatte nicht die Absicht, sie mit dem, was er sagte, zu verletzen; er sprach bloß als Beobachter, mit gekniffenen Augen, sprach von ihrem Leib wie von einem Studienobjekt, das einen Schaden erlitten hatte.

»Die Tönung ist noch immer herrlich; aber die Linie, nein! Damit ist nichts mehr los ... Die Beine, oh! Die Beine sind noch immer sehr schön; die halten sich bei der Frau am längsten ... Aber der Bauch und die Brüste, die sind hin. Und da sind, sieh dich mal im Spiegel, unter den Achselhöhlen solche gebauschte Säcke; die sind nichts weniger als schön. Sieh, an ihrem Körper findest du so was nicht.«

Mit einem zärtlichen Blick deutete er auf die liegende Gestalt und schloß ab:

»Du kannst natürlich nichts dafür; aber, immerhin stört es mich ... Ah, kein Glück, kein Glück!«

Sie hörte das mit an. Vor Gram wankte sie. Sie hatte von diesen Modellstunden schon so viel zu leiden gehabt; jetzt aber wurden sie ihr zu einer unerträglichen Folter. Was wollte er damit, daß er sie mit ihrer Jugend quälte, ihre Eifersucht damit reizte, daß er sie mit der Trauer um ihre hingeschwundene Schönheit vergiftete? So daß sie ihre eigene Nebenbuhlerin wurde, daß sie ihre frühere Gestalt nicht mehr ansehen konnte, ohne daß sich ihr das Herz vor üblem Leid zusammenkrampfte. Ah, wie lastete dies Abbild, diese nach ihr gemachte Studie, auf ihrem Dasein! All ihr Elend rührte einzig daher. Zuerst, daß sie ihm, als sie geschlafen hatte, ihre Brust gezeigt; dann, daß sie in jenem Augenblick eines zärtlichen Liebesopfers freiwillig ihren jungfräulichen Leib entkleidet hatte; alsdann nach dem Hohn der Menge, die ihre Blöße verspottet hatte, ihre völlige Hingabe; und dann weiter, ihr ganzes seitheriges Leben, bis zur Erniedrigung des Modellstehens, das sie um die Liebe ihres Gatten gebracht hatte. Und dies Bild war von neuem erstanden; lebensfrischer als sie, vernichtete sie vollends. Denn beide Werke waren ja nur noch ein und dasselbe: das liegende Weib des früheren Bildes hatte sich in dem stehenden des neuen bloß aufgerichtet.

Von da an fühlte Christine sich bei jeder Sitzung mehr altern. Sie betrachtete sich mit verstörten Blicken, glaubte Runzeln zu entdecken, die reinen Linien ihres Körpers sich entstellen zu sehen. Noch nie hatte sie sich mit solcher Aufmerksamkeit studiert. Sie schämte sich ihres Leibes, verabscheute ihn mit jener unsäglichen Verzweiflung, mit der feurige Weiber bei dem Schwinden ihrer Schönheit auch die Liebe fliehen sehen. Darum also liebte er sie nicht mehr, brachte er seine Nächte bei anderen Weibern zu, wandte seine Leidenschaft von der lebendigen Natur ab seinem Werke zu! Es führte dahin, daß ihr Verstand stumpf den einfachsten Dingen gegenüber versagte, daß sie sich in ihrem Äußern zu vernachlässigen begann, in Nachtjacke und schmutzigem Rock einherging und jeden Trieb zu gefallen verlor. Denn was half's, noch weiter zu kämpfen? Sie wurde ja alt.

Eines Tages aber, als Claude gelegentlich einer schlecht verlaufenen Sitzung einen fürchterlichen Wutschrei ausstieß, wurde das Maß ihrer Leiden endgültig voll. Außer sich, von einem seiner Jähzornsanwandlungen gepackt, bei denen er sich selbst nicht kannte, war er nahe daran gewesen, seine Leinwand abermals zu vernichten. Dann aber reckte er die Fäuste gegen sie hin, ließ seine Wut an ihr aus und schrie:

»Nein, es ist so: ich kann mit dir nichts anfangen ... Wenn man Modell sein will, darf man kein Kind in die Welt gesetzt haben.«

Außer sich über diesen Schimpf stürzte sie weinend zu ihren Kleidern hin, fing an, sich anzuziehen. Doch ihre Hände verwirrten sich, sie konnte ihre Kleidungsstücke nicht so schnell erraffen, wie sie sich anzukleiden hastete. Doch schon stieg er reuevoll von der Leiter herab und beruhigte sie.

»Ich tat dir weh, verzeih! Ich bin ein unglückseliger Mensch ... Bitte, erbarme dich, tu mir den Gefallen, steh mir noch ein wenig; zeig mir, daß du mir vergibst!«

Er nahm sie, nackt wie sie war, in seine Arme und hielt sie, entwand ihr das Hemd, das sie schon halb übergestreift hatte. Und wieder einmal verzieh sie ihm, nahm wieder ihre Pose ein. Doch zitterte sie dabei so, daß die schmerzlichen Zuckungen ihr über den ganzen Leib gingen, während ihr die dicken Tränen über die Wangen auf die Brust herabrannen und sie starr wie eine Statue dastand. Ihr Kind! Ah gewiß, ja! Besser wär's gewesen, sie hätte es nicht zur Welt gebracht! Vielleicht war's an allem schuld. Sie weinte nicht mehr. Schon entschuldigte sie den Vater, empfand einen heimlichen Zorn gegen das arme Wesen, für das sich ihr nie ein mütterliches Gefühl geregt hatte, das sie jetzt aber bei dem Gedanken, daß es ihre Liebe zerstört hatte, geradezu haßte.

