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VII

Als Claude sich wieder auf dem pariser Pflaster befand, wurde er von einem wahrhaft fieberhaften Bedürfnis nach Geräusch und Bewegung ergriffen, auszugehen, die Stadt zu durchstreifen, die Kameraden zu besuchen. Sobald er früh aufgestanden war, überließ er es Christine, das Atelier, das sie in der Rue de Douai, in der Nähe des Boulevard de Clichy, gemietet hatten, einzurichten, und schweifte umher. Und so geschah es, daß er am übernächsten Tage nach ihrer Ankunft früh acht Uhr, an einem grauen, grimmig kalten Novembertage, bei Mahoudeau eintrat.

Mahoudeau stand zwar eben erst auf; doch war die Budike der Rue du Cherche-Midi, die der Bildhauer noch immer innehatte, schon auf. Blaß, noch verschlafen und vor Kälte zitternd, zog dieser die Jalousien in die Höhe.

»Ah, du! ... Wetter, was bist du auf dem Lande für ein Frühaufsteher geworden! ... Also, wirklich, du bist zurück?«

»Ja, seit vorgestern.«

»Gut! Also kriegt man sich wieder zu sehen ... Komm doch 'rein, es ist kalt heute.«

Aber Claude fror drinnen ärger als auf der Straße. Er behielt den Paletotkragen hochgeschlagen und stopfte die Hände in die Taschen, so fror ihn in der kalten Feuchte, die an den Wänden herabrieselte, und zwischen all den Tonhaufen und den Wasserlachen auf dem Fußboden. Ein Hauch des Elends wehte hier; die antiken Gipsabgüsse waren von den Wandbrettern verschwunden, die Zuber und Modelliersättel zerbrochen, die ersteren wurden von Stricken zusammengehalten. Es sah schmutzig und unordentlich aus; es war wie eine Kellerhöhle, in der ein heruntergekommener Maurer hauste. Auf der kreidebeschmierten Scheibe der Glastür war wie zum Spott eine große, strahlende Sonne eingekratzt, die in der Mitte ein Gesicht mit einem halbmondrunden, lachenden Mund hatte.

»Warte!« fuhr Mahoudeau fort. »Es wird eingeheizt. Diese verwünschten Ateliers mit ihrem vielen Wasser! Das wird sofort eiskalt.«

Als er sich umwandte, sah Claude Chaîne, der vor dem Ofen kauerte und eben von einem alten Sessel einen Strohsitz abriß, um das Feuer damit anzuzünden. Er sagte ihm guten Tag. Doch der andere brachte bloß ein unverständliches Gebrumm zutage und hob nicht einmal den Kopf.

»Und woran arbeitest du jetzt, Alter?« fragte Claude den Bildhauer.

»Oh, nichts Besonderes weiter! Ein unglückliches Jahr, noch schlechter als das vergangene, das auch nichts taugte! ... Du weißt, daß die Heiligenbilder im Preise sinken, Ja, es ist nichts los mit der Heiligkeit. Und, Wetter! Ich muß mir den Hungerriemen enger schnallen! ... Da, schau her, wie weit's mit mir gekommen ist.«

Er entfernte die Tücher von einer Büste und zeigte ein langes Gesicht, das durch einen Backenbart noch mehr in die Länge gezogen wurde, ein bis zum Monströsen dünkelhaftes, unsagbar dummes Gesicht.

»Ein Advokat aus der Nachbarschaft ... Scheußlich genug sieht er aus, der Kerl, nicht? Und dabei langweilt er mich auch noch damit, ich soll mir besondere Mühe mit seinem Mund geben! ... Aber Hunger tut weh, nicht?«

Er hatte eine Idee für den Salon: eine aufrechtstehende Gestalt, eine Badende, die prüfend den Fuß ins Wasser steckt, wobei sie die Frische des letzteren mit jenem Schauer überläuft, der dem Körper eines Weibes einen so köstlichen Reiz gibt. Er wies Claude ein kleines, schon rissiges Modell, das der letztere schweigend betrachtete. Er war überrascht und mit den Zugeständnissen unzufrieden, die es verriet. Es zeigte unter der verbliebenen Übertriebenheit der Formen hervor eine reichliche Freude am Niedlichen, ein natürliches Bestreben zu gefallen, ohne doch von der Vorliebe für das Kolossale abzulassen. Aber Mahoudeau war untröstlich, denn eine stehende Figur erforderte etwas! Eiserne Gestelle waren vonnöten, und die kosteten ein Heidengeld. Auch fehlte ihm ein Modelliersattel und was sonst noch alles für Zubehör. Ohne Zweifel würde er sich entschließen müssen, ein am Wasserrand liegendes Mädchen daraus zu machen.

»Na, was sagst du dazu? ... Wie findest du's?«

»Nicht schlecht«, antwortete der Maler endlich. »Ein bißchen zu romantisch, trotz der starken Hüften. Aber das kann man ja erst beurteilen, wenn alles ausgeführt ist ... Und dann stehend, Alter, stehend! Sonst ist die Sache nichts wert.«

Der Ofen bullerte. Stumm erhob sich Chaîne. Er ging erst einen Augenblick hierhin und dahin, begab sich in den dunklen Hintergrund, wo sich das Bett befand, das er mit Mahoudeau teilte. Dann kam er, den Hut auf, noch stummer, gewollt, bedrückend stumm, wieder zum Vorschein. Ohne sich zu beeilen, nahm er mit seinen steifen Bauernfingern ein Stück Reißkohle und schrieb an die Wand: »Ich gehe Tabak kaufen; leg Kohle nach!« Dann ging er.

Verdutzt hatte Claude ihm zugesehen. Er wandte sich gegen den anderen herum.

»Was bedeutet das?«

»Wir sprechen nicht mehr miteinander, wir schreiben uns«, sagte der Bildhauer ruhig.

»Seit wann?«

»Seit drei Monaten.«

»Und schlaft zusammen?«

»Ja!«

Claude brach in ein lautes Lachen aus. Ah, dazu gehörten schon halbwege Dickschädel! Und was war der Grund des Zerwürfnisses? Aber Mahoudeau machte seinem Unmut gegen dies Vieh von Chaîne Luft. Hatte er ihn eines Abends, als er unversehens nach Haus gekommen, nicht zusammen mit Mathilde überrascht, wie sie, beide im Hemd, einen Topf Eingemachtes ausaßen? Es war ja nichts weiter dabei, daß er sie ohne Röcke angetroffen hatte, darüber war er hinaus; aber das mit dem Eingemachten war zu viel gewesen. Nein! Niemals würde er ihm verzeihen, daß er sich in so gemeiner Weise gütlich getan hatte, während er selber trockenes Brot aß! Was Teufel! Man machte es wie mit dem Weibe: man teilte miteinander!

Aber bald seit drei Monaten dauerte die Feindschaft an, ohne daß eine Entspannung eintrat und es zu einer Erklärung kam. Ihre Weise miteinander zu leben war dahin geregelt, daß sie sich auf die allernotwendigsten gegenseitigen Mitteilungen beschränkten, die mit ein paar kurzen Worten mit Reißkohle an die Wand geschrieben wurden. Dabei hatten sie jedoch nach wie vor dasselbe Weib, wie sie auch dasselbe Bett miteinander teilten; wobei sie sich stillschweigend über die Stunden geeinigt hatten, in welchem dem einen oder dem anderen die Nachbarin gehörte. Lieber Gott, was brauchte man im Leben viel Worte zu machen; man verstand sich auch so.

Während Mahoudeau den Ofen vollends versorgte, fuhr er fort, seinem Herzen Luft zu machen.

»Und glaub mir, wenn man hungern muß, ist es nicht so unangenehm, nicht miteinander zu sprechen. Ja, man sinkt bei einem solchen Sichausschweigen zum Tier herab; aber das ist wie ein Nudelgericht, das einem doch ein wenig den Magen zum Schweigen bringt ... Ah, du kannst dir keine Vorstellung machen, wie durch und durch dieser Chaîne Bauer ist! Als er, ohne mit der Malerei die erwarteten Reichtümer zu gewinnen, seinen letzten Sou verzehrt hatte, warf er sich auf den Handel; einen kleinen Handel, der es ihm ermöglichen sollte, seine Studien zu Ende zu führen. Ein Kerl, was? Und wie fing er's an? Er ließ sich aus seinem Heimatdorf Saint-Firmin Olivenöl schicken, und dann strich er die Straßen ab und brachte sein Öl in den reichen provenzalischen Familien an, die in Paris so ihre Stellung erworben haben. Unglücklicherweise dauerte das aber nicht lange. Er war zu ungeschliffen und wurde überall vor die Tür gesetzt ... Und nun ist ein Krug Öl, den niemand mehr mag, übriggeblieben, von dem wir, meiner Treu, leben. Ja, an den Tagen, wo wir Brot haben, stippen wir's in dies Öl.«

Er wies auf einen Krug, der in einem Winkel des Ateliers stand. Das Öl war übergelaufen; Wand und Fußboden zeigten große, schwarze, fettige Flecke.

Claude verging jetzt das Lachen. Was für ein Elend, wieviel Entmutigung! Was durfte man von jemandem verlangen, der sich in so einer bedrückten Lage befand? Er ging im Atelier hin und her. Er nahm jetzt keinen Anstoß mehr an den durch Zugeständnisse in ihrem Wert herabgeminderten Entwürfen; sogar der abscheulichen Büste gegenüber war er duldsam. Er stieß dann auf eine Kopie, die Chaîne im Louvre gemacht hatte; einen Mantegna, der in seiner trockenen Härte eine ganz außerordentliche Genauigkeit der Wiedergabe zeigte.

»Dies Animal!« murmelte er. »Das ist was! Nie hat er was Schöneres gemacht! ... Vielleicht ist es sein einziger Fehler, daß er vierhundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen ist.«

Da es jetzt sehr heiß wurde, zog er seinen Paletot aus und fügte hinzu:

»Er braucht viel Zeit zu seinem Tabakholen.«

»Oh, ich weiß mit seinem Tabak schon Bescheid«, sagte Mahoudeau, der sich an seine Büste gemacht hatte und den Backenbart bearbeitete. »Hier nebenan, hinter der Wand, ist sein Tabak ... Wenn er sieht, daß ich bei der Arbeit bin, läuft der Idiot zu Mathilde 'nüber und holt sich sein Teil von ihr... Meinetwegen!«

»Diese Liebschaft dauert also noch immer weiter?«

»Ja, sie ist zur Gewohnheit geworden. Sie oder eine andere! Übrigens kommt sie von selber ... Lieber Gott, sie ist nur zu bereitwillig!«

Doch sprach er nicht zornig von Mathilde, sagte nur, daß es wohl eine Krankheit bei ihr sein mußte. Seit dem Tode des kleinen Jabouille war sie wieder fromm geworden, was sie aber nicht hinderte, daß sie im ganzen Stadtviertel Ärgernis erregte. Obgleich noch ein paar fromme Damen nach wie vor Gegenstände intimer und delikater Art bei ihr kauften, weil sie aus Scham den Übergang zu einem anderen Händler scheuten, ging es mit der Kräuterhändlerin abwärts, und der Bankerott stand vor der Tür. Eines Abends hatte ihr die Gasgesellschaft die Leitung abgestellt, weil sie ihre Rechnung nicht bezahlt hatte, und sie war zu ihnen Olivenöl leihen gekommen, das aber in ihrer Lampe nicht hatte brennen wollen. Niemanden bezahlte sie mehr, und um die Kosten für einen Handwerker zu sparen, war sie so weit gekommen, daß sie Chaîne die Ausbesserung der Injektoren und Spritzchen anvertraute, die die Frommen ihr, sorgfältig in Zeitungspapier eingeschlagen, anbrachten. Beim Weinhändler drüben wurde sogar behauptet, sie verkaufte an die Klöster schon gebrauchte Instrumente für neue. Mit einem Worte, dies sonderbare Geschäft, mit seinem heimlichen Verkehr von Priesterröcken, seinem beichtstuhlhaften Geflüster, seinem sakristeimäßigen Weihrauchsdunst, mit all seinen kleinen Anliegen, von denen man nicht laut sprechen konnte, war zugrunde gerichtet; es war der völlige Bankerott. Die Misere war so weit gediehen, daß die von der Decke herabhängenden Kräuter von Spinnennetzen wimmelten und daß die Blutegel in den Glashäfen tot und schon grün geworden herumschwammen.

