Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Am nächsten Tag machte Claude sich wider an die Arbeit. Die Tage, der ganze Sommer verstrichen in schwüler Ruhe. Er hatte einen Verdienst gefunden, kleine Blumenmalereien, die nach England gingen. Das langte für den täglichen Hausbedarf. Jede Stunde, die ihm übrigblieb, widmete er wieder seinem großen Bilde. Doch geriet er dabei nicht mehr in die Zornausbrüche von früher, sondern schien sich mit versessener, doch hoffnungsloser Hingabe, äußerlich ruhig, auf diese nie zu Ende gelangende Arbeit versteift zu haben. Aber seine Augen behielten einen wirren Ausdruck, alles Leben war darin erloschen, wenn sie sich auf sein verfehltes Werk hefteten.

Um diese Zeit erfuhr auch Sandoz einen großen Schmerz. Seine Mutter starb. Die trauliche Existenz zu dreien, zu welcher nur wenige Freunde Zutritt gehabt, hatte ihr Ende gefunden, und das kleine Gartenhaus der Rue Nollet war ihm verleidet. Übrigens hatte er zu dieser Zeit einen plötzlichen Erfolg. Der Absatz seiner Bücher, der bisher ein mühsamer gewesen war, hatte sich gebessert. Und so hatte er, jetzt im Wohlstand, eine große Wohnung in der Rue de Londres gemietet, deren Einrichtung ihm und seiner Frau monatelang zu schaffen machte. Seine Trauer um die Mutter hatte Claude Sandoz, was eine gewisse gemeinsame Verachtung des Lebens anbetraf, noch nähergebracht. Nach dem schrecklichen Schlag, den dieser im Salon erfahren, hatte Sandoz sich seines alten Kameraden wegen beunruhigt; denn er ahnte einen nicht wieder auszugleichenden Riß, irgendeine Wunde, aus der sich heimlich sein Leben verblutete. Als er ihn dann aber so kühl und verständig sah, hatte er schließlich wieder Vertrauen gefaßt.

Sandoz' Besuche in der Rue Tourlaque waren häufig. Wenn er dann bloß Christine antraf, so fragte er sie aus. Denn er verstand, daß auch sie, obgleich sie nie davon sprach, in beständiger Angst lebte, es könnte sich ein Unglück ereignen. Ihr Gesicht zeigte einen gequälten Ausdruck; und wie eine Mutter, die ihr Kind überwacht und beim geringsten Geräusch erbebt, als könnte der Tod hereintreten, lebte sie in einem beständigen nervösen Zittern. Eines Vormittags im Juli fragte er sie:

»Nun, Sie sind doch wohl zufrieden? Claude ist ja ruhig und arbeitet.«

Sie warf ihren gewohnten Seitenblick, in dem sich Schreck zugleich und Haß ausprägte, auf das Bild.

»Ja, ja, er arbeitet ... Er will, eh' er wieder an das Weib herangeht, erst alles übrige fertigmachen.«

Und ohne die Furcht, von der sie beherrscht wurde, zeigen zu wollen, fügte sie leise hinzu:

»Aber seine Augen! Haben Sie auf seine Augen geachtet? ... Immer hat er diesen schlimmen Blick. Ich weiß nur zu gut, daß er sich verstellt, wenn er tut, als mache er sich keine weiteren Gedanken ... Ich bitte Sie, kommen Sie doch manchmal und nehmen Sie ihn mit, zerstreuen Sie ihn! Er hat ja nur Sie. Helfen, helfen Sie mir!«

Von da ab erfand Sandoz allerlei Vorwände zu Spaziergängen, kam morgens zu Claude und holte ihn mit Gewalt von der Arbeit weg. Fast jedesmal mußte er ihn von der Leiter herunterholen, auf der er selbst, wenn er nicht malte, saß. Es handelte sich dann um plötzliche Müdigkeitsanwandlungen, um eine Erstarrung, die ihn minutenlang lähmte und die ihn, ohne daß er einen Pinselstrich tat, auf dem Flecke hielt. In solchen Augenblicken stummer Betrachtung hing sein Blick mit einer andachtsvollen Glut an der Weibgestalt, an die er doch nicht mehr Hand anlegte. Es war wie die verhaltene Leidenschaft eines tödlichen Verlangens, die unendliche Zärtlichkeit und das heilige Grauen einer Liebe, die sich zurückhält, weil sie weiß, daß es das Leben gilt. Er machte sich nach solchen Augenblicken dann wieder an die anderen Figuren und den Hintergrund des Bildes, fühlte sie dabei aber beständig sich nah, und wenn sein Blick sie traf, flirrte es ihm vor den Augen, und nur dann war er dieses Schwindels Herr, wenn er den Blick nicht wieder zu ihr hinwandte, sie ihn nicht mehr umfing.

Eines Abends nahm Christine, die jetzt bei Sandoz empfangen wurde und die in der Hoffnung, ihr großes, krankes Kind aufzuheitern, keinen Donnerstag versäumte, den Hausherrn beiseite und beschwor ihn, am nächsten Tag zu ihnen zu kommen. So kam Sandoz, der just an der anderen Seite des Montmartre Notizen zu einem Roman zu sammeln hatte, denn am nächsten Tag und entführte Claude mit Gewalt, um ihn bis zum Abend von seiner Arbeit abzulenken.

Als sie bis zum Tor von Clignancourt gelangt waren, wo es beständig ein Volksfest mit Karussells, Schießbuden und Tabagien gab, sahen sie sich plötzlich zu ihrem größten Erstaunen Chaîne gegenüber, der mitten in einer großen, reich aufgeputzten Bude thronte. Es war eine Art von reich ausgeschmückter Kapelle: vier Lotteriespiele standen in Reihe; auf drehbaren Scheiben befanden sich dicht beieinander Porzellansachen, Glaswaren und Nippsachen, deren Lack und Vergoldung nur so blitzten. Wenn aber die Hand eines Spielers eine der Scheiben in Bewegung setzte, die dann mit einem scharfen Laut in eine Feder einschnappte, ließ sich das leise Getön einer Harmonika vernehmen. Sogar ein lebendes Kaninchen, der mit rosaroten Bändern angebundene Hauptgewinn, walzte und drehte sich ganz betäubt vor Angst endlos mit im Kreise herum. All diese Herrlichkeiten aber wurden von roten Behängen, Lambrequins, Vorhängen eingerahmt, zwischen denen im Hintergrund, wie im Allerheiligsten, Chaînes drei Meisterwerke hingen, die ihn von einem Markt, von einem Ende von Paris zum anderen hin begleiteten: in der Mitte die Ehebrecherin, links die Mantegna-Kopie, rechts Mahoudeaus Ofen. Abends, wenn die Petroleumlampen flammten und die Scheiben schnurrend sich drehten und wie Sterne blitzten, gab's nichts Schöneres als zwischen den purpurroten Stoffen diese Gemälde, und gaffend drängte sich alles Volk um die Bude.

Claude entfuhr ein Ausruf, als er das sah.

»Ah, mein Gott! ... Aber die Bilder sind sehr schön, ganz wie dafür gemacht.«

Besonders glich der Mantegna mit seiner naiven Trockenheit einem verblaßten Epinaler Bilderbogen, der da zum Vergnügen des einfachen Volkes aufgehängt war, während der mit peinlicher Genauigkeit gemalte, etwas schiefe Ofen und der wie aus Pfefferkuchen gemachte Christus eine unbeabsichtigte Heiterkeit erregten.

Chaîne, der die beiden Freunde erkannt hatte, reichte ihnen, als hätte er sie erst gestern verlassen, die Hand. Er war ganz ruhig, zeigte sich bezüglich seiner Bude weder stolz noch schämte er sich ihrer. Er hatte nicht gealtert, hatte dieselbe lederharte Haut, die Nase verschwand zwischen den Backen und der wie zugeklebte stumme Mund in dem Stoppelbart.

»Sieh, so sieht man sich wieder!« sagte Sandoz munter. »Wissen Sie, Ihre Bilder machen einen mächtigen Effekt.«

»Der Schlaukopf hat seinen kleinen Salon für sich allein«, fügte Claude hinzu. »Das ist sehr gescheit.«

Chaînes Gesicht strahlte vor Freude, er ließ sein Wort vernehmen:

»Oh, sicher!«

Dann aber brachte er, von seinem Künstlerstolz hingerissen, er, dem man sonst nichts als ein Grunzen entlockte, einen ganzen Satz zum Vorschein:

»Ah, sicher! Hätt' ich nur wie Sie Geld gehabt, dann wär' ich wohl auch schon vorangekommen.«

Das war seine feste Überzeugung. Niemals hatte er an seinem Talent gezweifelt. Er hatte das Spiel bloß aufgegeben, weil es nicht seinen Mann nährte. Und wenn er im Louvre vor den Meisterwerken stand, war er überzeugt, daß es ihm bloß an Zeit fehle, auch so etwas zu leisten.

»Lassen Sie gut sein!« fuhr Claude, der wieder ernst geworden war, fort. »Lassen Sie sich's nicht leid tun! Nur Ihnen ist's geglückt ... Das Geschäft geht gut, nicht?«

Doch Chaîne muschelte erbittert vor sich hin: Nein, nein, es ging nicht gut, nicht einmal das Lotteriespiel. Das Volk spielte nicht mehr, trug alles Geld zu den Weinhändlern. Mochte man auch Ausschußware kaufen und nachhelfen, daß die Feder nicht bei den Hauptgewinnen einschnappte: man brachte sich kaum durch. Als aber Leute an die Bude herantraten, unterbrach er sich und rief mit einer lauten Stimme, welche die beiden gar nicht an ihm kannten und die sie in Erstaunen versetzte:

»Spielen Sie! Spielen Sie! ... Jedes Spiel gewinnt!«

Ein Arbeiter mit einem kleinen, kränklichen Mädchen auf dem Arm, das begehrliche Augen zu dem Spiel hin machte, ließ es zweimal spielen. Die Scheibe schnarrte, die Nippsachen machten ihren Glitzertanz, das Kaninchen drehte und drehte sich mit zurückgeschlagenen Ohren so rasend herum, daß es ganz wie verwischt und nur noch ein weißer Kreis war. Es gab eine große Aufregung, denn bei einem Haar hatte die Kleine es gewonnen.

Nachdem sie dem mit Bezug auf den Verlust, der ihm soeben gedroht hatte, noch zitternden Chaîne die Hand gereicht hatten, entfernten sich die beiden Freunde.

»Er ist glücklich«, sagte Claude, nachdem sie schweigend fünfzig Schritte getan hatten.

»Er!« rief Sandoz. »Er glaubt, daß er es bis zum Institut hätte bringen können, und reibt sich innerlich daran auf!«

Einige Zeit danach, gegen Mitte August, kam Sandoz auf eine andere Zerstreuung. Diesmal war es eine richtige Reise, ein ganzer Tagesausflug. Er hatte Dubuche getroffen. Aber einen ganz verstörten, trübsinnigen Dubuche, der sich sehr herzlich und wehleidig gezeigt, von der Vergangenheit gesprochen und seine alten Kameraden zu einem Frühstück in die Richaudière geladen hatte, wo er seit vierzehn Tagen mit seinen beiden Kindern allein war. Warum sollte man ihm nicht eine Überraschung bereiten, da er doch ein solches Verlangen bekundet hatte, wieder mit ihnen anzuknüpfen? Doch vergeblich wiederholte Sandoz immer wieder, daß er Dubuche hätte zuschwören müssen, ihm Claude zuzuführen; der letztere weigerte sich hartnäckig, als fürchte er sich davor, Bennecourt, die Seine, die Inseln, all diese Landschaft wiederzusehen, wo seine glücklichen Tage gestorben und begraben waren. Christine mußte sich erst ins Mittel legen, daß er schließlich, wenn auch noch immer wiederstrebend, nachgab. Gerade am Tage vor der verabredeten Reise hatte er in einem Aufschwung von Schaffenslust bis zum späten Abend an seinem Gemälde gearbeitet. Und so riß er sich am nächsten Morgen, es war ein Sonntag und er voller Begier aufs Malen, nur mit Mühe und großem Herzeleid los. Wozu sollte es dienen, daß er dahin zurückkehrte? Das war tot und begraben, war nicht mehr. Nichts existierte als Paris. Und auch in Paris nur eine Sicht: die Spitze der Cité, diese Vision, die ihm immer und überall zusetzte, der einzige Fleck, an dem sein Herz hing.