Claude aber blieb diesmal standhaft, stellte sein Bild fertig und nahm sich fest vor, es auszustellen. Er kam nicht mehr von seiner Leiter herunter, besserte an den Hintergründen bis in den dunkelnden Abend hinein. Endlich erklärte er ganz erschöpft, daß er nun nichts mehr daran ändern wolle. Als diesen Tag gegen vier Uhr Sandoz ihn besuchen kam, war er nicht da. Christine sagte, daß er ausgegangen wäre, um ein paar Augenblicke frische Luft zu schöpfen.

Zwischen Claude und seinen alten Freunden war es allmählich zu einem immer entschiedeneren Bruch gekommen. Von seiner wirren Malweise befremdet und mehr und mehr von der Bewunderung, die sie ihm früher hatten zuteil werden lassen, abgekommen, hatten sie ihre Besuche immer kürzer und seltener werden lassen. Jetzt ließ sich niemand mehr blicken, nicht einer kam mehr. Gagnière hatte übrigens Paris verlassen und wohnte, nachdem er sich zu aller Erstaunen mit seiner Musiklehrerin, einem älteren Fräulein, die ihm abends Wagner vorspielen mußte, verheiratet hatte, in einem seiner Häuser in Melun, wobei er schlecht und recht von dem Mietsertrag des anderen lebte. Was Mahoudeau anbetraf, so entschuldigte er sich mit vieler Arbeit. Da er einen Fabrikanten von Kunstbronzen gefunden hatte, dessen Modelle er retuschierte, so hatte er angefangen, ein gut Stück Geld zu verdienen. Anders verhielt es sich mit Jory, den man, seit Mathilde ihn despotisch zu Hause hielt, überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekam. Sie stopfte ihn mit einer leckeren Küche, stumpfte ihn mit ihren Liebeskünsten ab und fütterte ihn dermaßen mit allem, was er gern hatte, daß er, der frühere Pflastertreter, der Geizhals, der ohne zu zahlen sein Vergnügen an den Straßenecken gesucht hatte, häuslich geworden war wie ein treuer Hund. Er gab ihr den Schlüssel zum Geld und hatte höchstens an einem Tage, wo sie ihm einmal zwanzig Sous gab, so viel, daß er sich eine Zigarre kaufen konnte. Es hieß sogar, daß sie, die ja früher so fromm gewesen war, um ihn ganz und gar in ihre Gewalt zu bekommen, ihn bekehrt hätte und ihm vom Tode spräche, vor dem er eine ganz entsetzliche Angst hatte. Nur Fagerolles tat seinem alten Freund gegenüber ausnehmend herzlich, wenn er mit ihm zusammentraf, und versprach immer, ihn besuchen zu wollen, ohne daß er's wahr machte. Er war seit seinem großen Erfolg so beschäftigt, so ausposaunt, gefeiert, so an alle Litfaßsäulen geklebt, Reichtum und alle Ehren schienen ihm vorbehalten. Claude aber fühlte sich infolge einer gewissen Zuneigung von ihren gemeinsamen Kindheitserinnerungen her, die er ihm trotz der Abkühlung, die die Verschiedenheit ihrer Naturen später mit sich gebracht, bewahrt hatte, eigentlich schmerzlich berührt bloß durch den Verlust Dubuches. Doch auch Dubuche schien nichts weniger als glücklich zu sein. Gewiß, er war Millionär, aber trotzdem unglücklich. Denn er lebte in beständigem Zwist mit seinem Schwiegervater, der ihm vorwarf, daß er ihn über seine Fähigkeiten als Architekt sehr getäuscht hätte. Im übrigen mußte er sein Dasein zwischen den Arzneiflaschen seiner kranken Frau und seiner kranken Kinder, Frühgeburten, die mit aller erdenklichen Fürsorge gepflegt werden mußten, hinbringen.

Von all seinen früheren Freunden war's also einzig noch Sandoz, der den Weg zur Rue Tourlaque zu finden schien. Er kam dorthin des kleinen Jacques, seines Patenkindes, wegen. Auch Christines, des armen Weibes, wegen, die ihn, wie sie mit ihrem leidenschaftlichen Wesen mitten in all diesem Elend stand, tief rührte. Sie erschien ihm wie eine von jenen starken, liebenden Gestalten, die er in seinen Büchern zu schildern gedachte. Vor allem war es aber seine brüderliche Neigung zu dem Künstler, die ihn herzog und die, seit er sah, wie es mit Claude abwärtsging und ihn sein heldenhaftes Künstlertum mehr und mehr in Schwermut versetzte, nur zugenommen hatte. Anfangs hatte er sich bestürzt gefühlt; hatte er doch an den Freund mehr als an sich selbst geglaubt und sich ihm schon, als sie noch die Schule besucht, immer untergeordnet und ihn so hoch gestellt, ihn zu jenen Meistern gesellt, die eine ganze Epoche revolutionieren. Als er dann aber die fürchterliche Pein sah, die sein Unvermögen ihm verursachte, hatte ihn der Untergang von Claudes Genie mit einer schmerzlichen Zärtlichkeit und einem tiefinnerlichen Mitleid erfüllt. Wußte man wirklich niemals, wo in der Kunst das Narrentum anfing? Alle verkannten Kunstgenies rührten ihn bis zu Tränen, und je mehr ein Bild oder ein Buch infolge einer beklagenswert grotesken Anstrengung auf Abwege geriet, um so tiefer griff es ihm ans Herz und fühlte er das Bedürfnis, solch ein vernichtetes Streben und seine ausschweifenden Träume von sich abzulenken.