»Ah, da kommt er ja«, fuhr der Bildhauer fort. »Sie wird gleich hinter ihm her sein.«

Es war wirklich Chaîne, der eintrat. Er zog in auffallender Weise eine Tüte Tabak aus der Tasche, stopfte seine Pfeife, stellte sich vor den Ofen und rauchte. Und wieder herrschte Schweigen, als ob niemand da sei. Sogleich erschien aber auch, wie um ein nachbarliches Guten Morgen zu bieten, Mathilde. Claude fand sie noch hagerer geworden. Ihr Gesicht war mit roten Flecken gesprenkelt, die Augen hatten noch immer ihren brennenden Blick, der Mund hatte sich infolge des Verlustes von weiteren zwei Zähnen noch mehr in die Breite gezogen. Die Drogendüfte, die ihr vernachlässigtes Haar noch immer ausströmte, schienen ranzig geworden zu sein. Der sanfte Kamillen- und der frische Anisduft war verschwunden. Sie erfüllte das Atelier mit dem Pfefferminzgeruch, der, als sei er ihr eigener Atem, verdorben wirkte wie ihr abgelebter Leib, der ihn hauchte.

»Schon so fleißig?« rief sie. »Guten Tag, Schatz!«

Ohne sich vor Claude zu genieren, küßte sie Mahoudeau. Dann drückte sie Claude in ihrer schamlosen Weise, ihrer gewissen Art und Weise, den Bauch nach vorn zu werfen, die sich jedem Manne darzubieten schien, die Hand und fuhr fort:

»Wißt ihr, ich habe eine Schachtel mit Lederzucker aufgestöbert; wir wollen sie uns zusammen zum Frühstück leisten ... Ist das nicht hübsch, he?«

»Danke!« sagte der Bildhauer. »Das verkleistert mir bloß den Magen. Ich rauche lieber meine Pfeife.«

Als er sah, wie Claude seinen Paletot anzog, sagte er:

»Du gehst?«

»Ja, ich muß mir ein bißchen Bewegung machen, Pariser Luft atmen.«

Doch verweilte er noch ein paar Minuten und sah zu, wie Chaîne und Mathilde, indem jedes, eins nach dem anderen, sein Stück nahm, sich voll Lederzucker stopften. Und obwohl vorbereitet, war er abermals verdutzt, als er sah, wie Mahoudeau nach der Reißkohle griff und an die Wand schrieb: »Gib mir den Tabak 'raus, den du in die Tasche gestopft hast!«

Ohne ein Wort zu sagen, zog Chaîne die Tüte hervor und hielt sie dem Bildhauer hin, der sich seine Pfeife stopfte.

»Also auf baldiges Wiedersehen!«

»Ja, auf baldiges Wiedersehen! ... Auf jeden Fall Donnerstag bei Sandoz.«

Draußen stieß Claude einen Ruf der Überraschung aus, als er auf einen Herrn traf, der vor dem Krämerladen stand und sehr angelegentlich zwischen den beschmutzten, verstaubten Bandagen, die im Schaufenster hingen, durch in den Laden hineinspähte.

»Was, Jory! Was tust du denn hier?«

Die große, rosige Nase Jorys zuckte erschreckt.

»Ich? O nichts! ... Ich ging gerade vorbei und sah mal nach ...«

Dann aber lachte er und fragte, als könnte man ihn hören, mit gedämpfter Stimme:

»Sie ist wohl bei den Kameraden, nicht? ... Also, gut! Schnell, gehen wir! Es hat Zeit bis ein andermal.«

Und er nahm den Maler mit, erzählte die ungeheuerlichsten Dinge. Jetzt kam die ganze Bande zu Mathilde. Das hieß, einer nach dem anderen. Jeder kam auf eigene Faust mit vor. Manchmal freilich auch mehrere auf einmal, wenn ihnen das gerade Spaß machte. Es handelte sich um wahre Greuel, ganz verblüffende Sachen, die er ihm ins Ohr flüsterte, wobei er dann mitten im Gedränge des Bürgersteiges stehenblieb. He, nicht? Das reine Altrom war's! Sah er's vor sich? Hinter dem Wall der Bandagen und Klistierspritzen, unter den von der Decke herabhängenden Arzneiblumen. Ein höchst schicker Laden, eine Ausschweifungsstätte für Pfarrer, mit seiner giftduftenden, verdächtigen Kräuterhändlerin, die in ihm wie in einer Kapelle saß.

»Aber«, lachte Claude, »du erklärtest sie doch für so häßlich?«

Jory zuckte unbekümmert die Achseln.

»Oh, was macht das weiter! ... Ich komme heute gerade vom Westbahnhof, wohin ich jemanden begleitet habe. Ich kam gerade vorbei und hatte den Einfall, die Gelegenheit zu benutzen ... Du verstehst, man macht sich ihretwegen keine besonderen Umstände.«

Doch das kam ziemlich verlegen heraus. Plötzlich aber entschlüpfte ihm, der sonst immer log, in seiner lasterhaften Freimütigkeit das Geständnis der Wahrheit.

»Und, was da! Übrigens find' ich sie, wenn du's wissen willst, ganz verteufelt ... Nicht hübsch, möglich! Aber die reine Hexe! Mit einem Wort: eins von den Weibern, die man mit keinem Finger anrühren möchte und um derentwillen man doch die größten Dummheiten begehen könnte.«

Jetzt erst wunderte er sich, daß Claude wieder in Paris war. Als er aber erfuhr, daß er wieder übergesiedelt war, fuhr er plötzlich fort:

»Höre! Ich nehme dich mit, du frühstückst mit mir bei Irma.«

Verlegen sträubte sich der Maler, schützte vor, daß er nicht im Gesellschaftsanzug wäre.

»Aber was macht das? Im Gegenteil: das ist um so drolliger. Es wird sie entzücken ... Ich glaube, sie hatte ein Auge auf dich geworfen. Immer spricht sie uns von dir... Komm! Sei nicht kindisch! Ich darf dir sagen, daß sie mich für heut vormittag erwartet und daß wir wie die Fürsten empfangen werden.«

Er gab seinen Arm nicht frei, und beide wanderten plaudernd in der Richtung auf die Madeleine zu. Für gewöhnlich schwieg er über seine Liebesabenteuer, so wie die Trinker vom Wein schweigen. Aber heut morgen floß er über, spaßte und beichtete alle möglichen Geschichten. Schon lange hatte er mit der Konzertsängerin, mit der er von zu Hause durchgebrannt war und die ihm das Gesicht mit den Nägeln bearbeitet hatte, gebrochen. Und dann hatten jahraus, jahrein was alles für Weiber im rasenden Wechsel, die extravagantesten und unverhofftesten, sein Leben gekreuzt; die Köchin eines großbürgerlichen Hauses, in dem er speiste; die gesetzmäßige Gattin eines Polizisten, wo er die Dienststunden ihres Mannes abpaßte; ein junges, bei einem Zahnarzt angestelltes Mädchen, das dafür, daß es sich vor jedem Kunden, um ihm Vertrauen einzuflößen, einschläfern und wieder aufwecken ließ, sechzig Franken im Monat erhielt; und dann andere und wieder andere, Frauenzimmer aus Tanzlokalen, Damen aus guter Gesellschaft, die auf Abenteuer aus waren; kleine Wäscherinnen, die ihm seine Wäsche brachten; Aufwärterinnen, die ihm die Wohnung in Ordnung hielten; alle, wie sie gerade Lust dazu hatten, die ganze Straße mit ihren zufälligen Begegnungen, ihren Glücksfällen; alles, was sich anbot und was man erobern mußte; auf gut Glück hübsche, häßliche, junge, alte, ohne Wahl, einzig um die Anwandlungen seiner nicht mäkelnden Sinnlichkeit zu befriedigen, die mehr auf die Quantität als auf die Qualität sah. Jeden Abend, wenn er allein nach Haus kam, trieb ihn die Furcht vor seinem kalten Bett auf die Jagd, strich er die Straßen bis in die späte Nacht hinein ab und ging nicht eher schlafen, als bis er eine aufgegabelt hatte; wobei ihm übrigens seine Kurzsichtigkeit so ihre Streiche spielte und er sich argen Irrtümern aussetzte. So erzählte er, wie er eines Morgens beim Erwachen ein altes, weißhaariges, sechzigjähriges Gestell vorgefunden hatte, von der er in der Eile geglaubt, sie wäre eine Blondine.

Übrigens war's ihm eine Freude, zu leben; denn seine Angelegenheiten nahmen einen guten Fortgang. Sein Geizhals von Vater hatte ihm, über den skandalösen Lebenswandel, den er führte, aufgebracht, allerdings jede Unterstützung versagt: doch das machte nichts aus; der Journalismus, in dem er als Chronikeur und Kunstkritiker arbeitete, brachte ihm seine sieben- bis achttausend Franken. Die Krakeelerzeit des »Tambour«, wo er Artikel für einen Louisdor schrieb, war längst vorbei. Er war vorangekommen, war Mitarbeiter von zwei sehr gelesenen Zeitungen. Und obgleich er im Grunde skeptischer Genußmensch blieb und den Erfolg als solchen anbetete, behauptete er jetzt eine geachtete Stellung und fing an, beachtet zu werden. Mit der ihm angeborenen Anlage zum Geiz legte er schon jeden Monat Geld in allerlei kleinen, von ihm geheimgehaltenen Spekulationen an. Denn seine Ausschweifungen kosteten ihm nicht das geringste. Er zahlte nichts. Es wollte schon etwas heißen, wenn er einmal morgens einem Weib, mit dem er besonders zufrieden war, eine Tasse Schokolade gab.

Sie gelangten zur Rue de Moscou. Claude fragte:

»Hältst du die kleine Bécot denn aus?«

»Ich!« rief Jory empört. »Aber mein Alter! Sie hat ein Logis für zwanzigtausend Franken und spricht davon, sich eine Villa bauen zu lassen, die fünfhunderttausend kosten wird... Nein, nein! Ich frühstücke und diniere manchmal bei ihr; und das genügt.«

»Und ... ?«

Jory lächelte und antwortete nicht direkt.

»Na, aber natürlich ... Na, schnell! Los! Wir sind zur Stelle.«

Doch Claude sträubte sich noch. Seine Frau erwarte ihn zum Frühstück, er könne nicht. Aber Jory läutete einfach und stieß ihn dann in den Hausflur hinein und sagte: das sei keine Entschuldigung, man werde den Diener einmal nach der Rue de Douai schicken. Eine Tür ging auf, und sie sahen sich Irma Bécot gegenüber, die, als sie den Maler erblickte, einen Ruf der Überraschung ausstieß.

»Wie! Sie Wilder hier!«

Sie empfing ihn wie einen alten Freund, so daß er sich sofort heimisch fühlte. Sein alter Paletot war ihr ganz einerlei. Er wunderte sich, denn kaum erkannte er sie wieder. In vier Jahren war sie eine ganz andere geworden. Ihr Kopf war kunstvoll wie der einer Schauspielerin frisiert. Löckchen, die ihr in die Stirn hingen, ließen diese schmaler erscheinen. Ihr Gesicht wirkte, wohl eine Folge ihrer Willenskraft, etwas in die Länge gezogen. Es besaß noch seinen lebhaften, rosigen Blondinenteint. So schien sich die kleine Herumtreiberin von damals in eine Tizianische Kurtisane verwandelt zu haben. In ihren besonders gut aufgeräumten Stunden nannte sie ihre Frisur manchmal den Kopf für die Gimpel. Das kleine Hotel zeigte in seinem Luxus noch Lücken. Was den Maler überraschte, waren einige gute Gemälde, die an den Wänden hingen: ein Courbet, besonders eine Skizze von Delacroix. Sie war also gar nicht so dumm, diese Kleine! Trotz einer gräßlichen kolorierten Gipskatze, die sich auf einem Konsol breitmachte.

Als Jory davon sprach, daß der Kammerdiener in Claudes Wohnung geschickt werden sollte, rief sie ganz erstaunt:

»Wie, Sie sind verheiratet?«

»Gewiß«, versetzte Claude einfach.

