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VI

Am späten Abend hatte er, während er sie noch immer in seinen Armen hielt, gebeten:

»Bleib!«

Doch sie hatte sich losgerissen.

»Ich kann nicht, ich muß heim.«

»Dann morgen ... Ich bitte dich, komm morgen wieder!«

»Morgen? Nein, unmöglich ... Leb wohl! Auf bald!«

Aber am nächsten Morgen, um sieben, war sie da; noch feuerrot der Lüge wegen, die sie bei Frau Vanzade vorgebracht; sie müsse ein Fräulein aus Clermont vom Bahnhof abholen und möchte mit ihr zusammen den Tag verbringen.

Claude schlug, selig, daß er sie den ganzen Tag über haben konnte, und in dem Bedürfnis, sie weit von Paris in freier Natur so recht für sich zu haben, einen Landausflug vor. Sie war entzückt. Ganz närrisch vor Freude brachen sie auf, gelangten zum Bahnhof Saint-Lazare, wo sie gerade noch Zeit hatten, in den Zug nach Havre zu springen. Er kannte in der Nähe von Mantes ein kleines Dorf, Bennecourt, wo eine Künstlerherberge war, die er zuweilen mit den Kameraden besucht hatte. Ohne sich durch die zweistündige Fahrt abschrecken zu lassen, führte er sie dorthin zum Frühstück, wie er sie etwa nach Asnières geleitet haben würde. Sie freute sich sehr über die nicht endenwollende Fahrt. Und wäre es bis ans Ende der Welt gegangen: um so besser. Es war ihnen zumute, als ob es niemals Abend werden würde.

Um zehn Uhr stiegen sie in Bonnières aus. Sie nahmen die Fähre, ein altes, an seiner Kette hinknarrendes Fahrzeug. Bennecourt lag auf dem anderen Ufer der Seine. Es war ein köstlicher Maitag. Die Wellchen des Flusses schillerten goldig in der Sonne. Mit seinem zarten Grün glänzte im wolkenlos blauen Himmel das junge Laub. Hinter den Inseln aber, deren der Fluß an dieser Stelle viele hatte, lag die kleine Landschenke mit ihrem Kramlädchen, ihrem großen, nach frischer Wäsche riechenden Saal, mit dem großen Hof, auf dessen Düngerhaufen Enten herumschnatterten!

»He, Papa Faucheur! Wir möchten frühstücken ... Einen Eierkuchen, Wurst, Käse!«

»Wollen Sie auch übernachten, Herr Claude?«

»Nein, nein! Das ein andermal ... Auch Weißwein, nicht wahr? Von Ihrem jungen, herben.«

Schon war Christine Mutter Faucheur in den Wirtschaftshof gefolgt. Und als die letztere mit Eiern zurückkam, fragte sie den Maler mit ihrem verhaltenen Bauernlächeln:

»Sie sind jetzt also verheiratet?«

»Natürlich!« antwortete er sofort. »Ich muß doch wohl, da ich meine Frau bei mir habe.«

Das Frühstück war ausgezeichnet. Der Eierkuchen war verbrannt, die Wurst zu fett, das Brot so hart, daß es, damit Christine sich nicht die Hand dran verstauchte, in dünne Scheibchen geschnitten werden mußte. Sie tranken zwei Flaschen, brachen eine dritte an und waren so ausgelassen vergnügt, daß der große Saal, in dem sie allein speisten, von ihrer Munterkeit widerhallte. Christine war hochrot und versicherte, sie sei beschwipst, und daß ihr das noch nie passiert wäre, und sie fände es drollig, oh, so drollig! Und dabei schüttete sie sich aus vor Lachen.

»Komm, wir wollen frische Luft schöpfen!« sagte sie endlich.

»Ja, marschieren wir ein wenig ... Wir fahren um vier heim, haben also drei Stunden vor uns.«

Sie durchschritten Bennecourt, das sich am Rande der Stromböschung mit seinen gelben Häuserchen fast zwei Kilometer lang hinzieht. Das ganze Dorf war draußen auf dem Felde; sie begegneten nur drei von einem kleinen Mädchen geführten Kühen. Mit dem Wege vertraut, erklärte er ihr die Landschaft. Als sie aber beim letzten Hause, einem alten Gebäude, angelangt waren, das den Hügeln von Jeufosse gegenüber dicht an der Seine stand, umgingen sie es und traten in ein dichtbelaubtes Eichengehölz ein. Das war das Ende der Welt, das sie beide suchten; sammetweicher Rasen, ein laubiger Schlupfwinkel, in den die Sonne nur mit schmalen Lichtpfeilen hereindrang. Sogleich vereinigten sich ihre Lippen in einem heißen Kuß, und sie gab sich ihm, er nahm sie mitten im frischen Duft des niedergedrückten Grases. Lange blieben sie hier, in Liebe einander hingegeben, sprachen nur wenige leise Worte, ganz nur dem zärtlichen Hauch ihres Atems hingegeben und den goldenen Punkten, die in der Tiefe ihrer braunen Augen strahlten.

Doch als sie nach zwei Stunden das Gehölz verließen, erschraken sie. Unter der großen, offenstehenden Haustür stand ein Bauer, der sie mit seinen kleinen Wolfsaugen beobachtet zu haben schien. Christine wurde glührot, während Claude, um seine Verlegenheit zu verbergen, rief:

»Ah, Vater Poirette ... Das Haus gehört also Ihnen?«

Mit Tränen in den Augen erzählte der Alte, daß seine Mieter ihm unter Zurücklassung ihrer Möbel, ohne zu zahlen, durchgegangen seien. Er lud sie ein, näherzutreten.

»Kommen Sie doch und sehen Sie sich's an. Vielleicht wissen Sie jemanden, der es mieten möchte ... Ah, mancher Pariser würde gern hier wohnen! ... Dreihundert Franken das Jahr, mit den Möbeln. Nicht, das ist so gut wie für umsonst?«

Neugierig traten sie ein. Das Haus glich einer großen Laterne. Früher war es wohl eine Remise gewesen. Unten war eine mächtige Küche und ein Saal, in dem man hätte tanzen können. Oben gleichfalls zwei so große Räume, daß man sich drin verlor. Was die Möbel anbetraf, so bestanden sie aus einem Bett aus Nußbaumholz, das in einer der Kammern stand, einem Tisch und Küchengerät. Aber vor dem Hause war der mit prächtigen Aprikosenbäumen bestandene, vernachlässigte Garten, in dem mächtige, in voller Blüte stehende Rosenbüsche wucherten, und hinten zog sich bis zu dem Eichengehölz hin ein von einer grünen Hecke eingeschlossener Kartoffelacker.

»Die Kartoffeln lasse ich dem Mieter«, sagte Vater Poirette.

Claude und Christine wechselten einen Blick. Ein plötzliches Bedürfnis erhob sich in ihnen nach Einsamkeit, nach der Weltvergessenheit der Liebe. Ah, wie herrlich wär' es, in diesem Winkel, weitab von den anderen, seiner Liebe zu leben! Aber sie lächelten: konnten sie denn? Kaum erreichten sie noch den Zug und gelangten nach Paris zurück. Der alte Bauer, der Frau Fauch eurs Vater war, begleitete sie an der Uferböschung hin. Als sie aber die Fähre bestiegen, rief er ihnen, nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen, zu:

»Also ich überlasse die Wohnung für zweihundertfünfzig Franken ... Schicken Sie mir jemanden!«

In Paris begleitete Claude Christine fast bis zu Frau Vanzades Haus. Sie waren in sehr gedrückter Stimmung. Stumm tauschten sie einen verzweifelten Händedruck, küßten sich nicht.

Es begann ein peinvolles Leben. In vierzehn Tagen konnte Christine nur dreimal kommen. Außer Atem kam sie gelaufen, hatte bloß ein paar Minuten Zeit, denn die alte Dame nahm gerade jetzt ihre Zeit sehr in Anspruch. Claude befragte sie; denn ihr bleiches, erschöpftes Aussehen und ihre fiebrig glänzenden Augen beunruhigten ihn. Noch nie hatte sie in dem frommen Hause so viel auszustehen gehabt; in diesem Käfig, in den nicht Luft noch Licht eindrang, wo sie vor Langeweile umkam. Sie hatte es wieder mit ihren Anfällen; der Mangel an tätiger Bewegung machte ihr das Blut in den Schläfen hämmern. Sie gestand Claude, daß sie eines Abends in ihrer Kammer ohnmächtig geworden sei, als wäre sie mit einemmal von einer bleischweren Faust gewürgt worden. Doch hatte sie gegen ihre Herrin kein böses Wort; im Gegenteil empfand sie mit dem armen, alten, kranken, so gutherzigen Wesen, von dem sie Tochter genannt wurde, herzliches Mitleid. Jedesmal, wenn sie sie verließ, um zu ihrem Geliebten zu eilen, empfand sie das wie eine Schlechtigkeit.

Zwei Wochen gingen noch hin. Die Lügen, mit denen sie jede freie Stunde erkaufen mußte, wurden ihr unerträglich. Wenn sie jetzt in das strenge Haus zurückkehrte, in dessen Bereich ihr ihre Liebe wie eine Sünde erschien, zitterte sie vor Scham. Sie hätte alles laut heraussagen mögen; ihre anständige Gesinnung empörte sich dagegen, daß sie ihre Liebe hehlen mußte wie eine Schande und daß sie mit verhaltener Stimme lügen mußte wie ein Dienstbote, der seine Entlassung befürchtete.

Schließlich warf sie sich eines Abends im Atelier, in dem Augenblick, wo sie wieder einmal aufbrach, Claude ganz außer sich und vor wildem Herzeleid schluchzend in die Arme.

»Ah, ich kann, ich kann nicht mehr ... Behalte mich doch bei dir, laß mich nicht mehr dorthin zurückkehren!«

Er aber hatte sie ergriffen und stürmisch an sich gedrückt.