An dem Tag, wo Sandoz gekommen war und den Maler nicht vorgefunden hatte, ging er noch nicht sogleich wieder, sondern war, als er Christines rotgeweinte Augen sah, noch geblieben.

»Wenn Sie denken, daß er bald zurückkommt, will ich auf ihn warten.«

»Oh, er kann nicht lange ausbleiben.«

»Dann will ich also, wenn ich Sie nicht störe, bleiben.«

Noch nie hatte ihn das arme, verfallende, verschmähte Weib mit ihren müden Bewegungen, ihrer schleppenden Sprechweise, ihrer Unbekümmertheit um alles, was nicht mit der in ihr glühenden Leidenschaft zusammenhing, in solch einem Grade bewegt. Seit etwa einer Woche rückte sie keinen Stuhl mehr vom Fleck, wischte kein Möbel mehr ab, ließ alles verfallen und hatte kaum noch die Kraft, sich selber von der Stelle zu bringen. Es konnte einem das Herz abdrücken, und trotz des hellen Februarnachmittags war einem todtraurig zumute, wenn man in dem harten Licht des großen Atelierfensters diese Armut und diesen Schmutz sah, diesen ganzen Schuppen mit seinen schlecht getünchten Wänden, seiner Kahlheit und seinem vernachlässigten Zustand.

Schweren Schrittes hatte sich Christine zu einer eisernen Bettstelle hingeschleppt, die Sandoz, als er eintrat, nicht gesehen hatte, und sich dort niedergelassen.

»Ach,« fragte er, »ist Jacques denn krank?«

Sie deckte das Kind, das unaufhörlich die Bettdecke abwarf, wieder zu.

»Ja, seit drei Tagen liegt er. Wir haben sein Bett hierhergebracht, damit er bei uns ist ... Er ist ja nie sehr kräftig gewesen; aber jetzt nimmt er immer mehr ab. Es ist zum Verzweifeln.«

Vor sich hinstarrend hatte sie diese Worte eintönig hingesprochen. Als er aber hinzutrat, erschrak er. Der fahle Kopf des Kindes schien noch größer geworden, so schwer, daß es ihn kaum noch trug. Wie leblos lag er da. Man hätte ihn schon für gestorben halten können, wenn nicht sein zwischen den blassen Lippen hervorkeuchender Atem gewesen wäre.

»Mein kleiner Jacques, ich bin's, dein Pate! ... Sagst du mir nicht guten Tag?«

Das Kind machte mühsam eine vergebliche Anstrengung, sich zu erheben, öffnete die Lider, zeigte das Weiße seiner Augen, die sich aber gleich wieder schlossen.

»Haben Sie denn nicht den Arzt zu Rate gezogen?«

Sie zuckte die Achseln.

»Oh, was wissen die Ärzte! ... Ja, es kam einer. Er hat gesagt, er könne nichts tun ... Hoffentlich irrt er. Er ist jetzt zwölf Jahre alt. Es wird mit seinem Wachstum zusammenhängen.«

Starr vor Schreck schwieg Sandoz. Da sie den Ernst der Krankheit nicht zu erkennen schien, wollte er sie nicht noch unruhiger machen. Er ging still in das Atelier hinein und blieb vor dem Bilde stehen.

»Ah, es rückt vorwärts! Sehr schön geht es vorwärts damit!«

»Es ist fertig.«

»Wie? Fertig?«

Als sie aber hinzugefügt hatte, daß die Leinwand nächste Woche in den Salon sollte, schwieg er betreten und setzte sich, als wollte er sich in aller Ruhe sein Urteil bilden, auf den Diwan. Die Hintergründe, die Quais, die Seine, wo triumphierend sich die Spitze der Cité erhob, waren im Zustand der Skizze, aber einer meisterhaften Skizze geblieben, als hätte der Maler sich gescheut, das Paris, wie er's in seinem Geiste erschaute, wenn er es gänzlich ausführte, zu verderben. Links befand sich eine ausgezeichnete Gruppe, die Gipssäcke tragenden Arbeiter, in sehr guter Ausführung, machtvoll in der Faktur. Doch aus der Mitte stach mit grell leuchtenden Tönen die Barke mit den Weibgestalten hervor; und sie war nicht am Platze. Besonders aber besaß die mit fiebernder Hand gemalte große, nackte Gestalt einen Glanz und eine visionäre Steigerung, die inmitten der Wirklichkeit, von der sie umgeben war, bis zum Befremdlichen falsch war und störte.