Sie sah Jory an, der lächelte. Sie verstand und fügte hinzu:

»Ah so, ein festes Verhältnis! ... Und doch wurde mir gesagt, daß Sie sich aus den Weibern nichts machten! ... Wissen Sie, da sollt' ich eigentlich bös auf Sie sein, daß Sie damals so scheu mir gegenüber waren, wissen Sie noch? He, und noch heute benehmen Sie sich so zurückhaltend. Finden Sie mich denn wirklich so garstig?«

Sie hatte mit beiden Händen die seinen ergriffen, brachte ihr Gesicht in die Nähe des seinen und lächelte ihn an. Im Grunde war sie ernstlich verletzt, wie sie ihm, so aus allernächster Nähe, in die Augen sah. Sie wünschte um jeden Preis, ihm zu gefallen. Er hatte es mit einem leichten Erschauern, wie ihr Atem so seinen Bart traf. Aber schon ließ sie von ihm ab und sagte:

»Aber davon wollen wir ein andermal reden.«

Es war der Kutscher, der ein paar Zeilen von Claude nach der Rue de Douai tragen mußte; denn schon hatte der Kammerdiener die Tür des Speisesaales geöffnet, um Madame anzusagen, daß aufgetragen wäre. Das Frühstück, das ausgezeichnet war, nahm unter dem kühlen Blick des Dieners einen korrekten Verlauf. Die Unterhaltung drehte sich um die großen Bauarbeiten, die Paris umgestalteten, dann um die Preise für die Baugründe. Sie sprachen davon, als wären sie Bürger, die hier Kapitalien anzulegen hätten. Doch als sie nachher beim Kaffee und Likör, die sie gleich hier, am Tisch, sich entschlossen einzunehmen, allein waren, belebte sich die Unterhaltung allmählich, und sie ließen sich gehen, als wären sie wieder im Café Baudequin.

»Ah, Kinder!« sagte Irma. »Das ist doch das Wahre: vergnügt beisammen sein und sich die Welt den Buckel 'runterrutschen zu lassen!«

Sie drehte Zigaretten, hatte die Chartreusekaraffe neben sich gestellt und trank, sehr rot, mit in Unordnung geratenem Haar ein Glas nach dem anderen, war wieder die drollige kleine Herumtreiberin von früher.

»Ich hatte es«, fuhr Jory fort, der sich entschuldigte, daß er ihr am Morgen nicht ein Buch geschickt, das sie gewünscht, »gestern abend gegen zehn Uhr kaufen wollen, traf aber Fagerolles ...«

»Du lügst«, fiel sie ihm mit Entschiedenheit ins Wort. Und um alle weiteren Erklärungen abzubrechen, fügte sie hinzu: »Fagerolles war bei mir. Du siehst also, wie du lügst.«

Dann wandte sie sich an Claude:

»Nein, es ist wirklich widerlich! Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Lügner ist! ... Er lügt wie ein Frauenzimmer, aus Vergnügen daran, bei den lumpigsten Gelegenheiten. An der ganzen Geschichte ist bloß so viel wahr, daß ihm die drei Franken leid getan haben, für die er das Buch für mich kaufen sollte. Jedesmal, wenn er mir ein Bukett schicken soll, ist's ihm aus der Hand gefallen und ist eine Kutsche drüberweggefahren, oder er hat in Paris keine Blumen auftreiben können. Ah, das ist einer, den man bloß seiner selbst wegen lieben soll!«

Ohne sich aufzuregen, lehnte sich Jory schaukelnd mit seinem Stuhl zurück und sog an seiner Zigarre. Er begnügte sich, mit einem Anflug von Spott zu lachen.

»Von dem Augenblick an, wo du wieder mit Fagerolles angeknüpft hast ...«

»Ich habe gar nicht angeknüpft!« rief sie wütend. »Und dann: geht dich das was an? ... Ich pfeife auf deinen Fagerolles, verstehst du? Fagerolles weiß ganz gut, daß man sich mit mir nicht überwirft. Oh, wir beide kennen uns, wir sind auf demselben Pflaster aufgewachsen ... Siehst du, wenn ich will, brauch' ich bloß so zu machen, bloß mit dem kleinen Finger zu winken, und er liegt hier vor mir, leckt mir die Füße ... Er ist in mich vernarrt, dein Fagerolles!«

Sie ereiferte sich; er hielt es an der Zeit, klein beizugeben.

»Mein Fagerolles«, murmelte er, »mein Fagerolles ...«

»Ja, dein Fagerolles! Denkst du, daß ich nicht weiß, wie er dir um den Bart geht, weil er auf Artikel hofft, und wie du den großen Herrn spielst und den Profit berechnest, den es dir bringt, wenn du einen beim Publikum beliebten Künstler unterstützt?«

Jory, den Claudes Gegenwart sehr verlegen machte, fing jetzt an zu stottern. Im übrigen verteidigte er sich nicht, sondern zog es vor, dem Zank eine Wendung ins Humoristische zu geben. He, wie köstlich sie war, wenn sie sich so ereiferte! Wenn ihr Auge so zornig blitzte und ihr Mäulchen so zu schreien anfing!

»Aber, meine Liebe, dein guter Tizian geht ja dabei kaputt.«

Entwaffnet lachte sie.

Ohne es zu wissen, trank Claude, dem sehr behaglich war, ein Gläschen Kognak nach dem anderen. Seit den zwei Stunden, die sie so beieinander waren, umnebelte sie im Zigarrenqualm ein sinnbetäubender Likörrausch. Sie sprachen von etwas anderem. Sie kamen auf die hohen Preise, die man für Gemälde zu zahlen anfing. Irma, die nicht mehr sprach, behielt, die ausgegangene Zigarette im Mund, unverwandt den Maler im Auge. Plötzlich fragte sie ihn, ihn, als rede sie im Traum, duzend:

»Wie bist du zu deiner Frau gekommen?«

Ihn schien die Frage nicht zu überraschen; er war wie in einem Nebel.

»Sie kam aus der Provinz, war bei einer Dame. Ein anständiges Mädchen.«

»Hübsch?«

»Aber ja, hübsch.«

Einen Augenblick versank Irma wieder in ihr stummes Träumen. Dann sagte sie mit einem Lächeln:

»Wetter, was für ein Glücksfall! Solche gibt's ja gar nicht mehr. Sie muß eigens für dich gemacht worden sein.«

Aber sie schüttelte sich, sprang vom Tisch auf und rief:

»Bald drei! ... Ah, Kinder, ich muß euch 'rauswerfen. Ja, ich hab' eine Verabredung mit einem Architekten, muß einen Bauplatz beim Park Monceau besichtigen. Ihr wißt, in dem neuen Viertel, wo gebaut wird. Ich hab' da was ausgewittert.«

Sie waren in den Salon zurückgekehrt. Sie blieb vor einem Spiegel stehen und ärgerte sich, daß sie so rot aussah.

»Ah, für das Hotel, nicht wahr?« fragte Jory. »Du hast also Geld aufgetrieben?«

Sie strich sich das Haar wieder in die Stirn, schien mit der Hand das Blut aus den Backen zu wischen, verlängerte das Oval ihres Gesichtes, richtete die künstliche Anmut ihres Kurtisanenkopfes wieder her. Dann wandte sie sich um und warf ihm statt jeder weiteren Antwort zu:

»Sieh, da ist er wieder, mein Tizian!«

Aber wie sie noch lachten, wurden sie von ihr schon in den Flur hinausgedrängt, wo sie stumm Claudes Hände ergriff und ihm noch einmal begehrlich tief ins Auge sah. Draußen auf der Straße ergriff ihn ein Mißbehagen. Die kalte Luft ernüchterte ihn. Er machte sich jetzt ein Gewissen, daß er zu diesem Mädchen von Christine gesprochen hatte. Er schwor sich zu, nie wieder den Fuß über ihre Schwelle zu setzen.

»He, nicht wahr? Ein nettes Kind!« sagte Jory, der sich eine Zigarre angesteckt hatte, die er vorm Gehen aus dem Kistchen genommen. »Übrigens, weißt du, verpflichtet das zu weiter nichts. Man frühstückt, diniert, liegt bei ihr, und guten Tag, guten Weg; jeder geht wieder seinen eigenen Geschäften nach.«

Doch eine Art von Scham hielt Claude ab, sich sogleich nach Haus zu begeben. Und als sein von dem Frühstück angeregter Gefährte Appetit zu einem Bummel zeigte und davon sprach, sie wollten einmal bei Bongrand vorsprechen, war er von dem Gedanken entzückt, und beide gingen zum Boulevard de Clichy.

Bongrand hatte dort seit zwanzig Jahren ein geräumiges Atelier. Doch opferte er nicht dem Geschmack des Tages, den prächtigen Teppichen und Kunstgegenständen, mit denen sich die jungen Maler zu umgeben anfingen. Es war ein altmodisch graues, kahles Atelier. Nur die Studien des Meisters hingen rahmenlos an den Wänden, dicht eine neben der anderen, wie die Votivbilder einer Kapelle. Der einzige Luxus bestand in einem großen Stehspiegel im Geschmack des Empire, einem mächtigen normannischen Schrank und zwei abgenutzten Utrechter Sammetfauteuils. In einer Ecke befand sich ein mit einem Bärenfell, das all seine Haare verloren hatte, bedeckter Diwan. Aber von den Gewohnheiten seiner romantischen Jugend her hatte der Künstler noch sein besonderes Arbeitskostüm beibehalten: eine Pluderhose, ein mit einer Schnur umgürtetes weites Kleid und auf dem Scheitel ein Priesterkäppchen. Und so empfing er die beiden Besucher.

Er hatte selber geöffnet, Palette und Pinsel in der Hand.

»Ah, ihr! Das war ein guter Einfall! ... Eben dachte ich an Sie, mein Lieber! Ja, ich weiß nicht gleich, wer mir mitgeteilt hat, daß Sie zurück sind; und ich nahm mir vor, Sie so bald als möglich aufzusuchen.«

Er hatte seine freie Hand zuerst mit warmer Herzlichkeit Claude gereicht. Dann drückte er auch Jory die Hand und fügte hinzu:

»Und Sie, junger Pontifex? Ich habe Ihren letzten Artikel gelesen und danke Ihnen für das liebenswürdige Wort, das Sie für mich hatten ... Kommen Sie, kommen Sie alle beide herein! Sie stören mich nicht. Ich nutze das Tageslicht bis zur letzten Minute aus. Denn man muß sich in diesen verwünschten Novembertagen dazuhalten.«

Er hatte sich wieder an die Arbeit gemacht, stand vor seiner Staffelei, auf der sich eine kleine Leinwand befand: zwei Frauen, Mutter und Tochter, die in einer sonnigen Fensternische nähten. Hinter ihm standen die beiden jungen Leute und sahen ihm zu.

»Ausgezeichnet!« flüsterte Claude endlich.

Ohne sich umzuwenden, zuckte Bongrand die Achseln.

»Bah, bloß so eine Kleinigkeit. Aber man muß sich beschäftigen, nicht? ... Ich hab's bei Freunden nach der Natur gemacht und führe es noch ein wenig aus.«

»Aber es ist wunderbar, ein Kleinod in seiner Wahrheit und in der Beleuchtung«, fuhr Claude fort, der warm geworden war. »Ah, es ist so schlicht! Ja, sehen Sie, vor allem seine Schlichtheit ist es, die's mir antut!«

Plötzlich trat Bongrand zurück, kniff die Augen und prüfte ganz überrascht das Bild.

