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II

Es hatte Mittag geschlagen, Claude arbeitete an seinem Bild, als in vertraulich derber Weise angeklopft wurde. Mit einer instinktiven Bewegung ließ der Maler den Kopf Christinens, nach welchem er das Gesicht des großen Weibes auf seinem Bild umarbeitete, in eine Mappe gleiten. Dann entschloß er sich, zu öffnen.

»Pierre!« rief er. »Du schon?«

Pierre Sandoz, ein Jugendfreund von ihm, war ein Bursch von zweiundzwanzig Jahren, sehr braun, mit einem runden, eigensinnigen Kopf, einer eckigen Nase, sanften Augen, einer energischen, von einem angehenden Bartwuchs umrahmten Gesichtsform.

»Ich habe früher als sonst gefrühstückt«, wurde zur Antwort. »Ich wollte dir eine recht ausgiebige Sitzung geben ... Ah, Teufel! das rückt ja vorwärts!«

Er hatte sich vor das Gemälde gestellt und fügte sofort hinzu:

»Ah, du veränderst den Ausdruck des Weibes.«

Ein langes Schweigen blieb. Alle beide betrachteten unbeweglich das Bild. Es war eine Leinwand von fünf zu drei Metern. Es war schon ganz bemalt; doch hoben sich einige Stücke nur erst im ungefährsten Entwurf hervor. Dieser hingeworfene Entwurf zeigte eine prächtige Kraft und war in der Farbe feurig und lebensvoll. In eine von dicken, grünen Baumwänden eingeschlossene Waldlichtung fiel eine Flut von Sonnenlicht. Nur zur Linken bohrte sich eine tiefe Allee ein, die einen ganz fernen Lichtfleck hatte. Dort lag im Gras, mitten in der üppigen Junivegetation, einen Arm unterm Kopf, mit geschwellter Brust ein nacktes Weib. Ohne wohin zu blicken, die Lider geschlossen, lachte sie in den goldenen Lichtregen hinein, der sie badete. Im Hintergründe aber rangen lachend miteinander zwei andere, gleichfalls nackte Weiber, ein braunes und ein blondes, und gaben in all dem grünen Laub zwei köstliche Fleischtöne. Da der Maler im Vordergrund aber einen Gegensatz von Schwarz gebraucht hatte, hatte er sich einfach damit geholfen, daß er in das Bild einen in ein schlichtes schwarzes Sammetjackett gekleideten Herrn hineingesetzt hatte. Der Herr wandte einem den Rücken; man sah nichts als im Gras seine linke Hand, auf die er sich stützte.

»Das Weib kommt schon sehr schön raus«, sagte Sandoz endlich. »Aber, Wetter! Du wirst mit alldem ein gehöriges Stück Arbeit haben.«

Claude, dessen Augen flammend auf seinem Werk hafteten, hatte eine zuversichtliche Handbewegung.

»Bah! Ich hab' noch Zeit, bis es in die Ausstellung kommt. In sechs Monaten zwingt man's schon! Diesmal werd' ich ihnen vielleicht denn doch zeigen, daß ich kein Stümper bin.«

Ohne es zu sagen, war er von der Skizze, die er von Christines Kopf genommen, so entzückt und im übrigen so gehoben von einer jener großen Anwandlungen von Hoffnung, aus denen er dann infolge seiner leidenschaftlichen Natur um so grausamer in den Zweifel an seinem Künstlertum zurückfiel, daß er anfing, laut vor sich hin zu pfeifen.

»Vorwärts! Nicht gebummelt!« rief er. »Da du da bist, wollen wir anfangen.«

Aus Freundschaft und um ihm die Kosten für ein Modell zu ersparen, hatte Sandoz ihm angeboten, ihm für den Mann im Vordergrund Modell zu stehen. Er hatte nur Sonntag dafür frei, und in vier, fünf Sonntagen sollte die Figur fertig sein. Schon wollte er das Sammetjacket anziehen, als ihm plötzlich eine Überlegung kam.

»Sag' mal, da du ja arbeitest, hast du gewiß noch nicht ordentlich gefrühstückt ... Geh und iß ein Kotelett, ich warte solange.«

Doch der Gedanke, Zeit zu verlieren, brachte Claude auf.

»Aber gewiß doch hab' ich gefrühstückt, sieh doch die Kasserolle! ... Und da liegt sogar noch Brot, das ich im Notfall essen kann ... Los, los, Faulpelz!«

Hastig hatte er nach der Palette gegriffen, die Pinsel zupacken gekriegt und fügte hinzu:

»Dubuche holt uns heut abend ab, nicht wahr?«

»Ja, gegen fünf.«

»Na gut, dann gehen wir gleich dinieren ... Bist du bereit? Die Hand mehr nach links, den Kopf noch tiefer!«

Nachdem er die Kissen zurechtgelegt, hatte Sandoz sich auf der Chaiselongue eingerichtet und seinen Platz eingenommen. Er wandte den Rücken her, doch die Unterhaltung ging nichtsdestoweniger noch eine Weile weiter; denn er hatte heut morgen einen Brief aus Plassans erhalten, der kleinen provenzalischen Stadt, wo der Maler und er, seit sie im Kolleg die ersten Hosen durchgesessen, miteinander bekannt geworden waren. Dann schwiegen sie. Weltentrückt arbeitete der eine, während der andere, von seiner langen, bewegungslosen Haltung ermüdet, vor sich hindämmerte.

In seinem neunten Lebensjahr hatte sich Claude die günstige Gelegenheit geboten, Paris zu verlassen und in den Provinzwinkel, in dem er geboren, zurückkehren zu können. Seine Mutter, eine wackere Wäscherin, die von ihrem Tunichtgut von Mann im Stich gelassen worden war, hatte nämlich einen braven Arbeiter geheiratet, der sich närrisch in die hübsche Blondine verliebt hatte. Doch so unverdrossen sie schafften, hatte es ihnen nicht glücken wollen, voranzukommen. Und so waren sie mit großer Freude darauf eingegangen, als ein alter Herr ihnen angeboten hatte, Claude bei sich aufzunehmen und ihn aufs Kolleg zu schicken. Er war ein Original, ein Kunstliebhaber gewesen, und es hatte sich bei ihm um solch eine edelherzige Schrulle gehandelt; die Männchen, die der Kleine damals so hingekritzelt hatte, hatten ihm gefallen. So war Claude sieben Jahre lang, bis zur Unterprima, im Süden geblieben, zuerst als Pensionär, dann außerhalb des Kollegs bei seinem Beschützer. Eines Morgens hatte man den letzteren vom Schlag getroffen tot auf seinem Bett liegen gefunden. Er hatte dem jungen Menschen, mit der Bestimmung, daß dieser im Alter von fünfundzwanzig Jahren frei über das Kapital verfügen könnte, testamentarisch eine Rente von tausend Franken ausgesetzt. Claude hatte, schon damals fieberhaft für die Malerei begeistert, sofort, ohne erst das Bakkalaureat zu erwerben, das Kolleg verlassen Und war nach Paris geeilt, wohin ihm sein Freund Sandoz bereits vorausgegangen war.

Im Kolleg von Plassans waren Claude Lantier, Pierre Sandoz und Louis Dubuche in der Prima die drei Unzertrennlichen genannt worden. Aus verschiedenen Gegenden stammend, auch ihrem Wesen nach verschieden geartet, nur in demselben Jahr, bloß ein paar Monate auseinander, geboren, hatten sie sich auf Grund einer verwandten inneren Anlage, des Stachels eines ihnen noch unbewußten inneren Ehrgeizes und ihrer erwachenden höheren Intelligenz, inmitten des rohen Schwarmes der abscheulichen Flegel, von denen sie geschlagen wurden, sofort und für immer zusammengeschlossen. Sandoz' Vater, ein wegen einer politischen Verwicklung nach Frankreich geflüchteter Spanier, hatte unweit Plassans eine Papiermühle gegründet, in der neue, von ihm erfundene Maschinen arbeiteten. Infolge der Böswilligkeit der Einwohnerschaft war er dann, von Kummer und Herzeleid aufgerieben, gestorben und hatte seine Witwe in einer so schwierigen Lage zurückgelassen und in einer Folge von so verwickelten Prozessen, daß ihr ganzes Vermögen draufgegangen war. So war Sandoz' Mutter, eine geborene Burgunderin, den Provenzalen, denen sie Schuld an einer schleichenden Lähmung gab, an der sie litt, grollend, mit ihrem Sohn nach Paris geflohen, der sie, den Kopf voll literarischer Ruhmesträume, hier von den Einkünften einer bescheidenen Anstellung durchbrachte. Was Dubuche, den ältesten Sohn einer Plassanser Bäckerin, anbetraf, so war er, von seiner sehr strengen, ehrgeizigen Mutter angespornt, später den Freunden nachgekommen und besuchte als Architekt die Akademie. Er lebte schlecht und recht von den kärglichen hundert Sous, die seine Eltern ihm aussetzten, wobei sie mit dem versessenen Geiz von Juden seine Zukunft mit dreihundert Prozent diskontierten.

»Gottswetter!« murmelte Sandoz in das herrschende Schweigen hinein. »Deine Pose ist nicht gerade bequem; sie zerbricht mir jedes Gelenk ... Darf man sich nicht ein bißchen bewegen?«

Ohne zu antworten, ließ Claude ihn sich recken. Er war bei dem Sammetjackett, das er mit forschen Pinselstrichen bearbeitete. Er bog sich jetzt zurück, blinzelte und brach, von einer plötzlichen Erinnerung belustigt, in ein lautes Lachen aus.