Sandoz gab sich angesichts dieser glänzenden Fehlgeburt einer stummen Verzweiflung hin. Als er aber Christines fest auf ihn gerichteten Blick fühlte, zwang er sich ab zu flüstern:

»Erstaunlich! Oh, das Weib ist erstaunlich!«

In diesem Augenblick trat Claude ein. Er stieß einen Freudenruf aus, als er den alten Freund erblickte, und drückte ihm kräftig die Hand. Dann trat er zu Christine hin und küßte den kleinen Jacques, der wieder die Decke abgeworfen hatte.

»Wie geht's ihm?«

»Immer dasselbe.«

»Gut, gut! Er wächst zu schnell, die Ruhe wird ihn wiederherstellen. Ich sagte ja schon, daß du dich nicht zu beunruhigen brauchst.«

Claude setzte sich neben Sandoz auf den Diwan. In halbliegender Haltung vor sich hinblickend, verloren sie sich in dem Anblick des Bildes, während Christine, drüben beim Bett nur ihrem beständigen Kummer hingegeben, nichts sah, nichts dachte. Mählich brach die Dunkelheit herein. Das durch das große Fenster hereindringende scharfe Licht erlosch in die langsam und eintönig zunehmende Abenddämmerung hinein.

»Also du bist, wie mir deine Frau sagte, entschlossen, das Bild abzuschicken?«

»Ja.«

»Du hast recht, das Ding muß endlich mal 'raus ... Oh, was hat es für herrliche Einzelheiten! Die Flucht der Quais und der Mann da unten, der den Sack hebt ... Bloß ...«

Er zögerte. Endlich wagte er zu sagen:

»Bloß, es ist sonderbar, daß du dich darauf versteift hast, die nackte Badende zu lassen ... Du kannst dich darauf verlassen, das ist nicht motiviert. Entsinnst du dich? Du hattest mir doch versprochen, sie zu bekleiden? ... Liegt dir denn wirklich so viel an diesen Weibgestalten?«

»Ja«, lautete Claudes trockene Antwort. In der Versessenheit seiner fixen Idee hielt er's nicht einmal der Mühe für wert, Gründe anzugeben. Er hatte beide Arme im Nacken verschränkt und fing an, ohne die Augen von dem Bild, das die Abenddämmerung in einen feinen Schatten hüllte, zu lassen, von etwas anderem zu sprechen.

»Weißt du, wo ich herkomme? Von Courajod, dem großen Landschafter, dem Maler des ›Moor von Gagny‹, das im Luxembourg hängt! Du erinnerst dich: ich glaubte, er wäre gestorben; und wir wußten, daß er hier ganz in der Nähe ein Haus bewohnt, auf der anderen Seite des Montmartre, Rue de l'Abreuvoir ... Also Alter! Der Gedanke an ihn ließ mir keine Ruhe. Wenn ich gelegentlich Luft schnappen ging, hatte ich sein Häuschen entdeckt; und ich konnte nie vorbeigehen, ohne daß ich's mit dem Verlangen hatte, ihn mal zu besuchen. Stell dir vor: Ein Meister, ein Kerl, der unsere heutige Landschaft aufgebracht hat und der dort unbekannt, verschollen und begraben wie ein Maulwurf lebt! ... Du machst dir von der Gasse, von der Baracke keine Vorstellung! Die reine von Hühnern wimmelnde, von grünen Grasböschungen flankierte Dorfgasse! Eine Kapuze wie ein Kinderspielzeug, mit so kleinen Fensterchen, einer so kleinen Tür, einem Gärtchen, oh, ein handgroßes, steil abfallendes Stück Erdreich mit vier Birnbäumen, fast ganz von einem aus moosbedeckten Brettern, alten Gipsstücken und einem von Bindfaden zusammengehaltenen Drahtgitter gebauten Geflügelhofe ausgefüllt ...«

Seine Rede verlangsamte sich, er blinzelte mit den Augen, als ob ihn sein Bild unwiderstehlich wieder in seinen Bann gezogen, ihn allmählich so ganz in Anspruch genommen hätte, daß es ihn am Weitersprechen hindere.