»Sie finden? Es gefällt Ihnen? Wirklich? ... Nun gut, als Sie eintraten, war ich im Begriff, es wertlos zu finden ... Auf Ehre! Ich brütete finstere Gedanken, war überzeugt, daß ich nicht das mindeste Talent mehr hätte.«

Seine Hände zitterten. Sein ganzer mächtiger Körper bebte in der Erregung des Schaffens. Er tat die Palette beiseite, kam mit ausholenden Gesten wieder zu ihnen hin. Und der im Erfolg ergraute Künstler, dessen Platz in der französischen Malerei gesichert war, rief ihnen zu:

»Das wundert Sie; aber ich kenne Tage, wo ich nicht weiß ob ich noch eine Nase zeichnen kann ... Ja, bei jedem meiner Bilder bin ich in Aufregung wie ein Anfänger, ich habe Herzklopfen, meine Bangigkeit macht mir die Kehle trocken, ich hab' es mit einer ganz abscheulichen Angst. Ah, ihr jungen Leute glaubt ja diese Angst wohl zu kennen und habt doch keine Vorstellung davon. Denn, lieber Gott, wenn euch ein Werk mißlingt, so braucht ihr's bloß fallen zu lassen und euch zu bemühen, ein zweites, besseres anzufangen! Niemand schmäht euch deswegen. Wir Alten aber, die wir, auf eine bestimmte Leistung eingeschätzt, gezwungen sind, wenn nicht sie noch zu übertreffen, so uns doch wenigstens auf ihrer Höhe zu halten, stürzen, sobald wir nur irgendeine Schwäche zeigen, hinab in das allgemeine Massengrab. Los, berühmter Mann, großer Künstler! Zerbrich dir den Kopf, entzünde dein Blut, um noch immer höher, immer höher zu steigen! Kannst du aber, wenn du oben angelangt bist, nicht mehr von der Stelle, so schätze dich glücklich, wenn du so lange wie nur möglich auf demselben Fleck herumexerzierst! Fühlst du aber, daß du nachläßt: so geh vollends kaputt, so stürze ab! Stirb ab mit deinem Talent, das nicht mehr zeitgemäß ist; vergehe in der Ohnmacht, nichts mehr schaffen zu können, und laß dich mit all deinem unsterblichen Werk vergessen!«

Seine kraftvolle Stimme war donnergleich angeschwollen. Auf seinem breiten, roten Gesicht erschien ein Ausdruck von Angst. Er ging auf und ab und fuhr, unwillkürlich von seiner Leidenschaft hingerissen, fort:

»Ich hab's euch hundertmal gesagt: Man ist immer Anfänger. Die Freude besteht nicht darin, daß man oben angelangt ist, sondern im Steigen; daß es noch immer munter aufwärts geht. Aber das begreift ihr nicht. Und ihr könnt es nicht begreifen, denn man muß das selbst erleben ... Stellt euch doch vor! Alles hofft man noch, wiegt sich noch in seinen Illusionen. Ja, es ist die Zeit der unbeschränkten Illusionen. Man hat noch so rüstige Beine, denen selbst die rauhsten Wege kurz erscheinen. Man ist von einem solchen Hunger nach Ruhm besessen, und selbst der geringste Erfolg schmeckt noch so köstlich. Was für ein Fest, wenn man glaubt, seinen Ehrgeiz befriedigen zu können! Und hat man's fast schon erreicht: wie gern müht man sich weiter ab! Aber dann ist man oben, der Gipfel ist erklommen, es gilt ihn zu behaupten. Und nun beginnt das Elend. Vorbei ist's mit dem Rausch. Man findet: er war kurz, voller Bitterkeit, den Kampf, den es gekostet, nicht wert. Nichts Unbekanntes gibt's mehr zu erreichen, keine neuen Eindrücke mehr, der Durst nach Ruhm gestillt. Man hat seine großen Werke gegeben und wundert sich, daß sie einem keine größere Freude gewährten. Von dem Augenblick an wird der Horizont leer, keine neue Hoffnung mehr, es bleibt nur übrig zu sterben. Und doch krampft man sich noch fest. Man will nicht fertig sein, versteift sich aufs Schaffen wie ein Greis auf die Liebe, peinlich, schmählich ... Ah, wenn man den Mut hätte, den Stolz, sich vor seinem letzten Meisterwerke aufzuhängen!«

Seine Worte hallten durch das große Atelier, er hatte sich aufgereckt, in seinen Augen standen Tränen. Dann sank er seinem Bild gegenüber auf einen Stuhl, und mit der ängstlichen Miene eines Schülers, der das Bedürfnis hat, daß man ihm Mut zuspricht, fragte er:

»Also wirklich, ihr haltet das Bild für gut? ... Ich für mein Teil wag' es nicht mehr. Mein Unglück ist vielleicht, daß ich zugleich zuviel und zuwenig Selbstkritik habe. Wenn ich an eine Studie herangehe, so bin ich voll Begeisterung; dann, wenn es keinen Erfolg hat, zerquäl' ich mich. Am besten wär's schon, gar keinen Blick zu haben wie dieses Animal von Chambouvard oder sehr klar zu sehen und nichts mehr zu malen ... Aufrichtig, das Bildchen gefällt euch also?«

Erstaunt und verlegen standen Claude und Jory diesem Ausbruch seines tiefen Schaffensleides gegenüber. Wohin war es mit ihm gekommen, daß dieser große Meister vor ihnen Tränen vergoß und sie wie Kameraden um ihr Urteil befragte? Das schlimmste war aber, daß sie den großen, heißen Augen gegenüber, mit denen er sie bat, Augen, die die heimliche Angst vor seinem Niedergang nicht verbargen, ein Zaudern nicht verhehlen konnten. Wußten sie doch nur zu gut um die allgemeine Meinung, die sie teilten, daß der Maler seit seiner »Bauernhochzeit« nichts mehr geschaffen hatte, was diesem berühmten Gemälde gleichkam. Zwar hatte er sich mit einigen Bildern auf dem gleichen Niveau gehalten; aber dann war seine Faktur immer geschickter und trockener geworden. Es lag am Tage, daß er mit jedem Werke schwächer wurde. Doch das waren Dinge, die man nicht aussprechen konnte. Und so rief Claude, nachdem er sich gefaßt hatte:

»Sie haben noch nie etwas so Starkes gemalt!«

Noch immer sah ihm Bongrand mit einem festen Blick ins Auge. Dann wandte er sich seinem Werk zu, hob mit einer Bewegung, als mache es ihm die größte Mühe, seine herkulischen Arme, nahm das so leichte Bildchen von der Staffelei und verlor sich in seine Betrachtung. Dann aber flüsterte er wie im Selbstgespräch:

»Bei Gott, es wird mir schwer, schwer! Aber tut nichts; lieber dabei umkommen, als zurückgehen!«

Er griff wieder zu seiner Palette. Beim ersten Pinselstrich war er wieder beruhigt. Er bog die breiten Schultern mit dem mächtigen, zugleich bürgerliche Verfeinerung und den Bauern verratenden Nacken nach vorn.

Es herrschte Schweigen. Jory fragte, den Blick unverwandt auf das Bild geheftet:

»Ist es verkauft?«

Als echter Künstler, der seine Arbeit leistet, ohne sich um den Gewinn zu kümmern, antwortete der Maler, ohne sich zu beeilen:

»Nein ... Es bringt mich bloß aus dem Konzept, wenn der Händler schon darauf wartet.«

Ohne weiterzuarbeiten fuhr er, doch jetzt in scherzendem Ton, fort:

»Ah, man macht ja jetzt ein Geschäft aus der Malerei... Tatsächlich, so alt ich geworden bin, hab' ich so was noch nicht erlebt... Was haben Sie, liebenswürdiger Journalist, den Jungen in dem Artikel, in dem Sie mich erwähnten, für Blumen gestreut! Da war ja gleich von zwei, drei Anfängern die Rede, die ganz einfach Genies waren.«

Jory lachte.

»Gott, wenn man eine Zeitung hat, muß man sich ihrer auch bedienen. Außerdem: das Publikum liebt es, daß man ihm große Männer entdeckt.«

»Gewiß, die Dummheit des Publikums ist unermeßlich; ich habe nichts dagegen, daß Sie sie ausbeuten ... Bloß, wenn ich mich dabei meiner eigenen Anfänge erinnere! Teufel, wir waren nicht verwöhnt! Wir hatten unsere zehn Jahre Arbeit und Kampf vor uns, bevor wir durchdrangen ... Heute aber blasen alle Trompeten der Öffentlichkeit das erste, beste Herrchen aus, wenn es nur halbwegs eine Figur zustande bringt. Und was für eine Öffentlichkeit! Ein Charivari von einem Ende Frankreichs bis zum anderen. Berühmtheiten, die über Nacht inmitten der gaffenden Bevölkerung emporschießen. Und erst die mit wahren Artilleriesalven im voraus angekündigten armen Werke, die dann mit fieberhafter Ungeduld erwartet werden, Paris acht Tage lang außer sich zu bringen, um dann der ewigen Vergessenheit zu verfallen!«

»Sie machen da der Informationspresse den Prozeß«, erklärte Jory, der sich auf den Diwan ausgestreckt und eine frische Zigarre angesteckt hatte. »Es läßt sich Gutes und läßt sich Schlechtes von ihr sagen: aber, zum Teufel, man muß doch mit seiner Zeit gehen!«

Bongrand schüttelte den Kopf und versetzte sehr aufgeräumt:

»Nein, nein! Man kann heutzutage nicht mehr das geringste Bild aus seinem Atelier gehen lassen, schon wird man als junger Meister ausgerufen ... Na, wißt ihr: machen mir eure jungen Meister Spaß!«

Aber als hätte sich in ihm eine Ideenassoziation vollzogen, schwieg er, wandte sich an Claude und stellte ihm die Frage:

»Bei der Gelegenheit! Haben Sie Fagerolles Bild gesehen?«

»Ja«, antwortete der junge Mann einfach.

Beide sahen sie sich an. Ein Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnten, umspielte ihre Lippen. Endlich sagte Bongrand:

»Da ist einer, der Sie plündert.«

Jory hatte verlegen die Augen niedergeschlagen und überlegte, ob er Fagerolles in Schutz nehmen sollte. Ohne Zweifel hielt er für geraten, es zu tun, denn er lobte das Gemälde, die Schauspielerin in ihrer Loge, von dem damals gerade ein sehr erfolgreicher Kupferstich auslag. War der Gegenstand denn nicht modern? Und war es nicht in den Lichttönen der neuen Schule recht hübsch gemalt? Vielleicht konnte man noch mehr Kraft verlangen: doch man mußte eben jedem Talent seine Eigenart lassen. Und dann waren doch Anmut und Vornehmheit nicht gerade etwas Gewöhnliches.

Über seine Leinwand gebeugt, machte Bongrand, der gewöhnlich nur väterliches Lob für die Jungen hatte, eine ersichtliche Anstrengung, um nicht herauszuplatzen. Doch gegen seinen Willen fuhr es ihm heraus:

»Gehen Sie mir mit Ihrem Fagerolles! Halten Sie uns für dümmer, als es die Polizei erlaubt?... Ja, sehen Sie sich mal den großen Maler hier an! Jawohl, den jungen Herrn da, der hier vor uns steht! Nun wohl! Der ganze Pfiff besteht darin, daß man ihm seine Eigenart stiehlt und sie der flauen Sauce der Akademie anpaßt. So ist es! Man nimmt's von der Moderne, malt hell: aber man behält die banale, korrekte Zeichnung bei, die aller Welt angenehme Komposition; und das ist dann die Formel, mit der man die Spießer entzückt. Und man gibt der Sache so einen gewissen Schick, diesen verdammten, fingerfertigen Schick, der ebenso leicht Kokosnüsse zu modellieren versteht! Diese fließende, gefällige Fingerfertigkeit, die Erfolg macht und die mit dem Bagno bestraft werden sollte, verstehen Sie?«

Er schwang Palette und Pinsel in den geballten Fäusten.

»Sie sind streng«, sagte Claude verlegen. »Immerhin hat Fagerolles doch eine gewisse Feinheit.«

»Ich habe gehört«, murmelte Jory, »daß er mit Naudet einen sehr vorteilhaften Vertrag abgeschlossen hat.«

Dieser in das Gespräch geworfene Name ließ Bongrands Groll von neuem in Heiterkeit überspringen. Er wiegte die Schultern und sagte:

»Ah, Naudet ... Ah, Naudet! ...«

Und er vergnügte sich mit allerlei Erzählungen über Naudet, der ihm gut bekannt war. Er war ein Händler, der seit einigen Jahren dem Kunsthandel eine neue Wendung gegeben hatte. Das war nicht mehr die alte Art und Weise des Papa Malgras, der einen so schmierigen Überzieher und einen so feinen Geschmack hatte, der die Bilder der Anfänger aufspürte, sie für zehn Franken erstand und für fünfzehn wieder losschlug, all der Schlendrian des Kenners, der vor einem Bild, auf das er's abgesehen hatte, den Mund verzog, um den Preis zu drücken, der im Grunde für die Malerei begeistert war und der sein bißchen Gewinn darin sah, daß er sein Kapitalchen mit Vorsicht so bald wie möglich umsetzte. Nein, der berühmte Naudet hatte das Äußere eines Gentlemans, trug ein modisches Jackett, einen Brillanten in der Krawatte, war pomadisiert, geschniegelt und gebügelt, machte Aufwand, hielt einen monatlich gemieteten Wagen, hatte ein Fauteuil in der Oper, seinen reservierten Platz bei Bignon, verkehrte überall, wo es guter Ton war, sich zu zeigen. Im übrigen war er ein Spekulant, ein Börsianer, dem die Malerei gründlich einerlei war. Er besaß bloß Witterung für den Erfolg, verstand einen Künstler zu lancieren; nicht den, der das noch beanstandete Genie eines großen Malers besaß, aber den Scheintalentierten, der mit gemachter Eigenart das Publikum gewinnt und beim Verkauf den höchsten Preis erzielt. Und auf solche Weise brachte er eine Umwälzung in den Kunsthandel, überging den altmodischen Liebhaber, der wirklichen Geschmack besaß, und verkehrte bloß mit dem reichen, der nichts von Kunst verstand, ein Gemälde kaufte wie einen Börsenwert, aus Eitelkeit oder in der Hoffnung, daß es im Preise steigen werde.

