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6. Jack im Schneegestöber

»Ich sehe meine Mutter nicht wieder und du deine Frau und Kinder nicht,« sagte in herzbeweglichem Ton ein stattlicher junger Indianer, als wir beide an einem grimmigen Wintertag auf dem Winnipeg-See in ein Schneegestöber geraten waren. Wir hatten jeder ein prächtiges Hundegespann, aber wir waren ohne einen Führer. Die Sache verhielt sich nämlich so. Ich hatte Nachricht bekommen, daß mir dieses Jahr keine Mittel zum Besuch fernewohnender, heidnischer Indianer zur Verfügung gestellt werden würden. Das hieß also, ich sollte zunächst in meinem kleinen, gemütlichen Heim bleiben und unter ein paar kleinen Gruppen von meistens christlichen Indianern arbeiten, und die armen, unzivilisierten Indianer in ihren einsamen, öden Jagdgründen sollten wieder sich selbst überlassen bleiben. Das brachte ich nicht übers Herz. Ich hatte sie bisher zweimal im Jahr besucht, im Sommer im Boot, im Winter im Schlitten; sie hatten mich so freundlich ausgenommen, daß ich beschloß, trotz aller Gefahren die Arbeit unter ihnen fortzusetzen. Da ich kein Geld hatte, um einen erfahrenen Führer zu bezahlen, so ging ich nur mit Alek, einem noch unerfahrenen jungen Mann, fort und wir wurden vom Schneegestöber überrascht.

Anfangs waren wir gut vorwärts gekommen und hatten immer passende Lagerplätze gefunden; wir waren auch guten Muts geblieben, obgleich das Holzhauen und andere nötige Arbeiten im Lager für zwei Männer etwas viel waren. Wir hatten lauter Bernhardinerhunde, ausgenommen den Leithund meines Zugs. Dies war Kuna – Schnee, wie ihn die Indianer seiner weißen Farbe wegen nannten. Er verstand alle Befehle sehr gut und fand den Weg, ohne daß ein Indianer voranlief, aber er war etwas ängstlich, wenn er selbst die Verantwortung hatte.

Wir waren eines Morgens noch vor Tagesgrauen aufgebrochen – unser Nachtlager war nur ein Schneeloch gewesen – und waren, zuerst bei Sternenschein und dann beim ersten Morgenlicht, schnell vorangekommen. Um den Weg abzukürzen, waren wir weit hinaus auf den See gefahren, doch so, daß wir die Vorgebirge, die uns die Richtung zeigten, immer im Auge behielten. Es hatte in der Nacht geschneit und der Schnee war uns etwas hinderlich, aber unsere guten Hunde schlugen sich doch wacker durch. Da es grimmig kalt war, sprangen wir oft von den Schlitten und liefen eine Weile, um uns zu erwärmen. Während wir so dahinfuhren, kamen einzelne Windstöße, die wir zuerst nicht beachteten. Auch als die Vorgebirge allmählich im Dunst verschwanden, fuhren wir törichterweise weiter, anstatt möglichst schnell dem Ufer zuzueilen. Nach ungefähr einer Stunde brach ein wilder Sturm aus, der den Schnee aufwirbelte, so daß die Luft ganz davon erfüllt war. Der Wind blies gleichmäßig aus Norden und wir hatten ihn gerade im Gesicht. Ein Führer hätte uns schnell ans Ufer, in den Schutz des Waldes gebracht, aber wir beiden »Grünhörner«, wie die Indianer uns nachher nannten, meinten, wir könnten es mit dem Sturm, der jetzt zu einem heulenden Orkan geworden war, aufnehmen. Wir hielten nur so lange, daß ich mein Gespann und das Aleks aneinander binden konnte, damit wir nicht getrennt würden, und dann ging's wieder vorwärts. Die braven Hunde rannten tapfer dem Sturm entgegen, mit dem es kein Pferd hätte aufnehmen können. Wir glaubten zuerst, wir seien wenigstens auf dem rechten Weg, wenn wir den Wind im Gesicht hatten, aber mit der Zeit merkten wir, daß er nach verschiedenen Richtungen umgesprungen war und daß wir vielleicht schon stundenlang kreuz und quer gefahren waren.

Ich hielt die Gespanne an und rief: »Alek, ich fürchte, wir haben uns verirrt.«

»Jawohl haben wir uns verirrt,« war seine nicht sehr tröstliche Antwort.

»Wir hätten uns, wenn ein Schneesturm drohte, nicht so weit vom Ufer entfernen sollen,« sagte ich.

Wir waren entschlossen, nicht ohne Kampf nachzugeben. Aber was sollten wir tun? In einem Land, wo die schneidende Kälte fortwährende Zufuhr von Brennstoff verlangt, ist die erste Antwort auf diese Frage: »Wir müssen essen.« Wir öffneten einen Sack mit gedörrtem Büffelfleisch und genossen etwas von der harten, faden, aber sehr nahrhaften Speise. Eine Tasse Tee hätte uns gut dazu geschmeckt, aber den konnten wir uns hier nicht verschaffen. Auch die Hunde, die sich dicht an uns drängten, erhielten ihren Anteil. Sie wurden sonst nur einmal täglich gefüttert, aber heut war's eine Ausnahme; wir wußten ja nicht, ob es nicht für uns und sie die letzte Mahlzeit war. Jack saß dicht neben mir; hier war immer sein Platz, auch wenn er nichts zu essen erwartete. Während wir abwechselnd von der zähen Speise abbissen – er nahm bedeutend größere Bissen als ich – legte ich meinen Arm um ihn und sprach mit ihm. Die Hunde verstehen meiner Ansicht nach viel mehr, als man gewöhnlich glaubt, und ich wußte aus Erfahrung, daß Jack mich fast immer verstand. Daheim merkte er's immer, wenn von ihm die Rede war, und war erfreut oder beleidigt, je nachdem man lobend oder tadelnd von ihm sprach.