Als Sandoz ihn im Wagen nervös werden sah und wahrnahm, wie seine Augen an der Portiere hafteten, als sollte er auf Jahre hinaus die mehr und mehr in Rauch und Nebel verschwimmende Stadt verlassen, bemühte er sich, ihn zu beschäftigen, und erzählte ihm, was er von Dubuches wahrer Lage wußte. Anfangs hatte Margaillan, stolz auf seinen mit der Medaille ausgezeichneten Schwiegersohn, ihn überall hingeführt und als seinen Kompagnon und Nachfolger vorgestellt. Denn hier wäre einer, der die Geschäfte glatt führen und noch billiger und schöner bauen werde als er, denn der Kerl hätte ja seine Studien gemacht. Doch schon die erste Idee Dubuches war eine recht unglückliche gewesen. Er kam auf eine Backsteinfabrik, die er in Burgund, auf den Besitzungen seines Schwiegervaters errichtete; doch unter so unglückseligen Bedingungen und mit einem so mangelhaften Plan, daß der Versuch mit einem glatten Verlust von zweihunderttausend Franken abschloß. Dann hatte sich Dubuche auf den Häuserbau verlegt, wobei er allerlei eigene Ideen zu verwerten gedacht hatte, eine sehr bedachte, reife Sache, mit der er in der Baukunst Epoche machen wollte. Es handelte sich um die alten Theorien, die er von den revolutionären Kameraden seiner Jugend übernommen hatte; um all das, was er versprochen hatte, in die Tat umsetzen zu wollen, wenn er erst freie Hand dazu haben würde, was er aber schlecht verdaut hatte und mit der Schwerfälligkeit des braven Schülers, der er gewesen war, dem es aber an schöpferischem Geist fehlte, an unrechter Stelle anbrachte: all die Dekorationen in Terrakotta und Fayence, die großen, glasgedeckten Nebenausgänge, besonders die Anwendung des Eisens, die eisernen Träger, eisernen Treppen, Dachstühle. Da diese Materialien aber viel Geld verschlangen, lief es abermals auf einen Fehlschlag hinaus; und zwar um so mehr, als er ein schlechter Rechner war und infolge seines Glücks den Kopf verloren hatte, träg geworden war, ja selbst seinen einstigen Fleiß eingebüßt hatte. Diesmal war der alte Margaillan, der seit dreißig Jahren Baugelände gekauft, wieder verkauft und mit einem Blick seine Veranschlagung zu machen verstanden hatte – soundso viel Meter Bau, der Meter zu soundso viel, mußten soundso viel Wohnungen abgeben, die soundso viel Miete eintrugen –, ernstlich böse geworden. Wer hatte ihm einen Kerl aufgehalst, der sich beim Kalk verrechnete, bei den Ziegeln, den Bausteinen, der Eiche nahm, wo Fichte genügte, und sich nicht dazu verstehen konnte, ein Stockwerk wie ein Stück Brot in so viel kleine Stücke zu zerschneiden, wie nötig waren? Nein, nein, das war nichts! Er setzte sich, nachdem er den Ehrgeiz gehabt hatte, sie so ein wenig mit in seine Routine hineinzubringen, um auf solche Weise einem alten Stachel seiner Unwissenheit Genüge zu tun, der Kunst gegenüber auf die Hinterbeine. Seitdem war's immer schlechter gegangen; es war zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn zu den heftigsten Zwisten gekommen; der eine tat geringschätzig und verbarrikadierte sich hinter seiner Wissenschaft, der andere aber schrie ihm zu, daß ganz gewiß der geringste Handwerker mehr verstünde als ein Architekt. Die Millionen kamen ins Wanken, und eines Tages warf Margaillan Dubuche aus seinem Bureau hinaus und verbot ihm, es je wieder zu betreten, da er doch nicht einmal dazu zu gebrauchen wäre, eine Werkstelle von vier Mann zu leiten. Das war denn ein kläglicher Abfall, der Bankerott der Schule gegenüber dem Maurer.

Claude, der schließlich doch zugehört hatte, fragte:

»Und was macht er jetzt?«

»Ich weiß nicht. Doch wohl gar nichts«, antwortete Sandoz. »Er sagte mir, daß ihn der Gesundheitszustand seiner Kinder beunruhige und daß er sie pflege.«

Die blasse Frau Margaillan war ihrem hoffnungslosen Zustand erlegen und an der Schwindsucht gestorben. Und ihr Leiden, ihre physische Heruntergekommenheit schien sich vererbt zu haben, denn auch ihre Tochter Régine hustete, seit sie sich verheiratet hatte. Gegenwärtig machte sie eine Badekur in Mont-Dore durch. Ihre Kinder hatte sie nicht mitnehmen können. Sie waren so hinfällig, daß ihnen im vergangenen Jahr die Luft dort schlecht bekommen war. Und so erklärte es sich, daß die Familie ganz auseinander war. Die Mutter lebte, bloß mit einer Kammerjungfer, dort im Bade, der Großvater in Paris, wo er seine Bauunternehmungen wieder aufgenommen hatte und sich mit seinen vierhundert Arbeitern herumschlug und gegen gewisse faule und unfähige Menschen seine Verachtung kehrte; der Vater aber hatte seine Zuflucht zur Richaudière genommen, wo er sich als ein Invalide des Lebens gleich nach dem ersten Zwist mit seinem Schwiegervater eingeschlossen hatte und sich der Pflege seiner Tochter und seines Sohnes widmete. In einem Augenblick vertraulicher Mitteilung hatte Dubuche übrigens noch zu verstehen gegeben, daß er mit seiner Frau, die gelegentlich ihrer zweiten Niederkunft beinahe das Leben gelassen und bei ihrer schwächlichen Konstitution kaum eine herzhaftere Berührung vertrug, jeden ehelichen Umgang hatte aufgeben müssen.

»Eine schöne Heirat!« schloß Sandoz ab.

Es war gegen zehn Uhr, als die beiden Freunde am Gittertor der Richaudière läuteten. Das ihnen noch unbekannte Besitztum versetzte sie in Erstaunen. Ein herrlicher Park, ein französischer Garten mit Rampen und wahrhaft fürstlichen Freitreppen, drei gewaltige Treibhäuser, besonders eine mächtige Kaskade, ein närrischer Bau aus Steinen und Zement und einer Wasserleitung, an die der Besitzer in seiner Eitelkeit als ehemaliger Bauhandlanger ein Vermögen verschwendet hatte. Was sie aber vor allem berührte, war die trübselige Öde des Herrensitzes, die sauber geharkten Alleen, die keinerlei Fußspur zeigten; die weiten, leeren Strecken, in die nur selten, hier und da, die Gestalt eines Gärtners Leben brachte; das wie ausgestorbene Haus, dessen Fenster, mit Ausnahme von zweien, die kaum halb offen standen, sämtlich geschlossen waren.

Als endlich ein Diener herbeigekommen war und sie nach ihrem Begehr gefragt hatte, antwortete er, als er erfahren, daß sie des Herrn wegen gekommen waren, in unverschämter Tonart, der Herr wäre hinter dem Hause in der Turnanstalt, worauf er sich entfernte.

Sandoz und Claude durchschritten eine Allee und bogen bei einem Rasenplatz ab. Was sie sahen, bannte sie einen Augenblick an den Fleck. Dubuche stand mit erhobenen Armen vor einem Trapez und hielt seinen Sohn Gaston, ein elendes, armes, zehnjähriges Wesen mit kraftlosen Ärmchen, während in einem kleinen Wagen sein Töchterchen Alice saß und wartete, bis es an die Reihe kam. Sie war ein frühgeborenes und so zurückgebliebenes Kind, daß sie mit ihren sechs Jahren noch nicht einmal laufen konnte; der Vater war ganz davon in Anspruch genommen, die gebrechlichen Gliedmaßen des Jüngelchens zu kräftigen. Er wiegte ihn, versuchte vergeblich, ihn dazu zu bringen, sich emporzuziehen. Als der schwache Versuch, den das Kind machte, ihn sofort in Schweiß setzte, hob Dubuche ihn herab und wickelte ihn in eine Decke ein. Das alles geschah schweigend und bot unter dem weiten Himmel inmitten des schönen Parkes einen unsagbar traurigen Anblick. Als Dubuche sich wieder aufrichtete, sah er die beiden Freunde.

»Wie! Ihr! ... Heute! Zum Sonntag! Und so ganz unvorhergesehen!«

Er hatte eine Handbewegung, die unangenehm berührte, und erklärte gleich, daß sonntags das Kammermädchen, das einzige weibliche Wesen, dem er die Kinder anzuvertrauen wage, in Paris wäre und daß er daher Alice und Gaston unmöglich auch nur eine Minute verlassen könnte.

»Ich wette, ihr kommt zum Frühstück?«

Auf einen Blick Claudes hin beeilte sich Sandoz zu antworten:

»Nein, nein! Wir können dir leider bloß guten Tag sagen ... Claude ist in Geschäften hier. Du weißt ja: er hat in Bennecourt gewohnt. Ich habe ihn begleitet, und da sind wir auf den Gedanken gekommen, mal mit bei dir vorzusprechen. Aber wir werden erwartet, laß dich also nicht stören.«

Sehr erleichtert tat Dubuche, als wollte er sie zurückhalten. Teufel noch mal! Ein Stündchen würden sie doch übrig haben. Sie kamen in Unterhaltung miteinander. Claude sah ihn an und war betroffen, wie sehr er gealtert hatte. Das gedunsene Gesicht hatte Falten bekommen, war, als wäre die Galle in die Haut gedrungen, gelb und rot durchädert, Kopfhaar und Schnurrbart schon ergraut. Dazu schien der ganze Körper zusammengesunken, und seine Bewegungen waren müde und verrieten Verbitterung. Die Fehlschläge des Kapitals waren also ebenso drückend wie die der Kunst. Stimme, Blick, alles an diesem zu Boden gedrückten Mann verriet die schmähliche Abhängigkeit, in der er sein Leben hinzubringen gezwungen war, den Bankerott seiner Zukunft und die beständige Anklage, die man ihm unter die Nase rieb, er habe ein Talent versprochen, das er nicht besaß, und schmarotze aus der Tasche der Familie; verriet, daß die Speisen, die er verzehrte, die Kleidung, die er trug, das Taschengeld, das er erhielt, ein Almosen war, das man ihm gab wie einem gemeinen Spitzbuben, dessen man sich nicht entledigen konnte.

»Wartet einen Augenblick!« fuhr Dubuche fort. »Bloß noch fünf Minuten für den anderen meiner kleinen Lieblinge; dann gehen wir nach vorn, ins Haus.«

Sanft, mit unendlicher, fast mütterlicher Sorgfalt hob er die kleine Alice aus dem Wagen und zum Trapez hinauf. Um sie zu ermutigen, stammelte er Liebkosungen, entlockte ihr ein Lächeln und ließ sie zur Entwicklung ihrer Muskeln zwei Minuten hängen. Doch verfolgte er dabei aus Sorge, ihre armen, gebrechlichen, wachsbleichen Händchen könnten ermüden und sie könnte herabfallen, mit ausgebreiteten Armen gewärtig jede ihrer Bewegungen. Sie sagte nichts, die blassen Augen weit aufgerissen gehorchte sie trotz ihrer Angst vor der Übung. Im übrigen war sie so leicht, daß sich nicht einmal die Stricke straff zogen; wie eins von den hektischen Vögelchen, die sich von einem Zweige lösen, ohne ihn in Bewegung zu setzen.

Aber da geriet Dubuche außer sich. Er hatte einen Blick zu Gaston hingetan und bemerkt, daß ihm die Decke herabgeglitten war und die Beine des Kindes bloß geworden waren.

»Mein Gott, mein Gott! Er wird sich doch in dem feuchten Gras wieder erkälten! Und ich kann nicht von der Stelle! ... Gaston, mein Liebling! Alle Tage ist es dasselbe: du wartest bloß so lange, bis ich mit deiner Schwester beschäftigt bin ... Sandoz, bitte! Deck ihn doch mal zu! ... Ah, danke! Schlag die Decke noch ein wenig zusammen! So! So!«

Das war also das Ergebnis seiner großartigen Heirat: diese zwei unfertigen, gebrechlichen Geschöpfe, die der geringste Lufthauch zu töten drohte wie Fliegen. Von dem ganzen erheirateten Glück war ihm nur das geblieben: der beständige Kummer, sein Fleisch und Blut verdorben und gebrechlich zu sehen, in diesen beiden beklagenswerten Wesen, in denen seine Rasse hinwelkte und in eine äußerst skrofulöse und schwindsüchtige Entartung gefallen war. Doch war aus diesem dicken, selbstsüchtigen Burschen ein bewunderungswürdiger Vater geworden, dessen Herz doch von einer Leidenschaft flammte, der bloß noch das eine Streben kannte, seine Kinder am Leben zu erhalten. Und stündlich kämpfte er dafür. Jeden Morgen rettete er sie und war doch in Angst, er könne sie am Abend verlieren. Inmitten seiner verfehlten Existenz, aller Bitterkeit der beleidigenden Vorwürfe seines Schwiegervaters und der freudlosen Nächte an der Seite seiner trübseligen Gattin blieben nur noch sie ihm. Und er gab sein Alles daran, sie dank des beständigen Wunders seiner Zärtlichkeit am Leben zu erhalten.