Hier begann Bongrand, dem noch von seiner früheren Bohèmezeit der Schalk im Nacken saß, mit sehr drastischem Humor die Sache vorzumachen. Naudet kommt zu Fagerolles. – »Sie haben Genie, mein Lieber! Ah, Ihr letztes Gemälde ist verkauft? Für wieviel? – Fünfhundert Franken. – Aber sind Sie nicht bei Trost! Es ist zwölfhundert wert. Und das da, was Sie noch haben, für wieviel? – Gott, ich weiß nicht; sagen wir meinetwegen zwölfhundert. – Aber gehen Sie doch! Zwölf hundert! Lassen Sie sich doch sagen, mein Lieber, es ist zweitausend wert. Ich nehm' es für zweitausend. Und von heut an sollen Sie nur noch für mich, Naudet, arbeiten. Leben Sie wohl, leben Sie wohl, mein Lieber! Werfen Sie sich nicht weg! Ihr Glück ist gemacht, dafür steh' ich.« – Und er geht, nimmt das Bild mit sich in die Kutsche. Er geht damit zu seinen Liebhabern, unter denen er die Neuigkeit verbreitet hat, daß er soeben einen ungewöhnlich begabten Maler entdeckt habe. Einer von ihnen beißt an und erkundigt sich nach dem Preis. – »Fünftausend! – Wie? Fünftausend? Das Bild eines Unbekannten? Sie machen sich über mich lustig! – Hören Sie, ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen: Ich verkauf es Ihnen für fünftausend, und ich verpflichte mich schriftlich, es in einem Jahre für sechstausend zurückzunehmen, wenn es Ihnen dann nicht mehr gefällt.« – Sofort ist der Liebhaber gewonnen. Was läuft er für Gefahr? Er hat sein Geld ja gut angelegt. Und er kauft. Jetzt aber verliert Naudet nicht seine Zeit und bringt im Laufe des Jahres neun, zehn Bilder an den Mann. Eitelkeit und Gewinnsucht tun ein übriges. Die Preise steigen, einer wird fest, so daß, wenn Naudet zu dem Liebhaber zurückkehrt, dieser ihm, anstatt das erste Bild zurückzugeben, für ein anderes achttausend zahlt. Die Hausse aber nimmt ihren Fortgang, und die Malerei wird ein zweideutiges Gebiet, eine Goldmine am Montmartre. Die Bankiers haben sie lanciert, und man schlägt sich um sie mit Banknoten!

Claude empörte sich. Jory aber fand das sehr großartig. Da klopfte es. Bongrand, der gegangen war, um zu öffnen, ließ einen Ausruf vernehmen.

»Was! Naudet! ... Eben sprachen wir von Ihnen.«

Sehr korrekt, trotz des fürchterlichen Wetters ohne das geringste Schmutzspritzerchen, grüßte Naudet und trat mit der höflichen Andacht eines Mannes von Welt, der eine Kirche betritt, ein.

»Ich bin sehr glücklich; es schmeichelt mich außerordentlich, teuerer Meister ... Sicher sprachen Sie doch nur Gutes von mir.« »Aber durchaus nicht, Naudet! Durchaus nicht!« fuhr Bongrand mit vollkommener Ruhe fort. »Wir sagten, daß Ihre Art und Weise, die Malerei auszubeuten, im Begriff wäre, uns eine recht niedliche Generation von Scheinmalern heraufzubringen, und außerdem von unanständigen Geschäftsleuten.«

Ohne sich aufzuregen, lächelte Naudet.

»Ein hartes Wort, aber ein scharmantes! Macht nichts, lieber Meister! Von Ihnen kann mich nichts verletzen.«

Vor dem Bild, den beiden nähenden Frauen, geriet er in Ekstase.

»Ah, Herrgott! Das kannt' ich ja noch gar nicht! Das ist ja wunderbar! ... Ah, dies Licht! Diese Faktur! So solid, so kräftig! Man muß ja schon bis zu Rembrandt zurückgreifen, jawohl, bis zu Rembrandt, um etwas Ähnlichem zu begegnen! ... Hören Sie, teurer Meister! Ich kam ja nur, um Ihnen meine Aufwartung zu machen: aber es war mein Glücksstern, der mich herführte. Machen wir endlich ein Geschäft, geben Sie mir dies Kleinod! ... Ich gebe Ihnen, was Sie immer verlangen, ich wiege es mit Gold auf.«

Man sah an Bongrands Rücken, wie er bei jedem Wort vor Entrüstung zitterte. Grob unterbrach er ihn:

»Zu spät. Es ist schon verkauft.«

»Verkauft! Mein Gott! Und Sie können das nicht rückgängig machen? Sagen Sie mir doch wenigstens, an wen? Ich tue alles, um es zu bekommen, zahle alles ... Ach, wie schade, wie jammerschade! Verkauft! Wirklich? Und wenn ich Ihnen das Doppelte böte?«

»Es ist verkauft, Naudet, und damit genug!«

Doch der Händler fuhr noch immer fort zu lamentieren. Er blieb noch einige Minuten, geriet noch vor ein paar anderen Studien außer sich, durchstöberte mit dem beutelüsternen Blick eines Wettenden, der nach einem Glücksfall sucht, das Atelier. Doch als er sah, daß der Augenblick nicht gut gewählt und daß nichts zu machen war, ging er, grüßte mit dankbarer Miene und ließ noch draußen auf dem Flur bewundernde Ausrufe hören.

Sobald er fort war, gestattete sich Jory, der erstaunt zugehört hatte, eine Frage.

»Aber Sie sagten uns doch, glaub' ich ... Nicht wahr, es ist noch nicht verkauft?«

Bongrand antwortete zuerst nicht, sondern trat wieder vor seine Staffelei. Dann aber rief er mit Donnerstimme und legte in diesen Aufschrei all sein heimliches Leid, all sein zunehmendes, uneingestandenes Ringen:

»Er langweilt mich! Nie soll er etwas von mir haben! ... Mag er bei Fagerolles kaufen!«

Eine Viertelstunde später nahmen auch Claude und Jory von ihm Abschied und ließen ihn bei seiner eifrig bis in den sinkenden Tag hinein ausgedehnten Arbeit zurück. Als Claude sich draußen aber von seinem Gefährten getrennt hatte, kehrte er, trotz seiner langen Abwesenheit, noch nicht nach der Rue de Douai zurück. Ein Bedürfnis, noch weiter zu wandern, sich an dies Paris hinzugeben, wo die Begegnungen eines einzigen Tages ihm so viel Anregungen geboten hatten, ließ ihn bis zur hereinbrechenden Dunkelheit in dem gefrorenen Straßenschmutz durch die Straßen irren, beim Schein der Gaslaternen, die nach und nach gleich dunstigen Sternen im Nebel ihr Licht entfachten.

Mit Ungeduld wartete Claude auf den Donnerstag, wo er bei Sandoz speiste. Denn nach wie vor sah der letztere einmal in der Woche alle Kameraden bei sich. Mochte kommen, wer wollte: er fand für sich gedeckt. Mochte er sich verheiratet, seinen Beruf geändert, sich in das literarische Leben gestürzt haben: er behielt seinen Tag, diesen Donnerstag, wie seit seinem Austritt aus dem Kolleg, zu jener Zeit, wo sie ihre erste Pfeife geraucht, bei. Wie er denn zu sagen pflegte: er hätte jetzt bloß einen Kameraden mehr, seine Frau.

»Sag doch, Alter!« hatte er Claude geradeheraus gesagt. »Da macht mir etwas Kopfzerbrechen.«

»Aber was?«

»Daß du nicht verheiratet bist ... Oh, weißt du, ich würde deine Frau ja gern empfangen; aber da sind so alle möglichen törichten Leute, der Spießerhaufen, der dann wohl allerlei Abscheulichkeiten herumerzählen könnte ...«

»Aber gewiß, Alter! Christine würde es auch von selbst nicht wollen! ... Oh, wir begreifen dich sehr wohl! Ich komme allein, verlaß dich darauf!«

Schon um sechs begab sich Claude nach der Rue Nollet in Batignolles zu Sandoz. Und es kostete ihn viel Mühe, das Häuschen, das der Freund bewohnte, zu entdecken. Zunächst kam er in ein großes, an der Straße liegendes Gebäude, wandte sich an den Pförtner, der ihn durch drei Höfe hindurchschickte. Dann mußte er durch einen engen Gang zwischen zwei anderen Gebäuden hin, stieg ein paar Stufen hinab und geriet vor die Gitterpforte eines engen Gartens. Hier stand das kleine Haus am Ende einer Allee. Aber es war so dunkel, daß er schon auf den Stufen beinahe hingestürzt wäre. Er wagte sich nicht weiter voran, zumal wie rasend ein großer Hund bellte. Endlich vernahm er Sandoz' Stimme, der daherkam und den Hund beruhigte.

»Ah, du bist's! ... Was, sind wir hier nicht auf dem Lande? Es soll noch eine Laterne gebracht werden, damit nicht etwa jemand noch Hals und Beine bricht ... Komm, komm! ... Bertrand, verwünschtes Vieh, willst du still sein! Siehst du denn nicht, daß es ein Freund ist, du Dummkopf!«

Mit erhobenem Schwanz und unter munter schallendem Gebell begleitete der Hund sie jetzt bis zur Wohnung. Ein Dienstmädchen war mit einer Laterne erschienen und hatte sie an der Gittertür befestigt, um die gefährlichen Stufen zu beleuchten.

In der Mitte des Gartens befand sich bloß ein kleiner Rasenplatz mit einem mächtigen Pflaumenbaum, dessen Schatten das Gras gebleicht hatte. Vor dem sehr niedrigen Haus ragte eine Weinlaube, aus der eine ganz neue Bank hervorschimmerte. Sie bot sich jetzt, zur Zeit der Winterregen, als eine Zier und wartete auf die Sonne.

»Tritt ein!« wiederholte Sandoz.

Er führte ihn in den rechts vom Flur gelegenen Salon, den er sich zum Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Das Eßzimmer und die Küche lagen zur Linken. Im Oberstock hatte seine Mutter, die das Bett nicht mehr verlassen konnte, eine große Kammer, während das Ehepaar sich mit einer zweiten, kleineren, begnügte und mit dem zwischen den beiden Gemächern gelegenen Toilettenraum. Das war alles. Eine wahre Kartonschachtel mit Schubfächern und dünnen Pappwänden. Doch die Arbeit und die Hoffnung wohnten in dem kleinen Haus, und es war doch im Vergleich mit den früheren Dachwohnungen der jüngeren Jahre schon recht geräumig und bereits mit einem Anfang von Behaglichkeit und Luxus ausgestattet.

»Na?« rief er. »Hier haben wir doch Platz! Ist es nicht ein recht gut Teil bequemer hier als in der Rue d'Enfer? Du siehst, ich hab' ein Zimmer ganz für mich allein. Und ich habe mir zum Schreiben einen Tisch aus Eichenholz gekauft. Meine Frau aber hat mir diesen alten Topf aus Rouener Fayence mit der Palme drin geschenkt ... Ist das nicht schick, wie?«

Aber da trat auch schon seine Frau ein. Sie war groß, hatte ein ruhiges, heiteres Gesicht, schöne, braune Haare. Über ihrem sehr schlichten Kleid aus schwarzer Halbseide trug sie eine breite, weiße Schürze. Denn obwohl sie einen Dienstboten hatte, bekümmerte sie sich selber um die Küche, war stolz auf die Zubereitung gewisser Gerichte und wußte dem Hauswesen ein Gepräge von bürgerlicher Sauberkeit und Wohlstand zu geben.

