Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Es geschah am fünfzehnten Mai gegen neun Uhr, während Claude, der am Tag vorher um drei Uhr morgens von Sandoz aus der Stadt heimgekommen war, noch schlief, daß Frau Joseph einen großen Strauß weißen Flieders zu ihm heraufbrachte, den ein Bote soeben abgegeben hatte. Er verstand. Christine wollte ihn im voraus zu dem Erfolg seines Bildes beglückwünschen. Denn es handelte sich um einen großen Tag für ihn: um die Eröffnung des »Salons der Zurückgewiesenen«, der dieses Jahr gegründet worden war und in dem sein von der Jury des offiziellen Salons zurückgewiesenes Werk ausgestellt wurde.

Die zarte Aufmerksamkeit, die ihn mit ihrem frischen Duft weckte, rührte ihn tief. Der Flieder war wie der Vorbote eines glücklichen Tages. Im Hemd und barfüßig tat er ihn in seinen Wasserkrug und stellte ihn auf den Tisch. Dann schalt er, daß er so lange geschlafen hatte, und kleidete sich, noch ganz schlaftrunken und verbiestert, an. Gestern hatte er Dubuche und Sandoz versprochen, sie um acht bei letzterem abholen zu wollen. Sie gedachten, sich zusammen zum Industriepalast zu begeben, wo man sich mit den übrigen Freunden treffen wollte. Und nun hatte er eine Stunde zu lange geschlafen.

Außerdem fand er heute, da das Fortschaffen des großen Bildes das ganze Atelier auf den Kopf gestellt hatte, nichts an seinem rechten Platz. Fünf Minuten lang mußte er auf den Knien seine Schuhe unter alten Rahmen hervorsuchen. Goldstäubchen wirbelten umher. Denn da er nicht gewußt hatte, wie er sich das Geld zu einem Rahmen beschaffen sollte, hatte er sich von einem in der Nachbarschaft wohnenden Tischler vier Bretter zusammenfügen lassen und sie dann mit seiner Freundin, die sich dabei als eine recht ungeschickte Vergolderin entpuppte, eigenhändig vergoldet. Endlich machte er sich, gestiefelt und gespornt, den Filzhut mit Goldpünktchen beglitzert, schon auf den Weg, als ihn ein abergläubischer Gedanke noch einmal zu den Blumen hinüber umkehren ließ, die auf dem Tisch einsam zurückbleiben sollten. Wenn er diesen Flieder nicht küssen würde, meinte er, würde ihm etwas Widerwärtiges begegnen. Umfangen von seinem kräftigen Lenzduft küßte er ihn.

Unten im Hausflur gab er nach seiner Gewohnheit bei der Pförtnerin den Schlüssel ab.

»Frau Joseph, ich werde vor heut abend nicht nach Haus kommen.«

In weniger als zwanzig Minuten war Claude in der Rue d'Enfer bei Sandoz. Aber auch der, den er schon nicht mehr anzutreffen fürchtete, war noch da. Eine Unpäßlichkeit seiner Mutter hatte ihn aufgehalten. Es war weiter nichts, nur eine schlecht verbrachte Nacht. Doch es hatte ihm Sorge gemacht. Jetzt war er wieder beruhigt und erzählte, daß Dubuche geschrieben hätte, man sollte nicht auf ihn warten, er werde sie direkt in der Ausstellung treffen. Sie brachen auf. Da es schon elf Uhr war, entschlossen sie sich, in einer kleinen, einsamen Restauration der Rue Saint-Honoré zu frühstücken. Sie hielten sich dabei auf. Ihre glühende Ungeduld, die Ausstellung zu sehen, hatte nachgelassen, und nicht ohne gerührte Melancholie gaben sie sich ihren alten Jugenderinnerungen hin.

Es schlug eins, als sie die Champs-Elysées überschritten. Es war ein ausnehmend schöner Tag. Der klare Himmel zeigte sich von einer noch kühlen Brise aufgefrischt, die sein Blau noch zu vertiefen schien. Mit einem Gelbton von reifem Getreide belebte die Sonne das erste, junge, frischgrüne Laub der Kastanienbaumreihen. Die Springbrunnen ließen ihre Wassergarben spielen. Die sauber gehaltenen Rasenflächen, die tiefen Alleen und die weitausgedehnte Fläche verliehen der weiten Sicht ein festliches Gepräge. Einige Equipagen, nur erst wenige, kamen die Straße herauf; aber der wie ein Ameisenhaufen kribbelnde Menschenstrom floß in den gewaltigen Säulengang des Industrieplatzes hinein.

Als sie eingetreten waren, hatte es Claude unter der gewaltigen Vorhalle mit ihrer kellerartigen Kühle und ihrem unter den Füßen wie die Quadern einer Kirche dröhnenden feuchten Pflaster mit einem leichten Schauer. Zur Rechten und zur Linken sah er die beiden monumentalen Treppen und sagte verächtlich:

»Sag mal, wollen wir uns wirklich ihren schweinischen Salon ansehen?«

»Ah, der Kuckuck noch mal, nein!« antwortete Sandoz. »Gehen wir durch den Garten. Dort ist die westliche Treppe, die zu den ›Zurückgewiesenen‹ führt.«

An den kleinen Tischen der Katalog Verkäuferinnen schritten sie geringschätzig vorbei. Durch den Spalt der mächtigen, rotsamtenen Vorhänge bot sich am Ende eines schattigen Ganges der glasüberdeckte Garten.

Zu dieser Tageszeit war er so gut wie leer. Nur unter der Uhr, am Büfett, drängte sich ein Haufen frühstückender Leute. Die eigentliche Menge befand sich im ersten Stockwerk, in den Sälen. An den gelben Sandwegen der Alleen hin reihten sich nur die weißen Statuen und hoben sich scharf gegen die grünen Rasenflächen ab, ein regungsloses, von einem unbestimmten Licht, das wie ein Staub oben von den Glasscheiben herniederfiel, gebadetes Marmorvolk. An der Südseite war die eine Hälfte des Schiffes von Leinwandstores verhüllt, die dort, wo die Sonne drauf schien, gelb waren, an beiden Enden aber, wo das Licht durch bunte Scheiben fiel, blaue und rote Flecke zeigten. Einige bereits erschöpfte Besucher hielten die ganz neuen, von buntem Lack glänzenden Stühle und Bänke besetzt, während die Spatzen, die oben in dem Gewirr des Eisentragwerks nisteten, unter lärmendem Gezwitscher einander verfolgend herabstürzten und ohne Scheu im Sand herumpickten.

Claude und Sandoz taten, als schritten sie, ohne etwas zu beachten, schnell hindurch. Eine steife, korrekte Bronze, die Minerva eines Mitgliedes des Institutes, hatte sie schon beim Eingang aufgebracht. Doch als sie eilig eine endlose Reihe von Büsten entlang schritten, erkannten sie Bongrand, der einsam und langsamen Schrittes um eine üppige, riesenhafte, liegende Figur herumging.

»Ah, ihr!« rief er, als sie ihm die Hand hinstreckten. »Ich besah mir eben die Figur unseres Freundes Mahoudeau. Sie sind ja immerhin so verständig gewesen, wenigstens ihn anzunehmen und gut zu plazieren.«

Er unterbrach sich.

»Kommt ihr von oben?«

»Nein, wir sind eben erst gekommen«, sagte Claude.

Er sprach ihnen sehr warm vom Salon der Zurückgewiesenen. Er, der mit zum Institut gehörte, sich aber von seinen Kollegen absonderte, belustigte sich über die Sache: die ewige Unzufriedenheit der Maler, der von den kleinen Journalen wie der »Tambour« geführte Krieg, die Protestationen und Einsprüche, die beständigen Reklamationen, die endlich den Kaiser aus seiner Ruhe aufgestört hatten, dann die Entscheidung des schweigsamen Träumers, von dem einzig die Maßregel ausgegangen war; die Bestürzung, das allgemeine Geschrei, das diesem in den Froschpfuhl gefallenen Stein gefolgt war!

»Nein«, fuhr er fort, »ihr könnt euch keine Vorstellung machen über die Entrüstung, die unter den Jurymitgliedern herrscht! ... Dabei mißtraut man mir noch und schweigt sich in meiner Gegenwart aus! ... Alle Wut richtet sich gegen die fürchterlichen Realisten. So systematisch verschloß man vor ihnen die Pforten des Tempels, und jetzt gestattet der Kaiser ihretwegen dem Publikum, den Streitfall zu entscheiden; endlich triumphieren sie ... Ah, ich habe schon schöne Dinge gehört. Ich gebe für euere Haut nicht einen Pfifferling, ihr jungen Leute!«

Die Arme weit geöffnet, als wollte er die ganze, sich vom Boden erhebende Jugend an die Brust drücken, lachte er sein herzliches Lachen.

»Ihre Schüler wachsen heran«, sagte Claude einfach.

Aber Bongrand hieß ihn mit einer Handbewegung still sein; er war verlegen. Er hatte nichts ausgestellt, und all diese Produktion, diese Gemälde und Statuen, durch die er hinschritt, all dies eifervolle Streben berührten ihn schmerzlich. Er war nicht eifersüchtig, denn es konnte keinen besseren und hochherzigeren Menschen geben als ihn: doch es war eine Einkehr bei sich selbst, die heimliche Furcht vor seinem langsamen Abstieg, die ihn uneingestandenermaßen bedrückte.