»Heute sah ich Courajod gerade vor seiner Tür stehen ... Ein zusammengeschrumpeltes, achtzigjähriges Männchen, klein wie ein Jüngelchen. Aber man muß ihn ja mit seinen Holzschuhen, seiner wollenen Bauernjacke, seinem einer Altweiberhaube gleichenden Käppchen selber sehen ... Nun, tapfer trat ich zu ihm hin und sagte: ›Herr Courajod, Sie sind mir gut bekannt; Sie haben im Luxembourg ein Gemälde, das ein Meisterwerk ist: gestatten Sie einem Maler, Ihnen, einem unserer Meister, die Hand zu drücken.‹ Ah, wenn du gesehen hättest, wie er's sofort mit der Angst bekam, stotterte, als hätt' ich ihm was tun wollen, zurückwich ... Aber ich folgte ihm. Er beruhigte sich, zeigte mir seine Hühner, seine Enten, seine Kaninchen, Hunde, die ganze auserlesene Menagerie, sogar ein Rabe mit dabei. Und zwischen all dem Viehzeug lebt er, spricht nur mit ihm. Aber eine herrliche Aussicht! Die ganze Ebene Saint-Denis, Meilen und Meilen weit, mit Flüssen, Städten, qualmenden Fabriken und Bahnzügen. Ein wahres Bergeinsiedlernest, mit dem Rücken gegen Paris, dann hinunter, über die grenzenlose Landschaft hinblickend ... Natürlich kam ich wieder auf meine Angelegenheit zurück. ›Oh, Herr Courajod, was haben Sie für ein herrliches Talent! Wenn Sie wüßten, wie wir Sie bewundern! Sie sind einer von unseren Berühmtesten, sind wie unser aller Vater.‹ Seine Lippen fingen an zu zittern, ganz verdutzt sah er mich an. Seine ablehnende Geste hätte nicht flehentlicher sein können. Es war, als hätt' ich vor ihm die Leiche seiner Jugend ausgegraben. Zwischen seinen zahnlosen Kiefern kaute er unzusammenhängende Worte daher, das unvernehmliche Gestammel eines wieder zum Kinde gewordenen Greises. ›Weiß nicht ... Zu lange her ... Zu alt ... Mir egal.‹ Kurz, er setzte mich vor die Tür. Ich hörte, wie er geräuschvoll den Schlüssel umdrehte und sich mit seinen Tieren gegen die Bewunderungsversuche der Außenwelt verbarrikadierte ... Ah, dieser große Mann endet wie ein Krämer, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, in freiwilliger Rückkehr zum Nichts noch vor seinem Tode! Das ist der Ruhm! Der Ruhm, für den wir unser Leben einsetzen!«

Seine Stimme war mehr und mehr in einem tiefen, schmerzlichen Seufzer erstorben. Die Dunkelheit nahm zu, staute sich dichter und dichter in den Winkeln, stieg langsam und unerbittlich heran, hüllte die Füße von Tisch und Stuhl, all die auf dem Fußboden unordentlich umherliegenden Dinge in ihren Schatten. Jetzt bemächtigte sie sich des unteren Teiles der Leinwand. Und er schien mit verzweiflungsvoll starren Augen dies Vorschreiten zu studieren, als sei er endlich in diesem Hinsterben des Tages zu einem abschließenden Urteil über sein Werk gelangt. Durch das tiefe Schweigen kam nur das rauhe Röcheln des kleinen Kranken, neben dem sich unbeweglich noch der schwarze Schattenriß seiner Mutter hervorhob.

Dann nahm Sandoz, die Arme gleichfalls im Nacken verschränkt, den Rücken auf ein Kissen zurückgebogen, das Wort:

»Wer weiß, ob es nicht vielleicht besser ist, unbekannt zu leben und zu sterben? Welch eine Fopperei, wenn der Künstlerruhm bloß so existierte wie das Paradies des Katechismus, über das sich selbst die Kinder lustig machen! Wir, die wir nicht mehr an Gott glauben, glauben an unsere Unsterblichkeit! ... Ach, was ist das für ein Elend!«

Und hingenommen von der Melancholie der Abenddämmerung und all dem menschlichen Elend der Umgebung, sprach er über sein eigenes, inneres Leid.

»Sieh, ich, den du vielleicht beneidest, mein Alter, ja, ich, der anfängt, ein Geschäft zu machen, der, wie der Spießbürger so sagt, Bücher veröffentlicht und einiges Geld dafür einnimmt, nun ja, ich verzehre mich daran ... Ich hab' dir's ja schon so oft gesagt, aber du glaubst mir nicht, weil das Glück für dich, der mit so viel Mühe produziert, der nicht vor die Öffentlichkeit gelangen kann, ganz natürlicherweise darin besteht, viel produzieren zu können, gesehen, gelobt oder verrissen zu werden ... Ah, möchtest du in den nächsten Salon aufgenommen werden, tritt ein in den Trubel, male Bilder und Bilder, und dann sollst du mir sagen, ob du endlich glücklich dabei bist ... Höre, die Arbeit hat mir meine ganze Existenz genommen. Allmählich hat sie mir meine Mutter gestohlen, mein Weib, alles, was ich liebe. Der Keim erhebt sich im Kopf, frißt das Hirn, bemächtigt sich des Rumpfes, der Glieder, frißt den ganzen Körper. Sobald ich früh aus dem Bett springe, packt mich die Arbeit, bindet mich an den Schreibtisch, läßt mich nicht mal im Freien ein wenig frische Luft schöpfen. Dann heftet sie sich mir beim Frühstück an, im stillen kau' ich mit meinem Brot meine Sätze wieder. Dann begleitet sie mich, wenn ich ausgehe, ißt beim Abendessen mit mir aus einem Teller, legt sich abends mit mir aufs Kopfkissen; so unbarmherzig, daß ich nie von dem Werk, an dem ich arbeite, das fortfährt zu keimen und zu werden bis tief in meinen Schlaf hinein, loskomme ... Und nichts anderes existiert mehr für mich außer ihm. Ich gehe hinauf zu meiner Mutter und küsse sie; doch so zerstreut, daß ich zehn Minuten, nachdem ich sie wieder verlassen habe, mich frage, ob ich ihr wirklich guten Tag gesagt habe. Meine arme Frau hat ihren Gatten nicht mehr, ich bin nicht mal bei ihr, wenn sich unsere Hände berühren. Bisweilen hab' ich's mit der herben Empfindung, daß ich ihnen das Leben schwer mache; und das drückt mir sehr aufs Gewissen, denn das Glück besteht in einer Ehe einzig in der Güte, Offenheit und Heiterkeit. Aber kann ich aus den Krallen des Ungeheuers los? Sofort verfall' ich in den schlafwandelnden Zustand des Schaffens, macht mich meine fixe Idee gegen alles gleichgültig und übelgelaunt. Noch gut, wenn's mit der Vormittagsarbeit gut vonstatten gegangen ist, aber schlimm, wenn auch nur eine Seite nicht ganz gelang! Freude oder Traurigkeit im Hause richtet sich danach, wie es der alles verschlingenden Arbeit gerade gefällt ... Nein, nein! Nichts bleibt mir. Ich erhoffte mir sonst, wenn ich meine schlimmen Tage hatte, Ruhe von einem Landaufenthalt oder einer längeren Reise: aber heute, wo ich mich in dieser Hinsicht zufriedenstellen könnte, hält mich das angefangene Werk unter Klausur. Nicht ein Spaziergang in die Morgensonne hinein, kein lustiger Streich mit Freunden mehr, nicht eine Stunde glücklicher Muße! Sogar mein Wille ist durch die angenommene Gewohnheit gelähmt; ich habe meine Tür vor der Welt verschlossen und den Schlüssel zum Fenster hinausgeworfen ... Nichts mehr, nichts mehr in meiner Höhle als ich und die Arbeit. Und sie wird mich aufzehren, bis nichts, nichts mehr von mir übrig ist.«