Sogleich waren Claude und sie wie alte Freunde.

»Nenne ihn Claude, Liebe ... Und du, Alter, nenne sie Henriette ... Nicht ›Madame‹ und ›Herr‹, oder ihr sollt jedesmal fünf Sous Strafe zahlen.«

Sie lachten. Dann entschlüpfte sie in ihre Küche hinaus, wo ein südliches Gericht, eine »Bouillabaisse«, mit dem sie den Freunden aus Plassans eine Überraschung bereiten wollte, ihre Gegenwart erforderte. Sie hatte das Rezept von ihrem Manne, und er sagte, daß sie es ganz vorzüglich zu bereiten verstände.

»Deine Frau ist reizend«, sagte Claude. »Sie macht es dir sicher sehr behaglich.«

Sandoz aber fing an, vor dem Tische sitzend, die Ellbogen auf die Blätter des Werkes gestützt, an dem er jetzt arbeitete, von dem ersten Roman seiner Serie zu sprechen, den er im Oktober veröffentlicht hatte. Ah, wie wurde sein armes Buch 'runtergerissen! Es war eine förmliche Erdrosselung, ein Gemetzel. Die gesamte Kritik hatte er auf dem Halse. Ein Hagel von Verwünschungen, als ob er den Leuten an einer Waldecke auflauerte und sie abschlachtete. Doch er lachte darüber, fühlte sich erst recht angespornt. Seine breiten Schultern, der stramme Arbeiter in ihm, der wußte, was er wollte, schüttelten sie ab. Nur eins war erstaunlich: der unendliche Mangel an Intelligenz dieser Kerle, deren an ihren Redaktionstischen hingeschmierte Artikel ihn mit Schmutz bewarfen, ohne auch nur das geringste von seinen Absichten zu verstehen. Alles wurde in denselben Topf der Schmähungen geworfen: seine neue Studie des physiologischen Menschen, die mächtige Rolle, die er der Umgebung zumaß, die in ihrer ewigen Schöpfung ungeheure Natur, das Leben endlich, das gesamte universelle Leben, das alles Organische von einem Ende bis zum anderen umfaßt, ohne Hoch und Niedrig, Schön und Häßlich zu kennen. Und sodann die Kühnheit der Sprache, die Überzeugung, daß alles ausgesprochen werden muß, daß es ungeschminkter Worte bedarf wie glühenden Eisens, damit die Sprache erneuert aus diesem Kraftbad hervorging. Besonders aber der sexuelle Akt, der Ursprung und die beständige Vollendung der Welt, hinter der Scham hervorgezogen, mit der man ihn verhüllt, in seine Würde, ans helle Tageslicht gesetzt. Mochte man Anstoß nehmen: er hatte nichts dagegen. Aber er hätte es wenigstens gern gesehen, wenn man ihm die Ehre erwiesen hätte, ihn zu verstehen. Mochte man sich über seine Kühnheit erzürnen, ihm aber keine gemeinen Absichten unterschieben.

»Weißt du!« fuhr er fort. »Ich glaube, sie sind eigentlich mehr dumm als bösartig ... Die Form ist's, die sie gegen mich aufbringt, die geschriebene Rede, das deutliche Leben des Stiles. Ja, der Haß gegen die Literatur! Die ganze Bourgeoisie birst davon!«

Von einer Traurigkeit erfaßt, schwieg er.

»Bah!« sagte Claude nach einem Schweigen. »Du bist glücklich! Du arbeitest, schaffst!«

»Ah ja, ich arbeite, schreibe meine Bücher bis zur letzten Seite ... Aber wenn du wüßtest! Wenn ich dir sagen wollte, mit welcher Verzweiflung, mit welcher Pein! Und dabei werfen mir diese Trottel auch noch Hochmut vor! Mir, den die Unzulänglichkeit seines Werkes noch bis in den Traum hineinverfolgt! Ich, der ich keinen Morgen das am vorigen Tage Geschriebene zu lesen wage, aus Furcht, es so abscheulich zu finden, daß ich nicht die Kraft finden könnte, fortzufahren! ... Ich arbeite! O ja, gewiß, ich arbeite! Arbeite, wie ich lebe; weil ich dazu geboren bin. Aber, ach! Ich bin deshalb nicht glücklicher. Nie bin ich mit mir zufrieden; und immer hab' ich die große Furcht, daß ich scheitere!«

Eine laute Stimme unterbrach sie. Jory erschien, seiner Existenz froh, und erzählte, daß er einen alten Artikel aufgefrischt hätte, damit er rechtzeitig zum Abend eintreffen konnte. Fast gleichzeitig kamen plaudernd auch Gagniere und Mahoudeau, die sich vor der Tür getroffen hatten. Der erstere hatte sich seit einigen Monaten in das Studium der Farben verbohrt und erklärte sich dem anderen.

»Also ich trage meinen Grundton auf«, fuhr er fort. »Das Rot der Fahne bleicht ab und bräunt sich gegen den blauen Himmel, von dem sie sich abhebt und dessen Komplementärfarbe, das Orange, sich mit dem Rot verbindet.«

Interessiert wollte Claude ihn schon befragen, als die Magd eine Depesche brachte.

»Gut!« sagte Sandoz. »Dubuche entschuldigt sich. Er will uns gegen elf Uhr überraschen.«

In diesem Augenblick öffnete Henriette die Tür und lud persönlich zum Diner. Sie hatte die Küchenschürze nicht mehr vor. Munter drückte sie, als Hausherrin, die Hände, die sich ihr entgegenstreckten. Zu Tisch! Zu Tisch! Es war ein halb acht Uhr. Die Bouillabaisse konnte nicht mehr warten.

Auf Jory, der darauf aufmerksam machte, Fagerolles habe mit aller Bestimmtheit gesagt, daß er kommen werde, wollte man nicht hören; es war lächerlich von Fagerolles, daß er sich als den jungen, mit Aufträgen überhäuften Meister aufspielte.

Das Speisezimmer, in das man sich begab, war so klein, daß man, um das Piano aufstellen zu können, die Wand zu einem dunklen Nebenraum, der eigentlich zur Aufnahme von Vorräten bestimmt war, hatte durchbrechen und eine Art von Alkoven hatte herstellen müssen. Immerhin konnten bei besonderen Gelegenheiten etwa ihrer zehn an der runden Tafel unter der weißporzellanenen Hängelampe Platz finden. Allerdings würde dadurch der Zugang zum Büfett versperrt, so daß die Magd, wenn sie Geschirr holen wollte, nicht hingelangen konnte. Übrigens bediente die Hausfrau selbst. Ihr Gatte setzte sich mit dem Rücken gegen das Büfett, um von ihm, wessen sie bedurfte, gleich wegnehmen und weitergeben zu können.

Henriette hatte Claude zu ihrer Rechten Platz nehmen lassen, Mahoudeau zu ihrer Linken, während Jory und Gagniere sich zu beiden Seiten von Sandoz niedergelassen hatten.

»Françoise!« rief die Hausfrau. »Geben Sie mir doch die Fische; sie stehen auf dem Herd!«

Nachdem die Magd sie gebracht, verteilte sie sie je zwei auf die Teller; dann begann sie die Sauce der Bouillabaisse drüberzugießen, als sich die Tür auftat.

»Fagerolles! Endlich!« sagte sie. »Setzen Sie sich dort zu Claude hin!«

Weltmännisch höflich entschuldigte er sich mit einem Stelldichein in geschäftlichen Angelegenheiten. Er trug sich jetzt sehr elegant, Kleider in englischem Schnitt, glich einem Klubbesucher und trug zugleich eine gewisse künstlerische Ungezwungenheit zur Schau. Sobald er sich niedergelassen hatte, schüttelte er seinem Nachbar die Hand und stellte sich lebhaft erfreut.

»Ah, mein alter Claude! Schon so lange wollte ich dich besuchen! Ja, schon zwanzigmal hatte ich vor, dich da draußen aufzusuchen. Aber du weißt, das Leben ...«

Claude, dem diese Beteuerungen ein Mißbehagen verursachten, wollte schon mit gleicher Herzlichkeit antworten; doch Henriette, die fortfuhr zu bedienen, zog ihn aus der Verlegenheit, indem sie ungeduldig sagte:

»Fagerolles, antworten Sie mir doch! ... Wünschen Sie zweierlei Fisch ?«

»Aber gewiß, Madame, zweierlei! ... Ich liebe die Bouillabaisse leidenschaftlich. Und Sie bereiten sie so wunderbar!«

In der Tat waren alle von dem Gericht begeistert. Besonders Mahoudeau und Jory erklärten, es in Marseille nie schöner gegessen zu haben, so daß die junge Frau, ganz glücklich und noch rot von der Herdhitze, den großen Schöpflöffel in der Hand vollauf zu tun hatte, die Teller, die ihr hingereicht wurden, wieder zu füllen. Und als die Magd den Kopf verlor, erhob sie sich von ihrem Stuhl und begab sich in Person in die Küche, den Rest der Sauce zu holen.

»Iß doch!« rief Sandoz ihr zu. »Wir warten, bis du gegessen hast.«

Doch sie beharrte und ließ sich nicht nieder.

»Laß doch! ... Reich mir lieber mal das Brot 'rüber ... Ja, hinter dir, auf dem Büfett ... Jory hat Brotschnitte gern und brockt sie in die Sauce.«

Jetzt erhob sich auch Sandoz und half ihr, während man über Jory und seine Vorliebe, die Bouillabaisse zu essen, scherzte.

Claude aber sah sie, von dem glücklichen und behaglichen Beisammen tief berührt, alle an. Es war ihm, als erwache er aus einem langen Schlaf, und er fragte sich, ob er sie erst gestern verlassen hätte und ob wirklich vier Jahre vergangen waren, seit er zum letztenmal mit ihnen zu Abend gegessen hatte. Und doch hatten sie sich verändert; er fühlte das. Mahoudeau war durch seine Notlage verbittert, Jory tauchte mehr als je in seinem Genußleben unter, Gagniere lebte in anderen Regionen; namentlich aber kam ihm vor, als ob Fagerolles neben ihm unter seiner übertriebenen Herzlichkeit eine merkbare Kühle erkennen ließ. Ohne Zweifel waren ihre Gesichter unter dem Existenzkampf ein wenig gealtert. Doch es war nicht bloß das. Er empfand etwas wie eine Leere zwischen ihnen. Er sah sie einen vom anderen abgesondert, einander fremd, obgleich sie eng beieinander, Seite an Seite, um denselben Tisch herumsaßen. Und dann war es eine neue Umgebung. Eine Frau war heut da, gesellte ihre angenehme Gegenwart hinzu und dämpfte sie. Wie kam es also, daß er, trotz dieses Wandels der dahingehenden und sich erneuernden Dinge, die Empfindung eines Wiederanfanges hatte? Wie kam es, daß er hätte schwören mögen, er hätte erst Donnerstag der letztvergangenen Woche hier an diesem Platz gesessen? Endlich glaubte er zu verstehen. Es war Sandoz, der derselbe geblieben. Noch ebenso beharrlich treu in seinen Gemütseigenschaften wie in seinen Arbeitsgewohnheiten, strahlend vor Freude, sie heute an der Tafel seines jungen Hausstandes zu empfangen, wie er vordem sein mageres Junggesellenmahl mit ihnen geteilt hatte. Mit seinem Traum einer immerdauernden Freundschaft blieb er immer der gleiche. Solche Donnerstage sollten für immer, bis in sein spätes Alter hinein beibehalten werden. Alle für immer zusammen! Alle sollten zur gleichen Stunde ihren Anlauf genommen haben und zum gleichen Siege gelangen!

Er mochte den Gedanken erraten, der Claude in stiller Versonnenheit hielt, und mit seinem angenehmen, jugendfrischen Lachen rief er über den Tisch zu ihm hin:

»Na, Alter! Bist du also doch noch bei uns? O verdammt, hast du uns gefehlt! ... Aber, du siehst, nichts hat sich geändert, wir sind alle dieselben ... Ist's nicht so, ihr anderen?«

Sie antworteten mit einem zustimmenden Kopfnicken. Ohne Zweifel! Ohne Zweifel!