»Und wie steht's mit den Zurückgewiesenen?« fragte ihn Sandoz.

»Herrlich! Ihr werdet was erleben!«

Dann wandte er sich Claude zu, dessen beide Hände er nahm und lange in den seinen behielt.

»Sie, mein Lieber, sind ein Prachtkerl! ... Hören Sie! Ich, der ja einer sein soll, der sich auf was versteht, gäbe zehn Jahre meines Lebens, wenn ich Ihr Weibsbild da gemalt hätte!«

Dies Lob aus diesem Munde rührte den jungen Maler bis zu Tränen. Endlich einmal ein Erfolg! Er fand kein Wort des Dankes, sprach, um seine Ergriffenheit zu verbergen, schnell von etwas anderem.

»Der brave Mahoudeau! Aber sehr schön ist seine Figur! ... Ein prächtiges Temperament, nicht wahr?«

Sandoz und er waren um den Gipskoloß herumgeschritten. Mit einem Lächeln antwortete Bongrand:

»Ja, ja! Aber zuviel Schenkel, zuviel Brust. Aber seht, die Gelenke! Das ist so fein und hübsch, wie's nur sein kann ... Na, lebt wohl, ich gehe! Ich will mich ein wenig setzen, meine Beine sind wie zerschlagen.«

Claude hatte den Kopf gehoben und gelauscht. Ein gewaltiges Geräusch, das er anfangs nicht beachtet hatte, rollte in der Luft mit einem ununterbrochenen Getöse. Es war wie die das Gestade peitschende Brandung, das Grollen eines unermüdlichen, ins Unendliche hineingehenden Ansturms.

»Ach, was ist das?« flüsterte er.

»Das«, sagte Bongrand, während er sich entfernte, »ist die Menge oben, in den Sälen.«

Und nachdem die beiden jungen Leute den Garten durchschritten hatten, stiegen sie zu dem Salon der Zurückgewiesenen hinauf.

Er war sehr gut untergebracht, nicht schlechter als der andere Salon. Hohe Behänge alter Tapisserien an den Türen, die Schutzgeländer vor den Bildern mit grüner Serge umspannt, rote Sitzbänke, Schutzschirme aus weißem Leinen unter den breiten Oberlichtfenstern. Und der erste Blick, der sich in die Saalreihen hinein bot, war der gleiche hier wie dort: dieselben Goldrahmen, dieselben lebhaft bunten Flecke auf den Bildern. Und doch herrschte hier eine eigenartige, munter-jugendliche Frische, ohne daß man sich recht bewußt ward, wie?

Die ohnehin schon dichte Menge wuchs von Minute zu Minute mehr an. Denn von Neugier gepeitscht, gestachelt von dem Wunsch, die Richter zu richten, und gleich beim Eintreten in der vergnüglichen Gewißheit, daß man im höchsten Grade pläsierliche Dinge zu sehen bekommen würde, verließ man den offiziellen Salon und eilte herbei. Es war sehr heiß, ein feiner Staub stieg vom Fußboden auf; sicher war man, noch eh' es vier Uhr wurde, erstickt.

»Verwünscht!« sagte Sandoz, indem er die Ellbogen gebrauchte. »Es wird nicht gerade leicht sein, sich da durchzuarbeiten und dein Bild zu erreichen.«

Mit brüderlichem Eifer suchte er so eilig wie möglich vorwärts zu kommen; denn an diesem Tage kannte er nichts anderes als das Werk und den Ruhm seines alten Kameraden.

»Laß doch!« rief Claude. »Wir werden schon hinkommen; mein Bild wird uns nicht davonlaufen!«

Trotzdem sein Verlangen so unwiderstehlich, daß er hätte rennen können, tat er, als ob er gar keine Eile hätte. Er hob den Kopf und blickte umher. Bald vernahm er durch die lauten Gespräche der Menge durch, die es ihm bisher verdeckt hatten, ein noch unterdrücktes Lachen, das das Geräusch der Füße und der Unterhaltung übertönte. Vor gewissen Gemälden machten die Besucher ihre Späße. Er wurde unruhig, denn er war bei all seiner revolutionären Rauheit von einer schier mädchenhaft leichtgläubigen, auf das Martyrium gefaßten, immerfort zaghaften, in Angst, er könnte abgelehnt, ausgespottet werden, stehenden Empfindsamkeit. Er flüsterte:

»Sie sind recht lustig!«

»Na, man hat auch Grund dazu«, ließ sich Sandoz vernehmen. »Sieh doch mal die fabelhaften Schindmähren da!«

Aber in diesem Augenblick, wo sie im ersten Saal verweilten, stieß, ohne sie zu sehen, Fagerolles auf sie. Als er sie wahrnahm, fuhr er zusammen. Offenbar war ihm die Begegnung unangenehm. Doch faßte er sich sofort und gab sich sehr liebenswürdig.

»Sieh, ich dachte gerade an euch ... Ich bin schon seit einer Stunde hier.«

»Wo haben sie denn Claudes Bild hingesteckt?« fragte Sandoz.

Fagerolles, der eben erst zwanzig Minuten davorgestanden und immer wieder das Verhalten des Publikums studiert hatte, antwortete, ohne zu zögern:

»Ich weiß nicht ... Wollen wir's zusammen suchen?«

Er schloß sich ihnen an. Der verschmitzte Bursch trug heute nicht mehr die schnoddrigen Manieren wie sonst zur Schau, war korrekt gekleidet, zwar beständig geneigt, an jemandem seinen Witz zu wetzen; sonst aber zeigten seine für gewöhnlich immer spitzen Lippen den ernst gesetzten Ausdruck eines Menschen, der sein Ziel im Auge hat. Mit sehr überzeugter Miene fügte er hinzu:

»Wie bedauere ich, diesmal nicht ausgestellt zu haben! Ich wäre dann doch mit euch zusammen und teilte euren Erfolg ... Kinder, es sind prächtige Sachen da! Zum Beispiel die Pferde dort! ...«

Er wies auf ein ihm gerade gegenüber hängendes großes Bild, vor dem die Menge sich lachend staute. Es war, hieß es, die Arbeit eines früheren Roßarztes, Pferde in Lebensgröße, die frei auf einer Wiese umherliefen, aber ganz phantastisch, blau, violett, rosa, deren Anatomie in stupender Weise durchs Fell stach.

»Hör mal«, sagte Claude mißtrauisch, »du machst dich doch nicht etwa über uns lustig!«

Fagerolles aber spielte den Enthusiasmierten.

»Wie? Aber es strotzt doch von Werten! Der gute Mann versteht sich auf Pferde aus dem Effeff! Gewiß, er malt wie ein Schmierfink: aber was macht das, wenn er originell ist und ein Dokument liefert?«

Sein feines Mädchengesicht blieb ernst. Aber in seinen hellen Augen blitzte der gelbe Spott. Er fügte die boshafte, nur ihm verständliche Anspielung hinzu:

»Ah, wenn du dich von den Dummköpfen hier beeinflussen lassen willst, wirst du gleich noch was ganz anderes erleben.«

Die drei Kameraden hatten sich wieder in Bewegung gesetzt und schufen sich mühsam durch all die drängenden Schultern Bahn. Als sie in den zweiten Saal eintraten, überflogen sie mit einem Blick die Wände. Aber Claudes Bild fand sich nicht. Dafür sahen sie aber am Arm Gagnières Irma Bécot. Beide waren dicht an das Schutzgeländer herangedrängt. Er war dabei, ein kleines Bild zu prüfen, während sie, über das Gedränge entzückt, ihr rosiges Gesicht hob und in das Gewühl hineinlachte.

»Wie!« sagte Sandoz erstaunt. »Sie ist jetzt bei Gagnière?«

»Oh, vorübergehend!« erklärte Fagerolles mit ruhiger Miene. »Eine so drollige Geschichte! ... Ja, der junge Trottel von Marquis, von dem letzthin in den Zeitungen die Rede war – entsinnt ihr euch? – hat ihr, wißt ihr, eine sehr schicke Wohnung eingerichtet. Ich hab's immer gesagt: sie wird's zu was bringen! ... Aber was scheren sie Betten mit Wappen; sie ist wieder auf unsere Gurtbetten versessen, und an gewissen Abenden muß sie bei einem Maler schlafen. Sie hat also wieder mal alles im Stich gelassen, ist Sonntag um ein Uhr morgens ins Café Baudequin gekommen. Wir waren schon fort; bloß Gagnière war noch da und schlief über seinem Schoppen; nun, und so hat sie Gagnière genommen.«

Irma hatte sie bemerkt und gab ihnen von weitem zärtliche Winke. Sie mußten zu ihr hingehen. Als Gagnière mit seinem fahlen Haar und seinem bartlosen Gesicht, das noch naiver aussah als sonst, sich umwandte, zeigte er keinerlei Überraschung darüber, daß sie da so hinter seinem Rücken standen.