»So, mein Liebling! Nun ist's genug, nicht wahr? Du sollst mal sehen, wie groß und schön du werden wirst!«

Er setzte Alice wieder in den Wagen, nahm den noch immer eingewickelten Gaston auf den Arm. Als die Freunde ihm aber behilflich sein wollten, wehrte er ab und schob mit der frei gebliebenen Hand den Wagen seines Töchterchens.

»Danke, ich bin das gewöhnt! Die armen Dingerchen sind ja nicht schwer ... Und der Dienstboten ist man sich ja doch niemals sicher.«

Als sie in das Haus eintraten, bekamen Sandoz und Claude wieder den patzigen Diener zu Gesicht. Sie sahen, wie Dubuche vor ihm zitterte. Die Dienerschaft teilte die Verachtung des zahlenden Schwiegervaters und behandelte den Mann von Madame wie einen aus Gnade und Barmherzigkeit geduldeten Bettler. Bei jedem Hemd, das man ihm bereitete, jedem Stück Brot, um das er sich bei Tisch zu bitten getraute, kam er sich wie jemand vor, der aus Domestikenhand ein Almosen empfing.

»Leb wohl, wir gehen!« sagte Sandoz peinlich berührt.

»Nein, nein, wartet doch einen Augenblick ... Die Kinder sollen bloß erst frühstücken; nachher begleit' ich euch mit ihnen, sie müssen sowieso ihren Spaziergang machen.«

Solcherweise war jeder Tag, war Stunde für Stunde geregelt. Am Morgen die Dusche, das Bad, die gymnastische Übung, dann das Frühstück, das eine wichtige Angelegenheit bedeutete; denn sie bedurften einer ganz besonderen, wohlerwogenen und erörterten Nahrung; man ging dabei so weit, daß ihnen ihr mit einem Schuß Rotwein vermischtes Trinkwasser gewärmt wurde, da man befürchtete, daß sie, wenn sie's zu kühl tränken, den Schnupfen bekommen könnten. An diesem Tage erhielten sie ein in Fleischbrühe zerlassenes Eigelb und einen Happen Kotelett, den ihnen ihr Vater in ganz kleine Stücke zerschnitt. Dann kam vor dem Mittagsschlaf der Spaziergang.

Sandoz und Claude befanden sich wieder draußen und schritten mit Dubuche, der abermals Alices Wagen schob, während Gaston neben ihm ging, die breiten Alleen entlang. Während sie die Richtung zur Gittertür hin nahmen, unterhielten sie sich über das Anwesen; Dubuche schickte dabei, als fühle er sich nicht recht zu Hause, scheue Blicke umher. Übrigens wußte er über nichts Bescheid, bekümmerte sich um nichts. Er schien alles vergessen zu haben; sogar seinen Beruf als Architekt; es war ihm ja schon vorgeworfen worden, daß er ihn nicht verstehe. Seine Untätigkeit hatte ihn gänzlich verkommen lassen.

»Und wie geht's deinen Eltern?« erkundigte sich Sandoz.

Die matten Augen Dubuches belebten sich.

»Oh, meine Eltern sind wohlauf. Ich habe ihnen ein kleines Haus gekauft, in dem sie die Rente verzehren, die ich für sie im Ehekontrakt ausbedungen habe ... Meine Mutter hat ja für meine Ausbildung genug hergegeben; ich mußte ihr doch, wie ich versprochen hatte, alles wiedererstatten ... Oh, ich darf wohl sagen, daß sich meine Eltern über mich nicht zu beklagen haben.«

Sie waren beim Gittertor angelangt und verweilten noch ein paar Minuten. Endlich drückte Dubuche mit gebrochener Miene den alten Kameraden die Hand. Einen Augenblick behielt er die Claudes und schloß in einem einfach konstatierenden Ton, in dem sich noch nicht einmal Zorn ausdrückte:

»Leb wohl! Sieh zu, daß du dich wieder aufrappelst ... Ich habe mein Leben verfehlt.«

Sie sahen ihm nach, als er, Alice vor sich herschiebend und den schon stolpernden Gaston stützend, wieder zum Hause zurückkehrte. Er selber nahm sich mit seinem vorgewölbten Rücken und schweren Schritt wie ein Greis aus.

Es schlug eins. Traurig gestimmt und hungrig, beeilten sie sich, Bennecourt zu erreichen. Doch auch dort warteten ihrer trübe Nachrichten. Beide Faucheurs, Mann und Frau, und Vater Poirette waren gestorben. Die Gastwirtschaft war in die Hände der einfältigen Mélie übergegangen und bot einen abstoßend schmutzigen und unordentlichen Eindruck. Sie bekamen ein schauderhaftes Frühstück vorgesetzt. Im Eierkuchen fanden sich Haare, die Koteletts rochen nach ranzigem Fett. Vom Hof her drang der Gestank der Jauchengrube in das große Zimmer herein, die Tische waren schwarz von Fliegen. Das alles in der drückenden Schwüle des Augustnachmittags. Sie hatten nicht den Mut, sich auch noch Kaffee kommen zu lassen, und machten sich davon.

»Und wie schwärmtest du für Mutter Faucheurs Eierkuchen!« sagte Sandoz. »Ein zugrunde gewirtschaftetes Anwesen ... Wir wollen noch einen Rundgang machen, nicht wahr?«

Claude wollte nein sagen. Seit dem Morgen trieb er immer zur Eile an, als könnte jeder Schritt ihm die Lästigkeit des Aufenthaltes verkürzen und ihm Paris näherbringen. Sein Herz, sein Kopf, sein ganzes Sein war dort zurückgeblieben. Er sah weder nach rechts noch nach links, schritt dahin, ohne etwas von den Feldern und Bäumen zu sehen, hatte nichts im Kopf als seine fixe Idee. Es ging fast bis zur Halluzination und so weit, daß es ihm war, als sähe er die Spitze der Cité sich über den weiten Stoppelfeldern erheben und vernähme er ihren Ruf. Doch weckte Sandoz' Vorschlag ihm Erinnerungen. Eine Wehmut überkam ihn und er sagte:

»Ja, tun wir das! Suchen wir die alten Stätten!«

Doch je weiter sie die Uferböschungen hinschritten, um so mehr überwältigte ihn der Schmerz. Kaum erkannte er die Landschaft wieder. Um zwischen Bonnières und Bennecourt eine Verbindung herzustellen, hatte man eine Brücke gebaut. Großer Gott! Anstelle der alten, an ihrer Kette hinknarrenden Fähre, die eine so interessante Note gemacht, wenn sie schwarz das Wasser zerschnitten hatte, eine Brücke! Dann war noch, bei Port Villez, stromabwärts, eine Flußsperre errichtet worden; das Niveau des Flusses zeigte sich erhöht, die meisten von den Inseln waren verschwunden, die kleinen Wasserarme breiter geworden. Keiner von den reizenden Winkeln, von den lauschigen Verstecken war mehr da. Es war eine Verunstaltung, daß man sämtliche Wasserbautechniker hätte erwürgen mögen!

»Sieh, die Weidengruppe, die dort noch hervorragt, da links, das war Barreux, die Insel, wo wir im Grase miteinander plauderten, weißt du noch? ... Ah, die Schufte!«

Auch Sandoz, der es nicht sehen konnte, wenn ein Baum umgehauen wurde, ohne daß er dem Holzfäller grollte, erbleichte vor Unwillen und war ganz außer sich darüber, daß man gewagt hatte, das schöne Naturbild dermaßen zu verschandeln.

Als Claude sich dann aber seiner ehemaligen Wohnung näherte, biß er stumm die Zähne zusammen. Das Haus war an Städter verkauft worden. Es hatte jetzt ein Gittertor. Er lehnte die Stirn dran. Die Rosensträucher waren eingegangen, auch die Aprikosenbäume. Mit seinen kleinen Gängen, seinen Blumenrabatten und den von Buchsbaum eingefaßten Gemüsebeeten bot sich der Garten sehr schmuck und spiegelte sich in einer verzinnten Glaskugel, die in der Mitte auf einem Postament stand. Das Haus war frisch gestrichen. Die Ecken und Umrahmungen der Fenster waren in einer Weise bemalt, daß es Sandstein vortäuschen sollte. Das Ganze zeigte eine linkische Aufmachung, die einen plumpen Emporkömmling verriet und den Maler ganz außer sich brachte. Nein, da war nichts mehr von ihm und Christine, nichts, was noch an ihre große Jugendliebe erinnert hätte! Aber er wollte noch weiter zusehen. Er begab sich hinter das Haus und suchte nach dem kleinen Eichengehölz, dem grünen Winkel, in dem noch der Seelenhauch ihrer ersten Umarmung leben mußte. Aber es war nicht mehr da, war weg wie alles übrige, war niedergehauen, verkauft, verbrannt worden. Da schleuderte er mit einer fluchenden Handbewegung seinen Kummer über diese ganze, so veränderte Landschaft hinaus, die nicht eine Spur des Lebens, das er hier verbracht, mehr aufwies. Ein paar Jahre hatten also genügt, die Stätte zu verwischen, wo man gearbeitet, genossen, gelitten hatte! Wie eitel war alles Streben, wenn der Wind, der hinter dem Wandernden herweht, die Spur seiner Schritte tilgen darf! Er hatte gleich gewußt, daß er nicht hätte hierher zurückkehren sollen, denn was war die Vergangenheit weiter als der Friedhof unserer Einbildungen? Man stolperte bloß über Gräber.

»Komm fort von hier!« rief er. »Schnell fort von hier! Es ist ein Unsinn, sich das Herz so schwer zu machen!«

Als sie auf der neuen Brücke angelangt waren, suchte Sandoz ihn zu beruhigen, indem er ihn auf ein Motiv aufmerksam machte, das vormals noch nicht existiert hatte: auf den verbreiterten Stromlauf der Seine, die in majestätischer Ruhe dahinströmte. Aber dieser Wasserblick interessierte Claude nicht. Er hatte nur den einen Gedanken, daß es dasselbe Wasser war, das Paris durchquerte und gegen die alten Quais der Cité anplätscherte. Und weit von dorther grüßte es ihn, so daß er sich einen Augenblick überbeugte und die herrliche Widerspiegelung der Türme von Notre-Dame und der Turmspitze von Sainte- Chapelle zu sehen glaubte, die der Strom mit sich dem Meer entgegentrug.

Die Freunde verfehlten den Dreiuhrzug. Es war ihnen eine Pein, noch volle zwei Stunden in dieser Landschaft zubringen zu müssen, von der sie eine solche Bedrückung erfuhren. Glücklicherweise hatten sie zu Hause hinterlassen, daß sie, falls sie zurückgehalten würden, mit einem Nachtzug zurückkämen. So faßten sie den Entschluß, in einem Restaurant der Place du Havre zu dinieren, um den Tag wie ehemals im gemütlichen Nachtischgeplauder zu beschließen. Acht Uhr war's, als sie sich dort zu Tisch setzten.

Sobald Claude den Bahnhof verlassen hatte und sich wieder auf dem Pariser Pflaster befand, war seine nervöse Unruhe gewichen, und er fühlte sich wieder zu Hause. Mit der gleichgültigen, zerstreuten Miene, die ihm jetzt eigen war, hörte er auf das muntere Geplauder, mit dem Sandoz ihn aufzuheitern suchte. Sandoz traktierte ihn, als ob er eine Geliebte in Stimmung bringen wollte. Er bestellte ausgesucht feine und gewürzte Gerichte und schwere Weine. Doch es wollte keine rechte Munterkeit aufkommen. Schließlich wurde auch Sandoz trübsinnig. Jene undankbare Landschaft, jenes so geliebte, unvergeßliche Bennecourt, in welchem sie nicht einen Stein gefunden hatten, an den sich noch eine Erinnerung geknüpft hätte, brachte all seine Hoffnungen auf Nachruhm ins Wanken. Wenn selbst die ewig dauernden Dinge so schnell vergessen, durfte man dann auch nur noch einen Augenblick auf das Gedächtnis der Menschen zählen?