»Weißt du noch, wie in der Tertia eines Tages Pouillaud im Schrank des Trottels Lalubie Kerzen ansteckte? Der Schreck, wie Lalubie, eh' er auf sein Katheder 'naufklomm, seinen Schrank öffnete, seine Bücher 'rausnehmen wollte und die strahlende Kapelle sah! ... Die ganze Klasse bekam fünfhundert Verse aufgebrummt.«

Von der Heiterkeit des Freundes angesteckt, hatte Sandoz sich auf der Chaiselongue herumgewandt. Er nahm jetzt seine Haltung wieder ein und sagte:

»Ah, das Vieh von Pouillaud! ... Weißt du, in dem Brief, den er mir heut morgen schrieb, zeigt er mir gerade an, daß Lalubie sich verheiratet hat. Der alte Waschlappen von Professor nimmt sich noch ein hübsches, junges Mädchen. Übrigens kennst du sie ja, die Tochter von Gallisard, dem Kurzwarenhändler, die kleine Blonde, der wir Ständchen brachten.«

Die Erinnerungen waren im Gange. Claude und Sandoz fanden kein Ende, wobei der eine wie gepeitscht, mit wachsendem Fiebereifer malte, während dem anderen, der, das Gesicht gegen die Wand, ihm den Rücken zukehrte, im Eifer des Erzählens die Schultern zuckten.

Zuerst war's das Kolleg, von dem sie redeten, das alte, schimmlige Kloster, das bis an die Festungswälle heranreichte, mit seinen beiden, von riesigen Platanen bestandenen Höfen, seinem schlammigen, grünbemoosten Wasserbassin, in dem sie schwimmen gelernt hatten. Und die im unteren Stock gelegenen Klassen mit ihren von Feuchtigkeit triefenden getünchten Wänden. Der Speiseraum, in dem es fortwährend nach fettigem Abwaschwasser roch. Der durch seine Scheußlichkeit berühmte Schlafsaal der Kleinen, die Wäschekammer, der Krankensaal mit seinen angenehmen, schwarzgekleideten frommen Schwestern, die unter ihren weißen Hauben so sanft aussahen! Was für ein Spektakel war's gewesen, als Schwester Angelika, deren Madonnengesicht die Großen so außer Rand und Band gebracht hatte, eines schönen Morgens mit Hermelin, dem dicken Primaner, durchgegangen war, der sich einst aus Liebe mit dem Taschenmesser die Hände zerschnitten hatte, daß er zu ihr hatte hinaufgehen und sie ihm Englischpflaster hatte auflegen können!

Und dann mußte das ganze Personal defilieren, eine kläglich-grotesk-schreckliche Kavalkade von bösartigen und leidenden Profilen. Der Direktor, der sich mit Gesellschaften ruinierte, die er gab, um seine Töchter zu verheiraten, zwei große, schöne, elegante Mädchen, deren Konterfeis mit ausbündigen Unterschriften drunter alle Wände bedeckten. Der Studieninspektor Pifard, dessen gewaltige Nase, wie eine Schlange, sich hinter allen Türen herumdrückte und seine Gegenwart schon von weitem verriet. Die Schar der Professoren, von denen jeder seinen Spitznamen auf dem Halse hatte: der strenge »Rhadamantys«, der niemals gelacht hatte; der »Schmutzbartel«, der das Katheder, an dem er beständig seinen Kopf rieb, mit seinem schwarzen Haar schmierig machte; »Adele, du betrügst mich«, der Physiklehrer, ein notorischer Hahnrei, welchem zehn Generationen von Bengeln den Namen seiner Frau nachriefen, von der es hieß, daß sie einst in den Armen eines Schweren Kavalleristen überrascht worden sei. Und wie viele andere noch! »Spontini«, der wilde Repetent, mit seinem vom Blute dreier Vettern befleckten korsischen Messer, das er herumzeigte; der kleine »Wachtelschlag«, der ein so guter Kerl war, daß er auf den Spaziergängen das Rauchen erlaubte. Und so weiter, bis zu einem Küchenjungen und einer Geschirrwäscherin, zwei Scheusalen, die man »Paraboulomenos« und »Paralleluca« getauft hatte und eines Liebesidylles zwischen den Küchenabfällen beschuldigte.

Dann kamen die Streiche an die Reihe, beschworen sie mit einemmal die lustigen Eulenspiegeleien herauf, über die man sich noch nach Jahren wand vor Lachen. Oh, der Morgen, wo sie im Ofen die Schuhe von »Mimi, dem Tod«, auch das »externe Skelett« genannt, verbrannt hatten! Ein dürrer Bursch war er gewesen, der immer Schnupftabak in die Klasse hereingepascht hatte! Und jener Winterabend, wo sie in der Kapelle neben der ewigen Lampe Zündhölzer gestohlen hatten, um getrocknete Kastanienblätter aus Schilfrohrpfeifen zu rauchen! Sandoz, der den Streich verbrochen hatte, gestand heute seinen damaligen Schrecken und den Angstschweiß, den er geschwitzt hatte, als er im Dunklen Hals über Kopf den Chor 'runtergerannt war. Und jener Tag, wo Claude die famose Idee gehabt hatte, in seinem Pulte Maikäfer zu rösten, um zu sehen, ob sie so gut schmeckten, wie es hieß! Und wie dann ein so schrecklicher Gestank und ein so dicker Qualm aus dem Pult heraus sich verbreitet hatte, daß der Pauker, in der Meinung, es brenne, nach dem Wasserkrug gegriffen hatte. Und gelegentlich der Spaziergänge die Einbrüche in die Zwiebelfelder. Und wie sie mit Steinen nach den Fensterscheiben geschmissen hatten, wobei es darauf angekommen war, daß die Brüche eine Landkarte bildeten. Und wie sie mit großen Buchstaben die Aufgaben im Griechischen vorher auf die schwarze Tafel geschrieben, und alle Bengels, ohne daß der Professor was gemerkt, sie geläufig abgelesen hatten. Und wie sie die auf dem Hofe stehenden Bänke abgesägt und wie Leichname Erschlagener in langem Zuge unter Trauergesängen um das Wasserbassin herumgetragen hatten. Ach ja, das war eine berühmte Geschichte geworden! Denn Dubuche, der den Geistlichen machte, war, als er mit seiner Mütze, die den Weihkessel vorstellen sollte, hatte Wasser schöpfen wollen, hineingefallen. Das Allerschönste und Drolligste aber war gewesen, als Pouillaud eines Nachts im Schlafsaal alle Nachttöpfe an eine unter den Betten durchgehende Schnur gebunden und dann am Morgen, es hatten gerade die großen Ferien angefangen, über den Korridor und die drei Treppen hinuntergeflohen war und den furchtbaren Porzellanschwanz, der in Scherben hinter ihm hergesprungen und -geflogen war, mit sich gezogen hatte!

Claude lachte, den Pinsel in der Luft, aus vollem Halse und schrie:

»Das Aas von Pouillaud! ... Er hat dir also geschrieben? Und was gibt er jetzt an?«

»Gar nichts, Alter!« antwortete Sandoz, der sich wieder zurechtsetzte. »Sein Brief ist vollkommen stumpfsinnig! ... Er beendet sein Rechtsstudium, will dann die Advokatur seines Vaters übernehmen. Und wenn du den Ton sähest, den er schon angenommen hat! Der stumpfsinnigste, rangierteste Spießerjargon!«

Von neuem herrschte Schweigen. Dann fügte er hinzu:

»Ja wir, mein Alter, siehst du, wir waren eben andere Kerls.«

Dann stellten sich andere Erinnerungen ein, die ihnen die Herzen höherschlagen machten. Die Erinnerungen an die schönen Tage, die sie da unten außerhalb des Kollegs in freier Luft und Sonnenschein miteinander verbracht hatten. Schon in der untersten Klasse, als Kleine, hatten die drei Unzertrennlichen sich für weite Spaziergänge begeistert. Die geringste Freizeit hatten sie benutzt und waren meilenweit gewandert. Als sie dann aber schon größer waren, hatten sie frisch drauflos oft tagelange Märsche unternommen. Und sie hatten dann auf gut Glück unterwegs in irgendeiner Höhle übernachtet oder sich ein molliges Lager auf ausgedroschenem Stroh oder in irgendeiner kleinen verlassenen Hütte zurechtgemacht, auf deren Boden sie sich eine Schütte aus Thymian und Lavendel gebreitet hatten. So waren sie, hingenommen von der schönen, freien Natur, der Welt weit entflohen, hatten in unbewußt kindlicher Lust ihr Gefallen an Baum, Gewässer, Berg gehabt und die grenzenlose Freude genossen, für sich allein und frei zu sein.