»Ganz erstaunlich!« flüsterte er.

»Was denn?« fragte Fagerolles.

»Dies kleine Meisterwerk da ... Anständig, naiv, überzeugt!«

Er wies auf das winzige Bildchen, in dessen Betrachtung er versunken gewesen war. Es war eine durchaus kindische Sache. So, wie sie etwa ein Junge von vier Jahren hätte malen können. Ein kleines Haus am Rand eines kleinen Weges, mit einem kleinen Baum daneben; der Rauch nicht vergessen, der in Pfropfenzieherwindungen vom Dach aufstieg.

Claude machte eine ungeduldige Handbewegung, während Fagerolles phlegmatisch sagte:

»Sehr fein! Sehr fein! ... Aber wo ist dein Bild, Gagnière?«

»Mein Bild? Hier!«

Tatsächlich! Das von ihm eingereichte Bild befand sich just neben dem kleinen Meisterwerk. Es war eine perlgrau gehaltene Landschaft, ein Stück Seinestrand, sehr sorgfältig gemalt, reizend im Ton, wenn auch ein wenig schwerfällig, wunderbar ausgeglichen, ohne jede revolutionäre Brutalität.

»Wie albern sind sie, daß sie das zurückgewiesen haben!« sagte Claude, der interessiert nähergetreten war. »Ich frage euch: warum? warum?«

Tatsächlich, nichts konnte das ablehnende Verhalten der Jury rechtfertigen.

»Weil es realistisch ist«, sagte Fagerolles mit so entschiedener Betonung, daß man nicht unterscheiden konnte, ob er sich über die Jury oder das Bild lustig machte.

Inzwischen fixierte Irma, um die sich niemand bekümmerte, mit einem unwillkürlichen Lächeln, das seine linkische Wildheit ihr entlockte, Claude. War es möglich, daß er nicht einmal draufgekommen war, sie wiederzusehen? Sie fand ihn heute so anders, so komisch, so häßlich, struppig, seine Gesichtsfarbe unrein wie nach einem starken Fieber. Seines Mangels an Aufmerksamkeit wegen verdrießlich, berührte sie vertraulich seinen Arm.

»Sagen Sie, ist der Herr da drüben nicht einer Ihrer Freunde, der Sie sucht?«

Es war Dubuche, den sie kannte; denn sie hatte ihn einmal im Café Baudequin getroffen. Mühsam zwängte er sich, während er die Augen über die Flut der Köpfe schweifen ließ, durch die Menge. Doch in dem Augenblick, wo Claude sich ihm durch ein Zeichen bemerklich machen wollte, wandte der andere ihm den Rücken und grüßte sehr höflich eine Gruppe von drei Personen, einen dicken, gedrungenen Vater mit einem schlagflüssigen Gesicht, eine sehr hagere, wachsbleiche Mutter, der die Blutarmut auf dem Gesicht geschrieben stand, und eine schwächliche Tochter von achtzehn Jahren, die noch so dürftig wie ein Kind aussah.

»Gut!« flüsterte der Maler. »Der sitzt fest! ... Was hat der Kerl für Bekanntschaften! Wo hat er diese Scheusale bloß aufgegriffen?«

Gagnière sagte freundlich, daß er die Leute dem Namen nach kenne. Vater Margaillan war ein großer Bauunternehmer, schon fünf- bis sechsfacher Millionär, der sich ein Vermögen in Pariser Neubauten machte und für sich allein ganze Boulevards baute. Ohne Zweifel war Dubuche durch einen der Architekten, die seine Pläne entwarfen, zu ihm in Beziehung gekommen. Sandoz aber, dem die junge Tochter ihrer Magerkeit wegen leid tat, faßte sein Urteil über sie in ein Wort.

»Ah, die arme, kleine, elende Katze sieht doch zu kläglich aus!«

»Laß doch!« versetzte Claude wild. »Auf ihren Gesichtern prägen sich alle Verbrechen der Bourgeoisie aus: Bleichsucht, Skrofeln, Stupidität. Wahrhaftig! ... Seht, unser Ausreißer geht mit ihnen. Das ist doch ein Skandal! Ein Architekt! Glückliche Reise! Er mag uns gestohlen bleiben!«

Dubuche, der seine Freunde nicht gesehen hatte, hatte der Mutter den Arm geboten und ging, indem er mit übertriebener Liebenswürdigkeit die Bilder erklärte, weiter.

»Na, gehen wir!« sagte Fagerolles.

Und Gagnière zugewandt:

»Weißt du etwa, wo sie Claudes Bild hingesteckt haben?«

»Nein, ich suchte es gerade ... Ich komme mit euch.«

Er begleitete sie und vergaß Irma, die bei der Brüstung stand.

Es war ihr Einfall gewesen, an seinem Arm die Ausstellung zu besuchen. Er aber war's so wenig gewohnt, solcherweise mit einem Weibe spazierenzugehen, daß er sie unterwegs fortwährend verlor und immer ganz verdutzt war, wenn er sie wieder an seiner Seite fand; er wußte nicht, wie und warum sie beisammen waren. Sie lief herzu, ergriff wieder seinen Arm; denn sie wollte Claude folgen, der mit Fagerolles und Sandoz schon in den nächsten Saal eingetreten war.

Alle fünf schweiften sie jetzt, die Nase in der Luft, von einem Schub Menschen bald getrennt, bald von einem anderen wieder zusammengebracht, fortgezogen vom Hauptstrom, umher. Eine Unglaublichkeit von Chaîne hielt sie auf. Ein Christus, der die Ehebrecherin freispricht. Trockene, gleichsam aus Holz geschnitzte Figuren, das Knochengerüst durch die Haut stechend, wie mit Kot gemalt. Doch gleich daneben hatten sie eine sehr schöne, von hinten gesehene Weibstudie zu bewundern, die den Kopf zurückwandte und stark betonte Hüften hatte. Es gab an den Wänden hin eine Mischung von Ausgezeichnetem und Schlechtem, alle Genres beieinander: Unbedeutendes der historischen Schule neben den jungen Heißspornen des Realismus; naive Tröpfe zusammen mit Originalitätshaschern; eine tote Jesabel, die in der Kellertiefe der Akademie der schönen Künste verfault zu sein schien, über einer Dame in Weiß, der sehr bemerkenswerten Vision eines großen Künstlers; ein riesiger Schäfer, der auf das Meer hinaussieht; Mythologie einer kleinen Leinwand gegenüber ballspielenden Spaniern, einer glänzenden Lichtstudie. Nicht eine Spielart der schlechten Malerei fehlte: weder die militärischen Bilder mit ihren Bleisoldaten noch die ausgeblaßte Antiquität, noch das mit Erdpech hinzugehauene Mittelalter. Doch aus diesem zusammenhängenden Beieinander ging, besonders von den Landschaften, die fast durchweg eine gewissenhafte, sehr glückliche Note hatten, auch von den Porträts, von denen die Mehrzahl eine interessante Faktur zeigten, ein starker Hauch von Jugend, Bravour und Leidenschaft aus. Wenn es in dem offiziellen Salon weniger schlechte Bilder gab, so war doch dort der Durchschnitt banaler und mittelmäßiger. Man fühlte sich wie in einer Schlacht, einer munteren, mit Begeisterung bei Tagesanbruch gelieferten Schlacht, wenn die Hörner schallen, wenn man mit der Gewißheit, ihn noch vor Sonnenuntergang ganz geschlagen zu haben, gegen den Feind anrückt.

Claude, der sich von diesem Kampfatem erfrischt fühlte, belebte, ärgerte sich, hatte eine herausfordernde Miene, als hörte er die Kugeln pfeifen. Anfangs diskret, wurde das Lachen, je weiter man vorwärts gelangte, immer lauter. Schon im dritten Saale lachten die Damen nicht mehr ins vorgehaltene Taschentuch hinein; die Männer aber taten sich keinen Zwang mehr an und lachten aus vollem Halse. Es war die ansteckende Heiterkeit einer Menge, die gekommen war, sich zu vergnügen. Sie erregte sich mehr und mehr, brach bei dem geringsten Anlaß hervor, bei den guten Bildern ebenso wie bei den schlechten. Man lachte weniger vor dem Christus Chaînes als vor der Weibstudie, deren ausladende Lenden, die wie aus der Leinwand hervorsprangen, besonders komisch gefunden wurden. Auch die Dame in Weiß ergötzte die Menge. Man stieß sich mit dem Ellbogen an, man wand sich, immer stand mit lachend geöffnetem Munde eine Gruppe davor. Und so hatte jedes Bild seinen Heiterkeitserfolg. Man rief sich von fern herbei, um sich etwas besonders Schönes zu zeigen; fortwährend gingen geistreiche Witze von Mund zu Mund. Derart, daß Claude, als er in den vierten Saal eintrat, eine alte Dame, deren glucksendes Lachen ihn außer sich brachte, am liebsten geohrfeigt hätte.