»Siehst du, mein Alter! Das ist es, was mich manchmal wie mit einem eiskalten Schauer überläuft ... Ist dir's auch so gegangen? Hast du daran gedacht, daß die Nachwelt am Ende doch nicht die unbestechliche Richterin sein könnte, wie wir's träumen? Man tröstet sich, daß man geschmäht, verkannt wurde, weil man auf das Gerechtigkeitsgefühl der kommenden Jahrhunderte zählt; man ist wie der Fromme, der alle Unbill dieser Erde in dem festen Glauben an ein anderes Leben erträgt, wo jeder nach Verdienst seinen Lohn empfängt. Wenn es nun aber für den Künstler ebensowenig ein Paradies gäbe wie für den gläubigen Katholiken; wenn die kommenden Generationen sich ebenso täuschten wie die Zeitgenossen und fortfahren sollten in dem Irrtum, der die gefälligen kleinen Torheiten den starken Werken vorzieht? ... Was für eine Prellerei wäre das, nicht? Welche Sträflingsexistenz, um einer Schimäre willen an die Arbeit geschmiedet zu sein! ... Bedenke, daß das immerhin nicht so ganz unmöglich ist. Es gibt allgemein anerkannte und bewunderte Größen, für die ich nicht zwei Heller geben würde. Zum Beispiel hatte die klassische Schule alles auf den Kopf gestellt, indem sie uns gewöhnt hat, geleckte, korrekte Burschen als Genies zu verehren, denen man frei, wennschon vielleicht ungleich schaffende und nur von wenigen gekannte Temperamente vorziehen kann. Die Unsterblichkeit wäre also nur ein Teil der bürgerlichen Mittelmäßigkeit, derer, die man uns mit aller Gewalt zu einer Zeit eintrichtert, wo wir noch nicht die Kraft haben, uns dagegen zu wehren ... Nein, nein! Man darf gar nicht davon sprechen, es könnte einen gruseln! Denn wo sollte ich den Mut zum Schaffen hernehmen, wie sollte ich sonst allem Hohn, der einen trifft, standhalten, wenn ich die trostreiche Einbildung aufgeben müßte, daß man mich eines Tages lieben wird?«

Stumpf hatte Claude ihn angehört. Dann aber sagte er mit bitterer Gleichgültigkeit:

»Bah! Was macht's? Es ist nichts ... Wir sind noch närrischer als die Dummköpfe, die sich um eines Weibes willen das Leben nehmen. Wenn einst die Erde wie eine taube Nuß in den Weltraum hinein zerplatzen wird, fügen unsere Werke ihrem Staub nicht ein Atom hinzu.«

»Wohl wahr!« schloß Sandoz erbleichend ab. »Wozu müht man sich, das Nichts zu füllen? ... Und doch, obschon wir's wissen, läßt unser Ehrgeiz nicht ab!«

Sie verließen das Restaurant, schlenderten durch die Straßen, vergruben sich von neuem in ein Cafe. Sie philosophierten weiter, kamen auf ihre Kindheitserinnerungen, was ihre trübe Stimmung nun erst noch ganz vollkommen machte. Es war ein Uhr morgens, als sie sich entschlossen, nach Hause zu gehen. Doch sagte Sandoz, daß er Claude bis zur Rue Tourlaque begleiten wollte. Es war eine herrliche, warme Augustnacht, der Himmel wimmelte von Sternen. So machten sie einen Umweg durch das Quartier de l'Europe und gelangten zum ehemaligen Café Baudequin am Boulevard des Batignolles. Der Wirt hatte dreimal gewechselt. Der Gastraum war auch nicht mehr derselbe, war übermalt worden und anders eingerichtet. Zur Rechten standen zwei Billards. Andere Gäste verkehrten; eine Generation war auf die andere gefolgt und hatte sie verdrängt, so daß die ehemalige verschwunden war wie eine ausgestorbene Völkerschaft. Trotzdem ließen sie sich von ihrer Neugier und der Rührung, in die sie der Austausch ihrer Vergangenheitserinnerungen versetzt hatte, treiben, den Boulevard zu überschreiten und in das Café, dessen große Eingangspforte weit offen stand, einen Blick zu werfen. Sie wollten sehen, ob links im Hintergrund noch ihr Stammtisch von damals vorhanden war.

»Oh, sieh!« sagte Sandoz überrascht.

»Gagnière!« flüsterte Claude.

Es war tatsächlich Gagnière, der ganz allein im leeren Saal hinten am Stammtisch saß. Er mochte eines der Sonntagskonzerte wegen, auf die er versessen war, von Melun hergekommen sein, hatte sich dann am Abend wohl in Paris verlassen gefühlt und war ganz mechanisch, aus alter Gewohnheit, zum Café Baudequin heraufgestiegen. Keiner der Kameraden setzte mehr einen Fuß hierher; nur er kehrte, ein einsamer Zeuge der früheren Zeit, noch beharrlich hier ein. Er hatte seinen Schoppen nicht angerührt. In seine Gedanken verloren, starrte er drauf nieder, merkte kaum, daß die Kellner, damit das Lokal am nächsten Morgen gescheuert werden konnte, die Stühle auf die Tische zu stellen anfingen.

Eilig setzten die beiden Freunde ihren Weg fort. Die unbestimmte Gestalt da hinten im Hintergrund beunruhigte sie; es war ihnen bang, als hätten sie ein Gespenst erblickt.

»Ach, der arme Dubuche!« sagte Sandoz, während er Claude die Hand drückte. »Er hat uns unseren ganzen Tag verdorben.«

Als im November alle alten Freunde wieder in Paris waren, dachte Sandoz daran, sie wieder zu einem seiner Donnerstagsdiners zu vereinigen, die er beibehalten hatte. Sie waren noch immer seine schönste Freude. Der Absatz seiner Bücher hatte sich gesteigert, hatte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Die Wohnung in der Rue de Londres war im Vergleich zu dem bescheiden bürgerlichen kleinen Haus in Batignolles sehr luxuriös ausgestattet. Er aber war unveränderlich der gleiche geblieben. Vor allem hatte er in seiner Gutherzigkeit vor, diesmal Claude mit einer der geliebten Zusammenkünfte ihrer Jugendzeit eine gewisse Zerstreuung zu verschaffen. Und so traf er bei den Einladungen eine sorgfältige Wahl. Selbstverständlich Claude und Christine; Jory und seine Frau, die man ja schon, seit sie verheiratet waren, empfangen mußte; dann Dubuche, der immer allein kam; Fagerolles, Mahoudeau und endlich Gagnière. Man würde zu zehn sein und nur die Kameraden der ehemaligen Schar. Nicht einer, der das gute Einvernehmen und den allgemeinen Frohsinn stören würde.

Henriette, die weniger zuversichtlich war, zeigte der Liste der Eingeladenen gegenüber Bedenken.

»Oh, Fagerolles? Meinst du? Fagerolles mit den anderen? Sie mögen ihn nicht ... Übrigens glaub' ich bemerkt zu haben, daß auch Claudes Verhältnis zu ihm sich abgekühlt hat ...«

Doch er unterbrach sie, wollte es nicht wahrhaben.

»Wie? Abgekühlt? ... Es ist doch merkwürdig, daß ihr Frauen es nicht verstehen könnt, wenn man sich mal etwas aufzieht. Was macht das? Kann man sich dabei nicht treu bleiben?«

An diesem Donnerstag traf Henriette eine besonders sorgfältige Wahl des Menüs. Sie kommandierte jetzt ein ganzes kleines Personal: Köchin und Diener. Und wenn sie die Gerichte auch nicht mehr selber zubereitete, so hielt sie doch nach wie vor aus Neigung zu ihrem Mann, dessen einziges »Laster« die Feinschmeckerei war, auf eine gewählte Tafel. Sie begleitete die Köchin in die Halle, begab sich in Person zu den Lieferanten. Die Eheleute schätzten besonders die gastronomischen Seltenheiten, die sie sich aus allen möglichen Weltgegenden herkommen ließen. Für diesmal entschied man sich für eine Ochsenschwanzsuppe, am Rost gebratene Meerbarben, Filet mit Pilzen, Raviolis à l'Italienne, russisches Haselhuhn, Trüffelsalat; außerdem als Hors d'œuvre Kaviar und Kilkis, praliniertes Eis, dann einen kleinen, smaragdgrünen ungarischen Käse, Früchte und Gebäck. Als Wein bloß alten Bordeaux in Karaffen, zum Braten Chambertin und zum Nachtisch moussierenden Moselwein als Ersatz für den als banal verworfenen Champagner.

Von sieben Uhr ab waren Sandoz und Henriette zum Empfang der Gäste bereit: er trug ein einfaches Jackett; sie bot sich sehr elegant in einer schwarzen Seidenrobe ohne weiteren Aufputz. Die Gäste erschienen im einfachen Gehrock. Der Salon, dessen Einrichtung kürzlich beendet war, war mit alten Möbeln, Tapisserien und Kleinigkeiten aller Völker und Jahrhunderte angefüllt; der Grundstock der Sammlung war der alte Rouener Blumentopf von Batignolles, den Henriette ihrem Manne damals zum Geschenk gemacht hatte. Sie gingen zusammen zu den Antiquitätenhändlern, hatten eine leidenschaftliche Freude daran, alles mögliche derart zusammenzukaufen. Sandoz befriedigte damit die ehemaligen Wünsche und romantischen Anwandlungen seiner Jugend, wie sie ihm aus seiner ersten Lektüre erwachsen waren, bis zu einem Grade und in einer Weise, daß er, der leidenschaftlich moderne Schriftsteller, jetzt in diesem wurmstichigen Mittelalter lebte, von dem er als Fünfzehnjähriger geschwärmt hatte. Als Entschuldigung mochte, wie er scherzend sagte, dienen, daß die guten modernen Möbel so teuer waren, während man mit dem Stil und der Farbentönung dieser alten Sachen, auch wenn sie nicht sehr kostbar waren, gleich einen guten Effekt erzielte. Er war kein eigentlicher Sammler: er sah bloß auf den Schmuck, auf den großen Gesamteindruck. Und so bot sich der von zwei alten Delfter Lampen erhellte Salon in sanft gedämpften, warmen Tönen; auf den Sitzen verblaßt, golden dalmatinische Meßgewänder; gelblich inkrustierte italienische Kästchen, holländische Glasschränke, die weichen Töne orientalischer Teppiche, alle möglichen geschnitzten Elfenbeinarbeiten, Fayencen, Emaillearbeiten; alles vom Alter gebleicht und sich von der dunkelroten Tapete abhebend.

Als die ersten trafen Claude und Christine ein. Die letztere hatte ihre einzige, schon abgenutzte, schwarzseidene Robe an, die sie mit der äußersten Sorgfalt für dergleichen Gelegenheiten aufsparte. Henriette ergriff sie sogleich bei beiden Händen und zog sie auf einen Diwan. Sie war ihr sehr zugetan und fragte sie aus, als sie wahrnahm, wie seltsam sie war, wie bleich sie war und wie unruhig ihr Blick. Was war ihr? War sie nicht recht wohlauf? Nein, nein! Sie wäre ganz munter und freue sich, hier zu sein. Aber dabei sah sie jeden Augenblick, als wollte sie ihn beobachten, zu Claude hinüber. Claude seinerseits war sehr aufgeregt. Seine Gesten und seine Rede hatten etwas Fieberhaftes. Seit Monaten kannte Sandoz ihn nicht mehr so. Zuweilen aber schwand diese Aufgeregtheit. Dann verhielt er sich schweigend und starrte ins Leere, als würde er von irgendwoher angerufen.

»Ah, mein Alter!« sagte er zu Sandoz. »Ich habe diese Nacht dein Buch zu Ende gelesen. Es ist eine sehr starke Sache. Du stopfst ihnen diesmal gründlich das Maul.«

Sie standen beim lustig knatternden Kamin. Der Schriftsteller hatte einen neuen Roman veröffentlicht. Und obschon die Kritik nicht die Waffen streckte, so erhob sich doch um dies neueste Werk jenes Aufsehen des Erfolges, das einem Mann den fortgesetzten Angriffen seiner Gegner gegenüber Achtung und Geltung sichert. Übrigens gab er sich keinen Illusionen hin. Er wußte, daß der Kampf, obwohl gewonnen, bei jedem seiner Bücher von neuem anheben würde. Seine große Lebensarbeit rückte vorwärts. Jene Romanfolge, die er mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit Band auf Band auf das Ziel losgehend veröffentlichte, ohne sich durch was für Hindernisse, Schmähungen und Erschöpfungen auch immer beirren zu lassen.