Dubuche, der Pensionär des Kollegs gewesen war, hatte sich den beiden anderen nur in den Ferien anschließen können. Auch war er nicht gut zu Fuß, sondern als Musterschüler trag und schwerfällig gewesen. Um so unermüdlicher waren aber Claude und Sandoz. Jeden Sonntag kamen sie schon vier Uhr morgens und warfen, um einander zu wecken, Kiesel gegen die Fensterjalousien. Im Sommer ergingen sie sich an dem Ufer der Viorne, eines Sturzbaches, dessen schmales Band die flachen Wiesen von Plassans bewässert. Sie waren kaum zwölf Jahre alt, als sie schon schwimmen konnten. Ganz versessen waren sie darauf, in den Löchern, wo das Wasser sich staute, ganze Tage lang nackt herumzuwaten, auf dem heißen Sande sich trocknen zu lassen und dann bis über die Ohren wieder hineinzutauchen, im Fluß bald auf dem Rücken, bald auf dem Bauche schwimmend ihr Wesen zu treiben, die Kräuter am Ufer hin zu durchstöbern und stundenlang die Schlupfwinkel der Aale zu belauern. Das klare Wasser, das im hellen Sonnenschein an ihnen herabtroff, kräftigte ihre Jugend, und von ihm erfrischt, lachten sie, auch später als junge Männer noch, wenn sie in den ermüdenden Gluten der Juliabende zur Stadt zurückkehrten wie entlaufene Kinder. Später hatten sie's mit dem Jagdeifer. Doch handelte es sich um eine Jagd, wie man sie in diesem an Wild armen Lande eben treibt, wo man sechs Meilen machte, um ein halbes Dutzend Baumpieper zu erlegen, und von beträchtlichen Touren oft mit leeren Jagdtaschen zurückkehrte, höchstens mit einer unvorsichtigen Fledermaus drin, die sie, wenn sie vor der Stadt ihre Gewehre entluden, abschössen. Die Augen wurden ihnen feucht, als sie dieser Wanderfreuden gedachten. Sie sahen die endlosen, weißen, mit dickem, wie gefallener Schnee wirkendem Staub bedeckten Landstraßen wieder vor sich; und sie marschierten auf ihnen vorwärts und immer vorwärts und freuten sich über das stapfende Geräusch ihrer derben Schuhe. Sie rannten querfeldein, weiter und immer weiter über die roten, eisenhaltigen Feldschollen weg. Über ihnen ein bleierner Himmel, kein Schatten, nichts als junge Oliven- und Mandelbäume mit dürftigem Laub. Und wenn sie dann heimkehrten, die köstliche Müdigkeit jedesmal, die prahlerisch triumphierende Genugtuung, daß sie diesmal noch weiter marschiert waren als das letztemal, das Entzücken, nicht mehr zu fühlen, wie man ging, sondern immer nur so im Zug weiterzumarschieren, indem man sich mit irgendeinem fürchterlichen Soldatenlied aufmuntert und in wiegenden Traum singt.

Schon damals trug Claude außer seinem Pulverhorn und der Zündhütchenschachtel ein Skizzenbuch bei sich, in das hinein er Stücke der Landschaft zeichnete, während Sandoz immer das Buch eines Dichters mithatte. Es war ein romantischer Überschwang, in welchem sie geflügelte Strophen mit Soldatenzoten wechseln ließen und Oden in die heiße, lichtgleißende Landschaft hineinschickten. Als sie gelegentlich aber einen Quell mit vier Weiden, die ihr Grau in das sonnengrelle Gelände hineinsetzten, aufgestöbert hatten, vergaßen sie sich dort, bis die Sterne am Himmel aufblinkten, und spielten sich Dramen vor, die sie auswendig wußten, mit schwülstig machtvollem Tonfall für die Helden, und mit zarter, verhalten flötender Stimme für die Königinnen und Naiven. An solchen Tagen hatten die Spatzen vor ihnen Ruhe. So hatten sie in der weltfernen Provinz seit ihrem vierzehnten Jahr, enthusiastisch für Kunst und Literatur begeistert, für sich allein dahingelebt. Der gewaltige Pomp Viktor Hugos, seine riesenhaften Phantasien mit ihrem epischen Schwung, die sich in einem fortwährenden Widerstreit von Gegensätzen bewegen, hatten sie vor allem hingerissen. Unter Gestikulationen hatten sie die Sonne hinter Ruinen untergehen, hatten das Leben erhaben unter einer falschen Fünfteaktschluß-Beleuchtung an sich vorüberziehen sehen. Dann war Musset gekommen und hatte sie mit seinen Leidenschaften und Tränen erschüttert. Sie hatten in ihm ihr eigenes Herz schlagen hören; eine menschlichere Welt hatte sich ihnen offenbart, die sie von der Seite des Mitleids her gewann und mit dem ewigen Schrei des Elends, den sie von da an aus allen Dingen hervorhören sollten. Im übrigen war ihr schöner, jugendlicher Heißhunger und ihr wütender Leseeifer wenig wählerisch, und sie verschlangen Gutes wie Schlechtes mit einer solchen Gier nach Bewunderung, daß ein erbärmliches Machwerk sie oft in dieselbe Begeisterung versetzte wie ein reines Meisterwerk.

Es war aber, wie Sandoz es heute aussprach, diese Liebe für weite Wanderungen, und es war dieser Heißhunger auf Lektüre gewesen, die sie vor ihrer unwiderstehlich erschlaffenden Umgebung geschützt hatten. Nie hatten sie ein Cafe besucht. Das Herumtreiben auf den Gassen widerstand ihnen, und sie taten, als wenn sie wie Adler in Käfigen ersticken müßten, wenn ihre Kameraden ihre Schülerärmel schon auf den Marmortischen scheuerten und sich am Kartenspiel ergötzten. Dies Provinzleben, das die Jugend schon so frühzeitig in seinen Göpel zog, die Gewohnheit des Klubs, die bis auf die Inserate durchbuchstabierte Zeitung, das unaufhörliche Dominospiel, der gleiche Spaziergang zur gleichen Zeit auf der gleichen Straße, die schließliche Abstumpfung der ewig gleichen, das Gehirn platt schürfenden Tretmühle widerstand ihnen. Sie protestierten gegen dies Leben, indem sie die weltverlorene Einsamkeit der benachbarten Hügel erstiegen und, oft mitten im strömenden Regen, ihren Haß gegen die Stadt in Versen daherdeklamierten. Sie nahmen sich vor, am Ufer der Viorne zu kampieren, die Freude eines beständigen Bades zu genießen und mit fünf, sechs Franken zu leben; denn nicht mehr als soviel hielten sie für ihre Bedürfnisse für ausreichend. Selbst das andere Geschlecht galt ihnen nichts. Ihre Schüchternheit und Unbeholfenheit ihm gegenüber galt ihnen für eine strenge Tugend, mit der sich ihre höhere Natur bekundete. Zwei Jahre lang hatte Claude sich mit einer Neigung für ein Hutmacherlehrmädchen getragen, dem er jeden Abend von weitem nachging; doch niemals hatte er den Mut vermocht, ein Wort an sie zu richten. Sandoz gab sich Träumen von Damen hin, die er auf der Wanderung traf, wunderbar schönen Mädchen, die, plötzlich in einem märchenhaften Wald aufgetaucht, sich ihm für einen Tag hingaben und dann schattengleich in die Abenddämmerung hinein entschwanden. Ihr einziges Liebesabenteuer ergötzte sie noch heute, so dumm kam es ihnen vor. Zu jener Zeit, als sie bei der Musikkapelle des Kollegs mitgewirkt, hatten sie zwei kleinen Fräuleins Ständchen gebracht, hatten Nächte hindurch unterm Fenster auf der Klarinette und dem Piston gespielt und die Bürger des Viertels durch ihre greulichen Mißtöne dermaßen aufgebracht, daß eines denkwürdigen Abends die empörten Eltern die Wassertöpfe der Familie auf sie herunter entleert hatten.

Ach, war's eine schöne Zeit gewesen! Die geringste Erinnerung erregte ihnen ein wehmütiges Lachen. Es traf sich gerade, daß die Wände des Ateliers mit einer Folge von Skizzen bedeckt waren, die der Maler vor kurzem gelegentlich einer Reise in die Heimat angefertigt hatte. Es war, als hätten sie das damalige Gelände um sich her gehabt, den glühend blauen Himmel über dem roten Feld. Hier weitete sich mit dem graugrünen Krauswerk kleiner Ölbäume eine Ebene gegen die rosigen Umrisse benachbarter Hügel hin. Und hier zog sich halbversiegt, zwischen verdörrten, rostfarbenen Hügeln, unter dem Bogen einer alten, dick bestaubten Brücke träge das Wasser der Viorne hin, ihre Ufer mit verdorrtem Gestrüpp bestanden. Weiter hin öffnete die Schlucht der Internets ihren klaffenden Einschnitt, ein ungeheures Chaos, eine wüste Einöde mit endlos ergossenen Geröllwellen. Dann allerhand vertraute Stellen: das Tal Repentance, so eng, so schattig, so frisch wie ein Blumenstrauß zwischen den verdorrten Gefilden; das Gehölz der Trois-Bons-Dieux, dessen dunkelgrüne glänzige Tannen in der grellen Sonne von Harz tropften; der Jas de Bouffan, der weiß wie eine Moschee inmitten der weiten Landschaft wie in einem blutroten Sumpf stand; und andere und noch andere Stellen; blendendweiße Landstraßenenden mit ihren Windungen, Hohlwege, aus deren Steingeröll die Sonnenglut wie aus einer verbrannten Haut Blasen zu ziehen schien; dürre Sandzungen, die Tropfen für Tropfen den Fluß vollends aufsogen; Maulwurfslöcher, Ziegensteige, Bergzipfel in den Azur hinein.

»Halt mal!« rief Sandoz, einer der Studien zugewandt. »Was ist denn das da?«

Entrüstet schwang Claude seine Palette.