»Was für Idioten!« sagte er, gegen die anderen hin gewandt. »Man möchte ihnen Meisterwerke um die Schädel schlagen!«

Auch Sandoz hatte sich erhitzt. Fagerolles fuhr fort, sehr laut die schlechten Bilder zu loben, was die Heiterkeit noch mehr steigerte. Während Gagnière, die entzückte Irma, deren Röcke sich den Männern um die Beine schlangen, am Arm, zwischen dem Gewühl so hinschlenderte.

Plötzlich aber war Jory bei ihnen. Seine große, rosige Nase, sein blondes, hübsches Gesicht glänzte. Er brach sich durch die Menge Bahn, gestikulierte, frohlockte, als gälte es seinen persönlichen Triumph, und rief:

»Ah, da bist du ja! Endlich! Seit einer Stunde such' ich dich! ... Ein Erfolg, Alter! Oh, ein Erfolg! ...«

»Was für ein Erfolg?«

»Na, dein Bild doch! ... Komm, du mußt das sehen! Nein wirklich, du wirst sehen: es ist großartig!«

Claude erbleichte. Eine mächtige Freude beengte ihm den Atem, während er der Mitteilung gegenüber gleichgültig tat. Er gedachte wieder der Worte Bongrands, glaubte an sein Genie.

»Guten Tag!« fuhr Jory fort, indem er den anderen die Hand drückte.

Und er, Fagerolles und Gagnière umgaben Irma, die ihnen allen freundlich zulächelte, als befände sie sich, wie sie selbst sagte, in Familie.

»Na, sag doch endlich, wo er ist!« drängte Sandoz ungeduldig. »Führ uns doch hin!«

Jory ging vorauf, die anderen folgten. Gewaltsam mußte man sich den Eintritt in den letzten Saal erzwingen. Der hintangebliebene Claude aber hörte, wie das Gelächter immer mehr zunahm, ein schwellendes Geschrei, das Tosen einer brandenden Flut wurde. Als er endlich aber in den Saal eintrat, sah er in wirr durcheinanderwimmelnden Haufen eine ungeheure Menschenmenge sein Bild umdrängen. All das Lachen entfachte und vereinte sich hier. Sein Gemälde war's, über das man lachte.

»Na?« wiederholte Jory triumphierend. »Heißt das nicht ein Erfolg?«

Eingeschüchtert und beschämt, als wäre er selbst verhöhnt worden, flüsterte Gagnière:

»Zu viel Erfolg ... Ein anderes wäre mir lieber.«

»Bist du dumm!« versetzte Jory mit ekstatischem Schwung. »Gerade das ist der Erfolg ... Was tut's denn, daß sie lachen? Wir sind lanciert, morgen sprechen alle Zeitschriften von uns.«

»Kretins!« rief Sandoz laut, mit schmerzerstickter Stimme.

Fagerolles schwieg. Er hatte die würdige, unbeteiligte Haltung eines Familienfreundes, der einem Begräbnis beiwohnt. Bloß Irma lächelte nach wie vor und fand das alles drollig. Dann aber lehnte sie sich zärtlich an die Schulter des ausgehöhnten Malers, duzte ihn und flüsterte ihm sanft ins Ohr:

»Reg dich nicht drüber auf, Kleiner. Es ist ja dummes Zeug; man amüsiert sich doch dabei.«

Aber Claude blieb unbeweglich. Ein kalter Schauer überlief ihn. Ja, für einen Augenblick hatte ihm der Herzschlag ausgesetzt, so grausam war seine Enttäuschung. Wie im Banne einer unwiderstehlichen Macht hafteten seine Augen weit und starr an seinem Bild. Und er erstaunte, kaum erkannte er es in diesem Saale wieder. Sicher, es war nicht dasselbe wie im Atelier. Im bleichen Licht des Leinenvorhanges oben hatte es einen gelblichen Ton bekommen; es bot sich kleiner, brutaler, zugleich gezwungen. Und ob infolge des Hohnes der Menge oder der anderen Umgebung sah er auf den ersten Blick alle Fehler und erkannte, wie er monatelang gegen sie blind gewesen war. Mit ein paar raschen Strichen verbesserte er sie im Geiste, ließ den Vordergrund zurücktreten, änderte ein Körperglied, den Ausdruck einer Tönung. Unbedingt war der Mann im Sammetjackett nichts wert, war zu schwerfällig gemalt, saß schlecht, nur die Hand war schön. Die beiden kleinen, im Hintergrund miteinander ringenden Weibgestalten, die blonde und die braune, waren zu sehr Skizze geblieben, nicht genug herausgearbeitet, konnten höchstens ein Künstlerauge befriedigen. Aber mit den Bäumen war er zufrieden, mit der sonnbestrahlten Lichtung und mit dem nackten, im Gras liegenden Weib. Mit dem hatte er sich selbst übertroffen, als hätte ein anderer sie gemalt. Es war, als hätte er sie in dieser strahlenden Lebensglorie überhaupt noch nicht erblickt.

Er wandte sich Sandoz zu und sagte einfach:

»Sie haben recht, wenn sie lachen: es ist unfertig ... Einerlei, das Weib ist aber gut! Bongrand hat nicht zuviel gesagt.«

Der Freund bemühte sich, ihn fortzuziehen. Doch er beharrte, trat sogar näher heran. Jetzt, nachdem er sein Werk gerichtet hatte, hörte er auf die Menge und beobachtete sie. Der lärmende Ausbruch hielt an, das ausgelassene Gelächter schwoll an in allen Tonarten. Er sah, wie sich ihnen schon in der Tür der Mund und das ganze Gesicht in die Breite zog, die Augen sich kniffen. Da war das geräuschvolle Lachen von dicken Leuten, das rostige Meckern der Mageren, beherrscht beides von dem scharfen Getriller der Weiberstimmen. Junge Leute bogen sich lachend, als hätte man ihnen die Seiten gekitzelt, über die Brustwehr. Eine Dame hatte sich auf eine Bank sinken lassen, drückte die Knie gegeneinander und kam fast um vor Lachen; um wieder zu Atem zu kommen, preßte sie das Taschentuch vor den Mund. Das Gerücht von dem drolligen Gemälde mußte sich verbreiten; denn von allen Seiten des Salons kamen sie herbeigelaufen, jeder wollte dabei sein. »Wo ist es? – Da hinten! – Oh, das ist unbezahlbar!« Und mehr als je regnete es Witze. Besonders der Gegenstand stachelte die Heiterkeit. Man verstand nicht, fand ihn ohne jeden Sinn, zum Kranklachen verdreht. »Aha, der Dame ist es zu heiß, und der Herr hat sich ein Sammetjackett angezogen, weil er Angst hat, sich einen Schnupfen zu holen. – Aber nein, sie ist ja schon blau; der Herr hat sie aus einem Sumpf gezogen, ruht sich hübsch weit von ihr ab aus und hält sich die Nase zu. – Nicht nett von dem Mann, er könnte uns denn doch seine Vorderfront zukehren. – Ich versichere Sie: das ist ein spazierengehendes Mädchenpensionat; sehen Sie doch die beiden Kleinen, die Bockspringen spielen. – Ach, eine große Wäsche stellt's vor. Ganz gewiß, er hat ja das ganze Bild gewaschblaut!« Andere, die nicht lachten, gerieten in Wut. Die bläulichen Reflexe, die neue Darstellung des Lichtes erschien ihnen beleidigend. Durfte man die Kunst so verunglimpfen lassen? Alte Herren schwangen ihre Stöcke. Ein würdiger Mann entfernte sich unmutig und erklärte seiner Frau, daß er schlechte Späße nicht liebe. Ein anderer aber, ein kleiner, peinlicher Herr, hatte im Katalog, um es seiner Tochter erklären zu können, nach dem Titel des Bildes gesucht und las mit lauter Stimme: »Pleinair«. Mit furchtbarem Lärm und Geschrei ging es um ihn herum von neuem los. Das Wort wurde aufgegriffen, man wiederholte, kommentierte es. Pleinair! O ja, freie Luft! Bauch, alles an die Luft! Trallala! Es artete in einen Skandal aus. Das Gedränge wurde immer größer; die zunehmende Hitze ließ die Gesichter rot anlaufen; jeder sperrte den Mund auf wie ein Dummkopf, der etwas, was er nicht versteht, beurteilen will. Es gab all die Eseleien, die läppischen Reflexionen, das üble, alberne Gegrinse, das der Anblick eines eigenartigen Werkes dem spießbürgerlichen Stumpfsinn entlockt.

In diesem Augenblick sah Claude, als ob das Maß erst noch hätte voll werden sollen, Dubuche wieder auftauchen und mit ihm die Margaillans. Sobald er bei dem Bild angekommen war, wollte der in Verlegenheit geratene Architekt, von einer feigen Scham ergriffen, seinen Schritt beschleunigen, seine Begleiter weiterziehen und tun, als sähe er weder das Bild noch seine Freunde. Doch schon hatte der Bauunternehmer sich auf seinen kurzen Beinen davor aufgepflanzt, die Augen aufgerissen und fragte sehr laut mit seiner groben, heiseren Stimme: »Sagen Sie doch, wer ist der Klotz, der das gemalt hat?« Diese naive Brutalität, dieser Ausruf des Millionärprotzen, der die durchschnittliche Meinung über das Bild zusammenfaßte, verdoppelte die Heiterkeit. Er aber legte, von seinem Erfolg geschmeichelt und von der Sonderbarkeit des Gemäldes gekitzelt, jetzt auch seinerseits los. Und zwar mit einem so maßlosen, schnaubenden Lachen aus seiner fetten Brust hervor, daß er alle überdröhnte. Es war das Halleluja, das schmetternde Finale der großen Orgelpfeifen.