»Wirklich! Du liebst mich? Oh, liebes Herz!... Aber ich habe nichts, und du verlierst alles. Darf ich zugeben, daß du dich so beraubst?«

Sie schluchzte noch lauter, und zwischen Tränen stammelte sie hervor:

»Ach, ihr Geld, nicht wahr? Das, was sie mir hinterlassen könnte ... Denkst du denn, daß ich darauf rechne? Nie hab' ich daran gedacht, ich schwör' es dir. Ah, mag sie doch alles behalten, wenn ich nur frei bin! ... Ich habe nichts, an dem ich hinge, und niemanden, habe keine Verwandten: darf ich also nicht tun und lassen, was ich will? ... Ich verlange ja nicht, daß du mich heiratest, wenn ich nur mit dir zusammen leben kann ...«

Und unter einem letzten, qualvollen Schluchzen fuhr sie fort:

»Ah, du hast recht! Es ist schlecht, wenn ich sie verlasse, die arme Frau! Ich verachte mich, ich möchte stark sein... Aber ich liebe dich zu sehr, ich leide zu sehr, und ich kann doch nicht zugrunde gehen.«

»Bleib! Bleib!« rief er. »Mag aus anderen werden was will; wir sind uns selbst genug!«

Er nahm sie auf die Knie, und sie weinten und lachten zusammen und schworen sich unter tausend Küssen, daß sie sich nie, nie mehr trennen würden.

Sie waren ganz außer sich. Schon am nächsten Tag verließ Christine kurzerhand Frau Vanzade und kam mit ihrem Koffer. Sofort erinnerten sie sich des alten verlassenen Hauses in Bennecourt, der riesigen Rosenbüsche und der geräumigen Zimmer. Ah, fort, fort, ohne auch nur noch eine Stunde zu verlieren! Am Ende der Welt leben, ganz nur in dem jungen Glück ihrer Einigung! Fröhlich klatschte sie in die Hände. Er, den noch seine Niederlage im Salon bedrückte, hatte das Bedürfnis, sich zu sammeln, in der großen Stille der Natur aufzuatmen. Dort würde er ja das wahre Pleinair haben. Im Grase bis zu den Knien würde er arbeiten, würde Meisterwerke dabei zustande bringen. In zwei Tagen war alles bereit, das Atelier gekündigt, die paar Möbelstücke zur Bahn geschafft. Es traf sich glücklich, daß Claude eine kleine Summe, fünfhundert Franken, gewann, die ihm Papa Malgras für einige zwanzig von ihm zwischen dem Gerümpel des Auszuges hervorgezogene Bilder gab. Sie würden wie die Fürsten leben. Claude hatte seine tausend Franken Rente, Christine brachte einige Ersparnisse hinzu, Kleider, Wäsche. Und so machten sie sich davon. Es war eine wahre Flucht. Selbst von den Freunden nahmen sie keinen Abschied, benachrichtigten sie nicht einmal mit einer Briefzeile. Froh erleichtert kehrten sie Paris, das sie verachteten, den Rücken.

Der Juni ging zu Ende. Die erste Woche nach ihrer Übersiedelung regnete es in Strömen. Sie machten übrigens die Entdeckung, daß Vater Poirette, bevor er den Mietvertrag mit ihnen unterzeichnet, die Hälfte des Küchengerätes beiseitegeschafft hatte. Doch ging ihnen ihre Enttäuschung nicht nach. Mit Wonne patschten sie durch den Regen, machten drei Meilen weite Reisen bis nach Vernon, wo sie Teller und Schüsseln einkauften, mit denen sie im Triumph heimkehrten. Endlich fühlten sie sich zu Hause. Sie bewohnten nur oben zwei Gelasse und überließen das andere den Mäusen. Den Speiseraum unten wandelten sie in ein großes Atelier um und hatten ihre besondere Freude daran, waren vergnügt wie die Kinder, daß sie ihre Mahlzeiten in der Küche an einem fichtenen Tisch in der Nähe des Ofens einnahmen. Als Bedienung hatten sie ein Landmädchen angenommen, das morgens kam und abends wieder nach Hause ging. Es hieß Mélie und war eine Nichte der Faucheurs. Seine Dummheit machte ihnen viel Spaß. Im ganzen Departement hätte man kein einfältigeres Mädchen finden können.

Die Sonne kam wieder. Es gab eine Folge herrlicher Tage. In gleichmäßigem Glück gingen Monate dahin. Nie wußten sie ein Datum und verwechselten die Wochentage. Morgens blieben sie lange im Bett, mochten auch schon die Sonnenstrahlen durch die Spalten der Jalousien die weißen Kammerwände röten. Dann gab's, wenn sie gefrühstückt hatten, endlose Spaziergänge, weite Märsche über die mit Apfelbäumen bestandene Ebene, auf grasbewachsenen Feldwegen, über Wiesen, bis nach Roche-Guyon. Oder sie dehnten ihre Entdeckungsfahrten noch weiter aus, machten auf der anderen Flußseite zwischen den Getreidefeldern von Bonnières und Jeufosse wahre Reisen. Ein Städter, der seinen Landaufenthalt hatte aufgeben müssen, hatte ihnen für dreißig Franken ein altes Boot verkauft. So hatten sie auch den Fluß. Mit wahrer Leidenschaft nahmen sie von ihm Besitz, brachten ganze Tage auf ihm zu, ruderten, entdeckten neue Gegenden, bargen sich im Schatten der Uferweiden. Zwischen den zahlreichen Inseln gab es ein wahres, stets belebtes, geheimnisvolles Paradies, ein Labyrinth von Wasserstraßen, durch das sie gemach dahinglitten, lind von tiefhängenden Zweigen gestreichelt, mutterseelenallein mit Ringeltauben und Eisvögeln. Manchmal mußte Claude mit nackten Beinen auf den Sand springen und das Boot schieben. Sie aber rührte tapfer die Ruder, überwand, stolz auf ihre Kraft, die stärksten Gefälle. Abends aßen sie in der Küche ihre Kohlsuppe und lachten über Mélies Ungeschick, wie sie gestern darüber gelacht hatten. Schlag neun Uhr lagen sie im Bett, in dem alten Nußbaumbett, das geräumig genug war, daß es eine ganze Familie hätte bergen können, brachten ihre zwölf Stunden drin zu, warfen sich frühmorgens mit den Kissen und schliefen dann Arm in Arm wieder ein.

Jede Nacht sagte Christine:

»Jetzt, mein Lieber, mußt du mir eins versprechen: morgen gehst du an die Arbeit.«

»Ja, morgen! Ich schwör' dir's zu.«

»Aber, weißt du, ich werde diesmal ganz bestimmt böse ... Bin ich's etwa, die dich abhält?«

»Du? Was du denkst! ... Zum Kuckuck, der Arbeit wegen bin ich doch herausgekommen! Morgen! Du sollst sehen!«

Am nächsten Morgen aber bestiegen sie wieder ihr Boot. Und mit einem verlegenen Lächeln bemerkte sie, daß er weder Leinwand noch Farben mitnahm. Aber dann fiel sie ihm, stolz über die Macht, die sie über ihn besaß, und über das Opfer, das er ihr fortwährend brachte, um den Hals. Und dann gab es von neuem zärtliche Vorwürfe. Morgen, oh! Morgen werde sie ihn an die Staffelei anbinden.

Doch ging Claude wirklich an einige Versuche heran. Er fing eine Skizze der Höhen von Jeufosse an, im Vordergrund die Seine. Aber Christine folgte ihm auf die Insel, wo er sich eingerichtet hatte, und lag in seiner Nähe, mit halbgeöffneten Lippen, den Blick im blauen Himmel verloren, der Länge nach im Grase. Und sie war da, im Grünen, in dieser Einsamkeit, wo nur das Wasser plätscherte, so begehrenswert, daß er aller Augenblicke die Palette beiseitetat und sich neben sie legte, und dann ließen sie sich in glücklicher Hingenommenheit vom Rausch aller Erdenschöne wiegen. Ein andermal tat es ihm eine alte Farm außerhalb Bennecourts an, die im Schutze alter Apfelbäume lag, die mächtig waren wie Eichen. Zwei Tage kam er dorthin; doch am dritten nahm ihn Christine mit auf den Markt von Bonnières, wo sie Hühner kauften. Der nächste Tag war dann für die Arbeit verloren, das Bild war trocken geworden; er war voller Ungeduld, es wieder aufzunehmen, ließ aber schließlich davon ab. So nahm er die ganze gute Jahreszeit hindurch bloß so Anläufe, brachte kaum allererste Entwürfe zustande, die er, ohne wahre Ausdauer zu zeigen, beim ersten besten Vorwand wieder aufgab. In einer Reaktion von Gleichgültigkeit und Trägheit schien sein leidenschaftlicher Arbeitseifer von ehedem, der ihn sich schon vom frühesten Morgen an mit seiner rebellischen Malerei hatte abplagen lassen, sich verflüchtigt zu haben. Mit köstlichem Behagen vegetierte er wie ein von einer schweren Krankheit Erstandener hin, wußte nichts als die einzige Freude, mit jeder Fiber seines Körpers zu leben.

Einzig Christine existierte noch für ihn. Sie war es, deren flammender Odem ihn einhüllte und all seinen Künstlerwillen verflüchtigte. Seit jenem ersten, heißen Kuß, den sie ihm ohne weitere Überlegung auf die Lippen gedrückt, hatte sich das junge Mädchen in ihr in das Weib verwandelt, in die Liebende, die unbewußt schon den Mund der Jungfrau geschwellt und sich in dem kräftig vorgebauten Kinn verraten hatte. Sie entfaltete sich zu dem, was sie trotz ihrer langen Jungfräulichkeit werden mußte: zu einem jener leidenschaftlichen, sinnlichen Wesen, die, wenn sie erst die jungfräuliche Scham, in der sie schlummerten, ablegen, so berückend sind. Mit einem Schlage, und ohne erst unterrichtet zu sein, kannte sie die Liebe und erfüllte sie mit aller Hingabe ihrer Unschuld. Und sie, die bis dahin von nichts gewußt hatte, er so gut wie noch unerfahren: beide machten sie jetzt die Entdeckung der Liebesfreuden, verloren sich in dem Entzücken der ersten gemeinsamen Einweihung. Er grollte sich jetzt seiner anfänglichen Verachtung des Weibes wegen. Was war er für ein Narr gewesen, daß er kindisch die nie gelebten Beseligungen der Liebe verschmäht hatte! Jetzt entbrannte all jener Kultus des weiblichen Leibes, der ehedem sein Streben in seinem Werk erschöpft hatte, für diesen lebendigen, weichen, warmen Leib, der sich ihm hingegeben. Er hatte gemeint, das auf seidigen Brüsten spielende Sonnenlicht zu lieben, die schönen, bleichen Ambratöne goldig über runde Hüften hin, die weich verschwimmenden Linien eines schönen Bauches. Was für törichte Träumerei war das gewesen! Nun erst hielt er mit beiden Armen und genoß den Sieg dieser Träumerei, wo er sie erfüllt sah; jener Träume, die seiner ohnmächtigen Hand immer wieder entschlüpft waren. Sie gab sich ganz. Er nahm sie vom Nacken bis zum Fuß. Er umschloß sie in einer Umarmung, die sie ganz sich zu eigen machte, sie bis in die innerste Tiefe seines eigenen Leibes hineinnahm. Sie aber gab sich ihm, nachdem sie ihm die Malerei zu einer Nichtigkeit gemacht, glücklich ohne Nebenbuhlerin zu sein, hin in unerschöpflicher Liebe. Frühmorgens waren es ihr runder Arm, ihre geschmeidigen Beine, die ihn so lange im Bett hielten, als fesselten sie ihn in ihrer glückseligen Liebeserschöpfung mit Ketten. Im Boot sah er in trunkener Widerstandslosigkeit nichts als die wiegende Bewegung ihrer Hüften. Im Gras auf den Inseln blieb er den seligen Tag über, sein Auge ganz in das ihre verloren, ganz von ihr hingenommen, und wußte nichts mehr von sich. Immer und überall hatten sie einander im ewig unersättlichen Bedürfnis, sich immer wieder und wieder zu besitzen.