»Wie! Das weißt du nicht mehr? ... Haben wir uns doch hier mal fast Hals und Beine gebrochen. Du weißt doch: an dem Tage, wo wir mit Dubuche von Jaumegarde aus hinaufgestiegen sind. Der Fels war glatt wie 'ne Hand; wir krallten uns mit den Nägeln fest. Und gerade in der Mitte saßen wir fest und konnten nicht vorwärts und nicht rückwärts ... Und dann oben, wo wir uns, als wir unsere Koteletts rösten wollten, du und ich, bei einem Haar prügelten?«

Jetzt erinnerte sich Sandoz.

»Ah ja, ah ja! Jeder briet das seine auf Rosmarinruten, und als mein Kotelett sich in Kohle verwandelte, lachtest du darüber, und ich geriet außer mir.«

Sie schüttelten sich vor Lachen. Dann machte sich der Maler aber wieder an sein Bild und schloß ab:

»Damit ist's vorbei, mein Alter! Jetzt gilt's hier arbeiten.«

Und das verhielt sich wahrhaftig so. Denn seit die drei Unzertrennlichen ihren Traum, sich in Paris wieder zusammenzufinden und es zu erobern, verwirklicht hatten, hatte sich ihre Existenz zu einer sehr harten gestaltet. Sie hatten zwar versucht, ihre weiten Wanderungen von damals wieder aufzunehmen, waren an manchen Sonntagen zu Fuß nach Fontainebleau aufgebrochen, hatten das Gehölz von Verrieres durchstreift und einen Vorstoß bis Bièvre gemacht, das Gehölz von Bellevue und Meudon durchwandert und waren dann über Grenelle zurückgekehrt: aber dann hatten sie Paris beschuldigt, daß es ihnen müde Beine mache, und hatten es, ganz ihrem Lebenskampf hingegeben, nicht mehr verlassen.

Vom Montag bis Sonnabend rackerte sich Sandoz in einem düsteren Winkel des Bureaus für die Geburtsanmeldungen der Mairie des fünften Arrondissements ab, hier durch die Rücksicht auf seine Mutter festgebannt, die er mit seinen hundertundfünfzig Franken schlecht und recht durchbrachte. Dubuche aber, den es drängte, seinen Eltern die Zinsen des für sein Studium angewandten Geldes zurückzuerstatten, verrichtete neben der Akademie noch Arbeiten bei einem Architekten. Claude für sein Teil genoß dank seiner tausend Franken Rente seine Freiheit. Aber was für schlimme Monatsenden hatte er durchzumachen, besonders wenn er das Seine mit den Freunden geteilt hatte! Glücklicherweise hatte er angefangen, kleine Bilder an den Vater Malgras, einen gerissenen Kunsthändler, abzusetzen, der ihm zehn bis zwölf Franken dafür gab. Im übrigen wäre er lieber verhungert, als daß er sich auf den Broterwerb, die Fabrikation von Spießbürgerporträts, von Heiligenbildern geringerer Güte oder von Rouleaus für Restaurateure und Aushängeschilder für kluge Frauen verlegt hätte. Zuerst hatte er nach seiner Rückkehr in der Sackgasse Bourdonnais ein sehr großes Atelier gehabt; dann war er aber aus Sparsamkeitsrücksichten nach dem Quai Bourbon gezogen. Hier lebte er wie ein Wilder, mit der vollkommensten Geringschätzung gegen alles, was nicht Malerei war. Mit seiner Familie, die er verabscheute, war er auseinander. Auch mit einer Tante, die in den Hallen mit Fleischwaren handelte, hatte er gebrochen, weil sie sich's zu gut gehen ließ. Eins nur saß ihm wie eine heimliche Wunde im Herzen: der Untergang seiner Mutter, die von gewissen Männern um alles gebracht, und in die Gosse gedrängt wurde.

Plötzlich rief er Sandoz zu:

»Eh, hör mal! Sacke dich nicht so zusammen!«

Doch Sandoz erklärte, daß er steif würde, und sprang von der Chaiselongue auf, um sich die Beine auszutreten. Zehn Minuten ruhten sie sich aus und sprachen von etwas anderem. Claude zeigte sich entgegenkommend. Er, der, sobald er merkte, daß die Wiedergabe der Natur ihm nicht gelingen wollte, mit zusammengebissenen Zähnen, wütend, ohne inneren Schwung malte, fing, wenn er mit der Arbeit vorankam, immer mehr Feuer und wurde lebhaft gesprächig. Und so malte er denn auch, sobald der Freund seine Pose wieder aufgenommen hatte, in einem Zug, ohne auch nur einen Pinselstrich zu verlieren, flott weiter.

»He, mein Alter, das kommt voran! Du hast einen famosen Schmiß hier ... Ah, wenn die Trottel mir das Bild etwa zurückweisen sollten! Ich bin gegen mich selber gewiß strenger als sie. Wenn ich mir selber ein Bild gelten lasse, siehst du, so will das mehr besagen, als wenn es von allen Jurys der Welt geprüft worden wäre ... Du weißt ja, mein Hallenbild, meine beiden Jungen auf dem Gemüsehaufen: na ja, ich hatte es vernichtet; gewiß, ich hatte mich da auf eine verwünschte Geschichte eingelassen, der ich noch nicht gewachsen war. Oh, wenn ich erst so weit bin, will ich's mir eines schönen Tages schon wieder aufnehmen. Und noch ganz anderes werd' ich machen. Oh, Sachen, daß alle vor Erstaunen auf den Rücken fallen sollen!«

Er machte eine weite Handbewegung, als fege er eine ganze Menschenmenge beiseite. Er leerte eine Tube Blau auf die Palette, und dann meinte er lachend, was für ein Gesicht seiner Malerei gegenüber wohl sein erster Lehrer, der Vater Belloque, machen würde, ein alter, einarmiger Kapitän, der den Jungen von Plassans schöne Schraffierungen beigebracht hatte. Hatte ihm übrigens in Paris Berthou, der berühmte Maler des »Nero im Zirkus«, dessen Atelier er sechs Monate besucht hatte, nicht zehn- für einmal wiederholt, daß niemals etwas aus ihm werden würde? Ach, wie er heute diese sechs Monate stumpfsinniger Tasterei und kindischer Übungen unter der Fuchtel eines Biedermannes, dessen Schädel so ganz anders veranlagt war als der seine, bedauerte! Und dann erging er sich über die Art und Weise, wie im Louvre gearbeitet wurde. Er würde sich, sagte er, eher die Hand abhacken, als daß er noch einmal dahin zurückginge und sich den Blick mit Kopien verdürbe, die einem bloß den für die Welt, in der man lebte, trübte. Gab's in der Kunst denn etwas anderes als die Herausstellung dessen, was man innerlich lebte? Lief denn nicht alles darauf hinaus, ein halbweges Weib vor sich hinzustellen und es dann wiederzugeben, wie man es da vor sich sah? War ein Bündel Karotten, jawohl, ein Bündel Karotten, nach der Natur studiert und ganz unbefangen hingemalt, in der persönlichen Note, wie man es sah, nicht mehr wert als die ewigen Schinken der Akademie, diese Pinseleien mit ihren schicken, schmählich nach dem Küchenrezept zurechtgemachten Saucen? Der Tag nahte, wo eine einzige richtige Karotte eine ganze Umwälzung in der Kunst hervorrufen würde. Und darum sagte es ihm jetzt auch zu, im Atelier Boutin, einem freien Atelier, zu malen, das ein ehemaliges Modell in der Rue de la Huchette hielt. Hatte er seine zwanzig Franken gegeben, so fand er dort nackte Männer und Weiber genug, um in seinem Winkel nach Herzenslust draufloszumalen. Da ging er drin auf, vergaß Essen und Trinken, rang, auf seine Arbeit versessen, mit der Natur, trotz aller Goldsöhne, die ihn einen unwissenden Faulpelz nannten und sich was auf ihre Studien einbildeten, weil sie unter Aufsicht ihres Lehrers Nasen und Münder kopierten.

»Höre, Alter! Wenn einer von den Jungens einen Körper so wie den da zustande gebracht hat, so soll er 'raufkommen und ihn mir zeigen, und dann wollen wir weiter sehen.«

Er hatte mit dem Pinselende auf eine an der Wand in der Nähe der Tür hängende Aktstudie hingewiesen. Sie war prächtig, mit meisterhaftem Schmiß gemalt. Ihr zur Seite noch ein paar andere ganz bewundernswerte Stücke, Kinderfüße von einer erlesenen Naturtreue, besonders aber ein Weiberbauch mit seidiger Haut, von Leben vibrierend, so lebendig, als sähe man das Blut drunter pulsen. In den seltenen Stunden, wo er mit sich zufrieden war, war er stolz auf diese Studien, die einzigen, die ihm Genüge taten und die einen großen, bewunderungswürdig begabten Maler verrieten, der aber durch ein unerklärliches, plötzliches Versagen Hemmungen erfuhr.

Er fuhr fort, mit kräftigen Pinselhieben das Sammetjackett hinzuhauen, wobei er sich mit seiner halsstarrigen Verachtung, die selbst vor dem Anerkanntesten nicht haltmachte, selber anfeuerte.