»Führen Sie meine Tochter fort!« sagte Frau Margaillan ganz bleich Dubuche ins Ohr.

Sofort eilte dieser zu der mit gesenkten Augen dastehenden Regine hin und arbeitete sich mit angestrengter Muskelkraft, als gälte es, dies arme Wesen vor einer Todesgefahr zu retten, zum Saal hinaus. Dann aber kam er, als er sich von den Margaillans an der Tür mit Händedrücken und weltmännischer Begrüßung verabschiedet hatte, zu den Freunden hin und sagte zu Sandoz, Fagerolles und Gagnière geradeheraus:

»Was wollt ihr? Es ist nicht meine Schuld ... Ich habe vorausgesehen, daß das Publikum es nicht verstehen wird. Es ist unanständig; ja, sagt was ihr wollt: unanständig!«

»Sie haben Delacroix verhöhnt«, unterbrach Sandoz, bleich vor Aufregung und die Fäuste ballend. »Sie haben Courbet verhöhnt. Verhaßte Rasse! Stumpfsinnige Henker!«

Gagnière, der jetzt diesen Künstlerschmerz teilte, empörte sich bei der Erinnerung an die Kämpfe, die er jeden Sonntag gelegentlich der Konzerte Pasdeloup für die wahre Musik ausfocht.

»Und sind es nicht die gleichen, die auch Wagner auspfeifen? Ich erkenne sie wieder! ... Seht zum Beispiel den Dicken da!...«

Jory mußte ihn zurückhalten. Er hätte die Menge am liebsten noch mehr angereizt. Er wiederholte, daß das famos, daß diese Reklame hunderttausend Franken wert wäre. Irma aber, immer noch verlassen abseits, hatte in dem Gedränge zwei Freunde erkannt, zwei junge Börsianer, die unter den eifrigsten Spöttern waren und die sie, während sie ihnen auf die Finger schlug, bearbeitete und zwang, das Bild schön zu finden.

Fagerolles aber hatte kein Wort gesagt. Er prüfte beständig das Bild und schickte dann Blicke zum Publikum hin. Und sein Pariser Spürsinn, sein gewandt geschmeidiges Empfinden kam hinter den Grund des Mißerfolges. Im Ungefähren fühlte er bereits, womit diese Malerei alle hätte erobern können. Es handelte sich vielleicht bloß um einige Zugeständnisse, Abschwächungen drangen, eine geringe Abänderung im Gegenstand, eine Milderung der Komposition. Der Einfluß, den Claude auf ihn geübt hatte, blieb. Er blieb davon durchdrungen, trug seine unverwischbare Marke. Doch fand er es erzdumm, so etwas auszustellen. War es nicht dumm, an das Verständnis des Publikums zu glauben? Was sollte dies Weib neben dem bekleideten Herrn? Und was sollte es mit den beiden im Hintergrund spielenden Weibern? Sonst aber die Eigenschaften eines Meisters, ein Stück Malerei, von dem es nicht ein zweites im Salon gab! Und es überkam ihn eine gründliche Verachtung gegenüber diesem bewunderungswürdig begabten Künstler, der wie der erbärmlichste Schmierfink ganz Paris über sich lachen machte.

Und so stark war diese Verachtung, daß er sie nicht verbergen konnte. In einer Anwandlung von unbezwingbarer Freimütigkeit sagte er:

»Ah, weißt du, mein Lieber! Du hast's nicht anders gewollt. Du bist zu einfältig.«

Schweigend wandte Claude den Blick von der Menge ab und sah ihn an. Unter all dem Gelächter war er nur erbleicht, und um seine Lippen hatte es nervös gezuckt; sonst aber hatte er nicht gewankt. Es kannte ihn ja niemand; nur seinem Werke hatte es gegolten. Jetzt aber richtete er einen Moment seinen Blick auf das Bild und ließ ihn dann langsam an den Wänden hin über die anderen Gemälde schweifen. Und in allem Zusammenbruch seiner Illusionen, in den lebhaften Schmerz seines verletzten Stolzes hinein war es ein Hauch von Mut, ein Strom von Gesundheit und Jugend, der ihn von all dieser munteren, tapferen Malerei her anwehte, die mit so ungestümer Leidenschaft gegen die antike Mache anstürmte. Das tröstete ihn, richtete ihn auf. Ohne Gewissensbisse und Reue fühlte er sich angetrieben, der öffentlichen Meinung auch fernerhin zu trotzen. Gewiß, da war viel Ungeschick, viel kindlicher Anlauf: aber doch, welch fesselnder Ton, wieviel Licht! Ein feines, silbergraues, zart verschwimmendes Licht von all den in der freien Luft tanzenden Reflexen. Es war, als sei plötzlich in einer altmodischen Asphaltküche der aufgewärmten Traditionsbrühen ein Fenster geöffnet worden, und nun dränge der Sonnenschein herein und alle Wände lachten im schönen Lenzmorgen. Die helle Note seines Bildes, dies bläuliche Licht, über das man lachte, brachte sich allem anderen gegenüber mächtig zur Geltung. War es nicht die erwartete Morgenröte, der neue Kunsttag, der sich erhob? Er bemerkte einen Kritiker, der, ohne zu lachen, stehenblieb. Auch den Vater Malgras, der, schmierig wie immer, von Gemälde zu Gemälde ging mit seinem lecker gespitzten Mund und ganz hingenommen, unbeweglich, vor seinem Bilde stehenblieb. Und da wandte er sich gegen Fagerolles herum und überraschte diesen mit der verspäteten Erwiderung:

»Man ist dumm, so gut man kann, mein Lieber! Und ich denke, ich bleibe dumm ... Um so besser für dich, wenn du ein Schlaukopf bist!«

Wie jemand, der bloß einen kameradschaftlichen Scherz gemacht hat, klopfte Fagerolles ihn auf die Schulter; Claude aber ließ sich von Sandoz beim Arm nehmen. Endlich führte man ihn hinweg, und mit der Absicht, sich den Architektursaal anzusehen, verließ die Schar den Salon der Zurückgewiesenen. Denn Dubuche, von dem der Entwurf zu einem Museum angenommen worden war, hatte ihnen so beharrlich und mit einem so flehentlichen Blick zugesetzt, daß man ihm diese Genugtuung nicht recht gut verweigern konnte.

»Ah«, äußerte Jory scherzend, als er in den Saal eintrat, »hier ist's frisch, man atmet doch mal auf!«

Alle nahmen die Kopfbedeckung ab und trockneten sich erleichtert die Stirn, als gelangten sie nach einem langen Marsch in heißer Sonnenglut in den Schutz erfrischenden Schattens. Der Saal war leer. Von der mit einem weißleinenen Überzug beschirmten Decke kam eine gleichmäßige, sanft gedämpfte Helle, die sich wie in einem stillen Quell in dem stark gebohnten Fußboden spiegelte. Auf den vier blaßroten Wänden hoben sich die hellblau eingerahmten Projekte und größeren und kleineren Skizzen mit den Flecken ihrer Aquarelltöne hervor. Allein aber, gänzlich allein in dieser Einsamkeit stand in tiefe Betrachtung versunken ein bärtiger Herr vor dem Entwurf zu einem Krankenhaus. Drei Damen erschienen, erschraken aber und, trippelten durch den Saal eilig davon.

Dubuche zeigte und erklärte den Kameraden sein Werk. Es war ein armseliger, kleiner Museumssaal, den er in ehrgeizigem Eifer ganz außer der Gewohnheit und gegen den Willen seines Lehrers, der ihn nur aus Gefälligkeit aufgenommen, eingereicht hatte.

»Ist dein Museum zur Aufnahme der Gemälde der Pleinairschule bestimmt?« fragte Fagerolles, ohne zu lachen.

Gagniere brachte mit einer Kopfbewegung seine Bewunderung zum Ausdruck, dachte dabei aber an etwas anderes, während Claude und Sandoz die Sache aus Freundschaft prüften und sich aufrichtig interessierten.

»Oh, nicht schlecht, Alter!« sagte der erstere. »Aber das Schmuckwerk ist noch recht undeutlich ... Na, schadet nichts; es geht schon an.«

Aber Jory, der ungeduldig geworden war, unterbrach ihn.