Er schwieg. Von neuem war es still in dem zunehmenden Abenddunkel. Bis er gedrückt wieder anhub:

»Und wenn man wenigstens eine Befriedigung, eine Freude von diesem Hundeleben hätte! ... Ah, ich weiß nicht, wie sie es machen, die bei der Arbeit Zigaretten rauchen und sich behäbig den Bart streicheln. Es scheint ja, daß es solche gibt, denen das Schaffen ein müheloses Vergnügen ist, das sie ohne jede fiebernde Unruhe aufnehmen und unterbrechen. Sie sind entzückt, bewundern sich, können nicht zwei Zeilen schreiben, ohne daß sie von einer seltenen, ausgezeichneten, unvergleichlichen Qualität sind ... Gut! Bei mir aber ist jedes Kind eine Zangengeburt und erscheint mir dann doch als ein Scheusal ... Ist es möglich, so frei von jedem Zweifel zu sein, daß man an sich glaubt? Ich erstaune, wenn ich Kerls sehe, die die anderen wütend verneinen und jede Kritik verlieren, jeden gesunden Verstand, wenn es sich um ihre eigenen Bastarde handelt. Ach, ein Buch ist immer ein häßliches Ding! Man muß mit dem Krempel keinen Bescheid wissen, um es lieben zu können ... Ich spreche gar nicht von den Schmähkübeln, die über einen ausgeschüttet werden. Anstatt mir etwas anzuhaben, regen sie mich vielmehr an. Manche lassen sich von Angriffen aus der Fassung bringen und haben dann das wenig stolze Bedürfnis, sich Sympathien zu machen. Das ist etwas ganz Natürliches; gehen doch manche Weiber daran zugrunde, daß sie nicht gefallen. Aber die Insulten sind gesund. Es gibt keine männlichere Schule als die Unpopularität; nichts stählt so die Kraft und hält einen so elastisch wie die Schmähungen der Dummköpfe. Es genügt, sich zu sagen, daß man sein Leben an ein Werk hingegeben hat, daß man weder verlangt, man werde ihm sofort gerecht, noch es werde ernstlich geprüft, daß man endlich ohne irgendwelche Hoffnung arbeitet, sondern einfach, weil die Arbeit in einem pulst wie das Herz, über unserem Willen. Dann gelangt man dazu, daß man ruhigen Mutes mit der tröstlichen Einbildung stirbt, eines Tages doch noch geliebt zu werden ... Ah, wenn sie wüßten, mit welch heiterem Gleichmut wir ihre Entrüstungen aufnehmen! Doch ich selbst, ich bin es, der sich's schwer macht, sich peinigt, der keine glückliche Stunde mehr hat. Gott im Himmel, was hab' ich von dem Augenblick an, wo ich einen neuen Roman anfange, für schreckliche Stunden durchzumachen! Mit dem ersten Kapitel geht's noch an; ich habe da noch Spielraum vor mir, mein Genie zu betätigen. Aber dann hat's mich, nie bin ich von meinem Tagewerk zufriedengestellt, verurteile schon mein Buch, halte es für schlechter als die früheren, schinde mich ab, mit den Seiten, den Sätzen, den Worten; bis zu einem Grade, daß sogar die Kommata mich foltern können. Und wenn es dann fertig ist, ah, fertig: welche Entlastung! Nicht etwa die Freude des Herrn, der vor Vergötterung seines Sprößlings außer sich gerät, aber der Fluch des Lastträgers, der den Sack abwirft, der ihm das Kreuz mürb gedrückt hat ... Und dann geht's von vorn los. Bis ich daran sterben werde, gegen mich selbst wütend, verzweifelt, daß ich nicht mehr Talent hatte, daß ich kein vollkommeneres Werk hinterlasse, kein höheres, Bücher über Bücher, ein Gebirge von Büchern. Und noch auf meinem Sterbebette werde ich Zweifel an der getanen Arbeit haben, werde mich fragen, ob ich wirklich etwas Rechtes geschaffen, ob ich da, wo ich nach rechts gegangen, nicht hätte nach links gehen müssen. Und mein letztes Wort, mein letztes Röcheln wird dahin gehen, alles noch einmal von vorn machen zu wollen.«

Eine mächtige Bewegung erstickte ihm die Stimme. Er mußte, nachdem er diesen leidenschaftlichen Ausruf getan, mit dem all seine Ohnmacht als Dichter sich Luft gemacht hatte, einen Augenblick Atem holen.