»Alles Schmierer von Zwei-Sous-Bildern, die ihren Ruhm gestohlen haben, Trottel oder Schlauköpfe, die vor der Dummheit des Publikums auf den Knien liegen! Nicht ein rechtschaffener Kerl, der den Spießern mal eine 'runterhaute! ... Siehst du, der Vater Ingres – du weißt ja, wie er mir mit seiner schleimigen Malerei zuwider ist –: und doch ist er ein verfluchter Kerl; hat er seine Keckheit, zieh' ich den Hut vor ihm; denn er pfiff auf alles, zwang mit seinem Donnerwetterstrich den Dummköpfen, die heute glauben, daß sie ihn verstünden, Bewunderung ab ... Nach ihm aber, verstehst du, gibt es bloß noch zwei: Delacroix und Courbet. Alle anderen sind Lumpenpack ... Nicht, der alte romantische Löwe! Was hat er für einen stolzen Wurf! Das war noch ein Dekorateur, der's verstand, seine Töne flammen zu lassen! Und was für ein Schneid! Er hätte alle Mauern von Paris mit Bildern bedeckt, wenn man sie ihm zur Verfügung gestellt hätte. Seine Palette brauste und schäumte über. Ich weiß wohl, es war weiter nichts als Phantasterei: aber trotzdem, es sagt mir zu, wir brauchten das, um die Akademie zu revolutionieren ... Und dann kam der andere, ein ungefällig gewissenhafter Arbeiter, der eigentlichste Vertreter unseres Zeitalters, und doch durchaus klassisch, was nicht ein einziger von den Schafsköpfen begriffen hat. Was haben sie gebrüllt; wie haben sie von Profanation, von Realismus geschwatzt, obgleich dieser famose Realismus doch bloß in dem Gegenständlichen seiner Bilder stak, die Vision aber die der alten Meister blieb und die Ausführung bloß die Meisterwerke der Museen aufnahm und fortsetzte ... Alle beide, Delacroix und Courbet, waren zur rechten Zeit da und haben jeder seinen Schritt vorwärts getan. Und jetzt? Oh, jetzt! ...«

Er schwieg, lehnte sich zurück und verlor sich in der Betrachtung seiner Arbeit. Dann fuhr er fort:

»Jetzt braucht's etwas anderes ... Was? Ah, ich weiß noch nicht! Wenn ich's wüßte und wenn ich's könnte, dann wär' ich sehr groß, wär' ich der einzige ... Aber so viel weiß ich, daß der romantische Pomp von Delacroix zusammenkracht und zerfällt und daß auch die dunkle Malerei Courbets noch nach dem eingeschlossenen Atelier riecht, in das nie ein Sonnenstrahl hineinfällt ... Weißt du, vielleicht bedarf's der Sonne, der freien Luft; eine lichte, junge Malerei, Dinge und Lebewesen so, wie sie sich im hellen Licht bieten. Kurz – ich finde nicht den rechten Ausdruck –, wir brauchen unsere eigene Malweise, das, was unsere Augen heute gestalten und sehen.«

Seine Stimme versagte von neuem; er stammelte, vermochte nicht, die heimlich in ihm aufkeimende Zukunft in Worte zu fassen. Es blieb ein tiefes Schweigen, unter dem er leidenschaftlich fortfuhr, das Sammetjacket weiter zu malen.

Ohne seine Pose aufzugeben, hatte Sandoz ihm zugehört. Und, ihm den Rücken zugewandt, sagte er, als spräche er wie im Traum, zu der Wand hin jetzt seinerseits:

»Ja, ja, man weiß es eben nicht. Ja, wenn man eine Ahnung hätte! Ich habe es, sooft ein Professor mir eine Wahrheit hat aufzwingen wollen, mit einem widerstrebenden Mißtrauen gehabt und gedacht: Er ›täuscht sich, oder er täuscht mich.‹ Ihre Anschauungen bringen mich zur Verzweiflung; mir scheint, die Wahrheit ist viel größer ... Ah, wär' es schön, könnte man sein Leben ganz an ein Werk hingeben oder versuchen, alle Dinge, Tiere, Menschen, die ganze gewaltige Noaharche darzustellen! Aber nicht nach der Vorschrift der philosophischen Lehrbücher und nach der törichten Abstufung, in der unser Stolz sich wiegt, sondern gemäß dem vollen Strom des universellen Lebens; eine Welt, in der wir bloß eine zufällige Erscheinung, wo der Hund, der uns über den Weg läuft, und alles bis auf den Stein am Wege, uns ergänzte, uns erklärte; endlich aber das große All ohne hoch und niedrig, weder fleckig noch rein, so wie es funktioniert. Gewiß ist es eben die Wissenschaft, an die sich die Romanschreiber und Dichter halten müssen; sie ist heute unsere einzig mögliche Quelle. Aber wie sie gebrauchen, wie mit ihr vorwärtskommen? Aber schon fühl' ich auch, wie ich im Dunklen tappe ... Ah, wenn ich wüßte, wenn ich wüßte: welche Stöße von Wälzern wollt' ich der Menge an den Kopf werfen!«

Er schwieg. Auch er. Letzten Winter hatte er sein erstes Buch veröffentlicht, eine Folge liebenswürdiger Skizzen, die er aus Plassans mitgebracht hatte und in denen nur erst ein paar derbere Stellen den Stürmer, den leidenschaftlichen Liebhaber der Wahrheit und des Machtvollen verrieten. Und seitdem tastete er, suchte er sich aus dem noch wirren Ideenwirbel, der in seinem Schädel kreiste, selbst. Zuerst hatte ihn der Gedanke an ein Riesenwerk hingerissen, hatte er den Plan, in drei Phasen eine Genese des Universums darzustellen: erstens, nach den Ermittlungen der Wissenschaft gegeben, die Schöpfung; dann die Menschheitsgeschichte, die von einem gewissen Zeitpunkt an in der Kette der Wesen ihre Rolle zu spielen anfing; dann die Zukunft, die mit der Aufeinanderfolge der Wesen in endloser Lebensarbeit die Schöpfung der Welt vollendete. Aber er war vor den allzu kühnen Hypothesen dieser dritten Phase zurückgeschreckt; er suchte nach einem gedrängteren, menschlicheren Rahmen, der dennoch seinem weitgespannten Ehrgeiz Genüge tun sollte.

»Ah, alles sehen und alles malen!« fuhr Claude nach einer längeren Pause fort. »Meilenlange Mauerstrecken bemalen, Bahnhöfe, Hallen, Mairien ausmalen, wenn erst die Architekten keine Schafsköpfe mehr sein werden! Es brauchte nur Muskeln und einen tüchtigen Kopf, denn an Sujets würde es nicht fehlen ... He, das Leben so wie es in den Straßen läuft, an einem vorbeiströmt; das Leben von reich und arm, der Märkte, der Rennplätze, der Boulevards, der volksbelebten Gassen; alle Handwerke in ihrer Tätigkeit, alle Leidenschaft, frischweg im hellen Tageslicht dargestellt; die Bauern, die Tiere, das Land!... Abwarten, abwarten, ob ich nicht was mehr bin als ein Dummkopf! Es kribbelt mir in allen Fingern. Ja, das ganze moderne Leben! In Fresken, so hoch wie das Pantheon! Eine verfluchte Folge von Bildern, daß der Louvre platzen sollte!«

Sobald sie, der Maler und der Schriftsteller, so beieinander waren, gerieten sie für gewöhnlich in diese Ekstase. Sie spornten sich wechselseitig an, berauschten sich an Ruhmesträumen. Und es war ein solcher Aufschwung von jugendlicher Kraft, eine solche Arbeitswut in diesen Ausbrüchen, daß sie nachher über diese weitausgreifenden, stolzen Träume lachten und sich lustig machten und doch sich an ihnen zu neuer Kraft und Elastizität aufschwangen.

Claude, der jetzt bis an die Wand zurücktrat, blieb gegen letztere gelehnt stehen und verlor sich in der Betrachtung seines Bildes. Auch der vom Modellsitzen erschöpfte Sandoz verließ die Chaiselongue und stellte sich neben ihn. Und von neuem stumm, betrachteten sie alle beide das Bild. Der Entwurf des Mannes in dem Sammetjacket war fertig. Die vollständiger als das übrige ausgeführte Hand machte im Gras einen höchst bemerkenswerten Effekt und hatte einen entzückend frischen Ton. Der dunkle Fleck des Rückens aber brachte sich mit einer solchen Intensität zur Geltung, daß die kleinen Gestalten im Hintergrunde, die beiden im Sonnenschein miteinander ringenden Weiber, weit in den Lichtglanz der Waldblöße zurücktraten, während die große Figur, das nackte, daliegende Weib, das noch kaum angedeutet war, wie ein traumhaftes Nebelbild schwamm, mit ihrem lächelnden Gesicht und ihren geschlossenen Lidern wie eine aus der Erde hervorgeborene, ersehnte Eva.

»Wie willst du's nun nennen?« fragte Sandoz.

»Pleinair«, antwortete Claude kurz.

Doch diese Bezeichnung erschien dem Schriftsteller, der zuweilen versucht war, in die Malerei die Literatur mit unterlaufen zu lassen, zu technisch.