»Es ist wahr«, antwortete er munter, »sie lassen diesmal doch etwas locker. Es hat mir sogar einer das gezwungene Zugeständnis machen müssen, daß ich ein anständiger Mann wäre; da sieht man, wie alles so seinen Übergang hat!... Aber laß nur gut sein: sie werden's schon noch nachholen. Ich kenne welche, deren Schädel doch zu verschieden von dem meinen sind, als daß sie jemals mein literarisches Bekenntnis, meine kühne Sprache, meine physiologische Menschheit, die sich unter dem Einfluß des Milieus entwickelt, unterschreiben könnten. Und ich rede nur von den ernst zu nehmenden Kollegen; die Schafsköpfe und Lumpenhunde lass' ich beiseite ... Das gescheiteste ist, siehst du, daß man, will man munter drauflosarbeiten, weder auf Aufrichtigkeit noch auf Gerechtigkeit baut. Um recht zu haben, muß man erst tot sein.«

Claudes Augen hatten sich, als wollten sie die Wand durchdringen, jäh in einen Winkel des Salons gerichtet, von woher ihn irgend etwas angerufen hatte. Doch dann trübten sie sich, kehrten zurück, und er sagte:

»Bah, du sprichst von dir! Wenn ich sterbe, so werd' ich unrecht gehabt haben ... Aber einerlei: dein Buch hat mich mächtig gepackt. Ich wollte heute malen, aber es war mir unmöglich. Ah, es ist gut, daß ich auf dich nicht eifersüchtig sein kann; du würdest mich zu unglücklich machen.«

Aber da tat sich die Tür auf und, gefolgt von Jory, trat Mathilde herein. Sie trug eine reiche Toilette: eine Tunika von dunkelorangenem Sammet über einer Robe von strohgelbem Atlas, Brillanten in den Ohren und ein dickes Rosenbukett am Busen. Was Claude aber erstaunte, war, daß er sie kaum wiedererkannte. So mager und ausgedörrt sie früher gewesen war, so fett, rund und blond war sie heute. Ihre damalige erschreckende Häßlichkeit hatte sich in eine bürgerlich fette Rundung verwandelt. Ihr Mund mit seinen schwarzen Zahnlücken zeigte heute, wenn sie mit einem geringschätzigen Kräuseln der Lippen zu lächeln geruhte, nur zu auffallend weiße Zähne. Sie wirkte übertrieben respektabel. Ihre fünfundvierzig Jahre gaben ihr neben ihrem viel jüngeren Gatten, der sich wie ihr Neffe ausnahm, ein Ansehen. Das einzige, was sie beibehalten hatte, war der überstarke Parfümduft. Sie tränkte sich mit den stärksten Essenzen, als hätte sie versucht, aus ihrer Haut die aromatischen Gerüche herauszubringen, mit denen sie der Kräuterladen durchdrungen hatte. Doch der bittere Rhabarbergeruch, der scharfe des Holunders, der stechende der Pfefferminze hatten überdauert; und wie sie den Salon durchschritt, füllte sie ihn mit einem undefinierbaren, nur etwas mit Moschus versetzten Medizingeruch an.

Henriette, die sich erhoben hatte, ließ sie Christine gegenüber Platz nehmen.

»Sie kennen einander, nicht wahr? Sie sind sich hier ja schon begegnet.«

Mathilde tat auf die bescheidene Toilette dieser Frau, die, wie es hieß, lange mit einem Manne, ohne mit ihm verheiratet zu sein, zusammengelebt hatte, einen kühlen Blick. Seit die in literarischen und künstlerischen Kreisen herrschende Toleranz ihr Zutritt selbst in einigen Salons gewährt hatte, war sie in diesem Punkte von einer unerbittlichen Strenge. Im übrigen nahm Henriette, welche sie verabscheute, nachdem der Höflichkeit mit ein paar Redensarten Genüge geschehen war, ihre Unterhaltung mit Christine wieder auf.

Jory hatte Claude und Sandoz die Hand gedrückt. Und während er mit ihnen beim Kamin stand, entschuldigte er sich Sandoz gegenüber wegen eines am selben Vormittag in seiner Revue erschienenen Artikels, der den Roman des Dichters sehr heruntergemacht hatte.

»Mein Lieber, du weißt ja, man ist niemals ganz Herr in seinem eigenen Hause ... Ich müßte alles selber machen, aber ich habe so wenig Zeit! Stell dir vor, daß ich den Artikel noch nicht mal gelesen hatte, da ich mich auf das verließ, was mir darüber gesagt worden war. Du kannst dir also meinen Zorn vorstellen, als ich ihn heute las ... Ich bin trostlos, trostlos ...«

»Aber laß doch, es ist doch in der Ordnung so«, antwortete Sandoz ruhig. »Jetzt, wo meine Feinde anfangen, mich zu loben, müssen mich meine Freunde doch angreifen.«

Von neuem tat sich die Tür auf, und leise glitt mit seiner sonderbaren Schattenhaftigkeit Gagnière herein. Er kam geradeswegs von Melun, ganz allein. Denn er führte seine Frau nirgends ein. Wenn er so zum Diner kam, zeigten seine Schuhe noch den Staub der Provinz, den er dann mit dem Nachtzug wieder heimtrug. Übrigens war er unverändert, schien immer jünger zu werden, nur sein Haar wurde mit den Jahren lichter.

»He, Gagnière ist ja da!« rief Sandoz.

Während Gagnière endlich die Damen begrüßte, hielt Mahoudeau seinen Einzug. Er war schon grau geworden. Aber in seinem scheuen, faltigen Gesicht flackerten noch seine hellen Kinderaugen. Noch immer trug er zu kurze Beinkleider, und sein Gehrock schlug auf dem Rücken Falten, obwohl er jetzt gut verdiente. Denn der Bronzefabrikant, für den er arbeitete, hatte einige reizende Statuetten von ihm in den Handel gebracht, die man auf den Kaminsimsen und Konsolen der gutbürgerlichen Wohnungen zu erblicken anfing.

Sandoz und Claude hatten sich umgewandt. Sie waren auf Mahoudeaus Zusammentreffen mit Mathilde und Jory neugierig. Aber die Sache wickelte sich sehr einfach ab. Der Bildhauer machte vor ihr eine respektvolle Verbeugung, als der Gatte mit seiner unbefangenen Munterkeit ihn ihr, vielleicht schon zum zwanzigsten Male im Laufe der Zeit, vorstellte.

»Hier ist meine Frau, Kamerad! Gebt euch doch die Hand!«

Wie Leute von Welt, denen man eine verfrühte Vertraulichkeit aufnötigt, reichten sich Mathilde und Mahoudeau sehr würdevoll die Hand. Doch sobald der letztere diese Formalität erledigt hatte und hinten in seiner Ecke mit Gagnière zusammensaß, begannen sie lachend mit schonungslosen Worten sich die Abscheulichkeiten von damals in Erinnerung zu bringen. He, heute hatte sie Zähne; früher konnte sie glücklicherweise noch nicht beißen!

Man wartete noch auf Dubuche, der ausdrücklich zugesagt hatte, daß er kommen werde.

»Ja«, erklärte Henriette laut, »wir werden bloß neun sein. Fagerolles hat heut früh geschrieben und sich entschuldigt: ein offizielles Diner, zu dem er plötzlich hin mußte ... Gegen elf wird er für einen Augenblick kommen.«

Doch in diesem Augenblick wurde eine Depesche gebracht. Dubuche telegraphierte: »Kann unmöglich fort. Alice hat bedenklichen Husten.«

»Nun, so werden wir also acht sein«, fuhr Henriette fort, verstimmt, weil die Zahl ihrer Gäste sich vermindert hatte.

Als der Diener aber die Tür zum Eßzimmer öffnete und ankündigte, daß serviert sei, fügte sie hinzu:

»So sind wir denn vollzählig ... Bitte, Ihren Arm, Claude!«

Sandoz hatte den Mathildens genommen, Jory übernahm Christine, während Mahoudeau und Gagnière, die in ihrem blutigen Spott über die »Aufpolsterung« der »schönen Kräuterhändlerin« fortfuhren, hinterhergingen.

Der Speisesaal, den man jetzt betrat, war sehr groß, bot sich gegen den matt erleuchteten Salon sehr lebhaft hell. Die mit alten Fayencen bedeckten Wände zeigten die lustige Buntheit von Epinaler Bilderbogen. Zwei Dressoirs, das eine mit Glassachen, das andere mit Silberzeug, funkelten wie die Schaufenster eines Juweliers. Besonders aber strahlte in der Mitte unter den Kerzen der Kronleuchter wie eine lichterstrahlende Kapelle die Tafel mit ihrem blendend weißen Tischtuch, von dem die schön geordneten Gedecke sich abhoben, die gemalten Teller, die geschliffenen Gläser, die weißen und roten Karaffen, die symmetrisch rings um einen Korb mit purpurroten Rosen gereihten Hors d'œuvres.

Man ließ sich nieder. Henriette zwischen Claude und Mahoudeau, Sandoz zwischen Mathilde und Christine, Jory und Gagnière an beiden Tischenden. Der Diener hatte eben die Suppe aufgetragen, als Frau Jory ein unglückliches Wort fallen ließ. Sie wollte liebenswürdig sein, hatte aber nichts von den Entschuldigungen ihres Mannes gehört, und so wandte sie sich an den Hausherrn:

»Nun, Sie sind gewiß mit dem heut morgen erschienenen Artikel zufrieden gewesen. Edouard hat selber mit so viel Sorgfalt die Revision gelesen.«

»Aber nein! Aber nein!« stotterte Jory in größter Verwirrung. »Er ist sehr schlecht. Du weißt doch, daß er gestern abend während meiner Abwesenheit aufgenommen wurde.«

Das verlegene Schweigen, das eingetreten war, brachte Mathilde zum Bewußtsein, was für einen Fehler sie gemacht hatte. Doch sie machte die Sache noch schlimmer, indem sie Jory einen scharfen Blick zuwarf und, um die Schuld auf ihn zu wälzen und sich aus der Affäre zu ziehen, sehr laut antwortete:

»Wieder mal eine von deinen Lügereien! Ich habe nur wiederholt, was du mir gesagt hast ... Ich lasse mich von dir nicht lächerlich machen, verstehst du?«

Der Zwischenfall gestaltete den Anfang des Diners sehr unbehaglich. Vergeblich empfahl Henriette die Kilkis; nur Christine fand sie ausgezeichnet. Sandoz, den Jorys Verlegenheit ergötzte, erinnerte ihn, als die Seebarben erschienen, fröhlich an ein Frühstück, das sie seinerzeit miteinander in Marseille eingenommen hatten. Oh, Marseille war die einzige Stadt, wo man zu essen verstand!

Claude, der sich seit einiger Zeit in Grübeleien verloren hatte, schien aus dem Traum zu erwachen und fragte ohne weiteren Übergang:

»Ist es schon entschieden? Sind die Künstler für die neue Ausschmückung des Stadthauses schon gewählt?«

»Nein«, sagte Mahoudeau. »Es soll erst geschehen ... Ich werde nichts davon haben, denn ich habe keine Protektion ... Auch Fagerolles beunruhigt sich. Wenn er heut abend nicht hier ist, so ist das ein Zeichen, daß seine Sache nicht gut steht... Ah ja, mit seinen fetten Jahren ist's auch vorbei. Es kracht. Mit ihrer Millionenmalerei hat's ein Ende.«

Er hatte ein höhnisches Lachen. Endlich sah sein Groll gegen Fagerolles sich befriedigt. Auch Gagnière ließ vom anderen Tischende her ein höhnisches Lachen vernehmen. Dann aber machten sie ihrem Herzen Luft und nahmen kein Blatt mehr vor den Mund. Die Krisis, welche die Kreise der jungen Meister beunruhigte, gereichte den beiden zu lebhafter Genugtuung. Es war eine böse Sache. Was man vorausgesagt hatte, traf ein: die schwindelhafte Hausse in der Malerei schlug in eine Katastrophe um. Seit sich die Panik der von der Verwirrung der Börsenleute angesteckten Kunstliebhaber bemächtigt hatte und der Baissenwind wehte, fielen die Preise von Tag zu Tag und wurde nichts mehr abgesetzt. Mitten in dieser allgemeinen Zerrüttung der Geschäfte mußte man nun aber das Verhalten des berühmten Naudet sehen! Er hatte sich zunächst gut gehalten und war auf den sogenannten »Amerikanerzug« gekommen. Er versteckte wie ein im Allerheiligsten verschlossenes Götzenbild ein Gemälde im Hintergrunde seiner Galerie und weigerte sich dann achselzuckend, den Preis zu nennen, als zweifelte er daran, daß jemand reich genug wäre, ihn zu zahlen. Auf diese Weise brachte er es dann endlich auch für zwei-, dreihunderttausend Franken bei einem Neuyorker Schweinehändler an, der den Ruhm genoß, das teuerste Bild des Jahres erworben zu haben. Doch das war eine Finte, die sich nicht zum zweiten Male durchführen ließ, und Naudet, dessen Ausgaben mit seinen Einnahmen angewachsen waren, sah sich jetzt in die tolle Bewegung, die sein Werk war, verwickelt, verlor den Boden unter den Füßen und hörte schon seinen fürstlichen Palast unter dem Ansturm der Gerichtsvollzieher über seinem Kopf zusammenkrachen.