Eine Überraschung bedeutete es für Claude aber, sie bei dem geringsten derben Wort, das ihm entschlüpfte, erröten zu sehen. Sie lächelte dann verlegen und wandte bei seinen freien Anspielungen das Gesicht ab. Sie liebte so etwas nicht. Eines Tages kam es bei solch einer Gelegenheit fast so weit, daß sie sich erzürnten.

In dem kleinen Eichengehölz hinter ihrem Hause war es, wohin sie sich zuweilen in Erinnerung des Kusses, den sie gelegentlich ihres ersten Aufenthaltes in Bennecourt miteinander getauscht, begaben. Von einer Neugier getrieben, befragte er sie über ihr Leben im Kloster. Er hatte sie um die Hüften gefaßt, küßte sie lind hinters Ohr und suchte sie dahin zu bringen, ihm zu beichten. Was hatte sie dort vom Manne gewußt? Was hatte sie darüber mit ihren Freundinnen gesprochen? Welche Vorstellungen hatte sie sich darüber gemacht?

»Bitte, Liebling, erzähl mir doch was davon... Wußtest du, wie's ist?«

Doch sie hatte ihr unzufriedenes Lächeln und versuchte sich von ihm loszumachen.

»Aber es macht mir doch Spaß... Also wußtest du schon?«

Sie wurde verwirrt, ihre Wangen färbten sich glührot.

»Lieber Gott, so viel wie alle anderen; einiges ...«

Und dann setzte sie, während sie ihr Gesicht an seiner Schulter barg, hinzu:

»Aber man ist dann doch überrascht.«

Er lachte laut auf, schloß sie stürmisch in die Arme und bedeckte sie mit Küssen. Doch als er schon glaubte, sie herum und so weit zu haben, daß sie ihm beichtete, entschlüpfte sie ihm mit ausweichenden Reden, und schließlich schmollte sie und hüllte sich in undurchdringliches Schweigen. Niemals sagte sie ihm, so sehr sie ihn auch liebte, mehr. Es war das Geheimnis, das selbst die Freimütigsten bewahren: das Erwachen ihres Geschlechtes, das ihnen ein tief in ihnen begrabenes Heiligtum bleibt. Sie war ein echtes Weib, doch so ganz sie sich ihm auch hingab: hier blieb sie verschlossen.

Zum erstenmal fühlte Claude an diesem Tage, daß etwas zwischen ihnen stand. Etwas Fremdes, Kaltes, das Gefühl eines fremden Körpers ergriff ihn. Konnte es also wirklich sein, daß keiner in das Innerste des anderen drang; selbst wenn sie in der feurigsten Umarmung nur ganz danach strebten, selbst auch noch über den Besitz hinaus immer mehr miteinander eins zu werden?

Doch die Tage verstrichen, ohne daß ihnen die Einsamkeit zu einem Zwang wurde. Sie empfanden weder das Bedürfnis nach einer Zerstreuung noch einen Besuch zu machen oder zu empfangen; immer waren sie beisammen. In den Stunden, die sie nicht in seiner Nähe, in seiner Umarmung verbrachte, pflegte sie geräuschvoll herumzuwirtschaften und das Haus mit großen Reinemachungen auf den Kopf zu stellen, die Mélie unter ihren Augen ausführen mußte. Oder sie hatte es mit Anwandlungen eines Tätigkeitsdranges, in denen sie sich in Person mit ihren drei Kasserollen abwirtschaftete. Besonders aber gab ihr der Garten Beschäftigung. Mit einer Gartenschere bewaffnet, schnitt sie ungeachtet, daß ihr die Dornen die Hände zerstachen, ganze Berge von Rosen ab. Und eine Verletzung zog sie sich zu, als sie die Aprikosen, die sie für hundert Franken an jedes Jahr das Land bereisende Engländer verkaufte, selber pflücken wollte. Dieser Handel hatte sie auf den wunderlichen Einfall gebracht, sie könnten von dem Verkauf der Erträgnisse ihres Gartens leben. Er für seine Person aber machte sich nichts aus der Pflege des Gartens. Er hatte seine Chaiselongue in den großen, zum Atelier umgewandelten Raum gebracht, und da lag er und sah durch das große, offenstehende Fenster zu, wie sie säte und pflanzte. So lebten sie in der vollkommensten Ruhe und in der Gewißheit, daß niemand zu ihnen kommen, nicht einmal das Schellen der Haustürglocke sie stören würde. Er trieb diese Scheu vor dem Verkehr mit der Außenwelt so weit, daß er es selbst vermied, vor der Schenke der Faucheurs vorbeizugehen, da er in beständiger Furcht war, er könnte hier mit einer Schar Kameraden zusammentreffen, die von Paris her eingetroffen wären. Aber den ganzen Sommer über zeigte sich keine Menschenseele; und jeden Abend wiederholte er beim Zubettgehen, was es doch für ein Glück wäre, daß sie so schön verschont blieben.

Nur ein heimlicher Schmerz saß auf dem Grund dieser Freude. Nach ihrer Flucht aus Paris hatte Sandoz ihre Adresse in Erfahrung gebracht, hatte geschrieben und angefragt, ob er sie besuchen dürfe; Claude aber hatte ihn ohne Antwort gelassen. Das hatte zu einem Bruch geführt, und die alte Freundschaft schien dahin. Christine konnte sich darüber nicht beruhigen. Denn sie fühlte wohl, daß Claude diesen Verkehr ihretwegen aufgegeben hatte. Immer wieder kam sie darauf zu sprechen, wollte nicht, daß er mit seinen Freunden auseinanderkäme, verlangte, daß er den Umgang mit ihnen wieder aufnähme. Doch er versprach wohl, alles wieder ins gleiche zu bringen, unternahm aber keine Schritte dazu. Es war eben aus; was konnte es nützen, auf das Gewesene zurückzukommen?

Gegen Ende Juli wurde das Geld knapp. Claude mußte sich nach Paris begeben und Papa Malgras ein halb Dutzend früher gemalter Studien verkaufen. Als Christine ihn zum Bahnhof begleitete, nahm sie ihm einen Schwur ab, Sandoz aufzusuchen. Am Abend war sie dann in Bonnières auf der Station und erwartete ihn.

»Nun, bist du bei ihm gewesen? Habt ihr euch versöhnt?«

In stummer Verlegenheit schritt er neben ihr her. Dann sagte er leise:

»Nein, ich hatte keine Zeit.«

Sie war tief bekümmert, und es standen ihr zwei dicke Tränen in den Augen, als sie sagte:

»Du tust mir sehr weh.«

Als sie aber gerade im Schatten einer Baumgruppe waren, küßte er sie, weinte auch seinerseits und beschwor sie, seinen Kummer nicht noch zu vermehren. Konnte er das Leben anders machen, als es war? Und genügte es denn nicht, daß sie miteinander glücklich waren?

Während dieser ersten Monate hatten sie nur eine einzige Begegnung. Es war oberhalb von Bennecourt. Sie kamen gerade von Roche-Guyon her und verfolgten einen einsamen, zwischen Gehölz hinführenden Weg, einen entzückenden Hohlweg, als sie bei einer Wendung auf drei promenierende Städter, Vater, Mutter und Tochter, stießen; gerade in dem Augenblick, wo sie meinten, so recht allein zu sein, sich umgefaßt hatten und ihre Liebkosungen von den Hecken gedeckt glaubten. Christine hatte sich zurückgebogen und bot ihm ihre Lippen dar, während er lachend die seinen näherte. Sie wurden aber so plötzlich überrascht, daß sie ihr enges Beieinander nicht mehr lösen konnten und engumschlungen langsamen Schrittes ihren Weg fortsetzten. Starr vor Schreck stand die Familie gegen die Wegböschung gedrückt: der dicke, schlagflüssige Vater, die spindeldürre Mutter, die verkümmerte Tochter, die aussah wie ein kranker, mausernder Vogel; alle drei häßlich und blutarm. Was für eine Schamlosigkeit! So etwas! Im Freien! Am hellichten Tag! Und plötzlich bekam das armselige Kind, das mit verdutztem Blick hinsah, wie die beiden Liebenden vorbeigingen, von seinem Vater einen Stoß und wurde von der Mutter, beide außer sich über solche Schamlosigkeit, hinweggeführt. Gab es denn auf dem Lande nur gar keine Polizei? Das liebende Paar aber wanderte glückestrunken ruhigen Schrittes seines Weges weiter.

Claude suchte in seiner Erinnerung und fragte sich, wo er doch, zum Kuckuck, diese Köpfe, diese dekadenten Spießer mit ihren flachen, mißmutigen Gesichtern, denen die mit dem Schweiß der Armen gewonnenen Millionen auf der Stirn geschrieben standen, schon einmal gesehen hatte? Sicher wohl in einem ernsten Augenblick seines Lebens. Und da entsann er sich und erkannte die Margaillans wieder, den Bauunternehmer, den Dubuche durch den Salon der Zurückgewiesenen geführt und der sein Bild so stupid überlaut verlacht hatte. Als sie sich zweihundert Schritte entfernt hatten, er mit Christine den Hohlweg verließ und sie sich einer weitläufigen Besitzung, einem großen, weißen, von schönen Bäumen umgebenen Gebäude, gegenüberbefanden, erfuhren sie von einer alten Bäuerin, daß die Richaudière, wie man das Anwesen nannte, seit drei Jahren den Margaillans gehörte.