»Ah, ein Leben, ein zweites Leben! Wer's mir gäbe, damit die Arbeit es mir noch einmal stehle, ich noch einmal an ihr verginge!«

Es war stockdunkel geworden. Man unterschied nicht mehr die starre Silhouette der Mutter. Der rauhe Atem des Kindes schien, gleich einer ungeheueren, fern aus der Außenwelt herdringenden Wehklage, aus der Finsternis hervorzustöhnen. In dem ganzen, in schaurige Nacht versunkenen Atelier wahrte vom versiegenden Tag einzig die große Leinwand noch einen blassen Schimmer. Gleich einer hinschwindenden Vision sah man noch mit verschwimmenden Umrissen die nackte Gestalt; die Beine schon aufgelöst, einen Arm fort, nur das Rund des Bauches, dessen Haut wie blasses Mondlicht phosphoreszierte, trat noch mit Deutlichkeit hervor.

Nach einem langen Schweigen fragte Sandoz:

»Soll ich mitgehen, wenn du dein Bild zur Ausstellung begleitest?«

Claude antwortete nicht. Er schien zu weinen. War's die unsägliche Traurigkeit, die Verzweiflung, mit der auch er, Sandoz, es hatte? Der letztere wartete, wiederholte seine Frage. Nachdem er seine Tränen hinuntergeschluckt hatte, stammelte der Maler endlich:

»Danke, mein Alter! Das Bild bleibt, ich reiche es nicht ein.«

»Wie? Aber du warst doch dazu entschlossen?«

»Ja, ja, das war ich ... Aber ich hatte es noch nicht ordentlich gesehen. Jetzt erst, in diesem Abendlicht, seh' ich es ... Ah, es ist mißlungen, wieder mißlungen! Wie ein Faustschlag hat's mich ins Auge getroffen; bis ins Herz hinein hab' ich's gefühlt!«

Langsam, heiß ließ er jetzt in der Finsternis, die sie verbarg, seine Tränen fließen. Er hatte sich zusammengenommen: aber die Angstbeklemmung seines stumm in ihm wühlenden Elendes brach jetzt wider seinen Willen hervor.

»Mein armer Freund!« flüsterte Sandoz erschüttert. »Es ist hart auszusprechen: doch du hast vielleicht recht, wenn du doch noch wartest und noch einige Einzelheiten durcharbeitest ... Aber ich bin außer mir; denn ich glaube, daß ich es bin, der dich mit seiner ewigen, törichten Unzufriedenheit entmutigt hat.«

Claude antwortete einfach:

»Du? Was für ein Einfall! Ich habe kaum gehört, was du gesagt hattest ... Nein, ich sah bloß, was dieser verfluchten Leinwand fehlt. Als das Licht schwand, als sie bloß noch so im letzten, grauen Zwielicht dastand, in dem Augenblick sah ich plötzlich klar: Nichts stimmte zum anderen, bloß die Hintergründe sind gut. Aber das nackte Weib schießt wie eine Rakete, draus vor, hält sich auf ihren schlechten Beinen nicht mal im Gleichgewicht ... Ah, es hat mir einen Schlag gegeben, daß mir war, als müßt' ich das Leben lassen ... Dann hat es die Finsternis mehr und mehr und immer dichter eingehüllt: ein Wirbel, ein Sturz in den Abgrund, die Erde ins Nichts hineinrollend, Weltuntergang! Nur den Bauch sah ich noch, wie einen abnehmenden, kranken Mond. Und jetzt, sieh, ist alles verschwunden; nichts mehr, sie ist schwarz, tot!«

Tatsächlich war das Gemälde vollständig verschwunden. Doch der Maler hatte sich erhoben, und man hörte ihn in der dichten Finsternis sagen:

»Verdammt, macht nichts! ... Ich fang's von neuem an ...«

Christine, die sich gleichfalls von ihrem Stuhl erhoben hatte und gegen die er gerannt war, unterbrach ihn:

»Gib acht, ich stecke die Lampe an.«

Sie tat's. Sie war sehr bleich und richtete auf das Bild einen Blick voll Furcht und Haß. Es blieb also, und die Quälerei hub von neuem an.

»Ich will's noch einmal anfangen«, wiederholte Claude. »Ich werde dran zugrunde gehen, meine Frau, mein Kind, die ganze Baracke wird dran zugrunde gehen; aber, bei Gott, es soll ein Meisterwerk werden!«

Christine hatte sich wieder niedergelassen. Sie näherten sich Jacques, der sich mit seinen fiebertastenden Händen schon wieder entblößt hatte. Immer noch keuchte er; regungslos lag der Kopf im Kissen, wie eine bleischwere Last. Als er ging, brachte Sandoz seine Befürchtungen zum Ausdruck. Die Mutter starrte ihn stumpf an, der Vater aber stand schon wieder vor dem Bild. Das Trugbild des Werkes, das er schaffen wollte, rang in ihm mit der schmerzlichen Wirklichkeit seines Kindes, dieses lebendigen, aus seinem hervorgegangenen Fleisches.