»Mahoudeau, wollen Sie nicht von den Pilzen nehmen?« unterbrach Mathilde liebenswürdig.

Der Diener reichte das Filet herum. Man aß, leerte die Karaffen, aber die Stimmung wurde so gallig, daß all die guten Dinge zum Leidwesen der Hausfrau und des Hausherrn ungewürdigt verschwanden.

»Wie, Pilze?« wiederholte der Bildhauer endlich. »Nein, danke!«

Und schon fuhr er fort:

»Köstlich ist's, daß Fagerolles von Naudet gerichtlich verfolgt wird. Wahrhaftig, er ist drauf und dran, ihn pfänden zu lassen ... Ah, es ist zum Totlachen! Das wird mit all den reizenden, kleinen Malerpalästen in der Avenue Villiers ein Aufräumen geben! Im Frühling wird man sie für einen Pappenstiel erstehen können ... Also Naudet, der Fagerolles doch gezwungen hatte zu bauen, der ihn ausgehalten hatte wie ein Dämchen, will ihm jetzt seine Nippes und Teppiche wieder abnehmen. Aber Fagerolles hat, scheint's, schon Geld darauf aufgenommen... Da habt ihr die Geschichte: der Händler beschuldigt ihn, ihm, weil er in seiner maßlosen Eitelkeit ausgestellt hätte, das Geschäft verdorben zu haben; der andere aber gibt ihm zurück, er wolle sich nicht länger ausbeuten lassen. Kurz, es steht zu hoffen, daß sie sich gegenseitig auffressen.«

Aus seiner Verträumtheit auftauchend, erhob jetzt auch Gagnière mild, aber unerbittlich seine Stimme.

»Aus mit Fagerolles! – Übrigens hat er nie Erfolg gehabt.«

Es wurde protestiert, an seinen jährlichen Absatz von hunderttausend Franken, seine Medaillen, das Kreuz der Ehrenlegion erinnert, das er erhalten hatte. Doch Gagniere blieb dabei, hatte bloß ein geheimnisvolles Lächeln, das andeutete, die Tatsachen könnten seine Überzeugung nicht umwerfen. Verächtlich schüttelte er den Kopf.

»Laßt mich zufrieden! Niemals hat er davon eine Ahnung gehabt, was das Gleichgewicht der Töne ist!«

Jory, der den Erfolg Fagerolles' für sein Werk hielt, schickte sich an, für sein Talent einzutreten. Aber Henriette bat sie freundlich, doch ihren Raviolis einige Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Weile klangen die Gläser, klapperten die Gabeln, und der Lärm schwieg. Aber die Tafel, mit deren schöner Anordnung es schon aufzuhören anfing, schien sich im Feuer des wilden Streites dann nur noch mehr zu erhitzen. Sandoz wurde von einer unruhigen Nachdenklichkeit ergriffen. Weshalb fielen sie so scharf über Fagerolles her? War ihr Anfang nicht ein gemeinsamer gewesen, und mußte also nicht auch ihr Sieg ein gemeinsamer sein? Zum erstenmal erfuhr sein Traum dauernder Kameradschaftlichkeit, erfuhr seine Freude an diesen Donnerstagabenden, die doch mit ungestörter, glücklicher Gleichmäßigkeit bis in alle Zukunft hinein weitergehen sollten, eine Trübung. Doch noch griff dies Unbehagen nicht tiefer, und lachend sagte er:

»Claude, aufgepaßt! 's gibt Haselhühner! ... He, Claude! Wo bist du?«

Seitdem Schweigen eingetreten war, war Claude in sein verlorenes Brüten zurückgesunken und hatte, ohne es zu wissen, sich von den Raviolis bedient, während Christines rührend stummer, trauriger Blick nicht von ihm abwich. Er fuhr auf und wählte von den Haselhühnern, die jetzt herumgereicht wurden und deren Dampf das Zimmer mit einem herzhaften Harzgeruch füllte, einen Schenkel aus.

»He, riecht ihr's?« rief Sandoz hei bester Stimmung. »Es ist einem, als ob man alle Wälder Rußlands in sich aufnähme.«

Doch Claude kam wieder auf die Gedanken zurück, die ihn bewegten.

»Also ihr meint, daß Fagerolles die Ausschmückung des Gemeinderatssaales erhalten wird?«

Das Wort genügte, um Mahoudeau und Gagnière wieder in ihr Fahrwasser zu bringen. Ah, das würde eine schöne Anstreicherei werden, wenn man ihm den Saal gab. Gekrochen hatte er ja genug, um ihn zu bekommen. Und früher hatte er als großer, von den Liebhabern überlaufener Künstler sich den Kuckuck was um Aufträge geschert. Aber seit seine Bilder nicht mehr gingen, antichambrierte er im Ministerium auf die widerlichste Weise. Konnte man sich etwas Jämmerlicheres als einen Künstler vorstellen, der vor einem Beamten katzbuckelte und sich zu feigen Zugeständnissen erniedrigte? Eine Schmach und Schande war solche Herabwürdigung der Kunst, die reine Domestikenschule! Sich so unter die Willkür eines stumpfsinnigen Ministers zu ducken! Sicher war Fagerolles augenblicklich auf diesem offiziellen Diner dabei, irgendeinem Trottel von Bureauchef gründlich die Schuhe zu lecken!

»Mein Gott!« äußerte Jory. »Er macht eben sein Geschäft. Und er tut recht daran... Ihr bezahlt ihm seine Schulden ja doch nicht.«

»Schulden? Hab' ich etwa welche, obgleich ich am Hungertuch sog?« entgegnete Mahoudeau schroff. »Hatte er nötig, sich einen Palast zu bauen, sich Maitressen wie diese Irma zu halten, die ihn zugrunde richtet?«

Von neuem unterbrach Gagnière mit seiner seltsam wie von weither kommenden Orakelstimme, die klang, als ob sie einen Sprung hätte:

»Irma? Aber sie hält ja ihn aus!«

Man ereiferte sich, es fielen Späße, der Name Irmas flog über den Tisch hin und her. Mathilde, die bislang ein zurückhaltendes Schweigen bewahrt hatte, war jetzt ganz die anständige Frau, tat sehr empört, verzog frömmelnd den Mund, hob entsetzt die Hände.

»Oh, meine Herren! Oh, meine Herren! ... In unserer Gegenwart sprechen Sie von diesem Mädchen! ... O bitte, tun Sie das nicht!«

Mit Bestürzung blickten Henriette und Sandoz jetzt auf die Art und Weise, wie ihr schönes Mahl verzehrt wurde. Der Trüffelsalat, das Eis, der Nachtisch, alles wurde, wie sie immer erregter drauflos stritten, ohne Lust und Liebe hinabgeschlungen, der Chambertin, der Mosel wie Wasser hinuntergestürzt. Vergeblich bewahrte Henriette ihr liebenswürdiges Lächeln, suchte er in seiner Gutmütigkeit die Freunde zu besänftigen, alles als menschliche Schwäche zu entschuldigen. Keiner ließ nach; ein Wort genügte, um sie wütend von neuem aufeinander loszuhetzen. Mochten die früheren Zusammenkünfte manchmal an einer unbestimmten Langeweile, einem müden Gesättigtsein gelitten haben: heute schienen sie sich in wildem Kampfeseifer gegenseitig zerfleischen zu wollen. Die Kerzen der Kronleuchter flackerten hoch auf; an den Wänden die Fayencen ließen grell ihre Blumenmalereien hervortreten, der ganze Tisch schien mit seinen in Unordnung geratenen Gedecken von diesem leidenschaftlichen Wortwechsel, diesem seit zwei Stunden tobenden Tumult in Brand geraten.

Als Henriette sich endlich, um sie zum Schweigen zu bringen, die Tafel aufzuheben entschloß, sagte Claude noch mitten in den Lärm hinein:

»Ah, das Stadthaus! Hätt' ich's! Und dürft' ich, wie ich wollte! ... Es war ja mein Traum, die Häuser von Paris mit Gemälden zu bedecken!«

Sie begaben sich in den Salon zurück. Der kleine Kronleuchter und die Wandleuchter waren hier angesteckt worden; aber es war im Vergleich mit der Badestubenhitze, aus der man kam, fast kühl. Der Kaffee beruhigte die Gäste für einige Zeit. Übrigens wurde außer Fagerolles niemand mehr erwartet. Denn ihr Salon war sehr verschlossen; es wurden hier weder Vertreter der Presse geangelt, noch Klienten gepreßt. Die Hausfrau machte sich nichts aus Gesellschaften, und der Hausherr pflegte lachend zu sagen, er brauche zehn Jahre, ehe er jemanden für immer ins Herz schlösse. Aber ein paar wenige solide Freundschaften, ein gemütlich-trauliches Zusammensein: das war ja ein Glück, das sich nicht verwirklichen ließ. Niemals wurde bei ihnen Musik gemacht, nie eine Zeile Literatur gelesen.

Der heutige Donnerstag zog sich infolge der heimlich nachwirkenden Erregung in die Länge. Die Damen hatten beim erlöschenden Feuer eine Unterhaltung angefangen. Als der Diener aber, nachdem er die Tafel abgedeckt, die Speisesaaltür wieder auftat, blieben sie allein; die Männer begaben sich, um zu rauchen und Bier zu trinken, nebenan.

Sandoz und Claude, die nicht rauchten, kamen bald wieder zurück und ließen sich miteinander auf ein in der Nähe der Tür stehendes Kanapee nieder. Jener, der sich freute, den Freund so angeregt und gesprächig zu sehen, brachte anläßlich einer Nachricht, die er gestern erhalten, die Unterhaltung auf ihre Plassanser Jugenderinnerungen. Ja, Pouillaud, der einst den Streich im Schlafsaal des Kollegs gemacht und der ein so würdiger Advokat geworden war, war mit den Gerichten in Konflikt gekommen, weil er sich an zwölfjährigen Mädchen vergriffen hatte. So ein Biest! Doch Claude ging bald nicht mehr darauf ein. Er lauschte angestrengt nach dem Speisesaal hin. Er hatte drin seinen Namen nennen hören und versuchte herauszubekommen, um was es sich handelte.

Jory, Mahoudeau und Gagnière hatten noch nicht genug und waren mit Hingabe wieder bei der Abschlachtung. Zuerst hatten sie im Flüsterton gesprochen, dann aber waren sie allmählich lauter geworden; schließlich schrien sie.

»Oh, den Menschen, den geb' ich euch preis«, äußerte Jory mit Bezug auf Fagerolles. »Es ist nicht viel mit ihm los ... Und wirklich! Er hat euch hineingelegt, gründlich, als er mit euch brach und sich auf eure Kosten den Erfolg machte! Freilich seid ihr dabei auch nicht gerade die Klügsten gewesen.«

Wütend entgegnete Mahoudeau:

»Ja, natürlich! Und warum? Man brauchte es ja bloß mit Claude zu halten, wenn man überall 'rausgeschmissen werden wollte!«

»Ja, Claude hat uns unmöglich gemacht«, bestätigte Gagnière geradeheraus.