»Hier wird man uns nicht so bald wieder zu sehen kriegen«, sagte Claude, als sie gegen Bennecourt hinabgingen. »Diese Scheusale verderben einem die ganze Landschaft.«

Aber gegen Mitte August brachte ein großes Ereignis in ihr Leben eine Veränderung. Christine war schwanger. In ihrem sorglosen Liebestaumel hatten sie es erst im dritten Monat gemerkt. Zuerst war es für sie beide ein großer Schreck; denn nicht einen Augenblick hatten sie daran gedacht, daß sich das ereignen könnte. Sie bemühten sich, vernünftig zu sein; doch gewannen sie keine Freude daran. Er fühlte sich durch dies kleine Wesen, das in seine Existenz Verwicklungen bringen mußte, beunruhigt; sie aber hatte es mit einer unerklärlichen Angst, als befürchte sie, daß dieser Zwischenfall ihr Liebesglück zerstören werde. Lange hing sie weinend an seinem Halse. Vergeblich suchte er, selber von namenloser Traurigkeit bedrückt, sie zu trösten. Später aber, als sie sich an die Sache gewöhnt hatten, dachten sie mit Rührung an das arme Geschöpfchen, das sie an jenem tragischen Tag, wo sie sich ihm unter Tränen im dämmerstillen Atelier hingegeben, gezeugt hatten, ohne es zu wollen. Alles war danach angetan, daß es, empfangen unter dem Nachhall des brutalen Hohngelächters der Menge, ein Schmerzenskind werden würde. Dann aber ersehnten sie es, da sie ja beide nicht schlecht waren, beschäftigten sich mit ihm und rüsteten alles zu seinem Empfang.

Der Winter kam mit grimmer Kälte. Christine war durch eine Erkältung an das schlecht verschließ- und heizbare Haus gefesselt. Ihre Schwangerschaft verursachte ihr häufige Beschwerden. Sie kauerte dann vor dem Feuer. Aber sie mußte sich erst erzürnen, wenn sie Claude hinaus ins Freie bekommen wollte, wo er dann auf den gefrorenen, hallenden Wegen lange Märsche machte. War er aber nach dem monatelangen beständigen Zusammensein mit ihr auf diesen Gängen mit sich allein, erstaunte er über die Wendung, die sein Leben gegen seinen Willen genommen hatte. Niemals hatte er ein solches Zusammenleben gewollt, selbst mit ihr nicht. Hätte man ihm je zu so etwas geraten, würde er sich sicher dagegen gesträubt haben. Und trotzdem war es nun doch so gekommen und war nun nicht mehr rückgängig zu machen. Denn von dem Kinde ganz abgesehen, war er einer von denen, die den Mut zu einem Bruch nicht vermocht hätten. Offenbar mußte es eben so mit ihm kommen: die erste, die Gefallen an ihm fand, mußte ihn fesseln. Die hartgefrorene Erde tönte unter seinem Schritt; der eisige Wind erstarrte sein verlorenes, unbestimmtes Nachdenken. Wenigstens hatte er doch das Glück gehabt, an ein anständiges Mädchen zu geraten, und blieb ihm also die bittere Erfahrung erspart, die die Vereinigung mit einem Modell, das es müde geworden war, von Atelier zu Atelier zu irren, mit sich gebracht hätte. Und von neuem erschwoll sein Herz von Liebe zu Christine; er beeilte sich, wieder zu ihr zurückzukehren und sie stürmisch in seine Arme zu schließen, als sei er in Gefahr gewesen, sie zu verlieren. Bestürzt war er aber, wenn sie sich losmachte und ängstlich rief:

»Oh, nicht so heftig! Du tust mir weh!«

Sie führte dann die Hände nach ihrem Bauch; und jedesmal sah er mit der gleichen beklommenen Bestürzung auf diesen Bauch.

Die Entbindung fand gegen Mitte Februar statt. Von Vernon war eine Hebamme gekommen. Alles ging sehr gut. Nach drei Wochen war die Mutter wieder auf. Das Kind, ein Knabe, war sehr kräftig und nahm so gierig Nahrung, daß sie während der Nacht wohl fünfmal aufstehen mußte, damit er mit seinem Geschrei nicht seines Vaters Schlaf störte. Das Kind brachte das ganze Haus in Aufruhr. Denn eine so tätige Hausfrau sie war, so blieb Christine eine recht ungeschickte Pflegerin. Trotz ihres guten Herzens und soviel Sorge sie sich beim geringsten Unwohlsein machte, von dem das Kind befallen wurde, wollte sie sich nicht recht zu einer Mutter entwickeln. Sie ermüdete schnell, verlor leicht die Geduld, rief dann Mélie hinzu, die durch ihre Unbeholfenheit die Verwirrung noch vermehrte. Dann mußte erst auch noch der Vater hinzukommen, der noch ungeschickter war als die beiden Weiber. Ihre alte Unlust zum Nähen und ihre Ungeschicklichkeiten in allen weiblichen Arbeiten zeigten sich jetzt, wo es galt, für das Kind zu sorgen, von neuem. Der Kleine war ziemlich vernachlässigt und wuchs im Garten und in den verzweifelt unordentlichen Zimmern, in denen Windeln umherlagen, zerbrochenes Spielzeug, Unrat und alles mögliche Trümmerwerk des lebhaften kleinen Herrn, so halb und halb auf gut Glück heran. Wußte sie sich aber gar nicht mehr zu helfen, so warf sie sich in die Arme des geliebten Mannes. Die Brust des Mannes, den sie liebte, war ihre Zuflucht; nur hier fand sie Vergessen und Glück. Sie war nur Liebende; tausendmal hätte sie das Kind für den Gatten hingegeben. Von dem Zustand ihrer Schwangerschaft befreit, war sie in neuer Liebe zu Claude entbrannt; mit ihrer wiedergewonnenen Schlankheit, ihrer von neuem erblühten Schönheit hatte sich auch die Liebende in ihr wiedergefunden. Noch nie hatte sie sich mit so starker Leidenschaft hingegeben.

Zu dieser Zeit begann Claude aber wieder ein wenig zu malen. Der Winter ging zu Ende. Da Christine Jacques' wegen, wie sie den Knaben nach seinem Großvater mütterlicherseits, ohne ihn taufen zu lassen, genannt hatten, vor Mittag nicht ausgehen konnte, wußte er nicht, was er die sonnigen Vormittage über anfangen sollte. Anfangs arbeitete er, noch ziemlich lässig, im Garten, entwarf eine leichte Skizze von der Aprikosenallee, skizzierte die riesigen Rosensträucher, stellte Stilleben zusammen, vier Äpfel, eine Flasche und einen Steinkrug auf einer Serviette. Und das alles bloß so, um sich zu zerstreuen. Aber dann fing er Feuer. Er bekam es mit der Idee, eine bekleidete Gestalt in freier Sonne zu malen. Und von da an ward seine Frau sein Opfer, das sie ihm übrigens, glücklich, ihm eine Freude machen zu können, und ohne noch zu ahnen, was für eine gefährliche Nebenbuhlerin sie sich schuf, gern gewährte. Er malte sie wohl zwanzigmal in weißer Kleidung oder in Rot vor grünem Buschwerk, stehend oder schreitend oder im Grase liegend, einen großen ländlichen Hut auf oder auch barhäuptig unterm Sonnenschirm, dessen kirschrote Seide ihr Gesicht in ein rosiges Licht tauchte. Aber nie tat er sich mit all dem Genüge. Nach zwei, drei Skizzen schabte er's wieder ab, begann sofort von neuem, versteifte sich auf denselben Gegenstand. Nur einige wenige unvollendete Studien, die aber bei einer kraftvollen Faktur reizend abgestimmt waren, entgingen dem Farbenmesser und hingen an den Wänden des Eßzimmers.

Nach Christine mußte dann Jacques als Modell herhalten. Wie einen kleinen heiligen Johannes legte man ihn an warmen Tagen nackt auf eine Decke, und nun hätte er bloß stillzuliegen brauchen. Aber er war ein kleiner Teufel. Er freute sich über die Sonne, lachte, strampelte mit den rosigen Beinchen in der Luft umher, wälzte, überkugelte sich. Der Vater hatte anfangs darüber gelacht; dann aber wurde er ungehalten und fluchte auf die verwünschte Krabbe, die sich nicht eine Minute stillverhalten konnte. War denn das Malen eine Spielerei? Dann machte auch die Mutter böse Augen, hielt den Kleinen, damit der Vater schnell einen Arm oder ein Bein auffangen konnte. Wochenlang versteifte Claude sich darauf, denn die zarten Töne des kindlichen Körpers fesselten ihn ganz besonders. Er betrachtete das Kind nur noch mit dem Auge des Malers, als ein Motiv für ein Meisterwerk, kniff die Augen und sah im Geist ein Gemälde vor sich. Immer wieder studierte er den Kleinen, belauerte ihn ganze Tage lang und war verzweifelt, daß der kleine Schurke gerade zu der Zeit, wo er ihn am besten hätte malen können, nicht schlafen wollte.

Eines Tages, als Jacques zu weinen anfing und die Haltung, in der er dasitzen sollte, nicht beibehalten wollte, sagte Christine sanft:

»Lieber, du quälst das arme Kleine.«

Da erzürnte Claude sich gegen sich selbst und empfand Gewissensbisse.