»Pleinair? Das sagt nichts.«

»Braucht's auch nicht... Weiber und ein Mann ruhen in der Sonne im Wald. Genügt das nicht? Vollkommen genug, um ein Meisterwerk draus zu machen.«

Er bog den Kopf zurück und fügte zwischen den Zähnen durch hinzu:

»Verdammt noch mal, das ist noch zu dunkel! Ich denke noch zuviel an den verwünschten Delacroix. Und das, sieh! Die Hand da: das ist noch Courbet... Ach, wir fallen immer wieder in die romantische Sauce hinein. Unsere Anfänge haben zuviel in ihr herumgeplanscht, bis zum Knie. Wir brauchen eine gründliche Wäsche.«

Verzweifelt zuckte Sandoz die Achseln. Auch er klagte darüber, im Zeichen Hugos und Balzacs geboren zu sein. Doch Claude zeigte sich zufrieden und blieb in der glücklichen Angeregtheit einer wohlgelungenen Sitzung. Wenn sein Freund ihm noch zwei, drei solcher Sonntage gewähren konnte, so war der Kerl da gelungen, und zwar glattweg. Doch für diesmal mochte es genug sein. Alle beide scherzten über seine Gewohnheit, seine Modelle bis zum äußersten auszunutzen und erst, wenn sie vollkommen erschöpft und halbtot vor Ermüdung waren, von ihnen abzulassen. Ihm selbst war zum Umfallen zumute, die Knie knickten ihm zusammen, der Magen war ihm hohl. Als die Wanduhr fünf schlug, stürzte er sich über seinen Brotrest her und verschlang ihn. Mit vor Erschöpfung zitternden Fingern brach er ihn auseinander und kaute ihn kaum, denn er war dermaßen im Banne seiner Idee, daß er nicht einmal wußte, ob er äße, und war wieder an seine Gemälde herangetreten.

»Fünf Uhr«, sagte Sandoz, der sich, die Arme in der Luft, reckte. »Wir wollen essen gehen ... Ah, da kommt ja auch schon Dubuche!«

Es wurde angeklopft, und Dubuche trat ein. Er war ein kräftiger, brauner Bursch mit einem regelmäßigen, pausbäckigen Gesicht, kurzgeschorenem Haar und schon starkem Schnurrbart. Er schüttelte ihnen die Hände und blieb dann mit verdutztem Gesicht vor dem Gemälde stehen. Eigentlich brachte ihn diese aus jeder Regel schlagende Malerei aus dem Gleichgewicht; denn als guter Schüler brachte er den überkommenen Formeln Respekt entgegen. Einzig aus alter Freundschaft hielt er für gewöhnlich seine Aussetzungen zurück. Doch diesmal empörte sich augenscheinlich sein innerstes Wesen.

»Nanu, was denn? Gefällt's dir nicht?« fragte Sandoz, der ihn beobachtete.

»O doch, doch! Sehr gut gemalt ... Bloß ...«

»Na, quatsch dich aus! Was beißt dich?«

»Ja, bloß ... Der Herr, ganz bekleidet, da bei den nackten Weibern ... Das ist am Ende denn doch zu ungewöhnlich.«

Sofort fuhren die beiden anderen auf ihn los. Gab's im Louvre etwa nicht hundert genauso komponierte Gemälde? Na, und dann, war es ungewöhnlich, so sollte man's jetzt eben erleben. Sie pfiffen auf das Publikum!

Ohne sich durch ihre heftigen Entgegnungen aus der Fassung bringen zu lassen, wiederholte Dubuche ruhig:

»Das Publikum wird das nicht verstehen ... Es wird es unanständig finden ... Und es ist auch unanständig.«

»Elender Spießer!« schrie Claude außer sich. »Ah, die Akademie macht dich zum vollkommenen Trottel; früher warst du nicht so stumpfsinnig!«

Das war die gewohnte Art und Weise, wie die Freunde ihn aufzogen, seit er die Schule der Schönen Künste besuchte. Über die heftige Wendung, die der Streit nehmen wollte, denn doch ein wenig beunruhigt, lenkte er ein und zog sich damit aus der Affäre, daß er sagte, die akademischen Maler wären ausgemachte Kretins; aber was die Architekten anbetraf, so stand es anders. Wo wollten sie denn, daß er seine Studien sonst machte? Er mußte denn doch wohl schon da durch. Das hinderte ja doch nicht, daß er später seine eigenen Ideen verfolgte. Und er gab sich das Ansehen eines scharfen Revolutionärs.

»Gut«, sagte Sandoz. »Da du dich entschuldigst, können wir jetzt ja gleich dinieren gehen.«

Aber Claude hatte mechanisch zum Pinsel gegriffen und sich wieder an die Arbeit gemacht. Neben dem Herrn im Jackett wollte die Gestalt des Weibes nicht mehr recht stimmen. Aufgeregt, ungeduldig hob er mit einem kräftigen Zug ihre Kontur hervor, um sie in das rechte Niveau zu bringen.

»Kommst du?« wiederholte der Freund.

»Teufel, ja doch, gleich! Es eilt doch nicht so ... Ich will das bloß erst noch andeuten, nachher komm' ich.«

Sandoz schüttelte den Kopf. Doch sagte er, um ihn nicht noch mehr aufzuregen, sanft:

»Du mußt's nicht übertreiben, Alter ... Du bist jetzt müd und hungrig und wirst's dir bloß mal wieder verderben, wie neulich.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung schnitt ihm der Maler das Wort ab. Es war immer dieselbe Geschichte: er konnte nicht zur rechten Zeit aufhören, berauschte sich an der Arbeit und wollte immer die unmittelbare Gewißheit haben, daß ihm sein Meisterwerk endlich gelungen sei. Mitten in die Freude über die heutige gutgelungene Sitzung hinein waren ihm Zweifel gekommen, die ihn ganz außer sich brachten. Hatte er recht daran getan, das Sammetjackett vorherrschen zu lassen? Würde er die nackte Gestalt daneben noch gehörig zur Geltung bringen können? Er wäre lieber auf dem Flecke gestorben, als sich darüber nicht sofortige Gewißheit zu verschaffen. Mit fiebriger Hast zog er das Porträt Christines aus der Mappe, in die er es versteckt hatte, verglich, suchte sich mit dieser nach der Natur gewonnenen Grundlage zu helfen.

»Ah, zeig' doch!« rief Dubuche. »Wo hast du das gezeichnet? Wer ist das?«

Von dieser Frage erschreckt, antwortete Claude nicht. Dann aber gab er einem seltsamen, feinen Schamgefühl nach, behielt das Abenteuer für sich und sagte, ohne weitere Überlegung, den Freunden, denen er sonst alles anvertraute, eine Lüge.

»Du, wer ist es?« wiederholte der Architekt.

»Ach, niemand weiter! Ein Modell.«

»Ah wirklich, ein Modell? Noch ganz jung, nicht wahr? Aber wunderhübsch ... Du mußt mir die Adresse geben. Nicht für mich: für einen Bildhauer, der eine Psyche braucht. Hast du die Adresse da?«

Dubuche war zu einem Fach in der graugetünchten Wand hingetreten, wo mit Kreide quer hingeschrieben die Adressen der Modelle standen. Besonders hatten die Mädchen ihre mit großer Kinderhandschrift hingekritzelten Visitenkarten dagelassen. Zoé Piédefer, Rue Campagne-Première 7, eine große Brünette, deren Leib schon häßlich wurde, hatte sich zwischen der kleinen Flore Beauchamp, Rue de Laval 32, und Judith Vaquez, Rue du Rocher 69, einer Jüdin, die eine wie die andere noch frisch, aber etwas zu mager, eingetragen.

»Sag, hast du die Adresse?«

Claude wurde ungehalten.

»Eh, laß mich zufrieden! ... Ich weiß sie nicht! ... Du bist unausstehlich! Immer mußt du einen bei der Arbeit stören!«

Sandoz war zuerst erstaunt gewesen, hatte dann aber nichts gesagt, sondern gelächelt. Er war scharfsichtiger als Dubuche und gab diesem einen Wink, worauf sie ihren Spaß trieben. Verzeihung! Wenn der Herr sie für seinen Privatgebrauch reservieren wollte, so bat man ihn eben nicht, sie einem zu überlassen. Ah, der Schlaufuchs! Hielt sich hübsche Mädchen! Wo mochte er sie aufgegabelt haben? In einem Tanzlokal auf dem Montmartre oder auf dem Bürgersteig der Place Maubert?

Durch ihre Rede immer mehr in Verlegenheit gesetzt, erzürnte sich der Maler.

»Mein Gott, seid ihr albern! Wenn ihr eine Ahnung hättet, wie sehr! ... Hört auf, ihr könnt mir leid tun!«

Seine Stimme hatte einen so seltsam veränderten Ausdruck, daß die beiden sofort schwiegen. Er aber begann, nachdem er den Kopf der nackten Gestalt von neuem weggekratzt hatte, den letzteren nach dem Christines mit hastiger, unsichrer Hand von frischem zu entwerfen und auszumalen. Dann nahm er die in der Studie kaum angedeutete Brust in Angriff. Seine Aufregung steigerte sich. Ganz hatte ihn wieder seine keusche Leidenschaft für die Nacktheit des Weibes, die der Künstler in ihm mit närrischer Liebe ersehnte und doch niemals besaß; mit einer Liebe ersehnte, in der er sich nie genug tun konnte, das Weib genauso nachzuschaffen, wie er es in seinen Träumen umschlang. Jene Mädchen, die er von seinem Atelier verbannte, betete er an auf seinen Gemälden; hier liebkoste, vergewaltigte er sie und war verzweifelt bis zu Tränen, daß er sie nicht schön, nicht lebensvoll genug gestalten konnte.