»Gehen wir weiter, nicht wahr? Ich erkälte mich hier.«

Sie setzten ihre Wanderung fort. Aber es traf sich schlecht, daß sie, um abzuschneiden, durch den ganzen offiziellen Salon hindurch mußten. Trotz des Schwurs, den sie des Protestes wegen getan hatten, ihn mit keinem Fuß zu betreten, entschlossen sie sich dazu. Eilig durchbrachen sie die Menge und durchquerten die Reihe der Säle, wobei sie nach rechts und links verächtliche Blicke schickten. Hier gab's nicht das frische Ärgernis ihres Salons mit seinen lichten Tönen, seinem überhellen Sonnenlicht. In ihren goldenen Rahmen reihten sich die dunkelgemalten Bilder, steife, trübe Sachen, akademische Nacktheiten, aus einem fahlen Kellerlicht gelblich hervortretende Dinge, der ganze klassische Krempel, Historie, Genre, Landschaft, alles dieselbe konventionelle Schmiere. Eine eintönige Mittelmäßigkeit hauchten diese Wände; ein trüber, stumpfer Ton kennzeichnete sie, trotz aller geleckten Kunst ein verdorben kümmerliches Lebensblut. Sie beschleunigten ihren Schritt, stürmten vorwärts, um diesem Bereich der hartnäckig behaupteten Asphaltmalerei zu entrinnen, die sie in ihrer prächtigen, sektiererhaften Ungerechtigkeit in Bausch und Bogen verurteilten. »Nichts!« riefen sie. »Nichts, nichts, aber auch gar nichts!«

Endlich waren sie durch und stiegen zum Garten hinab, wo sie Mahoudeau und Chaine begegneten. Der erstere warf sich Claude in die Arme.

»Ah, mein Lieber, dein Bild! Oh, hat das ein Temperament!«

Claude beeilte sich, die »Winzerin« zu loben.

»Und du! Was hast du ihnen für ein Meisterstück an den Kopf geworfen!«

Aber da gewahrte er Chaine, der, ohne daß ihm jemand ein Wort über seine »Ehebrecherin« sagte, still nebenher ging und der ihm leid tat. Fast hatte er's mit einer tiefen Melancholie über diese scheußliche Malerei, über das ganze verfehlte Leben dieses das Opfer spießbürgerlichen Mäzenatentums gewordenen Bauern. Wo er konnte, machte er ihm die Freude, ihm etwas Lobendes zu sagen. Und so klopfte er ihm freundschaftlich auf die Schulter und rief:

»Ihr Ding ist sehr hübsch ... Ah, mein Junge, der Zeichnung wegen braucht Ihnen nicht bange zu. sein.«

»O gewiß nicht!« erklärte Chaine, dessen Gesicht sich vor Stolz unter seinen schwarzen Bartstoppeln purpurrot färbte.

Mahoudeau und er gesellten sich zu der Schar. Der erstere fragte die. anderen, ob sie Chambouvards »Sämann« gesehen hätten. Er war erstaunlich, das einzige Meisterwerk der ganzen Skulpturabteilung. Alle folgten ihm in den Garten, in den sich jetzt auch das Publikum ergoß.

»Da!« fuhr Mahoudeau fort, während er mitten in der Mittelallee stehenblieb. »Gerade steht Chambouvard selber davor.«

Tatsächlich stand ein beleibter Herr mit dicken Beinen davor und bewunderte seine eigene Arbeit. Der Kopf verschwand ihm zwischen den Schultern. Er hatte das dicke, glatt schöne Gesicht eines indischen Götzenbildes. Es hieß, daß er der Sohn eines Tierarztes aus der Nähe von Amiens sei. Er zählte ungefähr fünfundvierzig Jahre und hatte schon zwanzig Kunstwerke geschaffen, einfache, lebensvolle Statuen, die Behandlung des Fleisches ungesucht, von einem genialen Arbeiter bewältigt. Dabei arbeitete er auf gut Glück, schuf Meisterwerke, wie ein Feld Halme hervorbringt, einmal gut, das andere Mal schlecht, ohne daß er sich irgendwie seiner Sache bewußt war. Es fehlte ihm so sehr an Selbstkritik, daß er zwischen seinen berühmtesten Schöpfungen und den abscheulichen Mißgestalten, die er zuweilen zusammenpfuschte, keinen Unterschied zu machen wußte. Er schuf ohne jede Unruhe und Leidenschaft, ohne irgendwelchen Zweifel, war immer von seinem Können überzeugt und stolz wie ein Gott.

»Erstaunlich, dieser Sämann!« flüsterte Claude. »Welcher Bau! Welche Haltung!«

Fagerolles, der die Statue nicht angesehen hatte, hatte sein Vergnügen an dem großen Manne und dem Gefolge seiner maulaufsperrenden Schüler, die ihm auf Schritt und Tritt zu folgen pflegten.

»Seht sie euch doch an! Aufs Wort, als ob sie beichteten! ... Und er selber, he! Sein dicker Kopf verklärt sich förmlich in der Betrachtung seines Nabels!«

Chambouvard, dem die Neugier, die ihn umgab, sehr behagte, machte ein wie aus den Wolken gefallenes Gesicht, als erstaune er, ein derartiges Werk zustande gebracht zu haben. Er schien es zum ersten Male zu sehen, kam gar nicht davon los. Sein breites Gesicht strahlte vor Entzücken; er wiegte den Kopf, konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken und wiederholte in einem fort:

»Komisch! ... Komisch! ...«

Hinter ihm war sein ganzes Gefolge, während er auf keine andere Weise seiner Bewunderung Ausdruck zu geben vermochte als so, außer sich vor Freude.

Doch da entstand eine leise Bewegung. Der, die Hände auf dem Rücken, träumenden Blickes einhergehende Bongrand war auf Chambouvard gestoßen. Das Publikum, das Platz gemacht hatte, flüsterte, interessierte sich für den Händedruck, den die beiden berühmten Künstler, der kleine, sanguinische und der lange, melancholische, miteinander tauschten. Man vernahm die freundschaftlichen Worte, mit denen sie einander begrüßten: »Immer Wunderwerke! – Na, nicht wahr! Aber Sie? Haben dies Jahr nichts ausgestellt? – Nein, nichts! Ich ruhe mich aus, suche. – Gehen Sie doch, Sie Spaßvogel, das kommt ja von selbst. – Adieu! – Adieu!« Schon aber schritt auch Chambouvard, von seinem Hofstaat begleitet, mit dem Blick eines mit seinem Dasein zufriedenen Potentaten langsam durch die Menge weiter, während Bongrand, der Claude und seine Freunde gesehen hatte, sich ihnen näherte und ihnen seine nervös fiebernde Hand reichte. Mit einer Kinnbewegung wies er nach dem Bildhauer hinüber und sagte:

»Das ist ein Kerl, den ich beneide! Schöne Sache, immer zu glauben, daß man Meisterwerke schafft!«

Er, der alte rangierte und dekorierte Romantiker, beglückwünschte Mahoudeau zu seiner Winzerin und erwies sich in seiner bieder aufgeschlossenen Weise gegen alle väterlich freundlich. Dann wandte er sich an Claude:

»Nun, was hab' ich Ihnen gesagt? Sie haben gesehen, oben ... Sie sind jetzt Haupt einer Schule.«

»Ah ja«, antwortete Claude. »Man spielt mir schon mit ... Sie sind's, der unser aller Meister.«

Aber Bongrand hatte seine unbestimmte Leidensgeste. Während er sich davonmachte, sagte er:

»Seien Sie doch still! Ich bin nicht mal mein eigener Meister!« Eine Weile streiften die Freunde noch im Garten umher. Sie begaben sich zu der »Winzerin« zurück, als Jory wahrnahm, daß Gagnière Irma Bécot nicht mehr am Arm hatte. Der letztere war verdutzt. Wo, zum Teufel, konnte er sie verloren haben? Als Fagerolles ihm aber erzählt hatte, daß sie mit zwei Herren in der Menge verschwunden wäre, beruhigte er sich, und sehr erleichtert und von dem günstigen Zufall bei aller Betroffenheit angenehm berührt, folgte er den anderen.

Man gelangte jetzt nur noch mit Mühe vorwärts. Im Sturm hatte sich das Publikum aller Bänke bemächtigt; ganze Gruppen versperrten die Alleen, so daß das langsame Schreiten der Promenierenden, die unablässig die besonders erfolgreichen Bronze- und Marmorskulpturen umschritten, zum Stocken kam. Von dem dichtbelagerten Büfett her kam ein dumpfes Stimmengewirr, Geklirr von Tassen und Löffeln, das sich den schwirrenden Geräuschen der gewaltigen Halle einte. Die Spatzen hatten sich hinauf in das Gewirr des Eisentragwerks zurückgezogen; man vernahm ihre kleinen, grellen Rufe und das Gezwitscher, mit dem sie unter den warmen Scheiben den Sonnenuntergang begrüßten. Es war drückend schwül, eine feuchte Treibhausatmosphäre herrschte, eine stickige, mit einem Ruch von frischer, umgegrabener Erde versetzte Luft. Das Gewühl des Gartens aber wurde beherrscht von dem Lärm der Säle im ersten Stockwerk, dem Getrappel der Füße auf den Eisenplatten, das sich immer noch wie gegen die Küste schlagende Brandung vernehmen ließ.