»Ja, 's ist wahr, ich bin töricht. Kinder taugen nicht zum Malen.«

Frühling und Sommer gingen noch in großer Annehmlichkeit hin. Sie gingen nicht mehr so viel aus, das Boot war fast ganz vergessen und fing an seiner Uferböschung an schadhaft zu werden. Denn es verursachte zuviel Umstände, den Kleinen mit zu den Inseln hinüberzunehmen. Oft aber schlenderten sie miteinander an der Seine hin. Doch kaum je weiter als einen Kilometer. Er war der ewigen Gartenstudien müde geworden und machte jetzt Skizzen vom Uferrand. An solchen Tagen kam sie mit dem Kind zu ihm hinaus, ließ sich nieder, sah ihm zu, wie er malte, und blieb, bis sie, im feinen Graulicht der Abenddämmerung schläfrig geworden, den Heimweg antraten. Eines Nachmittags überraschte sie ihn damit, daß sie ihr altes, aus ihrer Mädchenzeit stammendes Skizzenbuch mitbrachte. Sie scherzte darüber, sagte, daß ihr das, wenn sie so in seiner Nähe wäre, Erinnerungen wecke. Aber ihre Stimme war nicht ganz sicher. In Wahrheit empfand sie das Bedürfnis, an seiner Arbeit, da diese ihn ihr jeden Tag mehr entzog, teilzunehmen. Sie zeichnete, wagte es mit zwei, drei Aquarellen, die sie mit schülerhafter Sauberkeit ausführte. Dann aber merkte sie, durch sein Lächeln entmutigt, doch, daß sich eine Gemeinschaft auf diesem Wege nicht erreichen ließ. So klappte sie denn ihr Album wieder zu und nötigte ihm das Versprechen ab, daß er ihr später, wenn er Zeit hätte, Unterricht im Malen geben werde.

Übrigens fand sie seine letzten Bilder sehr hübsch. Nach diesem Rastjahr in freier Natur und im freien Licht malte er wie mit einem neuen Blick, lichter, in frischeren Tönen. Noch nie hatte er sich so gut auf Reflexlichter verstanden, noch nie Lebewesen und Dinge so genau in der Lichtflut, von der sie umgeben waren, dargestellt. Christine wäre jetzt, von diesem Farbenschmaus gewonnen, mit seiner Malweise vollkommen einverstanden gewesen, wenn er seine Sache besser ausgeführt und es sie nicht zuweilen verwirrt hätte, wenn sie ein Feld in Lila oder in Blau gemalt sah, was all ihre überkommenen Begriffe von Kolorit über den Haufen warf. Als sie sich eines Tages angesichts einer himmelblau getönten Pappel eine Kritik erlaubte, hatte er sie dies zarte Blau des Laubes an der Natur selber feststellen lassen. Es verhielt sich tatsächlich so: der Baum war blau. Doch im Grunde ergab sie sich nicht und verurteilte die Wirklichkeit; es konnte in der Natur eben keine blauen Bäume geben.

 

Sie sprach mit ihm jetzt auch sehr ernst über die Studien, die er an den Wänden des Eßzimmers aufhing. Es machte ihr Sorge, daß die Kunst immer mehr in ihr Leben eindrang. Wenn sie ihn mit seinem Rucksack, seinem Sonnenschirm und seiner Feldstaffelei aufbrechen sah, fiel sie ihm wohl plötzlich um den Hals und fragte:

»Sag, liebst du mich?«

»Bist du närrisch! Warum sollt' ich dich denn, meinst du, nicht mehr lieben?«

»Dann küsse mich so, wie du mich liebst; fest, fest, ganz fest!«

Und dann begleitete sie ihn bis zur Straße hinaus.

»Also arbeite! Du weißt, daß ich dich niemals von der Arbeit abhalten werde ... Geh, geh! Ich bin ja zufrieden, wenn du arbeitest.«

Als der Herbst des zweiten Jahres das Laub bräunte und die ersten Fröste brachte, schien sich Claudes eine Unruhe zu bemächtigen. Es traf sich, daß die Witterung ganz abscheulich war. Vierzehn Tage lang regnete es in Strömen und war er müßig ans Zimmer gefesselt. Danach wurde die Arbeit jeden Augenblick von Nebeln unterbrochen. Düster gestimmt saß er vorm Feuer. Nie sprach er von Paris; aber weit hinten am Horizont erhob sich die Stadt, die winterliche Stadt mit ihren schon von fünf Uhr an brennenden Gaslaternen, mit den Zusammenkünften der sich mit ihrem Wetteifer gegenseitig anstachelnden Freunde, mit ihrem leidenschaftlichen Schaffenseifer, dem selbst die eisigen Dezembertage keinen Abbruch taten. In einem Monat begab er sich unter dem Vorwand, er wolle Malgras aufsuchen, dem er noch einige Bilder verkauft hatte, dreimal in die Stadt. Jetzt vermied er's nicht mehr, an Faucheurs Schenke vorbeizukommen, ließ sich sogar von Vater Poirette aufhalten, nahm ein Glas Wein an, und dabei gingen seine Blicke im Zimmer umher, als hätte er die Freunde gesucht, die trotz der Jahreszeit am Vormittag eingetroffen wären. Lange blieb er bei solchen Gelegenheiten sitzen und wartete. Dann aber kehrte er, ganz verzweifelt über seine Einsamkeit, ganz betäubt von all dem, was in ihm rumorte, ganz krank, daß er niemanden hatte, dem er das zurufen konnte, wovon ihm der Schädel schwirrte, heim.

Doch auch der Winter verstrich, und Claude hatte den Trost, daß er einige schöne Schnee-Effekte malen konnte. Ein drittes Jahr war angebrochen, als er in den letzten Maitagen eine unerwartete Begegnung hatte, die ihn sehr bewegte. Er war eines Vormittags zu dem Plateau hinaufgestiegen, um, nachdem die Ufer der Seine angefangen hatten, ihn zu langweilen, dort nach einem Motiv zu suchen. Er war starr vor Schreck, als er sich bei einer Wegkrümmung mit einemmal Dubuche gegenübersah, der, im schwarzen Hut und korrekt in seinen Überrock eingezwängt, zwischen zwei Holunderheckenreihen auf ihn zukam.

»Wie! Du?«

Der Architekt stotterte vor Verdruß.

»Ja! Ich bin im Begriff, einen Besuch zu machen ... He, es ist wohl recht langweilig auf dem Lande! Aber was willst du? Man hat eben gesellschaftliche Verpflichtungen... Und du wohnst hier? Aber ich weiß es ... Das heißt, eigentlich nein! Es ist mir zwar davon gesprochen worden, aber ich glaubte, daß es weiter ab, auf der anderen Seite des Flusses wäre.«

Claude, der sich sehr bewegt fühlte, zog ihn aus der Verlegenheit.

»Gut, gut, mein Alter! Du brauchst dich nicht zu entschuldigen; wer schuld hat, bin ich ... Ah, wie lange ist es her, daß man sich nicht mehr gesehen hat! Wenn ich dir sagen könnte, wie mir um's Herz 'rum war, als ich deine Nase aus dem Laub hervor auftauchen sah!«

Dann nahm er vor Freude lachend seinen Arm und begleitete ihn. Der andere aber, der, in seiner beständigen Sorge, zu Vermögen zu gelangen, nur immer von sich selber sprach, fing sofort von seiner Zukunft an. Nachdem es ihm mit unendlicher Mühe gelungen war, die regelmäßigen ehrenvollen Erwähnungen zu erreichen, war er Schüler der ersten Klasse geworden. Doch dieser Erfolg hatte ihn in eine schwierige Lage gebracht. Seine Eltern schickten ihm keinen Sou mehr, jammerten ihm etwas vor, daß jetzt er sie unterstützen müsse. Er hatte auf den Prix de Rome verzichtet, denn er war überzeugt, daß er geschlagen werden würde, da er genötigt war, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen. Und er war schon müde; es widerte ihn an, sich für einen Franken fünfundzwanzig Centimes für die Stunde bei unwissenden Architekten zu verdingen, die ihn wie einen Handlanger behandelten. Doch was sollte er anfangen, welchen Weg einschlagen, um so bald als möglich zum Ziel zu gelangen? Am liebsten möchte er die Akademie verlassen. Der einflußreiche Dequersonnière, der ihn seines Fleißes wegen schätzte, würde ihm sicher behilflich sein. Aber zuvor noch wieviel Plage, wie lag alles vor ihm noch im ungewissen! Bittere Klage führte er über die staatlichen Schulen, wo man sich jahrelang die Beine wund laufen mußte und die keinem, den sie entließen, eine Anstellung sicherten.

Plötzlich aber blieb er mitten auf dem Fußsteig stehen. Die Holunderhecken mündeten auf eine kahle Ebene, und hinter ihren hohen Bäumen zeigte sich die Richaudière.

»Halt! Ach ja!« rief Claude. »Ich habe nicht daran gedacht ... Du gehst jetzt in die Bude da! Ah, was für Fratzen hat diese Affenbande!«

Aber Dubuche war über diesen künstlerhaft freimütigen Ausruf verdrießlich und protestierte mit steifer Miene:

»Das hindert nicht, daß der alte Margaillan, so unbedeutend er dir erscheinen mag, in seinem Gewerbe ein tüchtiger Mann ist. Du solltest ihn auf seinen Werkstätten, seinen Bauplätzen sehen. Er ist von einer unglaublichen Rührigkeit, versteht sich ganz erstaunlich auf die Leitung seiner Geschäfte, besitzt einen bewunderungswürdigen Spürsinn für günstige Stellen zur Anlage von Straßen und den Ankauf von Materialien. Übrigens verdient man keine Millionen, wenn man der erste, beste Dummkopf ist ... Außerdem, was mich anbetrifft, so wär' ich schön dumm, wenn ich einem Manne gegenüber nicht höflich sein wollte, der mir von Nutzen sein kann.«

Während er so sprach, pflanzte er sich breit auf dem engen Pfad auf, um den Freund zu hindern, noch weiter mitzugehen. Ohne Zweifel fürchtete er, sich bloßzustellen, wenn man ihn mit ihm zusammen sähe, und wollte er ihm zu verstehen geben, daß sie sich hier trennen müßten.

Claude wollte ihn noch über die Kameraden ausfragen, doch er schwieg. Über Christine fiel nicht ein Wort. Schon entschloß er sich, ihn zu verlassen, und hielt ihm die Hand hin, als sich ihm unwillkürlich die bebende Frage aufdrängte:

»Geht's Sandoz gut?«

»Ja! Nicht schlecht. Ich seh' ihn selten ... Erst letzten Monat hat er noch von dir gesprochen. Es schmerzt ihn noch immer, daß du uns den Stuhl vor die Tür gesetzt hast.«

»Aber das hab' ich ja nicht!« rief Claude außer sich. »Ich bitte euch dringend, besucht mich! Wie würd' ich mich freuen!«

»Also gut, wir kommen. Mein Wort darauf, ich sag' es ihm! ... Leb wohl, leb wohl, Alter! Ich habe Eile!«

Und Dubuche begab sich zur Richaudière hinab, während Claude ihm nachblickte, wie er mit seinem glänzigen Seidenhut und dem schwarzen Fleck seines Überrockes zwischen den Feldern verschwand. Langsam kehrte er zurück. Das Herz war ihm von einer tiefen, unerklärlichen Traurigkeit bewegt. Seiner Frau sagte er von der Begegnung nichts.