Und so ging's weiter. Nachdem sie Fagerolles wegen seiner Kriecherei vor den Journalen, seiner Verbindung mit ihren Feinden, seinen Schmeicheleien den alten Baroninnen gegenüber hatten fallen lassen, ging es über Claude als den Hauptschuldigen her. Lieber Gott, der andere war schließlich eben bloß ein Lump, wie es unter den Künstlern so viele gab, die dem Publikum wie die Dirnen an den Straßenecken nachliefen und, um die Spießer zu gewinnen, die Kameraden schlechtmachten. Claude aber, der verpfuschte große Maler, der so unfähig war, daß er trotz all seinem Dünkel nicht eine Figur richtig auf die Beine stellen konnte: er war's, der sie bloßgestellt und hineingelegt hatte! Ah ja, sie hätten zur rechten Zeit mit ihm brechen sollen! Wäre ihnen bloß Zeit geblieben, noch einmal von vorn anzufangen, dann wären sie sicher nicht so dumm gewesen, sich auf unmögliche Dinge zu versteifen. Sie beschuldigten ihn, ihre Kraft gelähmt, sie ausgebeutet zu haben. Jawohl, ausgebeutet hatte er sie; aber so ungeschickt und plump, daß er nicht einmal selber etwas davon gehabt hatte.

»Hat er zum Beispiel mich«, fuhr Mahoudeau fort, »nicht eine Zeitlang zum Idioten gemacht? Wenn ich daran denke, so fass' ich mich an den Kopf, begreif ich nicht, wie ich mich ihm jemals anschließen konnte. Denn bin ich ihm etwa ähnlich? Haben wir auch nur das Geringste miteinander gemeinsam? ... He, ist es nicht zum Verzweifeln, daß man so spät zur Einsicht kommt?«

»Und hat er mir nicht meine Eigenart gestohlen?« fuhr Gagnière fort. »Denkt ihr etwa, daß es mir Spaß macht, wenn ich bei jedem Bild seit fünfzehn Jahren hinter meinem Rücken hören muß: Es ist ein Claude! ... Ah, nein! Ich hab's satt! Lieber mal' ich überhaupt nicht mehr ... Aber hätt' ich damals klar gesehen, so hätt' ich mich mit ihm nicht so viel eingelassen.« Es war das allgemeine »Rette sich wer kann«. Nachdem sie in ihrer Jugend so lange in brüderlichem Verkehr miteinander gestanden, erlebten sie's zu ihrer starren Verwunderung, daß sie einander fremd und feindlich gegenüberstanden und alle Bande rissen; das Leben hatte sie unterwegs voneinander entfernt, und nun traten ihre geheimen Verschiedenheiten zutage, und von ihren phantastischen Träumen, ihrer früheren Hoffnung, daß ihren gemeinsamen Kampf gemeinsamer Sieg krönen würde, war bloß noch eine Verbitterung nachgeblieben, die ihren Haß schürte.

»Tatsache ist«, spottete Jory, »daß Fagerolles denn doch nicht so einfältig gewesen ist, sich plündern zu lassen.«

Doch Mahoudeau sagte gereizt:

»Du hast gewiß und sicher keine Ursache zu spotten. Denn du hast uns schön im Stich gelassen! ... Jawohl, hast du uns nicht stets versprochen, du wolltest uns beispringen, wenn du erst deine eigene Zeitschrift hättest?«

»Ah, erlaub mal, erlaub ...«

Aber Gagniere schlug sich auf Mahoudeaus Seite.

»Jawohl, es ist auch so! Du kannst dich nicht mehr damit 'rausreden, daß dir deine Artikel beschnitten würden, jetzt, wo du dein eigener Herr bist ... Nicht ein Wort bringst du über uns. Nicht mit einer Silbe hast du uns in deinem letzten ›Salon‹ erwähnt.«

Sehr in Verlegenheit polterte jetzt auch Jory los und stotterte:

»Eh, da hat doch wieder der verwünschte Claude dran schuld! ... Ich habe keine Lust, euch zu Gefallen meine Abonnenten einzubüßen. Ihr seid eben unmöglich, seht das doch ein! Du, Mahoudeau, magst dich noch so anstrengen, deine netten, kleinen Sachen zu machen; und du, Gagnière, magst immerhin überhaupt nicht mehr malen: ihr habt eben eine Etikette; ihr könnt lange machen, bis ihr sie wieder loswerdet. Gibt's doch welche, die sie überhaupt nicht mehr loswerden ... Das Publikum amüsiert sich über euch; ihr wißt ja Ihr waret die einzigen, die an das Talent dieses lächerlichen Narren glaubten, den man nächstens einfach ins Irrenhaus sperren wird.«

Und nun wurde es ganz schlimm. Alle drei redeten zugleich und warfen einander schließlich so abscheuliche Worte zu und mit einer solchen Wut, daß nicht viel fehlte, sie hätten sich gebissen.

Jetzt hatte auf dem Kanapee auch der in den lustigen Erinnerungen, die er heraufbeschwor, unterbrochene Sandoz dem zur offenen Tür hereindringenden Lärm seine Aufmerksamkeit geschenkt.

»Da hörst du«, sagte Claude leise mit einem schmerzlichen Lächeln, »wie's über mich hergeht! ... Nein, nein! Bleib nur, laß sie nur! Ich verdiene das. Hab' ich doch keinen Erfolg gehabt.«

Sandoz, der erbleicht war, fuhr fort, zuzuhören, wie sie des lieben bißchen Lebensunterhaltes willen in ihrem Haß wie die Rasenden aufeinander losfuhren. Sein Traum von einer ewigen Freundschaft war dahin.

Glücklicherweise wurde Henriette jetzt durch den lauten Stimmenlärm in Unruhe versetzt. Sie erhob sich und machte den Rauchern Vorwürfe, daß sie ihres Zankes wegen die Damen so vernachlässigten. Erhitzt, mit erregtem Atem, immer noch im Bann ihres wilden Zornes kamen alle in den Salon zurück. Als Henriette aber mit einem Blick auf die Uhr sagte, daß sie Fagerolles heut abend bestimmt nicht mehr zu erwarten brauchten, spöttelten sie von neuem und warfen sich Blicke zu. Ah, er hatte eine gute Witterung! Wie würde er sich wohl auch dazu bewegen lassen, sich mit seinen alten Freunden zu treffen. Sie waren ihm ja lästig geworden, er machte sich nichts mehr aus ihnen.

Tatsächlich kam Fagerolles nicht. Der Abend nahm seinen weiteren peinlichen Verlauf. Man hatte sich in das Speisezimmer zurückbegeben, wo inzwischen auf einer russischen Decke, in die eine rote Hirschjagd eingestickt war, der Tee bereit stand. Unter den frisch angezündeten Kerzen standen außer einem Butterstollen Teller mit Zuckerwerk und Gebäck und eine Überfülle von allerlei Likören: Whisky, Wacholder, Kümmel, Raki de Chio. Der Diener brachte noch Punsch hinzu und machte sich um den Tisch herum zu schaffen, während die Hausherrin aus dem vor ihr stehenden brodelnden Samowar die Teekanne füllte. Doch all diese Behaglichkeit, diese Augenweide, dieser feine Teegeruch wollten die Gemüter nicht entspannen. Wieder war die Unterhaltung auf den Erfolg der einen und das Mißgeschick der anderen geraten. War es zum Beispiel nicht eine Sünde und Schande, daß all diese Medaillen, diese Kreuze der Ehrenlegion, all diese die Kunst herabwürdigenden Auszeichnungen nicht an den rechten Mann kamen? Sollte man denn ewig wie ein kleiner, artiger Schuljunge dem Lehrer gegenüber feig sich ducken, damit man eine gute Nummer bekam? Einzig daher rührte all die Seichtheit in der Kunst.

Als man dann aber wieder im Salon war, sah Sandoz, der nachgerade den sehnlichsten Wunsch fühlte, sie möchten aufbrechen, wie Mathilde und Gagnière zusammen auf einem Kanapee saßen und, während die anderen erschöpft, mit trockenem Mund und lahmgeredeten Kinnladen dasaßen, unter schwärmerischer Hingabe sich über Musik unterhielten. Der in Ekstase geratene Gagnière erging sich in philosophischen und lyrischen Phantasien. Mathilde aber, diese alte, verfettete, nach Drogen stinkende Schlange, verdrehte himmelnd die Augen und war ganz hin, als würde sie von einem unsichtbaren Fittich gestreichelt. Sie hatten sich am letzten Sonntag im Zirkuskonzert gesehen und teilten sich nun wechselseitig in verzückten Redewendungen ihre Genüsse mit.

»Ah, mein Herr! Dieser Meyerbeer! Diese ›Struensee‹ – Ouvertüre! Diese feierlich düstere Weise! Und dann der hinreißende, so farbig belebte Bauerntanz! Und dann das wieder einsetzende Todesmotiv! Das Duo der Violoncellos! ... Ah, mein Herr! Das Violoncello, das Violoncello!«

»Und Berlioz, Madame! Die Festhymne aus ›Romeo‹! ... Oh, das Klarinettensolo! Die geliebten Frauen! Die Harfenbegleitung! Oh, wie entzückend! Diese himmlische Reinheit! ... Und wie dann das Fest losgeht! Der wahre Veronese! Die lärmende Pracht der Hochzeit von Kana! Und wie dann wieder der Liebesgesang einsetzt! Oh, wie süß! Und immer höher, immer höher! ...«

»Mein Herr, haben Sie in der A-Dur-Symphonie von Beethoven diese immer wieder einsetzende Glocke gehört, die einem so ans Herz greift? ... Ja, ich sehe wohl: Sie empfinden wie ich: die Musik ist eine Kommunion ... Beethoven! O mein Gott, wie ist es traurig und schön, ihn zu zweien zu verstehen und sich in ihm zu verzehren ...«

»Und Schumann, Madame! Und Wagner, Madame! ... Die ›Träumerei‹ von Schumann! Nichts als Saiteninstrumente! Wie ein leiser, lauer Regen, der auf Akazienlaub fällt: kaum eine Träne im Raum, küßt ihn ein Sonnenstrahl weg ... Wagner, ah, Wagner! Die Ouvertüre zum ›Fliegenden Holländer‹! Sie lieben sie! Nicht wahr, Sie lieben sie! Mich überwältigt sie; darüber hinaus gibt's nichts mehr! Man möchte dran vergehen! ...«

Ihre Stimmen loschen hin. Sie sahen einander nicht mehr. Ihre Blicke verschwammen entzückt im Leeren.

Erstaunt fragte sich Sandoz, woher Mathilde dies Vermögen sich zu äußern habe. Vermutlich aus einem Artikel Jorys. Übrigens hatte er schon die Wahrnehmung gemacht, daß Frauen sehr gut über Musik zu sprechen wissen, ohne auch nur eine Note zu kennen. Und Sandoz, den die Verbitterung der anderen in solche Betrübnis versetzt hatte, geriet jetzt dieser schwärmerischen Pose gegenüber außer sich. Nein, nein! Es war genug! Es mochte noch angehen, wenn man sich zerfleischte; aber was war das für ein Abschluß des Abends, dies Weibsstück über Beethoven und Schumann girren und lispeln zu hören!

Glücklicherweise erhob sich Gagnière plötzlich. Selbst in seiner Ekstase wußte er seine Stunde. Er hatte gerade noch Zeit, seinen Nachtzug zu erreichen. Und nachdem er sich mit einem stummen, weichen Händedruck verabschiedet hatte, ging er nach Melun schlafen.

»Wie ist er verkommen!« murmelte Mahoudeau. »Die Musik hat der Malerei den Garaus gemacht. Nie wird er etwas Gescheites mehr zustande bringen!«

Auch er mußte aufbrechen. Kaum aber hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Jory erklärte:

»Habt ihr seinen letzten Briefbeschwerer gesehen? Es wird mit ihm noch dahin kommen, daß er Manschettenknöpfe fabriziert... Auch einer, mit dem es aus ist!«

Aber schon war auch Mathilde auf, verabschiedete sich von Christine mit einem kühlen Gruß, benahm sich Henriette gegenüber mit der liebenswürdigen Vertraulichkeit einer Weltdame und führte ihren Gatten davon, der ihr demütig und von dem strengen Blick, den er von ihr abbekam und der ihm für zu Hause eine Auseinandersetzung ankündigte, erschreckt, in den Mantel half.

Jetzt aber rief Sandoz außer sich hinter ihnen her:

»Das ist doch schon das Äußerste! Dieser elende Journalist, dieser die Dummheit des Publikums ausbeutende Schmierfink will andere 'runtergekommen nennen! ... Hol ihn Mathilde!«

Nun waren bloß noch Christine und Claude da. Der letztere lag in einen Sessel zurückgesunken und hatte, seit der Salon sich leerte, wieder wie in einen magnetischen Schlaf verfallen, die Augen starr auf die Wand gerichtet, als sähe er durch sie hindurch, nicht ein Wort mehr gesagt. Sein Gesicht zeigte einen angespannten Ausdruck; wie in einer konvulsivischen Aufmerksamkeit beugte er sich nach vorn, als sähe er eine unsichtbare Erscheinung und vernähme ihren stummen Ruf.