Claude hatte schließlich nur noch dieses sturmartig entfesselte Tosen in den Ohren. War es nicht jene Ausgelassenheit der Menge, die mit ihrem Hohngelächter sein Bild umtost hatte? Er hatte eine müde Handbewegung und rief:

»Oh, was machen wir noch hier? Ich verzehre nichts am Büfett, mir stinkt's da zu sehr nach Akademie ... Wollen wir nicht draußen irgendwo einen Schoppen trinken?«

Mit müden Beinen und erschöpftem, verachtungsvollem Gesichtsausdruck brachen sie auf. Draußen atmeten sie, als sie wieder in die schöne, frische Frühlingsnatur hinaustraten, mit Wonne die reine Luft. Es war kaum vier Uhr. Schief streiften die Strahlen der Sonne die Champs-Elysées. Alles, die dichten Reihen der Equipagen, das junge Laub der Bäume, die ihren Goldstaub ausströmenden Strahlen der Springbrunnen flammten in ihrem Licht. Im Schlenderschritt gingen sie die Allee hinab, wußten nicht, wo sie einkehren sollten, landeten endlich in einem kleinen Café, dem links vor dem Platz gelegenen Pavillon de la Concorde. Der Saal war so überfüllt, daß sie sich, ungeachtet, daß es unter dem sehr dichten, dunklen Laubdach kühl war, dicht am Rande der Seitenallee niederließen. Aber hinter dem vierreihigen, schattigen, grünen Band der Kastanien hatten sie den sonnigen Fahrweg der Avenue vor sich und sahen im Sonnenglanz Paris passieren: die Kutschen mit ihren wie Sterne blitzenden Rädern, die großen, gelben Omnibusse, die noch goldiger wirkten wie vergoldete Triumphwagen, Reiter, deren Reitzeuge Funken zu sprühen schienen, Fußgänger, die von all dem Licht wie in eine Strahlenglorie getaucht waren.

Fast drei Stunden sprach Claude vor seinem ungeleert bleibenden Glase, erörterte mit wachsendem Eifer trotz seiner Ermattung all die Malerei, die er gesehen und von der er den Kopf voll hatte. Mehr als sonst versetzte das Verlassen des Salons die Kameraden infolge der liberalen Maßnahmen des Kaisers in leidenschaftliche Erregung. Eine wahre Flut von Theorien, ein Rausch der extremsten Anschauungen war es, an dem sie sich müde redeten, all die Leidenschaft für die Kunst, von der ihre Jugend erglühte.

»Gut, was macht's?« rief er. »Das Publikum lacht. Also muß man das Publikum eben erziehen ... Im Grunde haben wir einen Sieg errungen. Scheidet zweihundert groteske Bilder aus, und unser Salon sticht den ihren aus. Wir haben die Tapferkeit, die Kühnheit, wir sind die Zukunft ... Ja, ja! Man wird es erleben: wir werden ihren Salon vernichten! Mit Meisterwerken berennen wir ihn und werden als Eroberer einziehen ... Lache nur, lache, Pariser Stumpfsinn! Lache nur so lange, bis du uns zu Füßen liegst!«

Er unterbrach sich und hatte eine prophetische Geste zu der triumphierend strahlenden Avenue hinüber, auf der in der Sonne aller Luxus und alle Freude der Stadt vorbeirollte. Und seine Handbewegung griff weiter aus, hinüber bis zur Place de la Concorde, die man mit einem ihrer sprühenden Springbrunnen, einem Stück ihrer Balustraden, zwei ihrer Statuen, Rouen mit ihren riesigen Brüsten, Lille mit ihrem ungeheueren, vorgereckten, nackten Fuß zwischen den Bäumen hindurch erblickte.

»Pleinair! Das belustigt sie!« fuhr er fort. »Sei's! Wenn sie so wollen: das Pleinair, die Schule des Pleinair! ... Wie? Gestern existierte der Begriff noch nicht; nur unter uns erst, im Kreis von ein paar wenigen Malern. Und da geben sie das Wort schon selber aus, sie selbst gründen die Schule ... Oh, mir ist's recht! Es lebe die Schule des Pleinair!«

Jory klopfte sich auf die Schenkel.

»Wie ich dir sagte! Ich wußte ja, daß ich mit meinem Artikel die Trottel würde anbeißen machen! Und nun wollen wir ihnen erst mal zusetzen!«

Auch Mahoudeau blies Siegesfanfaren und kam fortwährend auf seine »Winzerin« zurück, deren Kühnheiten er dem schweigsamen Chaîne darlegte, dem einzigen, der darauf hörte, während Gagnière nach Art schüchterner Menschen, wenn sie erst einmal für die reine Theorie gewonnen sind, schon ein Äußerstes tat und davon sprach, daß man die Akademie guillotinieren müsse. Auch der im verwandten Streben entflammte Sandoz und der von seinen revolutionären Freunden angesteckte Dubuche ereiferten sich, hieben auf den Tisch und verschlangen mit jedem Schluck Bier Paris. Nur Fagerolles blieb ruhig und behielt sein Lächeln. Er hatte sich ihnen bloß angeschlossen, weil es ihm Vergnügen machte, die Kameraden bis zu den übelsten Torheiten anzustacheln. Während er aber ihren revolutionären Geist aufpeitschte, faßte er den festen Entschluß, in Zukunft auf den Rom-Preis hinzuarbeiten. Der heutige Tag war für ihn entscheidend. Er fand es dumm, sein Talent noch weiter bloßzustellen.

Die Sonne neigte sich zum Untergange. Nur noch die Flut der im letzten, bleichen Abendgold vom Bois de Boulogne zurückkehrenden Kutschen. Der Salon war wohl geschlossen. Eine Schar Herren, deren Äußeres Kritiker verriet, kam, jeder einen Katalog unterm Arm, vorüber.

Gagnière geriet plötzlich in Enthusiasmus.

»Courajod ist der Erfinder der Landschaft! Habt ihr sein ›Moor von Gagny‹ im Luxembourg gesehen?«

»Ein Wunderwerk!« rief Claude. »Vor dreißig Jahren ist es gemalt, und seitdem ist noch nichts Besseres geleistet worden ... Warum läßt man das im Luxembourg? Es müßte im Louvre hängen.«

»Aber Courajod lebt ja noch«, sagte Fagerolles.

»Wie! Courajod lebt noch? Aber man sieht ihn ja nicht mehr, spricht nicht mehr von ihm.«

Alles war überrascht, als Fagerolles versicherte, daß der Meister der Landschaft, siebzig Jahre alt, irgendwo am Montmartre zurückgezogen in einem kleinen Haus inmitten seiner Hühner, Enten und Hunde lebe. So konnte man sich selbst überleben! So waren die melancholischen Lebensabende alternder Künstler, die vor ihrem Tode verschwunden waren, also keine Fabel. Alle schwiegen. Ein Unbehagen durchschauerte sie. Dann sahen sie mit rotangelaufenem Gesicht Bongrand am Arm eines Freundes vorübergehen. Mit einer unruhigen Handbewegung winkte er ihnen einen Gruß zu. Danach kam, so ziemlich als der letzte, noch Chambouvard. Er lachte sehr laut, marschierte mit hallendem Schritt, wie ein unbestrittener Meister, der sich seines nachbleibenden Ruhmes gewiß ist.

»Was, du verläßt uns?« fragte Mahoudeau Chaîne, der sich erhob.

Der muschelte ein paar unverständliche Worte in den Bart und ging, nachdem er den anderen die Hand gedrückt hatte.

»Weißt du, daß er zu deiner Hebamme geht?« wandte sich Jory an Mahoudeau. »Ja, zu der Kräuterhändlerin mit dem Medizingeruch ... Aufs Wort! Ich sah, wie seine Augen mit einemmal aufblitzten. Das packt ihn plötzlich, wie wenn einer Zahnschmerzen kriegt. Sieh mal, wie eilig er's hat.«

Der Bildhauer zuckte die Achseln, während alle lachten.

Aber Claude hörte nichts mehr. Er disputierte jetzt mit Dubuche über Architektur. Ohne Zweifel war ja sein Museumssaal ganz hübsch; nur bringe er nichts Neues, sei bloß eine fleißige Zusammenstellung der hergebrachten Formeln. Müßten nicht alle Künste in Reih und Glied marschieren? Müßte nicht die Entwicklung, welche die Literatur umgestaltete, die Malerei, sogar die Musik, auch die Architektur erneuern? Wenn je die Architektur eines Zeitalters ihren eigenen Stil hätte haben müssen, so unbedingt die des Jahrhunderts, in das man bald eintreten werde. Ein neues Jahrhundert müßte ein freigefegtes, für eine allgemeine Neubildung bereites Terrain vorfinden, ein frisch besätes Gefild, auf dem ein neues Volk erwuchs. Nieder mit den griechischen Tempeln, die unter unserem Himmel, inmitten unserer Gesellschaft kein Existenzrecht besitzen! Nieder mit den gotischen Kathedralen, da der Glauben an die alten Legenden tot ist! Nieder mit den zierlichen Kolonnaden, dem steinernen Spitzengewebe der Renaissance, dieser auf das Mittelalter aufgepfropften erneuerten Antike; in ihrem Zierwerk ist kein Raum für unsere Demokratie! Und mit gewaltsamen Gesten verlangte er die architektonische Formel der heutigen Demokratie, das Werk aus Stein, das sie zum Ausdruck brächte, das Gebäude, in welchem sie zu Haus wäre; etwas Gewaltiges und Starkes, Schlichtes, Großes; jenen Geist, der sich bereits mit unseren Bahnhöfen anzeigte, mit unseren Hallen, mit der soliden Eleganz ihres Eisentragwerks; aber noch edler, zur Schönheit gesteigert, damit es die Größe unserer Errungenschaften zum Ausdruck bringe.