Acht Tage darauf war Christine zu Faucheurs gegangen, um ein Pfund Nudeln zu kaufen. Auf dem Heimweg verweilte sie sich und plauderte, das Kind auf dem Arm, mit einer Nachbarin, als ein Herr, der mit der Fähre gekommen war, auf sie zutrat und sie fragte:

»Herr Claude Lantier wohnt hier in der Nähe, nicht wahr?«

In ihrer Überraschung antwortete sie nur:

»Ja, mein Herr. Wenn Sie sich mir anschließen wollen ...«

Eine Strecke von etwa hundert Metern hatten sie so nebeneinanderher zu schreiten. Der Fremde, der sie zu kennen schien, betrachtete Christine mit einem freundlichen Lächeln. Doch als sie ihren Schritt beeilte und ihre Aufregung unter einer ernsten Miene verbarg, sprach er nicht weiter. Sie öffnete die Tür, trat in das Speisezimmer und sagte:

»Claude, hier ist ein Besuch!«

Mit einem lauten Aufschrei stürzten die beiden Männer einander in die Arme.

»Ah, mein alter Pierre! Ah, ist das schön von dir, daß du kommst! ... Und Dubuche?«

»Im letzten Augenblick hielt ihn eine geschäftliche Angelegenheit zurück. Er hat mir depeschiert, ich möchte ohne ihn fahren.«

»Gut! Ich könnt' es mir wohl schon denken ... Aber du bist da, du! Ah, Gottswetter, freu' ich mich!«

Er wandte sich an die von ihrer Freude angesteckt lächelnde Christine.

»Ah, es ist ja wahr, ich hab' dir doch noch gar nicht erzählt. Ich habe neulich Dubuche getroffen, der da drüben in der Villa dieser Strohköpfe einen Besuch machte.«

Doch schon unterbrach er sich wieder und rief mit einer vor Freude ganz närrischen Handbewegung:

»Meiner Treu, ich bin ganz verdreht! Ihr kennt euch ja noch gar nicht, und ich lasse euch da so stehen ... Liebling, der Herr da ist mein alter Kamerad Pierre Sandoz, den ich liebe wie meinen Bruder ... Und hier, mein Liebster, ist meine Frau. Und nun gebt euch alle beide einen schönen Kuß!«

Christine hatte ein freimütiges Lachen und hielt ihm von Herzen gern die Wange hin. Sofort hatte Sandoz ihr mit seiner Biederkeit, seiner treuen Freundschaft und der väterlich sympathischen Miene, mit der er sie ansah, gefallen. Gerührt feuchteten sich ihre Augen, und sie sagte, während er ihre Hände in der seinen hielt:

»Es ist so schön von Ihnen, daß Sie Claude so lieben, und Sie müssen sich beide immer liebbehalten. Denn es gibt ja kein schöneres Glück in der Welt.«

Dann bückte sich Sandoz zu dem Kleinen, den sie auf dem Arm hatte, und küßte ihn:

»Sieh, und da ist auch schon ein Sprößling!«

Der Maler hatte eine gleichsam entschuldigende Handbewegung.

»Was willst du? Das kommt, eh' man sich's vermutet.«

Während Christine das Haus in Bewegung setzte, um das Frühstück zu besorgen, blieb Claude mit Sandoz im Zimmer. In aller Kürze erzählte er ihm ihre Geschichte: wer Christine wäre, wie er sie kennengelernt hätte und welche Umstände sie bewogen hätten, sich zusammenzutun. Ganz erstaunt war er, als der Freund wissen wollte, weshalb sie sich nicht verheiratet hätten. Gott ja, warum! Weil davon nicht einmal die Rede gewesen wäre, weil ihr selber nichts daran gelegen schien und weil sie so sicher nicht weniger glücklich wären. Schließlich, was machte es aus?

»Gut!« sagte der andere. »Ich für mein Teil finde nichts weiter dabei ... Aber da sie ein anständiges Mädchen ist, solltest du sie auch heiraten.«

»Aber gewiß, sobald sie es wünscht. Jedenfalls denk' ich nicht daran, sie mit dem Kind im Stich zu lassen.«

Dann bewunderte Sandoz die an der Wand hängenden Studien. Ah, der Kerl hatte seine Zeit gut angewandt! Welch ausgezeichneter Ton, wie naturwahr das Sonnenlicht! Claude hörte ihm beglückt und mit einem stolzen Lachen zu. Dann fragte er, was die Kameraden machten. Aber schon trat Christine ein und rief:

»Schnell, kommt! Die Eier sind fertig!«

Sie speisten in der Küche. Es war ein ausgezeichnetes Frühstück. Nach den weichgesottenen Eiern gab's gebackene Gründlinge, dann das Rindfleisch vom vorigen Tage, mit Kartoffeln und sauerem Hering zu einem schmackhaften Salat hergerichtet. Es war lecker. Der Hering, den Mélie hatte ins Feuer fallen lassen, verbreitete einen kräftigen, appetitanregenden Duft, auf dem Herde sickerte der Kaffee durchs Sieb. Als dann der Nachtisch erschien, frisch gepflückte Erdbeeren und bei einer Nachbarin gekaufter Käse, plauderten sie, die Ellbogen auf dem Tisch, behaglich drauflos. In Paris? Lieber Gott! In Paris machten die Kameraden nicht gerade etwas Neues. Oder doch, ja! Sie regten die Ellbogen, rempelten sich gegenseitig, wer als der erste ans Ziel gelangte und zu einem Auskommen käme. Natürlich hätten die Abwesenden unrecht; man müßte schon mit dabei sein, wenn man nicht in Vergessenheit geraten wollte. Aber Talent blieb Talent! Gelangte man nicht immer ans Ziel, wenn man nur den Willen und die Kraft dazu hatte? Ah ja, es war wohl schon ein herrlicher Traum, auf dem Lande zu leben, hier Meisterwerke anzuhäufen und dann eines schönen Tages Paris zu überrumpeln und seine Koffer auf zutun!

Als Claude Sandoz am Abend zur Bahn begleitete, sagte dieser:

»Bei dieser Gelegenheit: ich wollte dir etwas mitteilen ... Ich glaube, ich werde mich verheiraten.«

Der Maler lachte hell auf.

»Ach, du Spaßvogel! Jetzt versteh' ich, warum du mir heut morgen ins Gewissen geredet hast!«

Während sie auf den Zug warteten, plauderten sie noch. Sandoz setzte seine Gedanken über die Ehe auseinander. Er hielt sie, was die großen modernen Schaffenden anbetraf, ganz bürgerlich für die Grundbedingung zur Arbeit, einer soliden, geregelten Produktion. Das Weib als die Verwüsterin des künstlerischen Schaffens, die dem Künstler das Herz verzehre und das Hirn fresse, war eine romantische Idee, welche durch die Tatsachen widerlegt wurde. Er jedenfalls fühle das Bedürfnis nach einer Neigung, die die Hüterin seiner Ruhe wäre, nach einem liebevollen Stilleben, in das er sich einkapseln, in dem er sein Leben ganz dem gewaltigen Werk widmen konnte, das ihm im Geiste vorschwebte. Aber er fügte hinzu, daß alles von der Wahl abhinge, und er glaubte, die gefunden zu haben, die er suchte: eine Waise, die einer kleinen Kaufmannsfamilie entstammte, keinen Heller besitze, aber schön und klug wäre. Seit sechs Monaten hatte er seine Beamtenstelle aufgegeben und sich ganz in den Journalismus gestürzt, der ihm ein reichliches Auskommen gewährte. Er wohnte jetzt mit seiner Mutter in einem kleinen Haus in Batignolles und wollte dort ein Leben zu dreien führen. Zwei Frauen würden ihn betreuen, und er verfüge über Tatkraft genug, um seinen Hausstand durchzubringen.

»Verheirate dich, Alter!« sagte Claude. »Man muß seiner Überzeugung gemäß handeln ... Und nun leb wohl, da ist der Zug. Vergiß nicht, was du versprochen, und besuch uns bald wieder!«

Sandoz kam öfter, soweit es seine Zeit nur irgend gestattete. Er war noch ledig; erst im Herbst konnte er heiraten. Es waren glückliche Tage. Ganze Nachmittage brachten sie damit zu, sich vertraulich auszusprechen und auf ihre alten Ruhmesträume zurückzukommen.

Als er eines Tages mit Claude allein auf einer der Inseln war und sie Seite an Seite, die Augen im Himmel verloren, im Gras lagen, sprach er ihm von seinen weitausgreifenden Plänen und gab offen seine Beichte.

»Die Zeitung, siehst du, ist nur ein Kampfplatz. Man muß leben, und um leben zu können, muß man kämpfen ... Und dann ist diese verwünschte Presse trotz allen Widerwärtigkeiten des Handwerks eine gewaltige Macht und in der Hand eines überzeugungstüchtigen Kerls eine unbesiegbare Waffe ... Doch wenn ich schon gezwungen bin, mich ihrer zu bedienen, will ich doch bei ihr nicht alt und grau werden. Ah nein! Und ich habe, was ich suchte: ein Werk, das all meine Kräfte bis zum äußersten in Anspruch nimmt, etwas, in das ich mich stürzen will, ohne daß ich vielleicht je wieder davon loskomme.«

Ein Schweigen sank von den in der Sonnenhitze regungslosen Zweigen hernieder. Mit abgerissenen Sätzen und gedämpfter Stimme fuhr Sandoz fort:

»Was sagst du dazu: den Menschen studieren, so wie er ist; nicht mehr ihren metaphysischen Hampelmann, sondern den durch seine Umgebung bestimmten mit dem Spiel und der Bewegung aller seiner Organe ... Ist dieses beständige, ausschließliche Studium der Gehirnfunktion, das man unter dem Vorwand treibt, das Gehirn sei das edelste Organ, nicht eine Narretei? ... Der Gedanke! Der Gedanke! Eh, Gottswetter! Der Gedanke ist das Erzeugnis des ganzen Körpers. Laßt doch mal ein Gehirn für sich allein denken und seht doch mal zu, was aus dem so edlen Organ wird, wenn der Bauch krank ist!... Nein! Torheit! Die Philosophie ist's nicht mehr, auch die Wissenschaft nicht: Wir sind Positivisten, Evolutionisten, und wir sollten die literarische Gliederpuppe der klassizistischen Zeit beibehalten, sollten fortfahren, die verhedderten Haare der reinen Vernunft zu strählen? Wer Psycholog sagt, sagt Verräter der Wahrheit. Übrigens Physiologie, Psychologie: das besagt gar nichts. Das eine hat das andere zu durchdringen, beide sind heute eine Einheit: der aus der Gesamtsumme seiner Funktionen bestehende menschliche Mechanismus ... Ah, das ist die Formel! Unsere moderne Revolution hat keine andere Grundlage. Das ist der schicksalsbestimmte Untergang der antiken Gesellschaft, die Geburt einer neuen; und mit Notwendigkeit ist es in diesem neuen Mutterboden der Auftrieb einer neuen Kunst ... Ja, man soll sehen, soll erleben, was für eine Literatur für das kommende Jahrhundert der Wissenschaft und Demokratie aufblühen wird!«

Sein Ausruf erhob sich in den unermeßlichen Himmelsäther hinein. Kein Lüftchen regte sich. An der Zeile der Weiden hin nur das stumme Gleiten des Flusses. Plötzlich wandte er sich gegen den Kameraden herum und sagte ihm ins Gesicht:

»So hab' ich für mein Teil gefunden, was ich brauche. Oh, weiter nichts so besonders Großes; nur ein Winkelchen, geradesoviel, als es für ein Menschenleben ausreicht, selbst wenn man mit seinem Streben noch so weit ausgreift ... Eine Familie werde ich nehmen und werde ihre Mitglieder studieren, eins nach dem anderen; woher sie kommen, wohin sie gehen, wie sie, das eine auf das andere, reagieren. Also eine Menschheit im kleinen; die Art und Weise, wie die Menschheit treibt und sich verhält ... Andererseits setz' ich meine guten Leute in eine historisch abgeschlossene Periode hinein, und das wird mir Umgebung und Lebensumstände an die Hand geben, wird ein Stück Geschichte sein ... Nicht? Du verstehst: eine Folge von Büchern; fünfzehn, zwanzig Bände; Episoden, die untereinander im Zusammenhang stehen, jedes mit seinem Rahmen für sich. Eine Folge von Romanen, mit denen ich mir ein Haus für meine alten Tage bauen will, wenn sie mich nicht vorher aufreiben!«

Er ließ sich auf den Rücken zurückfallen, breitete die Arme ins Gras, schien in die Erde eindringen zu wollen, lachte und scherzte:

»Oh, liebe Erde! Nimm mich, du, Allmutter, einzige Quelle allen Lebens! Du ewige, unsterbliche, in der die Seele der Welt kreist; dieser Saft, der sich bis in den Stein hineinergießt und der die Bäume macht, unsere großen, unbeweglichen Brüder! ... Ja, verlieren will ich mich in dir! Du bist's, die ich hier fühle, unter meinen Gliedern; die mich umfängt und entflammt! Du allein sollst die Grundkraft meines Werkes sein, Mittel und Ziel, die ungeheure Arche, in der alle Dinge sich mit dem Atem aller Wesen beleben!«

In der überschwenglichen Stimmung seiner lyrischen Emphase scherzend begonnen, war diese Anrufung in den Ruf einer glühenden Überzeugung ausgegangen, den eine tiefe, dichterische Begeisterung durchbebte. Seine Augen feuchteten sich, und um seine Rührung zu verbergen, fügte er mit rauher Stimme und einer weitausgreifenden, den Horizont bestreichenden Armbewegung hinzu:

»Ist das dumm, daß jeder von uns eine Seele haben soll, da doch alles die eine große Seele ist!«

Claude hatte, ganz im Gras vergraben, sich nicht gerührt. Nachdem wieder ein Schweigen gewesen war, schloß er ab:

»Recht so, Alter! Schmeiß sie alle! ... Aber sie werden dir den Garaus machen.«

»Oh!« sagte Sandoz, der aufsprang und sich reckte. »Ich habe harte Knochen; sie werden sich die Fäuste dran zerbrechen ... Komm, ich darf den Zug nicht verfehlen.«

Christine hatte für Sandoz, der so aufrecht und stark ins Leben hineinmarschierte, eine lebhafte Freundschaft gefaßt. Sie wagte es endlich, ihn um einen Gefallen zu bitten: Jacques' Pate zu sein. Gewiß, sie setzte keinen Fuß mehr in die Kirche: doch warum sollte man das Kind außerhalb des Brauches stehen lassen? Vor allem war aber der Umstand für sie bestimmend, daß er in diesem, in seiner Kraft so ausgeglichenen, verständigen Paten eine Stütze haben könnte. Claude war verwundert; doch willigte er achselzuckend ein. Und so fand die Taufe statt. In der Tochter einer Nachbarin hatte man auch eine Patin gefunden. Es war ein Fest. Man verzehrte einen aus Paris mitgebrachten Hummer.

An diesem Tage geschah es, daß Christine, als man sich trennte, Sandoz beiseitenahm und ihm mit flehentlicher Stimme sagte:

»Kommen Sie bald wieder, nicht wahr? Er langweilt sich.«

Tatsächlich verfiel Claude in Schwermut. Er vernachlässigte seine Studien, ging allein aus, streifte unwillkürlich vor der Schenke Faucheurs und an der Landungsstelle der Fähre umher, als rechne er damit, daß dort irgend jemand ihm Paris mitbringen müsse. Unausgesetzt war er mit Paris beschäftigt. Jeden Monat fuhr er dorthin und kam dann ganz trostlos und unfähig zu jeder Arbeit zurück. Der Herbst kam, dann der Winter; ein feuchter, schmutziger Winter. Er verbrachte ihn in einer verdrießlichen Betäubung. Selbst gegen Sandoz, der sich im Oktober verheiratet hatte und nicht mehr so oft nach Bennecourt kommen konnte, zeigte er sich verbittert. Nur gelegentlich dieser Besuche belebte sich Claude und hatte für eine Woche Anregung, war Feuer und Flamme und ward nicht müde, die Neuigkeiten, die Sandoz mitgebracht hatte, durchzusprechen. Er, der zuvor seine Sehnsucht nach Paris vor ihr versteckt hatte, überschüttete Christine jetzt vom Morgen bis zum Abend mit Gesprächen über Angelegenheiten, von denen sie nichts wußte, und über Leute, die sie niemals gesehen hatte. So gab es, wenn Jacques schlief, beim Ofen endlose Erklärungen. Er geriet in Feuer, und Christine mußte ihre Meinung abgeben.

War Gagnière nicht ein Idiot, daß er sich mit seiner Musik da zersplitterte, da er doch ein so ausgezeichneter Landschafter hätte sein können? Es hieß, daß er jetzt bei einer Dame Klavierunterricht nahm. In seinem Alter! He, was sagte sie dazu? Doch die reine Schrulle! Und Jory, der sich, seit sie ein eigenes Haus in der Rue de Moscou bewohnte, an Irma Bécot heranzumachen suchte! Na, sie kannte ja die beiden, eins gab dem anderen nichts nach. Doch der Schlauste der Schlauen war Fagerolles, dem er es gründlich stecken würde, wenn er ihn mal sähe. Wie! Der Bursch hatte sich um den Prix de Rome beworben, der ihm übrigens aber entgangen war. Und dabei war er über die Akademie hergezogen, hatte keinen Stein von ihr auf dem anderen lassen wollen! Ah, entschieden! Die Erfolgsucht, der Trieb, über die Leiber der Kameraden zu steigen und das Lob der stumpfsinnigen Menge einzuheimsen, führte doch zu rechten Gemeinheiten. Ah, sie wollte ihn doch nicht etwa in Schutz nehmen? War sie wirklich so spießbürgerlich, daß sie das tat? Hatte sie ihm dann aber nach dem Mund geredet, so kam er unter lautem, nervösem Lachen immer auf dieselbe Geschichte zurück, die er ausbündig komisch fand. Die Geschichte von Mahoudeau und Chaîne, die den kleinen Jabouille, den Mann der Mathilde, der scheußlichen Kräuterhändlerin, umgebracht hatten. Ja, umgebracht! Eines Abends nämlich, als der schwindsüchtige Hahnrei einen Ohnmachtsanfall gehabt hatte, waren sie beide von dem Weibe herbeigerufen worden und hatten ihn so gründlich gerieben, daß er unter ihren Händen den Geist aufgegeben hatte.

Wenn Christine sich dann aber nicht belustigt fühlte, erhob sich Claude und sagte mit grämlicher Stimme:

»Oh, du! Nichts bringt dich zum Lachen ... Komm zu Bett, das ist das gescheiteste.«

Seine Liebe zu ihr war noch immer groß; er suchte mit der verzweifelten Leidenschaft eines Liebhabers, der in der Liebe Vergessen linden will, in ihrer Umarmung seine einzige Freude Doch darüber hinaus ging's nicht. Sie genügte ihm nicht mehr. Das andere, sein heimliches Leid, behielt ihn und war nicht unterzukriegen.

Im Frühling geriet Claude, der in einer Aufwallung von Verachtung den Schwur getan hatte, nie mehr ausstellen zu wollen, in Unruhe des Salons wegen. Wenn er mit Sandoz zusammenkam, so fragte er ihn aus, was die Kameraden eingereicht hätten. Am Tage der Eröffnung begab er sich nach Paris, von wo er am selben Abend sehr ernst und aufgeregt zurückkam. Mahoudeau hatte nur eine Büste dort. Sie war sehr gut, doch ohne Belang. Dann gab's eine kleine Landschaft von Gagnière, die ein schönes, blondes Kolorit hatte. Sonst aber hatten sie nichts dort als ein Bild von Fagerolles: eine Schauspielerin, die sich vorm Spiegel das Gesicht schminkte. Zuerst hatte Claude es gar nicht erwähnt; dann sprach er davon mit entrüstetem Lachen. Was war dieser Fagerolles für ein Schwindler! Jetzt, wo ihm der Prix de Rome entgangen war, scheute er sich nicht mehr auszustellen, sagte sich von der Akademie los. Doch mit welcher Verschlagenheit! Lauter Kompromiß! Ein Gemälde, das sich als kühn, als wahr ausspielte, ohne doch irgendwelche Eigenart zu besitzen! Und das hatte Erfolg. Die Spießer liebten es ja so sehr, daß man sie streichelte, während man sich den Anschein gab, bei ihnen Anstoß zu erregen. Ah, es war wahrhaftig höchste Zeit, daß ein wirklicher Maler in der trübseligen Öde des Salons erschien und zwischen all die Schlau- und Dummköpfe träte! Gottswetter, Platz genug war für ihn da!