Jetzt erhob sich auch Christine und bat um Entschuldigung, daß sie als letzte aufbrächen. Henriette hatte ihre Hände ergriffen und wiederholte, wie sehr sie ihr zugetan sei, bat sie, recht oft zu kommen und sie in jeder Hinsicht als ihre Schwester zu betrachten. Doch das arme, in seinem schwarzen Kleid so rührend anmutige Weib schüttelte nur mit einem verzagten Lächeln den Kopf.

»Aber«, flüsterte ihr Sandoz mit einem Blick auf Claude hin ins Ohr, »Sie dürfen nicht so verzweifeln... Er hat ja so schön geplaudert, ist heut abend so munter gewesen. Es steht doch ganz gut mit ihm.«

Doch bang sagte sie:

»Nein, nein! Sehen Sie doch seine Augen ... Wenn ich ihn so blicken sehe, bin ich sehr in Sorge ... Sie haben getan, was in Ihren Kräften stand; haben Sie Dank dafür! Und was Sie nicht vermocht haben, vermag überhaupt niemand. Ah, wie unglücklich ich bin, daß ich so gar nicht für ihn mitzähle, so gar nichts vermag!«

Laut aber sagte sie:

»Claude, kommst du?«

Zweimal mußte sie ihren Anruf wiederholen; er hörte sie gar nicht. Endlich durchfuhr ihn ein Schauer, er erhob sich und sagte, als antworte er auf jenen Ruf, der da irgendwo weither zu ihm gelangte:

»Ja, ich komme, ich komme.«

Als Sandoz und seine Frau endlich in dem Salon, den die Kerzen mit einer dumpfen Schwüle erfüllten und der nach dem häßlichen Gelärm des letzten Zankes in ein melancholisch drückendes Schweigen gesunken war, miteinander allein waren, sahen sie sich an und ließen in der Bekümmernis, in die sie durch den unglücklichen Verlauf des Abends versetzt waren, die Arme sinken. Sie aber versuchte zu lächeln und flüsterte:

»Ich hab' es gleich gesagt, ich sah es voraus ...«

Doch noch einmal unterbrach er sie, hatte eine verzweifelte Handbewegung. Wie? War's also wirklich denkbar, daß dies das Ende ihrer langen Illusion, ihres Lieblingstraumes sein sollte, der sie ihr Glück darin hatte sehen lassen, die erwählten Freunde seiner Kindheit bis ins Greisenalter hinein bei sich zu behalten? Oh, diese Unglückseligen! Was für ein heilloser Bruch! Das die Bilanz: dieser Bankerott des Gemütes! Oh, man hätte blutige Tränen weinen mögen! Und betroffen dachte er jetzt an all die Freundschaften, die er bis jetzt sein Leben her geknüpft, an all. die hohen Empfindungen, die sich unterwegs wieder gelöst: wie die anderen sich beständig um ihn her verändert hatten und nur er der gleiche geblieben war. Wie taten seine armen Donnerstage ihm leid! Wieviel liebe Erinnerungen wurden mit dem langsamen Dahinsterben dessen, was man liebte, begraben! Sollten seine Frau und er sich wirklich darauf resignieren, einsam zu leben, sich in ihren Haß gegen die Welt einzuspinnen? Oder sollten sie ihre Tür weit dem Strom der Unbekannten und Gleichgültigen auf tun? Und da erhob sich aus der Tiefe seines Kummers nach und nach die Gewißheit: alles endet, und nichts kommt wieder im Leben. Und wie um es sich zur letzten Klarheit zu bringen, schloß er mit einem tiefen Seufzer:

»Du hattest recht ... Wir wollen sie nicht wieder zusammen einladen, sie fressen sich bloß gegenseitig auf.«

Als sie draußen waren und auf die Place de la Trinité einbogen, ließ Claude Christines Arm, stotterte, er habe noch einen Gang vor, und bat sie, allein nach Hause zu gehen. Sie hatte wahrgenommen, wie er von einem fiebrigen Schauer geschüttelt worden war, und vor Angst außer sich blieb sie stehen. Einen Gang? Zu dieser Stunde nach Mitternacht? Wo wollte er hin, was hatte er vor? Er wandte den Rücken und entschlüpfte. Sie aber eilte ihm nach und beschwor ihn unter dem Vorwand, sie fürchte sich, daß er sie zu so später Stunde nicht allein zum Montmartre hinaufgehen lassen sollte. Diese Erwägung schien ihn von seiner Absicht abzubringen. Er nahm wieder ihren Arm, und sie stiegen die Rue Blanche und die Rue Lepic hinauf und befanden sich dann in der Rue Tourlaque. Vor der Haustür aber verließ er sie, nachdem er geschellt hatte, abermals.

»Du bist jetzt zu Haus ... Ich will meinen Gang machen.«

Und schon rannte er wie ein Irrsinniger mit den Armen durch die Luft fuchtelnd davon. Die Haustür hatte sich auf getan. Aber sie gab sich nicht einmal erst die Mühe zu schließen, sondern rannte ihm nach. In der Rue Lepic holte sie ihn ein. Doch aus Besorgnis, ihn noch mehr aufzuregen, begnügte sie sich, ihm von weitem zu folgen und ihn zu beobachten. Und so ging sie in einer Entfernung von etwa dreißig Schritt, ohne daß er es wußte, daß sie ihm folgte, hinter ihm her. Aus der Rue Lepic bog er wieder in die Rue Blanche ein, dann durchschritt er die Rue de la Chaussée-d' Antin und die Rue du Quatre-Septembre bis zur Rue Richelieu. Als sie ihn in die letztere einbiegen sah, ergriff sie ein tödlicher Schreck. Er ging zur Seine. Das war der gräßliche Schreck, der sie immer beherrschte und der sie nachts mitten im Schlaf auffahren machte. O Gott, was sollte sie tun? Mit ihm gehen, sich ihm da unten an den Hals klammern? Mit taumelnden Schritten schleppte sie sich weiter. Und mit jedem Schritt mehr, der sie dem Ufer näher brachte, fühlte sie das Leben aus ihren Gliedern fliehen. Ja, geradeswegs begab er sich zur Seine! Der Platz des Théâtre-Français, das Carrousel, endlich die Brücke des Saints-Pères. Er ging ein Stück die Brücke hin, näherte sich dem Geländer. Sie glaubte, er wolle sich hinabstürzen. Sie wollte schon laut aufschreien, war aber nicht imstande einen Laut aus der Kehle zu bringen.

Aber nein: er stand bloß regungslos da. War's nur die Cité drüben, die ihm keine Ruhe gegeben hatte; dies Herz von Paris, das er überall mit sich herumtrug, das er mit starren Augen, durch die Wände hindurch, heraufbeschwor, dessen unausgesetzten Ruf er vernahm; diesen Ruf, für den es keine Entfernungen gab, den nur er hörte? Sie wagte nicht mehr zu hoffen. Vorgebeugt stand sie und achtete in taumelnder Angst auf seine Bewegungen, immer den entsetzlichen Sprung hinab vor Augen und doch sich bezwingend, daß sie sich ihm nicht näherte, aus Furcht, ihr Erscheinen könne die Katastrophe beschleunigen. Großer Gott! Da war sie nun mit ihrer rasenden Angst, mit ihrem blutenden, liebenden Herzen; wohnte allem bei und durfte noch nicht einmal eine Bewegung machen, ihn zurückzuhalten!

Starr aufrecht stand er da, regungslos, blickte in die Nacht hinein.

Es war eine Winternacht mit dunstigem, tief schwarzem Himmel. Von West her wehte ein bitterkalter Wind. Paris mit all seinen Lichtern schlummerte. Nur die Gaslaternen lebten mit ihren runden, zuckenden Lichtflecken, die kleiner und kleiner wurden, bis sie in der Ferne nur noch wie ein Lichtstaub von Fixsternen waren. Zunächst entrollten die Doppelreihen ihre Lichtperlen, deren Widerschein sich auf die Häuser des Vordergrundes legte und sie leise erhellte; zur Linken die Häuser des Quai du Louvre, zur Rechten die beiden Flügel des Instituts. Mit ungewissen Massen schoben sie sich in die Nacht hinein und verschwanden in der dicken, von den unzähligen glitzernden Lichtpunkten belebten Finsternis der äußersten Ferne. Diese beiden langhingezogenen Bänder aber verknüpften die flackernden Lichtbarren untereinander, die, immer dünner und gruppenweise in der Luft hängend, die Brücken über die Seine warfen. Darunter aber schimmerte in der Pracht der nächtlichen Lichtreflexe, wie es die Eigentümlichkeit der Gewässer ist, welche Städte durchfließen, die Seine. Jede Laterne spiegelte ihre Flamme in einem Kern wieder, der in einen langen Kometenschweif auslief. Die nächsten dieser Reflexe gingen ineinander über und entfachten die Strömung mit langen, symmetrischen Lichtfächern; die entfernteren aber, unter den Brücken, waren nur noch dünne, unbewegliche Feuerlinien. Die großen Glutfächer aber lebten, bewegten sich in dem Maße, wie sie sich ausbreiteten, Gold in Schwarz, mit einem beständigen Schauer von Lichtpunkten, an dem man die endlose Strömung des Wassers wahrnahm. Die ganze Seine war davon entfacht wie von einem Fest in ihrer Tiefe, einem geheimnisvollen Märchenfest, dessen Glanz sich an dem düsteren Spiegel des Flusses brach. Hoch oben aber, über diesen Gluten, über den bestirnten Quais, gab's am sternlosen Himmel eine rote Wolke: die warm phosphoreszierende Dünstung, mit der jede Nacht die schlummernde Stadt sich umhüllte wie der Krater eines Vulkans.

Der Wind strich daher. Christine zitterte vor Frost, ihre Augen standen voller Tränen. Ihr war, als drehe sich die Brücke um sie her, als stürze der ganze Horizont ein und als würde sie in diesen Untergang hineingerissen. Hatte Claude nicht eine Bewegung gemacht, das Bein über das Geländer geschwungen? Nein! Alles war wieder wie vorher in regungsloser Ruhe. Er stand noch auf demselben Fleck, in seiner starren Versessenheit die Augen auf die Spitze der Cité gerichtet, die er doch nicht sehen konnte.

Sie, sie hatte ihn hergerufen, er war gekommen, aber er konnte sie in ihrer tiefen Nacht nicht sehen. Nur die Brücken unterschied er, die sich mit dem feinen Gerippe ihres Eisentragwerks schwarz vom funkelnden Wasser abhoben. Aber über das hinaus verschwamm alles. Die Insel war in Nichts versunken. Man hätte nicht einmal ihre Stelle ermitteln können, wenn nicht ab und zu den Pont-Neuf entlang verspätete Fiaker die Lichter ihrer Laternen wie die Lichtfunken hätten dahingleiten lassen, die noch über erloschener Kohle flirren. Eine rote Laterne bei der Schleuse der »Münze« warf noch einen blutigen Streif aufs Wasser. Irgend etwas Gewaltiges, Unheimliches, wie ein mit der Strömung treibender Körper, wohl ein vom Anker befreiter Lastkahn, kam langsam durch die Lichtreflexe daher, tauchte manchmal auf und versank dann wieder ins Dunkel. Wo war die majestätische Insel geblieben? War sie in die Tiefe der glutenden Strömung versunken? Mehr und mehr von dem großen Geräusch des durch die Nacht dahingleitenden Stromes gebannt, blickte und blickte er noch immer. Und er beugte sich über diesen breiten Abgrund, von dem es so kühl heraufwehte, auf dem all diese geheimnisvollen Lichter tanzten. Und bis in den Tod hinein verzweifelt spürte er den Zug dieses großen, traurigen Rauschens, vernahm er seinen Ruf.

An ihrem rasend pochenden Herzen verspürte Christine diesmal, mit welchem fürchterlichen Gedanken er sich in diesem Augenblick trug. Sie reckte ihre zitternden Arme in den sausenden Wind hinein. Doch nach wie vor stand Claude aufrecht da, kämpfte gegen die Süßigkeit an, die der Gedanke an den Tod barg. Eine volle Stunde lang stand er so. Das Zeitgefühl war ihm geschwunden. Immer haftete sein Blick auf der Cité da unten, als wäre ihm die Wunderkraft gegeben, sie aus der Nacht hervorzulichten und sie wiederzuschauen.

Als er endlich strauchelnden Schrittes die Brücke verließ, eilte Christine ihm voraus, um vor ihm zur Rue Tourlaque zu gelangen.


 << zurück weiter >>