»Ach, nur noch zehn Minuten, nicht wahr?« rief er mehrere Male. »Ich will bloß noch für morgen die Schultern skizzieren, dann gehen wir.«

Sandoz und Dubuche wußten, daß nichts ihn davon abbringen konnte, sich auf solche Weise zu überanstrengen, und so geduldeten sie sich. Der letztere steckte sich eine Pfeife an und warf sich auf die Chaiselongue. Nur er rauchte; die beiden anderen hatten sich, da sie nach jeder kräftigeren Zigarre eine Übelkeit zu befürchten hatten, nie recht an den Tabak gewöhnen können. Als Dubuche auf dem Rücken lag und den Rauchwolken nachblickte, die er von sich stieß, sprach er lange in eintöniger Rede vor sich hin.

Dies verwünschte Paris! Wie mußte man sich abschinden, um zu einer Stellung zu gelangen! Er erinnerte sich an seine fünfzehnmonatige Lehrzeit bei seinem Meister, dem berühmten Dequersonnière, der vordem den großen Preis davongetragen hatte, heute Architekt der Zivilbauten, Ritter der Ehrenlegion, Mitglied des Institutes war und dessen Meisterwerk, die Kirche Saint-Matthieu, einer Pastetenform und einer Empire-Uhr glich. Im Grunde ein braver Kerl, über den er sich lustig machte, während er im übrigen seinen Respekt für die alten klassischen Formen durchaus teilte. Ohne die Hilfe der Kameraden hätte er übrigens in dem Atelier der Rue du Four, wo der Meister jede Woche dreimal flüchtig mit vorkam, kaum etwas Rechtes gelernt. Tolle Burschen waren sie, die Kameraden. Anfangs hatten sie ihm das Leben rechtschaffen sauer gemacht. Aber sie hatten ihn doch wenigstens gelehrt, wie man einen Zeichenrahmen klebte, ein Projekt entwarf und tuschte. Auch der Mittagessen gedachte er, bei denen er sich mit einer Tasse Schokolade und einem Brötchen begnügt hatte, um die fünfundzwanzig Franken für das Atelier zu erschwingen. Und all die mit peinlicher Sorgfalt beschmierten Zeichenbogen, all die zu Hause über den Büchern verbrachten Stunden, eh' er's gewagt hatte, sich zum Eintritt in die Akademie zu melden! Und dabei war er trotz all seiner riesigen Büffelei bei einem Haar nicht aufgenommen worden; es hatte ihm an Phantasie gefehlt; seine Probezeichnungen, eine Karyatide und ein Sommerspeisesaal, waren sehr mittelmäßig gewesen und hatten die schlechteste Nummer bekommen. Doch in der mündlichen Prüfung hatte er's mit seinen logarithmischen Rechnungen, seinen geometrischen Entwürfen und in der Geschichte wieder ausgeglichen; denn im wissenschaftlichen Teil war er gut beschlagen. Jetzt, wo er in der Kunstschule Schüler der zweiten Klasse war, mußte er sich dazuhalten, um in die erste versetzt zu werden. Was war das für ein nimmerendendes Hundeleben!

Er streckte die Beine über die aufgetürmten Kissen hin und rauchte stärker, in regelmäßigen Zügen.

»Perspektivlehre, deskriptive Geometrie, Stereotomie, Konstruktionslehre, Kunstgeschichte: ah, man muß schon einiges Papier beschmieren und Notizen machen! ... Und jeden Monat eine architektonische Preiskonkurrenz; bald mal eine einfache Skizze, bald ein Projekt. Ja, es ist kein Spaß, wenn man seine Prüfungen machen und seine notwendige ehrenvolle Erwähnung rausschinden will. Namentlich wenn man außerdem noch Zeit für den Broterwerb braucht, 's ist zum Krepieren!«

Ein Kissen war auf den Fußboden geglitten; er hob es mit beiden Füßen wieder auf.

»Trotzdem hab' ich noch Glück. Wie viele Kameraden suchen nach was und machen nichts ausfindig! Da hab' ich neulich einen Architekten aufgegabelt, der für einen großen Unternehmer arbeitet: Ah nein, man kann sich keine Vorstellung machen, was das für ein Dummkopf ist! Ein wahrer Handlanger, ein Kerl, der nicht imstande ist, einen Pausabzug zu machen. Und er gibt mir fünfundzwanzig Sous für die Stunde, wofür ich ihm seine Häuser mache ... Übrigens hat sich das recht gut getroffen: die Mutter hat mir gerade geschrieben, daß sie vollständig auf dem trocknen sitzt. Arme Mutter! Ich hab' ihr eine gehörige Portion abzuladen!«

Da Dubuche augenscheinlich zu sich selbst sprach und seine täglichen Gedanken, seine beständige Sorge, sich hinreichend viel Geld zu verdienen, wiederkäute, gab sich Sandoz gar nicht erst die Mühe, ihm zuzuhören. Er hatte die Fensterluke geöffnet und sich an den Dachrand gesetzt; denn er litt auf die Dauer durch die im Atelier herrschende Hitze. Schließlich aber unterbrach er den Architekten:

»Sag mal, kommst du Donnerstag zum Diner? ... Alle werden da sein: Fagerolles, Mahoudeau, Jory, Gagnière.«

Jeden Donnerstag kam man bei Sandoz zusammen. Eine Schar von Kameraden aus Plassans und andere, deren Bekanntschaft sie in Paris gemacht hatten; alles von der gleichen Leidenschaft für die Kunst beseelte Revolutionäre.

»Nächsten Donnerstag wohl nicht«, antwortete Dubuche. »Ich bin in Familie, zu einem Tanzabend, geladen.«

»Willst du dir eine reiche Braut holen?«

»Du, das wäre noch nicht das dümmste!«

Er klopfte auf dem Ballen seiner linken Hand die Pfeife aus. Dann rief er plötzlich:

»Ach, ich vergaß! ... Pouillaud hat mir geschrieben!«

»Dir auch! ... Na, ist er nicht fertig? Da haben wir einen, der gekippt ist.«

»Ach, wieso? Er wird der Nachfolger seines Vaters, wird dort unten in Frieden sein Geld verzehren. Sein Brief ist sehr verständig. Ich habe ja immer gesagt, daß er uns trotz seiner Hansnarrereien noch was zu lernen geben wird ... Ah, der Tölpel!«

Sandoz war im Begriff, heftig zu erwidern, als sie durch einen verzweiflungsvollen Fluch Claudes unterbrochen wurden. Der letztere war versessen, mit zusammengebissenen Zähnen, bei der Arbeit gewesen. Er schien sie nicht einmal gehört zu haben.

»Gottverdammt, noch immer nichts geworden! ... Es ist so: ich bin ein Trottel, der sein Lebtag nichts zustande bringen wird!«

Und schön war er in einem Anfall von unsinniger Wut drauf und dran, auf seine Arbeit loszustürzen und mit geballter Faust auf sie einzuhauen. Die Freunde hielten ihn zurück. Was hatte er denn von seiner kindischen Wut? Nachher bereute er bloß bitter, sein Werk vernichtet zu haben. Wieder seinem Schweigen verfallen und noch zitternd vor Erregung, betrachtete er, ohne Antwort zu geben, das Bild, und in seinen starren, brennenden Blicken glühte die unleidliche Qual seines Unvermögens. Nichts Deutliches, Lebensvolles gelang ihm mehr. Der Busen des Weibes starrte von dicken Klecksen. Dies vergötterte Fleisch, das so leuchtend vor seinem geistigen Auge stand, beschmutzte er bloß, konnte es nicht einmal in Einklang mit seiner Komposition bringen. Was war bloß mit seinem verbohrten Schädel, daß alle seine Mühe so fruchtlos blieb? Litt er an irgendeinem Sehfehler, konnte er nicht mehr richtig sehen? War er nicht mehr Herr seiner Hände, daß sie ihm den Dienst verweigerten? Er wurde immer wilder, geriet außer sich über diesen ihm unbekannten Erbfehler, der ihm zuweilen das Schaffen so leicht und ihn zu anderen Zeiten so dumm und steril machte, daß er die einfachsten Anfangsgründe des Zeichnens vergaß. Sein ganzes Wesen drehte sich in einem eklen Wirbel. Und doch die Wut, zu schaffen, schaffen, obwohl alles floh, alles um ihn zurückwich: der Stolz auf seine Arbeit, der erträumte Ruhm, sein ganzes Leben!

»Höre, Alter!« fing Sandoz wieder an. »Ich will dir keinen Vorwurf machen, aber es ist halb sieben, und wir haben einen Bärenhunger ... Sei vernünftig, komm!«

Claude wusch mit Essenz eine Ecke seiner Palette ab, drückte von neuem seine Tuben drüber aus und antwortete mit Donnerstimme bloß:

»Nein!«

Zehn Minuten sprach keiner von ihnen ein Wort. Außer sich mühte sich der Maler an seiner Leinwand ab, während die beiden anderen aufgeregt und bekümmert über diese Krise nicht wußten, wie sie ihn darüber hinwegbringen sollten. Aber da klopfte es, und der Architekt ging und öffnete.

»Ah, Papa Malgras!«

Der Bilderhändler war ein dicker Mann in einem alten, grünen, schmierigen Überrock, der ihm mit seinem weißen, borstigen Haar und seinem roten, blaugefleckten Gesicht das Aussehen eines sich unsauber haltenden Kutschers verlieh. Mit einer Säuferstimme sagte er:

»Ich ging zufällig drüben am Quai vorbei ... Ich sah den Herrn am Fenster und bin heraufgestiegen.«

Als der Maler mit erregter Gebärde sich stumm wieder seiner Leinwand zuwandte, unterbrach er sich. Im übrigen verlor er aber nicht die Fassung, sondern pflanzte sich auf seinen strammen Beinen auf und prüfte mit seinen blutunterlaufenen Augen das skizzierte Gemälde. Ungeniert gab er mit einer Redewendung, in der sich Ironie und Sympathie die Waage hielten, sein Urteil ab:

»Ist das ein Dings!«

Als aber noch immer niemand ein Wort sagte, spazierte er mit kleinen Schritten seelenruhig ins Atelier hinein und ließ den Blick an den Wänden hinschweifen.