»Nur«, fuhr er heiter fort, »die Küche ist ein bißchen besser bestellt als in der Rue d'Enfer ... Ich hab' euch da manchmal einen rechten Fraß vorgesetzt!«

Nach der Bouillabaisse gab's ein Hasenragout; gebratenes Geflügel mit Salat beschloß das Mahl. Aber man saß lange bei Tisch; der Nachtisch dehnte sich aus, obwohl die Unterhaltung nicht so feurig war wie früher. Jeder sprach von sich und schwieg, sobald er wahrnahm, daß niemand ihm zuhörte. Als man aber beim Käse war und erst von dem herben Burgunder gekostet hatte, von dem das junge Paar, nachdem Sandoz das Honorar für seinen ersten Roman erhalten, sich ein Faß aufzulegen riskiert hatte, erhoben sich die Stimmen, und die Unterhaltung belebte sich.

»Also du hast mit Naudet abgeschlossen?« erkundigte sich Mahoudeau, dessen knochiges, ausgehungertes Gesicht noch faltiger geworden war. »Ist es wahr, daß er dir für das erste Jahr fünfzigtausend Franken garantiert?«

Mit gespitzten Lippen antwortete Fagerolles:

»Ja, fünfzigtausend ... Aber noch ist nichts fest abgemacht. Ich gehe noch mit mir zu Rate. Man darf sich nicht so ohne weiteres festlegen. Ah, ich bin nicht der, der sich wickeln läßt!«

»Verdammt!« murmelte der Bildhauer. »Du bist ein Schwieriger. Für zwanzig Franken pro Tag unterschriebe ich ihm, was er wollte.«

Alle hörten jetzt Fagerolles zu, der den vom wachsenden Erfolg Ermüdeten spielte. Er hatte noch immer sein hübsches, schwer zu deutendes Mädchengesicht. Aber eine gewisse Anordnung seines Haares und der Schnitt seines Bartes verliehen ihm so etwas wie Würde. Obwohl er noch ab und zu zu Sandoz kam, lockerten sich seine Beziehungen zu dem Freundeskreis. Dagegen ließ er sich auf den Boulevards sehen, besuchte regelmäßig die Cafés, die Redaktionsbureaus und alle Stätten der Öffentlichkeit, wo er nützliche Bekanntschaften machen konnte. Es gehörte zu seiner Taktik, war sein fester Wille, seinen Triumph zu einem unabhängigen zu gestalten. Es leitete ihn der schlaue Gedanke, daß er, um Erfolg zu haben, nichts mehr mit diesen Revolutionären gemeinsam haben dürfte, weder einen Händler noch Beziehungen, noch Gewohnheiten. Es hieß sogar, daß er die Frauen von zwei, drei Salons für seine Zwecke benutze; nicht in der brutal sinnlich männlichen Weise wie Jory, sondern wie jemand, der über seinen Leidenschaften steht; und daß er in dieser Weise intimere Beziehungen zu zwei bejahrteren Baroninnen angeknüpft hätte.

Einzig in der Absicht, sich selber wichtig zu machen, denn er schmeichelte sich, Fagerolles gemacht, wie er auch behauptete, vorher Claude entdeckt zu haben, zeigte Jory Fagerolles einen Artikel an.

»Sag doch, hast du Verniers Abhandlung über dich gelesen? Da ist wieder mal einer, der mich ausschreibt.«

»Ah, was über den alles geschrieben wird!« seufzte Mahoudeau.

Fagerolles hatte eine unbekümmerte Handbewegung. Doch er lächelte. Im stillen verachtete er diese armen Teufel, die so wenig geschickt waren und sich in ihrer dummen Herbheit versteiften, wo es doch so leicht war, die Menge zu gewinnen. Es genügte ihm, sie ausgeplündert zu haben, und nun brach er mit ihnen. Aus dem Haß, den man gegen sie hegte, zog er Vorteil. Man überhäufte seine geleckten Sachen mit Lob und machte den anderen mit ihrer hartnäckigen Gewaltsamkeit vollends den Garaus.

»Hast du den Artikel von Vernier gelesen?« wandte sich Jory an Gagnière. »Nicht wahr, er schreibt mich doch einfach ab.«

Gagnière, der in den Anblick des roten Scheins versunken war, den sein Weinglas auf dem weißen Tischtuch machte, fuhr empor.

»Was? Ein Artikel von Vernier?«

»Ja! Überhaupt, alle Artikel, die über Fagerolles geschrieben werden.«

Verdutzt wandte sich Gagnière zu diesem hin.

»Was? Es werden Artikel über dich geschrieben?... Ich weiß nichts davon, ich hab' sie nicht gelesen ... Ah, man schreibt Artikel über dich! Aber wieso?«

Es erhob sich ein schallendes Gelächter. Nur Fagerolles, der glaubte, es handle sich um einen verabredeten Streich, der ihm gespielt wurde, blickte sauer drein. Doch Gagnière hatte es in gutem Glauben gemeint. Er war ganz erstaunt, daß man einem Maler einen Erfolg machen konnte, der noch nicht einmal das Gleichgewicht der Töne beobachtete. Diesem Scharlatan einen Erfolg! Niemals! Das war ja gewissenlos!

Diese geräuschvolle Heiterkeit belebte das Ende des Diners. Man aß nicht mehr, obgleich die Herrin des Hauses die Teller von neuem füllen wollte.

»Lieber Freund, paß doch auf!« wandte sie sich dem sich sehr angeregt an dem Lärm beteiligten Sandoz zu. »Lang doch mal herum; die Biskuits stehen auf dem Büfett.«

Doch alle dankten und standen auf. Da man den Abend im selben Raum auch beim Trinken des Tees verbrachte, standen sie plaudernd umher, während die Magd abräumte. Das Ehepaar ging ihr dabei zur Hand: die Hausfrau tat das Salz in die Schublade, während er beim Zusammenfalten des Tischtuches half.

»Ihr dürft rauchen«, sagte Henriette. »Ihr wißt ja, daß mich das nicht im mindesten stört.«

Fagerolles, der Claude in die Fensternische beiseitegezogen hatte, bot ihm eine Zigarre an, die dieser aber ablehnte.

»Ach, ist ja wahr, du rauchst nicht ... He, sag doch: werd' ich zu sehen bekommen, was du mitgebracht hast? Gewiß sehr interessante Sachen. Du weißt ja, wieviel ich von deinem Talent halte. Du bist der Stärkste ...«

Er zeigte sich sehr untertänig, im Grunde ganz aufrichtigerweise; ließ die Bewunderung, die er früher für ihn empfunden hatte, steigen; er, dessen Schaffen ja, trotz seiner verzwickt boshaft berechnenden Art, für immer durch das Schaffen der anderen geprägt war. Doch seiner Bescheidenheit gesellte sich ein bei ihm sehr seltenes Unbehagen; denn er fühlte sich durch das Schweigen, das der Meister seiner Anfänge seinem Bild gegenüber beobachtete, beunruhigt. Schließlich fragte er mit bebender Lippe:

»Hast du im Salon meine Schauspielerin gesehen? Sag, aufrichtig: machst du dir was aus ihr?«

Claude zögerte einen Augenblick, dann aber sagte er freundschaftlich:

»Ja, manches ist recht gut dran.«

Schon ärgerte sich Fagerolles, die dumme Frage getan zu haben. Er verlor seine Fassung, entschuldigte sich jetzt, versuchte das, was er entlehnt hatte, zu beschönigen und die Zugeständnisse, die er gemacht, zu verteidigen. Als er sich, über sein Ungeschick verzweifelt, mit vieler Mühe einigermaßen aus der Affäre gezogen hatte, wurde er für einen Augenblick der Spaßvogel von früher, amüsierte alle und brachte selbst Claude dazu, daß er bis zu Tränen lachte. Dann gab er Henriette die Hand und verabschiedete sich.

»Wie! Sie wollen schon gehen?«

»Leider ja, teuere Madame! Mein Vater hat heut abend einen Bureauchef zu Gast, durch dessen Vermittlung er dekoriert zu werden hofft... Und da ich eins seiner Paradestücke bin, hab' ich fest versprechen müssen, zu kommen.«

Als er gegangen war, verschwand Henriette, nachdem sie mit Sandoz leise ein paar Worte gewechselt hatte. Man vernahm vom Oberstock das leise Geräusch ihres Schrittes. Seit ihrer Verheiratung war sie es, welche die kranke Mutter betreute und, wie einst er, bisweilen die Gesellschaft verließ.

Übrigens hatte keiner der Gäste gemerkt, daß sie sich entfernt hatte. Mahoudeau und Gagnière sprachen von Fagerolles. Sie ließen, ohne ihn direkt anzugreifen, eine heimliche Verbitterung durchblicken. Sie wechselten ironische Blicke und zuckten die Achseln, zeigten ihre geheime Verachtung, ohne ihn doch, da er ihr Kamerad war, richten zu wollen. Dann aber kamen sie auf Claude zu sprechen, zeigten ihre rückhaltlose Bewunderung und sprachen in überschwenglicher Weise die Hoffnung aus, die sie auf ihn setzten. Ah, es war Zeit, daß er wiedergekommen war. Denn allein er mit seiner großen Begabung, seiner festen Hand, konnte der Meister, der anerkannte Führer sein. Seit dem Salon der Zurückgewiesenen hatte sich die Schule des Pleinair erweitert, ihr wachsender Einfluß machte sich fühlbar. Unglücklicherweise aber zersplitterten sich die Bemühungen; die neu Hinzugekommenen begnügten sich mit Skizzen, mit Impressionen, die sie mit zwei Pinselstrichen hinhieben. Man wartete auf den genialen Mann, den es benötigte, auf ihn, der in Meisterwerken der Formel Gestalt geben sollte. Welch herrlicher Platz, den es hier für ihn einzunehmen gab! Um die Menge zu gewinnen, die neue Kunstära zu schaffen! Claude hörte sie gesenkten Blickes, mit bleichen Wangen an. Ja, das war ja sein heimlicher Traum, der Ehrgeiz, den er sich selbst nicht einzugestehen wagte. Doch mischte sich in die Freude über ihren Zuspruch eine seltsame Beklemmung, eine Furcht vor dieser Zukunft, als er sich so von ihnen, als hätte er den Sieg bereits errungen, zum Diktator erhoben sah.

»Laßt doch!« rief er endlich. »Es gibt ja noch andere, die ebensoviel wert sind wie ich. Ich suche mich ja erst selbst noch.«

Jory rauchte in gereizter Stimmung schweigend seine Zigarre. Plötzlich aber, als die anderen gar nicht aufhören wollten, konnte er nicht mehr an sich halten.

»Alles das, Jungens, ist ja nur, weil ihr euch über Fagerolles' Erfolg ärgert.«

Aber sie verneinten, brachen in lauten Protest aus. Fagerolles! Als junger Meister! Wie lächerlich!

»Oh, du läßt uns im Stich, wir wissen schon!« sagte Mahoudeau. »Wir brauchen uns nicht zu sorgen: über uns schreibst du jetzt nicht zwei Zeilen mehr.«

»Ja, mein Lieber!« gab Jory ärgerlich zurück. »Alles, was ich über euch schreibe, wird mir gestrichen. Ihr macht euch ja selber überall verhaßt ... Ah, wenn ich selbst ein Blatt hätte!«

Henriette kam zurück. Sandoz' Augen suchten die ihren. Sie antwortete ihm mit dem zarten, heimlichen Lächeln, das auch er früher gehabt hatte, wenn er aus der Kammer seiner Mutter wieder zum Vorschein gekommen war. Dann rief sie sie alle herbei, und sie ließen sich um den Tisch herum nieder, während sie den Tee bereitete und in die Tassen goß. Doch die Unterhaltung flaute ab; die Fröhlichkeit, die zuvor geherrscht hatte, war verschwunden. Vergeblich ließ man Bertrand, den großen Hund, herein, der um ein Stückchen Zucker wedelte und sich dann in der Nähe des Ofens niederlegte, wo er bald darauf schnarchte wie ein Mensch. Seit dem Gespräch über Fagerolles herrschten langanhaltende Pausen. Eine gewisse gereizte Langeweile brütete, es wurde stark geraucht. Gagnière aber verließ plötzlich den Tisch und setzte sich ans Piano, wo er dilettantisch, mit ungelenken Fingern, ein Dreißiger, der noch seine ersten Übungen in den Tonleitern machte, halblaut einige Stellen aus Wagner stümperte.