Als Christine ihn so erregt sah, sagte sie schließlich zögernd:

»Wenn du willst, könnten wir ja wieder nach Paris ziehen.«

»Wer spricht denn davon?« rief er. »Man kann wirklich nichts mit dir sprechen, ohne daß du gleich was dahinter argwöhnst.«

Sechs Wochen danach erfuhr er eine Neuigkeit, die ihn acht Tage lang beschäftigte. Sein Freund Dubuche heiratete Fräulein Régine Margaillan, die Tochter des Besitzers der Richaudière. Es war eine verwickelte Geschichte, deren Einzelheiten ihn im höchsten Grade verstimmten und belustigten. Zunächst hatte dieses Animal von Dubuche für den Entwurf eines inmitten eines Parkes gelegenen Pavillons, den er ausgestellt hatte, eine Medaille erlangt. Was schon an und für sich etwas Amüsantes war; denn der Entwurf, hieß es, war von seinem Lehrer Dequersonnière korrigiert worden, der dann Dubuche durch die Jury, deren Vorsitzender er war, hatte preiskrönen lassen. Aber der Gipfel war, daß diese von vornherein sichere Belohnung die Hochzeit entschieden hatte. Was? Ein nobler Handel! Die Medaille diente jetzt also dazu, daß brave, bedürftige Schüler in reiche Familien einheiraten konnten! Wie alle Emporkömmlinge träumte Papa Margaillan davon, daß er einen Schwiegersohn fand, der ihm helfen konnte und der seinem Geschäft durch authentische Diplome und ein elegantes Äußere ein Ansehen gab. Seit einiger Zeit aber hatte er sein Auge auf diesen Schüler der Akademie der schönen Künste geworfen, der so ausgezeichnete Zeugnisse hatte, so fleißig war und von seinen Lehrern empfohlen wurde. Die Medaille begeisterte ihn; er gab ihm sofort seine Tochter und machte ihn zu seinem Geschäftsteilhaber, der ihm seine Millionen verdoppeln sollte, da er ja mit allem, was das Bauwesen verlangte, vertraut war. Im übrigen aber würde die arme, immer trübsinnige und kranke Régine einen gesunden Mann haben.

»Kannst du dir vorstellen?« sagte Claude immer wieder zu seiner Frau. »Wie sehr muß man in das Geld vernarrt sein, um solch ein armseliges Wesen zu heiraten!«

Als Christine aber, von Mitleid hingerissen, ihre Partei nahm, sagte er:

»Aber ich beiße sie doch nicht. Um so besser, wenn sie die Hochzeit überlebt! Sie ist ja doch sicherlich unschuldig daran, daß der Maurer von Vater den stumpfsinnigen Ehrgeiz gehabt hat, eine Bürgerstochter zu heiraten, und daß sie von ihnen beiden erzeugt worden ist, er mit seinem von Säufern ererbten Blut, sie erschöpft und von allen Ansteckungsstoffen entnervter Generationen aufgezehrt. Ah, ein netter Bankerott, trotz aller Hundertsoustücke! Häuft, häuft eure Reichtümer und setzt eure Mißgeburten in Spiritus!«

Er wurde so wild, daß seine Frau ihn umschlingen, ihn in ihren Armen halten, ihn küssen und lachen mußte, daß er wieder der gute Kerl von früher wurde. Als er sich dann aber beruhigt hatte, begriff er und billigte die Verheiratung seiner beiden alten Gefährten. Immerhin, wahr! So hatten sie denn nun alle drei geheiratet! Wie drollig das Leben spielte!

Noch einmal ging der Sommer zur Neige, der vierte, den sie in Bennecourt erlebten. Sie hätten nicht glücklicher sein können; leicht und ohne Sorge ging ihnen das Leben in der Abgeschiedenheit ihres Dorfes dahin. Nie hatte es ihnen, seit sie hier wohnten, an Geld gefehlt. Seine tausend Franken Rente und der Verkauf von einigen Bildern genügten für ihre Bedürfnisse. Sie machten sogar Ersparnisse, hatten sich Wäsche kaufen können. Dem kleinen Jacques, der jetzt zwei und ein halbes Jahr alt war, bekam das Land ganz ausgezeichnet. Von früh bis spät abends hatte der von Gesundheit strotzende, nach Herzenslust gedeihende kleine Kerl in seiner beschmutzten, zerrissenen Kleidung auf dem Fußboden umher sein Wesen. Oft wußte seine Mutter kaum, wie sie es anfangen sollte, ihn einigermaßen zu säubern. Aber wenn sie ihn nur tüchtig essen und gut schlafen sah, machte sie sich weiter keine Sorge. All ihre sorgenvolle Zärtlichkeit wandte sie dem anderen großen Kinde, ihrem lieben Manne, zu, dessen trübe Stimmung sie mit Kummer erfüllte. Täglich wurde es schlimmer. Mochten sie immer ein ruhiges Leben haben, von allem Kummer verschont sein; trotzdem verfielen sie in einen Trübsinn, ein Mißbehagen, das sich täglich und stündlich mit Gereiztheiten verriet.

Mit den ländlichen Freuden, die sie anfangs genossen hatten, war's vorbei. Ihr morsch und leck gewordenes Boot lag auf dem Grund der Seine. Sie dachten im übrigen nicht einmal daran, sich des Bootes zu bedienen, das ihnen die Faucheurs zur Verfügung gestellt hatten. Der Fluß langweilte sie, sie waren zum Rudern zu träg geworden. Und wenn sie auch manchmal mit dem Entzücken von ehemals noch von dieser und jener schönen Stelle der Inseln sprachen, fühlten sie sich davon doch nicht angeregt, sie wieder aufzusuchen. Selbst die Spaziergänge an den Uferböschungen hin hatten ihren Reiz verloren. Im Sommer war es dort zu heiß, im Winter erkältete man sich. Und was das Plateau anbetraf, das über dem Dorf gelegene weite, mit Apfelbäumen bestandene Gelände, so war es ihnen gleichsam zu einem fernen, zu abgelegenen Land geworden, als daß sie bis dort hinaus ihre Beine riskiert hätten. Selbst ihr Haus behagte ihnen nicht mehr; diese Kaserne, wo man in der dürftigen Küche essen mußte und wo durch ihr Schlafzimmer der Wind von allen Richtungen der Windrose her pfiff. Zu allem Mißbehagen hinzu kam in diesem Jahr noch eine mißratene Aprikosenernte. Außerdem waren die schönsten der riesigen, alten Rosenbüsche krank geworden und eingegangen. Ein melancholischer Überdruß hatte sie ergriffen, die ewige Natur schien gealtert, der ewig gleiche Horizont, der sie umgab, widerstand ihnen. Aber das schlimmste war, daß dem Maler in ihm die Landschaft zuwider geworden war. Kein einziges Motiv fand er mehr, das ihm Anregung gegeben hätte. Trübsinnig strich er durchs Gefilde, als sei es eine wüste Domäne, deren Leben er ausgeschöpft hatte, so daß ihn kein Baum, kein Lichteffekt interessierte, den er noch nicht gekannt hätte. Nein, es war aus, er war abgekühlt, brachte auf diesem elenden Lande nichts mehr zustande!

Mit seinem dunstigen Himmel kam der Oktober. An einem seiner ersten verregneten Abende brauste Claude auf, weil das Diner nicht rechtzeitig auf den Tisch kam. Er warf die dumme Gans von Mélie zur Tür hinaus, und Jacques, der ihm vor den Beinen herumlief, bekam eine Kopfnuß ab. Christine fiel ihm weinend um den Hals und sagte:

»Komm, laß uns von hier fortgehen! Wir wollen nach Paris zurückkehren.«

Er machte sich los und rief zornig:

»Immer noch dies dumme Zeug! ... Niemals, verstehst du!«

»Tu's meinetwegen!« beharrte sie eindringlich. »Ich bin's, die dich darum bittet; du machst mir eine Freude damit.«

»Also langweilst du dich hier?«

»Ja, ich komme hier um, wenn wir bleiben ... Und dann möcht' ich, daß du arbeitest. Ich fühle, daß dein Platz dort ist. Es wäre ein Verbrechen, wenn du dich hier noch länger vergraben wolltest.«

»Nein, laß mich!«

Es durchfuhr ihn bis ins Innerste. In der Ferne rief Paris, das winterliche Paris, das von neuem seine Lichter entfachte. Er vernahm, wie dort die Kameraden vorwärtsstürmten. Er wollte dorthin zurück, daß man nicht ohne ihn triumphierte, wollte wieder ihr Führer werden, da keiner von ihnen die Kraft und den Ehrgeiz hatte, es zu sein. Doch trotz dieser lockenden Vorstellungen und der Sehnsucht, die er empfand, zurückzukehren, weigerte er sich hartnäckig, es zu tun. Ein ganz unwillkürlicher Widerstand dagegen, der sich aus seinem Innersten erhob und den er sich nicht zu erklären wußte, sträubte sich dagegen. War's die Furcht, die selbst den Tapfersten schütteln kann, der heimliche Kampf zwischen Glück und Verhängnis?

»Höre«, sagte Christine heftig, »ich packe ein und führe dich fort.«

Fünf Tage später reisten sie ab, nachdem alles eingepackt und auf die Bahn gebracht worden war.

Claude war mit dem kleinen Jacques schon draußen, als Christine tat, als habe sie noch etwas vergessen. Allein trat sie wieder in das Haus ein. Wie sie es so gänzlich leer sah, brach sie in ein Weinen aus. Es war ihr, als würde etwas von ihr losgerissen; irgend etwas, was sie hier dahinten ließ, ohne daß sie doch hätte sagen können, was es war. Wie gern wäre sie geblieben! Wie heiß war ihre Sehnsucht, immer hier zu leben, obgleich sie diesen Aufbruch betrieben hatte, diese Rückkehr in die lebensglühende Stadt, in der sie eine Rivalin ahnte! Sie suchte noch immer, was ihr fehle. Schließlich pflückte sie vor der Küche eine Rose, eine letzte, schon vom Frost geknickte Rose. Dann schloß sie die Tür des verödeten Gartens.


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