Am nächsten Morgen war Claude eben dabei, sich anzukleiden, als er den erschreckten Ausruf Christines vernahm. Sie hatte die Nacht über auf dem Stuhl gesessen und das kranke Kind überwacht und war gerade in diesem Augenblick aus dem dumpfen Schlaf, der sie überwältigt, in die Höhe gefahren.

»Claude! Claude! Sieh doch! Er ist tot!«

Mit noch schlaftrunkenen Augen stolperte er eilig herbei und stammelte bloß immer, ohne zu verstehen, in fassungslosem Erstaunen:

»Wie? Er ist tot?«

Einen Augenblick beugten sie sich starr über das Bett. Das arme Wesen lag auf dem Rücken. Es schien sich mit seinem übermäßig großen, genialen, zu dem eines Kretins angeschwollenen Kopf seit gestern nicht mehr geregt zu haben. Nur daß der weiße, breit geöffnete Mund nicht mehr atmete und seine Augen starr und leer offenstanden. Der Vater berührte ihn; er war eiskalt.

»Ja, er ist tot.«

In ihrer Bestürzung blickten sie immer noch trockenen Auges auf ihn nieder. So plötzlich war es gekommen, daß sie kaum daran glauben wollten. Dann aber sank Christine in die Knie, warf sich vor dem Bett nieder und brach in ein heftiges Schluchzen aus, das ihren ganzen Körper erschütterte, lag mit gerungenen Händen, die Stirn an die Matratze gelehnt. Im ersten, furchtbaren Augenblick war sie nur von einer verzweiflungsvollen Reue geschüttelt, weil sie das arme Kind nicht genug geliebt hatte. Im schnellen Flug zog die Vergangenheit an ihrem Geiste vorüber, und jeder Tag weckte ihr ein neues Bedauern, über böse Worte, unterlassene Liebkosungen, sogar über gelegentliche Rauheiten. Nun aber war's vorüber; niemals mehr würde sie ihn dafür entschädigen können, daß sie ihm ihr Herz vorenthalten hatte. Er, den sie so ungehorsam gefunden hatte, war nur zu gehorsam gewesen. Wie oft hatte sie ihm, wenn er spielte, immer wieder zugerufen: »Verhalt dich ruhig, stör deinen Vater nicht bei der Arbeit!« Jetzt war er für immer artig. Dieser Gedanke wollte sie ersticken; jeder Seufzer, den sie tat, war ein Schmerzensschrei.

In einem nervösen Bedürfnis, sich zu bewegen, ging Claude hin und her. Über sein verzerrtes Gesicht rannen dicke Tränen, die er mit dem Handrücken fortwischte. Wenn er aber an der kleinen Leiche vorbeikam, konnte er sich nicht enthalten, einen Blick auf sie zu tun. Diese starren, weit offenen Augen schienen eine eigene Gewalt auf ihn zu üben. Zuerst widerstand er dem unbestimmten Gedanken, der ihn verfolgte; dann aber gewann er an Bestimmtheit, und schließlich war er von ihm wie besessen. So daß er nachgab, eine kleine Leinwand ergriff und einen Entwurf des toten Kindes begann. Während der ersten Minuten hinderten ihn die Tränen, die ihm die Augen wie ein Nebel verschleierten, am genauen Sehen. Doch immer wieder wischte er sie fort, und mit zitterndem Pinsel malte er weiter. Dann stillte die Arbeit seine Tränen, seine Hand ward sicher. Bis er endlich nicht mehr seinen toten Sohn da vor sich hatte, sondern nur noch ein Modell, einen Gegenstand, dessen seltsame Eigenart ihn leidenschaftlich anzog. Der aufgetriebene Kopf, der wächserne Ton der Haut, die Augen, die wie Löcher ins Leere starrten, alles regte ihn an; er erwärmte sich. Prüfend bog er sich zurück, seine Arbeit gefiel ihm, er lächelte.

Als Christine wieder aufstand, fand sie ihn bei seiner Arbeit vertieft. Von neuem in Tränen ausbrechend, sagte sie nur:

»Oh, jetzt kannst du ihn malen, jetzt hält er still!«

Fünf Stunden hindurch arbeitete Claude. Als ihn am übernächsten Tage Sandoz nach der Beerdigung vom Friedhof heimgeleitete, ward er, als er das kleine Bild sah, von Mitleid und Bewunderung überwältigt. Das war wieder eins der vortrefflichen Stücke, wie Claude sie einst geschaffen, was Klarheit des Lichtes und Kraft betraf, ein Meisterwerk. Dabei von einer unsäglichen Traurigkeit; das Ende von allem, der Tod allen Lebens in dem dieses Kindes.

Als Sandoz aber in Lobeserhebungen ausbrach, versagten ihm vor Ergriffenheit die Worte, als er Claude sagen hörte:

»Wirklich, du machst dir was draus? ... Das bestimmt mich. Da das andere Bild nicht fertig geworden ist, werd' ich dieses einschicken.«


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