Gegen elf Uhr traf endlich auch Dubuche ein. Seine Ankunft gestaltete das Zusammensein erst noch vollends frostig. Er hatte sich, weil er den alten Kameraden gegenüber das erfüllen wollte, was er noch einmal für seine Pflicht hielt, von einem Ball freigemacht. Sein Anzug, seine weiße Krawatte, sein dickes, bleiches Gesicht drückten gleichzeitig aus, wie ungern er gekommen war, die Wichtigkeit, die er diesem Opfer beimaß, und die Sorge, er könnte seiner neuen Karriere schaden. Er vermied es, seine Frau zu erwähnen, um nicht genötigt zu sein, sie bei Sandoz einzuführen. Als er Claude, etwa so, als hätten sie sich erst gestern gesehen, die Hand gedrückt hatte, lehnte er eine Tasse ab und sprach langsam, mit aufgeblasenen Backen, von den Verdrießlichkeiten, die ihm die Einrichtung seines neuen Hauses machte, das er trocken zu wohnen hatte, von der Arbeit, mit der er überbürdet war, seit er die Bauten seines Schwiegervaters, eine ganze neue Straße in der Nähe des Parkes Monceau, leitete.

Jetzt hatte Claude deutlich das Gefühl, daß hier etwas auseinanderging. Und so hatte das Leben also doch die schönen Abende von ehedem zerstört; trotz all ihrer brüderlichen Gesinnung, ihrer leidenschaftlichen Diskussionen. Jene Abende, an denen nichts sie voneinander geschieden, keiner von ihnen bloß so an einen eigenen Ruhm gedacht hatte! Heute begann der Kampf, jeder reckte sich gierig nach der eigenen Beute. Der Riß war da; der kaum bemerkbare Riß, der die alte, treue Freundschaft spaltete und der sie eines Tages in tausend Stücke zersprengen würde.

Sandoz aber nahm in seinem Bedürfnis, alles in seinem dauernden Bestand zu halten, noch immer nichts davon wahr, sah sie alle noch so wie in der Rue d'Enfer Arm in Arm demselben Sieg zustreben. Warum sollte sich das, was doch so schön war, ändern? Bestand das Glück nicht darin, eine Freude von allen anderen auszuwählen und dauernd ihrer froh zu werden? Eine Stunde später, als die Freunde, von dem kalten Egoismus des endlos von seinen eigenen Angelegenheiten redenden Dubuche ermüdet, sich endlich, nachdem man den an das Piano wie gebannten Gagnière diesem entrissen hatte, zum Aufbruch rüsteten, wollten Sandoz und seine Frau ungeachtet der Nachtkühle sie durchaus bis zum Ausgang des Gartens begleiten. Er schüttelte ihnen allen die Hand und rief:

»Auf Donnerstag, Claude!... Auf Donnerstag, ihr alle! ... Nicht? Ihr kommt alle?«

»Auf Donnerstag!« wiederholte Henriette, die die Laterne ergriffen hatte und emporhielt, um die Stufen bei der Gittertür zu beleuchten.

Unter allgemeinem Lachen antworteten Gagnière und Mahoudeau scherzend:

»Auf Donnerstag, junge Meisterin! ... Gute Nacht, junger Meister!«

Draußen, in der Rue Nollet, rief Dubuche sogleich einen Fiaker an, der mit ihm davonfuhr. Die vier anderen schritten fast ohne ein Wort zu wechseln von dem langen Zusammensein ermüdet miteinander bis zum äußeren Boulevard. Als hier ein Mädchen vorbeikam, stürzte Jory, unter dem Vorwand, er habe für seine Zeitung noch Korrektur zu lesen, hinter ihr her. Als dann aber Gagnière Claude beim Café Baudequin, das noch Licht hatte, anhielt, wollte Mahoudeau nicht einkehren und ging mit seinen trüben Gedanken allein bis zur Rue du Cherche-Midi weiter.

Ohne es eigentlich zu wollen, fand sich Claude dem schweigenden Gagnière gegenüber an ihrem alten Tisch. Sie hatten das Café noch nicht gewechselt; noch immer kamen sie Sonntags hier zusammen. Seit Sandoz im Viertel wohnte, bevorzugten sie es sogar noch mehr. Doch ihr Kreis verlor sich jetzt in der Flut der Neuhinzugekommenen und wurde von der zunehmenden Banalität der Pleinairschüler überwuchert. Übrigens leerte sich das Café um diese Stunde. Drei junge Maler, die Claude nicht kannte, kamen, als sie das Lokal verließen, zu ihm hin und drückten ihm die Hand. Sonst war nur noch ein über seinem Glas eingeschlummerter Kleinrentner aus der Nachbarschaft da.

Gagnière, der sich ganz zu Hause fühlte, blickte, ohne sich um das Gähnen des einzigen Kellners, der sich noch schläfrig in seiner Ecke herumräkelte, zu kümmern, Claude, ohne ihn zu sehen, mit verloren träumenden Augen an.

»Was erklärtest du denn übrigens da heut abend Mahoudeau?« fragte der letztere. »Ah ja! Eine rote Fahne gewinnt gegen das Blau des Himmels einen bräunlichen Ton ... Du studierst also die Lehre von den Komplementärfarben?«

Doch der andere antwortete nicht. Er nahm seinen Schoppen, setzte ihn, ohne getrunken zu haben, wieder hin und flüsterte schließlich mit einem verzückten Lächeln:

»Haydn ist die rhetorische Grazie, eine kleine, zirpende Musik gepuderter Großmütterchen ... Mozart ist das bahnbrechende Genie, der erste, der dem Orchester eine individuelle Sprache gab ... Sie leben aber weiter, weil sie Beethoven gemacht haben ... Ah, Beethoven! Die Macht, die Kraft des hehren Schmerzes! Michelangelo im Grabmal der Medici! Ein heroischer Logiker, einer der sich der Gehirne bemächtigte; denn alle Großen von heute sind von seinen Symphonien mit Chören ausgegangen!«

Der Kellner, der zu müde war, wollte nicht mehr warten und fing mit schläfriger Hand und schleppendem Schritt an, das Gaslicht auszudrehen. Eine melancholische Stimmung bemächtigte sich des großen Saales, der voller Spuckflecke und Zigarrenstummel war und in dem der Dunst der von Bierresten beschmutzten Tische herrschte. Vom nachtstillen Boulevard drang nur noch das verlorene Grunzen eines Betrunkenen herein.

Gagnière aber, noch immer weit weg, spann seine Träume weiter.

»Weber schreitet in einer romantischen Landschaft, singt zwischen Trauerweiden und Eichen, die ihre Äste winden, die Ballade vom Tod ... Schubert folgt ihm im fahlen Mondglast an Silberseen hin ... Und dann Rossini, das Talent in Person, so heiter, so natürlich, so sorglos im Ausdruck, als ob er über alle Welt scherze. Er ist nicht mein Mann! Ah nein, gewiß nicht! Aber doch ist er in seinem Reichtum an Erfindung, in den mächtigen Wirkungen, die er mit der Häufung der Stimmen und der Wiederholung desselben Themas erzielt, so erstaunlich ... Aus diesen drei Meyerbeer, ein Kluger, der aus allem Profit zog, der in der Nachfolge Webers die Symphonie in die Oper verlegte und der unbewußten Formel Rossinis dramatischen Ausdruck verlieh. Oh, welch herrliches Brausen! Feudaler Pomp! Der militärische Mystizismus! Der Schauer der phantastischen Legenden! Der die Geschichte durchbrausende Schrei der Leidenschaft! Und seine Glücksgriffe! Die persönliche Sprache der Instrumente, das das Orchester symphonisch begleitende dramatische Rezitativ, der typische Satz, auf dem das ganze Werk sich aufbaut! ... Ein großer Mann! Ein sehr großer Mann!«

»Mein Herr, ich schließe!« sagte der Kellner.

Als Gagnière aber noch nicht einmal den Kopf nach ihm umwandte, ging er den noch immer über seinem Glase schlafenden Kleinrentner wecken.

»Ich schließe, mein Herr!«

Der Gast erwachte, schüttelte sich fröstelnd und tastete in der dunklen Ecke, in der er saß, nach seinem Spazierstock. Als der Kellner ihn ihm unter den Stühlen hervorgeholt hatte, ging er.

»Berlioz hat die Literatur in die Musik gebracht. Er ist der musikalische Illustrator von Shakespeare, Vergil, Goethe. Und was für ein Maler! Der Delacroix der Musik, der die Töne im strahlenden Farbenkontrast hat aufflammen lassen. Dabei hat er, von der Romantik besessen, eine Religiosität, die ihn zu maßlosen Schwärmereien hinreißt. Er ist ein schlechter Opernkonstrukteur, hat aber bewunderungswürdige Einzelheiten, mutet manchmal dem Orchester zuviel zu, quält es, hat die individuelle Ausdrucksweise der Instrumente bis zum äußersten getrieben, deren jedes für ihn eine Person vorstellte. Ah, sein Wort über die Klarinette! ›Die Klarinette ist die geliebte Frau‹ ... Es hat mir immer einen süßen Schauer verursacht... Und Chopin mit seinem byronesken Dandytum, der begeisterte Dichter des Nervösen! Und Mendelssohn, der unfehlbare Ziseleur, Shakespeare in Ballschuhen, dessen Lieder ohne Worte die Kleinode der klugen Damen sind! ... Und dann, und dann ... Oh, davor muß man knien!«

Jetzt brannte nur noch die Gasflamme über seinem Kopf, und in der kalten, schwarzen Leere des Saales wartete hinter ihm der Kellner. Doch seine Stimme bekam einen religiösen Klang; er nahte jetzt seinem Allerheiligsten.

»Oh, Schumann! Die Verzweiflung, die Lust an der Verzweiflung! Ja, das Ende von allem, der letzte Sang mit seiner keuschen Trauer, über die Ruinen der Welt irrend! ... Oh, Wagner, der Gott, in dem sich die Jahrhunderte der Musik inkarnieren! Sein Werk ist eine unermeßliche Arche, alle Künste in einer, endlich das rein Menschliche in seinen Gestalten ausgedrückt! Das Orchester, das sein besonderes dramatisches Leben hat! Und wie er mit den Überlieferungen, dem Formenkram aufräumt! Wie seine revolutionäre Kunst sich über alle Grenzen hinaus befreit! ... Die ›Tannhäuser‹-Ouvertüre! Ah, sie ist das höchste Halleluja des neuen Jahrhunderts! Zuerst der Pilgerchor, das religiöse Motiv, ruhig, tief, ruhiger Pulsschlag! Dann die Stimmen der Sirenen, die ihn nach und nach übertönen; und dann, immer lauter und mächtiger, mit seinen lullenden Wonnen und Lüsten, sinnberückend der Sang der Venus! Doch bald erhebt sich wieder das Thema der Heiligkeit; stufenweise, wie ein Atmen des Raumes, das all dieser Sänge sich bemächtigt und sie in eine höchste Harmonie eint und auf den Fittichen einer Triumphhymne emporträgt!«

»Ich schließe, mein Herr!« wiederholte der Kellner.

Claude, der, auch seinerseits seinen Träumen hingegeben, nicht mehr zugehört hatte, leerte seinen Schoppen und sagte laut:

»He, Alter, es wird geschlossen!«

Gagnière fuhr auf. Sein verzücktes Gesicht zog sich schmerzlich zusammen; er hatte ein fröstelndes Zittern, als stürze er von einem Gestirn ab. Er stürzte sein Bier hinunter. Draußen drückte er schweigend dem Gefährten die Hand und verschwand im Dunklen.

Es war gegen zwei Uhr, als Claude heimkehrte. Seit einer Woche, so lange er wieder das Pariser Pflaster trat, war er jeden Abend so, fiebernd von den Eindrücken, die der Tag ihm gebracht, heimgekehrt. Doch noch nie so spät, mit so heißem, siedendem Kopf. Vor Müdigkeit überwältigt, schlief Christine, den Kopf auf dem Tisch neben der ausgegangenen Lampe.


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