Unter seiner schmierigen Hülle war der Papa Malgras ein sehr gescheiter alter Bursch, der Geschmack und Witterung für gute Malerei besaß. Niemals verlor er seine Zeit bei mittelmäßigen Malern, sondern ging instinktmäßig auf die noch nicht anerkannten mit persönlicher Note los, deren große Zukunft seine rote Weinnase zu erwittern wußte. Außerdem war er ein hartnäckiger Feilscher und entwickelte, wenn es galt, das Bild, auf das er's abgesehen, zum niedrigsten Preis zu erwerben, eine gerissene Schlauheit. Dann begnügte er sich aber mit einem ehrlichen Vorteil, zwanzig, höchstens dreißig vom Hundert; denn er hatte sein Geschäft auf den möglichst schnellen Umsatz seines kleinen Kapitals gestellt und kaufte am Morgen nie ein Bild, ohne daß er wußte, wem er es am Abend verkaufte ... Im übrigen log er nach der Schnur.

Er hatte bei der Tür vor den im Atelier Boutin gemalten Aktstudien haltgemacht, die er einige Minuten stillschweigend betrachtete. Seine Augen strahlten dabei hinter den dicken Lidern vor Kennerfreude. Wieviel Talent, was für ein Gefühl fürs Leben! Und dabei verlor der verdrehte Kerl seine Zeit mit solchen Riesenschinken, die niemand kaufte! Besonders entzückten ihn die reizenden Beine des Mädelchens und der herrliche Weiberbauch. Aber dergleichen war nichts für den Verkauf. Er hatte seine Wahl bereits getroffen: eine kleine, kräftig und zugleich sehr fein gemalte Skizze, einen Landschaftswinkel aus Plassans. Aber er tat, als sah' er sie gar nicht. Endlich näherte er sich und warf lässig hin:

»Was ist denn das da? Ah ja, eine von Ihren Sachen aus dem Süden ... Zu hart.. Die beiden anderen, die ich Ihnen abkaufte, sind noch nicht abgesetzt.«

In träger, endloser Rede fuhr er fort:

»Sie glauben mir vielleicht nicht, Herr Lantier; aber das verkauft sich zu schlecht, zu schlecht. Ich habe davon ein ganzes Zimmer voll. Ich kann mich nicht umdrehen, ohne zu befürchten, ich mache was davon kaputt. Mein Ehrenwort, ich kann das nicht mehr durchführen; ich mache eines Tages noch Bankerott und verende im Hospital ... Sie kennen mich ja: ist's nicht so? Mein Herz ist weiter als mein Geldbeutel; ich möchte allen jungen Leuten von soviel Talent wie Sie beispringen. Und was das anbetrifft: Talent haben Sie wahrhaftig! Ich werde nicht müde, es auszuschreien. Aber, ob Sie's glauben oder nicht: sie beißen nicht an; nein, sie beißen nicht an.«

Er tat bekümmert. Dann nahm er, wie jemand, der im Begriff ist, eine Torheit zu begehen, einen Anlauf.

»Meinetwegen will ich aber nicht so ganz für umsonst heraufgekommen sein ... Was verlangen Sie für die Skizze?«

Claude, der mit zitternd erregten Händen malte, antwortete, ohne sich umzuwenden, kurz:

»Zwanzig Franken.«

»Wie! Zwanzig Franken! Sind Sie nicht bei Trost? Sie haben mir die anderen ja für zehn Franken das Stück verkauft ... Heute geb' ich acht, keinen Sou mehr!«

Für gewöhnlich pflegte der Maler, dem dies elende Schachern aufs äußerste zuwider war und der sich im Grunde freute, diesen kleinen Verdienst mitnehmen zu können, ohne weiteres nachzugeben. Doch für diesmal blieb er hartnäckig und schrie dem Bilderhändler Beleidigungen ins Gesicht, der seinerseits anfing ihn zu duzen, ihm alles Talent absprach, ihn mit Schmähungen überhäufte und wie einen undankbaren Sohn behandelte. Im übrigen hatte er schließlich, eins nach dem anderen, aus der Tasche drei Hundertsousstücke hervorgezogen, die er von weitem wie flache Wurfsteine auf den Tisch zwischen die klirrenden Teller warf.

»Einer, zwei drei ... Nicht einer mehr, verstehst du? Denn eines davon ist schon zuviel. Du wirst mir's zurückgeben. Auf Ehrenwort, ich werd' es dir das nächstemal abziehen! ... Fünfzehn Franken! Ah, Kleiner! Das ist nicht recht, das ist wirklich schofel von dir, es wird dir noch leid tun!«

Ganz erschöpft, ließ Claude ihn das Bild von der Wand nehmen. Wie verzaubert verschwand es in dem großen, grünen Überrock. War es in die Tiefe einer besonderen Tasche geschlüpft? Stak es zwischen dem Futter? Keinerlei Erhöhung verriet, wo es sich befand.

Papa Malgras aber wandte sich, nachdem die Sache gemacht war, plötzlich wieder bei Laune, der Tür zu. Doch wandte er sich noch einmal um und sagte in seiner biederen Weise:

»Hören Sie mal, Lautier! Ich brauche einen Hummer ... Ich glaube, Sie sind mir das schuldig, nachdem Sie mich so geprellt haben ... Ich werde Ihnen den Hummer herbringen, Sie machen mir ein Stilleben danach. Sie können ihn dann für die Mühe behalten und mit Ihren Freunden verzehren ... Also, nicht wahr?«

Bei diesem Vorschlag brachen Sandoz und Dubuche, die bis dahin neugierig zugehört hatten, in ein so schallendes Gelächter aus, daß auch der Händler mit einstimmte. Was sollten diese verflixten Maler wohl anfangen, würden sie nicht Mangel leiden und vor Hunger umkommen, wenn ihnen Papa Malgras nicht ab und zu mal eine gute Hammelkeule, einen frischen Seefisch oder einen Hummer mit Petersilie anbrächte?

»Ich kriege also meinen Hummer, Lantier, nicht wahr? ... Also, Dank!«

Von neuem pflanzte er sich mit spöttisch lächelnder Bewunderung vor dem großen Bild auf. Endlich ging er, während er abermals sagte:

»Was für ein Ding!«

Noch einmal wollte Claude nach Palette und Pinsel greifen. Aber die Beine knickten ihm zusammen; kraftlos, wie durch eine überlegene Gewalt an den Leib gefesselt, sanken ihm die Arme herab. Ein finsteres Schweigen war nach dem Streit mit dem Händler eingetreten. Halbgeblendet, benommen, stand er taumelnd vor seinem unförmigen Bild. Da stammelte er:

»Ah, ich kann nicht, ich kann nicht mehr ... Das Schwein hat mir den Rest gegeben.«

Die Uhr schlug sieben. Acht lange Stunden hatte er gearbeitet, ohne weiter etwas als ein Stück Brot zu essen, ohne sich einmal auszuruhen, immer aufrecht, mit fieberhafter Eile hatte er nur immer gearbeitet. Jetzt neigte sich die Sonne, ein Schatten legte sich in das Atelier und tauchte es in trübselige Melancholie. Wenn das Licht so nach einer mißglückten Tagesarbeit schwand, so war ihm, als sollte die Sonne nie wieder aufgehen, und nie die lachende Freude der Farben.

»Komm!« bat Sandoz mit brüderlicher Zärtlichkeit. »Komm, Alter!«

Auch Dubuche fügte hinzu:

»Morgen wirst du klarer sehen. Komm essen!«

Einen Augenblick lang wollte Claude noch nicht nachgeben. Den Bitten der Freunde taub, verharrte er, wie an den Boden geheftet, in wilder Versessenheit. Was wollte er noch machen, wo der Pinsel seinen steifen Fingern entglitt? Er wußte es nicht. Aber ob er konnte oder nicht: noch war er von dem wütenden Wunsch hingerissen, trotz allem zu schaffen. Und wenn er nichts mehr machen konnte, so wollte er doch noch bleiben, nicht von der Stelle weichen. Endlich aber, während es ihn wie von einem Schluchzen durchzuckte, entschloß er sich. Mit wuchtiger Hand griff er nach einem sehr breiten Palettenmesser, und mit einer langsamen, tief einschneidenden Bewegung schabte er den Kopf und die Brust des Weibes weg. Es war wie ein Mord, ein Hinschlachten. Alles verschwand in einem teigigen Schmutz. Und nun gab es zur Seite des Herrn im kernig gemalten Sammetjackett, unter dem lebhaften Grün, wo, sehr licht, die beiden kleinen Weibgestalten miteinander spielten, nur noch dies nackte Weib ohne Brust und Kopf, einen verstümmelten Rumpf, einen unbestimmten leichenhaften Fleck wie einen verflüchtigten, toten Traum von Fleisch.

Schon stiegen Sandoz und Dubuche geräuschvoll die Treppe hinab. Claude aber folgte ihnen, floh vor seinem Werk, von dem unsäglichen Leid erfüllt, es durch eine so klaffende Wunde entstellt hinter sich zu lassen.


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