»Aber ja! Aber ja!« sagte Dubuche, von seiner Begeisterung hingerissen, immer wieder. »Das ist's ja auch, was ich will; du sollst sehen ... Laß mir nur Zeit, bis ich soweit bin. Wenn ich erst frei sein werde! Ah, wenn ich nur erst frei dazu bin!«

Es begann zu dunkeln. In der Hingerissenheit seiner Leidenschaft ereiferte sich Claude immer mehr, geriet in eine überströmende Beredsamkeit, daß die Kameraden ihn gar nicht wiedererkannten. Und alle gerieten in Ekstase, wie sie ihn hörten, schließlich aber in geräuschvolle Heiterkeit über die gewaltigen Worte, die er schwang. Er selber aber sprach, als er wieder daraufgekommen war, über sein Gemälde mit ausgelassener Heiterkeit, kopierte die Spießer, die es betrachtet hatten, ahmte mit all seinen Nuancen ihr stumpfsinniges Gelächter nach. In der aschgrau dunkelnden Avenue sah man nichts mehr als hin und wieder der vorübergleitenden Schatten einer Kutsche. Die Nebenalleen waren vollständig dunkel; eine empfindliche Kühle hauchte von den Bäumen hernieder. Nur ein verlorener Gesang drang von den Bosketten hinter dem Café herüber; wohl eine Probe im Konzert de l'Horloge, wo eine sentimentale Mädchenstimme sich an einer Romanze versuchte.

»Ah, haben mir diese Idioten einen Spaß gemacht!« rief Claude mit einem nochmaligen Ausbruch. »Wißt ihr, nicht für hunderttausend Franken gäb' ich diesen Tag her!«

Erschöpft schwieg er. Alle hatten sich müdegeredet. Es blieb still. Die Kühle des Spätabends machte sie frösteln. Müde gaben sie sich die Hand, und in einer Art von Betäubung trennten sie sich. Dubuche mußte zu einem Diner in der Stadt. Fagerolles hatte ein Stelldichein. Jory, Mahoudeau und Gagnière machten eine vergebliche Anstrengung, Claude mit zu Foucart, einem Fünfundzwanzig-Sous-Restaurant, zu bekommen: schon hatte Sandoz seinen Arm ergriffen und führte ihn davon, denn seine Ausgelassenheit hatte ihn beunruhigt.

»Nein, komm doch mit zu mir. Ich habe meiner Mutter versprochen, nach Hause zu kommen. Du ißt ein bißchen bei uns. Es ist doch hübsch, wenn wir den Tag gemeinsam beschließen.«

Beide wanderten, brüderlich einer dicht am anderen, den Quai an den Tuilerien hinab. Aber an der Brücke des Saints-Pères blieb der Maler plötzlich stehen.

»Wie? Du verläßt mich?« rief Sandoz. »Ich denke, du dinierst mit mir?«

»Nein, danke! Ich habe Kopfschmerz ... Ich geh' und lege mich schlafen.«

Und bei dieser Entschuldigung blieb er.

»Gut, gut!« sagte der andere lächelnd. »Man bekommt dich ja nicht mehr, du hüllst dich in ein Mysterium ... Na, dann geh, Alter! ich will dir nicht lästig fallen.«

Claude unterdrückte eine ungeduldige Handbewegung, ließ den Freund die Brücke überschreiten und setzte seinen Weg über die Quais hin allein fort. Er ging mit hängenden Armen, das Gesicht, ohne etwas zu sagen, zu Boden gesenkt, mit langen Schritten dahin wie ein von seinem Instinkt geleiteter Nachtwandler. Am Quai Bourbon hob er die Augen und war erstaunt, hier einen Fiaker warten zu sehen, der ihm dicht am Rand des Bürgersteiges den Weg versperrte. Mechanisch trat er bei der Pförtnerin ein und erbat sich seinen Schlüssel.

»Ich habe ihn der Dame gegeben«, rief Frau Joseph aus dem Hintergrund ihres Gelasses herüber. »Die Dame ist oben.«

»Welche Dame?« fragte er bestürzt.

»Nun, die junge Person ... Sie wissen ja! Die, die immer kommt.«

Er verstand nicht, entschloß sich, einen Wirrwarr von Gedanken im Kopf, hinaufzusteigen. Der Schlüssel stak. Ohne Hast öffnete er und schloß dann.

Einen Augenblick blieb er regungslos stehen. Das Atelier lag im Schatten eines bläulichen Dämmerlichtes, das zum Fenster hereindrang und die Gegenstände in seine Melancholie hüllte. Fußboden, Möbel, Bilder, alles schien wie in einem stillen Nebeldunst versunken. Aber auf dem Rand der Chaiselongue unterschied er undeutlich eine dunkle Gestalt, die vom langen Warten steif, ganz verängstigt und verzweifelt im ersterbenden Tageslichte dasaß. Er erkannte sie wieder. Es war Christine.

Sie streckte ihm die Hände entgegen und flüsterte leise, mit stockender Stimme:

»Drei Stunden, ja, drei Stunden bin ich hier, ganz allein, um zu erfahren, wie es steht ... Als ich von dort wegging, nahm ich einen Wagen, wollte nur mal mit vorkommen und dann gleich wieder gehen ... Aber ich wäre die ganze Nacht über geblieben. Ich hätte nicht gehen können, ohne Ihnen die Hand gedrückt zu haben.«

Und sie fuhr fort und sprach von ihrer ungestümen Begier, sich zum Salon zu begeben und das Bild zu sehen, und wie sie dann mitten in den Sturm des Gelächters, in den Hohn der Menge hineingeraten sei. Schon am Eingang hatt' es ihr die Kehle zugeschnürt. Denn war es nicht sie selbst, die ausgelacht wurde? War's nicht ihre Nacktheit, die das Volk aushöhnte? War diese brutal ausgestellte Nacktheit nicht der Gegenstand des Spottes von ganz Paris? Von einem unsinnigen Schreck ergriffen, ganz außer sich vor Jammer und Schande, war sie davongestürzt. Zumute war ihr gewesen, als peitsche dies Gelächter auf ihre nackte Haut los bis aufs Blut. Dann aber hatte sie's vergessen und nur noch an ihn gedacht, an den Schmerz, den er empfinden mußte; und ihrem zartfühlenden Weibempfinden war der Kummer über seine Schlappe so groß erschienen, daß ein übermächtiger Trieb, ihm liebreich zur Seite zu stehen, sie überwältigt hatte.

»Oh, mein Freund, grämen Sie sich nicht! ... Ich wollte Sie sehen und Ihnen sagen, daß das alles nur Neid und Eifersucht ist, daß ich das Bild sehr schön finde und daß ich sehr stolz und glücklich bin, Ihnen geholfen und auch meinerseits ein wenig zu seinem Zustandekommen beigetragen zu haben ...«

Unbeweglich stand er vor ihr und hörte sie diesen leidenschaftlich zärtlichsten Trost stammeln. Plötzlich aber stürzte er vor ihr nieder, ließ den Kopf auf ihren Schoß sinken und brach in Tränen aus. All seine Aufregung von heut nachmittag, all sein ausgehöhnter Künstlermut, seine heitere Zuversicht und seine Begeisterung: alles brach in einem heißen Tränenstrom hervor. Seit er den Saal, wo ihm das Gelächter der Menge ins Gesicht geschlagen, verlassen, hatte er sich verfolgt gefühlt wie von einer kläffenden Meute; dort in den Champs-Elysées, dann an der Seine hin, und auch jetzt noch, zu Hause, hatte er's hinter sich hergefühlt. All seine Kraft war dahin, er fühlte sich hinfälliger als ein Kind; und immer wieder sagte er, während er seinen Kopf auf ihrem Schoß hin und her wandte, mit erstickter Stimme:

»O Gott, ist mir elend zumute!«

Da hob sie ihn, von einer plötzlichen Aufwallung hingerissen, mit beiden Händen zu sich empor, bis an ihren Mund, und küßte ihn und flüsterte ihm mit heißem Atem bis ins innerste Herz:

»Sei ruhig, sei ruhig! Ich liebe dich!«

Und in leidenschaftlicher Liebe gaben sie sich einander hin. Ihre kameradschaftliche Neigung wurde, auf diesem Ruhelager, durch dies Gemälde, das sie beide einander immer näher gebracht, zur letzten Hingabe. Die Abenddämmerung hüllte sie ein. In enger Umarmung ruhten sie, in süßer Vergessenheit, und weinten in Freude über das junge Glück ihrer Liebe. In ihrer Nähe hauchte vom Tisch her der Flieder, den sie ihm heut morgen geschickt, seinen balsamischen Duft. Die Goldstäubchen, die beim Vergolden des Rahmens umhergeflogen waren, flimmerten im letzten Tageslicht wie Sternchen.


 << zurück weiter >>