Ich redete also mit ihm, während die Winde heulten wie wilde Tiere, die uns verschlingen wollten. Zuerst machte es ihm nicht viel Eindruck, als ich ihm sagte, wir seien verirrt. Ich fuhr fort: »Jack, mein tapferer Junge, weißt du, daß wir vielleicht nie wieder heimkommen? Daß der Schnee unser Grab sein wird und daß liebe Augen vergebens nach uns ausschauen werden? Daß du dich nie mehr auf deinem Wolfsfell vor dem Feuer in meiner Stube ausstrecken wirst? Raff dich auf, denn wir verlassen uns auf deinen Verstand, daß du uns aus dem Schneesturm an einen sichern Zufluchtsort bringst.«

.

Ich hatte mein halb mit Schnee und Eis bedecktes Gesicht dicht an das seine gedrückt und redete mit ihm wie ein Mann mit seinem Freund. Seine Antwort bestand in ein paar Küssen auf meine Stirn und in wahrhaft wunderbaren Taten.

Die Vorbereitungen zu unserem Kampf ums Leben waren schnell getroffen. Ich wickelte Alek sorgfältig in eine Decke von Kaninchenfell – im Verhältnis zu ihrer geringen Schwere die wärmste Bedeckung, die man haben kann – und machte ihn fest auf seinem Schlitten, der, wie schon erwähnt, gut an dem meinigen befestigt war. Dann brachte ich die Gespanne in Ordnung und legte mich so auf den Schlitten, daß ich mich festbinden konnte, um nicht herunterzufallen, auch wenn ich von der Kälte bewußtlos würde.

Kuna, für gewöhnlich ein guter Leithund, hatte im Schneesturm die Sicherheit verloren. Als ich »Marsch« rief, sah er mich an, als wollte er fragen: »In welcher Richtung?« Das wußte ich aber leider ebenso wenig als er. Bei dem zweiten »Marsch« ging es ebenso. Ich hatte keine blasse Ahnung, wo wir waren, und die Kälte war entsetzlich, – wir konnten nicht dableiben, wir mußten weiter um jeden Preis. Jack war der zweite Hund im Zug. Er war schon lange ungeduldig gewesen, aber als wohlerzogener Hund wußte er, daß er für gewöhnlich dem Leithund folgen mußte. Jetzt, in der höchsten Not, rief ich: »Vorwärts, Jack! Geh welchen Weg du willst, ich weiß keinen mehr!«

Das genügte. Dem edlen Hund schien es sogleich klar zu sein, daß es an ihm lag, uns aus der Gefahr zu retten. Mit seinem frischen, fröhlichen Bellen sprang er vor, dem Sturm entgegen. Kuna überließ bereitwillig die Führung dem stärkeren Hund, und während der nun folgenden langen Fahrt versuchte er nicht ein einzigesmal – wie es sonst manchmal ein Hund tut – die Führung wieder an sich zu reißen. Kuna merkte offenbar, daß in dieser schrecklichen Not Jack mehr leisten konnte, und benützte manchmal geschickt die Gelegenheit, sich durch Jack vor den heftigen Windstößen decken zu lassen.

Da der Sturm den Schnee vom Eis wegwehte, kamen wir schnell vorwärts. Stunde auf Stunde zerrann und der Sturm heulte und brauste um uns her. Mit unverminderter Kraft ging Jack vorwärts. Manchmal rief ich ihm ein ermunterndes Wort zu und dann hörte ich durch den Sturm sein wohlbekanntes Gebell. Es klang so siegesgewiß und hielt mir Mut und Hoffnung aufrecht, obgleich wir in höchster Lebensgefahr waren. Denn die Kälte wurde nun so entsetzlich, daß es uns war, als gehe es ans Leben. Es war eine durchaus notwendige Vorsichtsmaßregel gewesen, daß wir uns an die Schlitten festgebunden hatten, aber das hinderte uns nun, herunterzuspringen und uns durch Laufen zu erwärmen. Es blieb uns nichts, als auszuhalten und das Beste zu hoffen. Von Zeit zu Zeit rief ich meinem Indianer zu, um ihn wachzuhalten, denn ich wollte ihn davor bewahren, in die eigentümliche Schläfrigkeit zu verfallen, die der Vorbote des Erfrierens ist.

O wie fürchterlich langsam vergingen die Stunden! Gegen Mittag war der Sturm ausgebrochen. Jetzt brach die Nacht herein. Das steigerte unsere Leiden und vermehrte die Gefahr. Man hatte in dem gräßlichen Schneegestöber zwar nicht weit, aber doch etwas sehen können, jetzt aber umhüllte uns tiefes Dunkel auf dem ungeheuren See, der 500 Kilometer lang und an der Stelle, wo wir uns befanden, 60 bis 100 Kilometer breit war. Doch gaben wir die Hoffnung nicht auf, und unsere Hunde schienen durch Jacks Eifer und unbesiegbaren Mut angesteckt. Stunde um Stunde rannten sie tapfer durch den Sturm, als sähen sie schon von ferne das Lagerfeuer und witterten den Geruch der für sie dort auftauenden Weißfische. Wir beiden Männer waren jung und kräftig und hatten gute Felle und Decken. Diese konnten wir, wenn schließlich die Hunde versagten, ausbreiten, uns mitsamt den Tieren darunter bergen und so vielleicht die Nacht überleben. So vertrauten wir der liebenden Vorsehung, die uns schon aus mancher Gefahr gerettet hatte, und beschlossen, solange die Hunde aushielten, keine Änderung zu machen. So wie ich die Hunde kannte, konnte ich annehmen, daß Jack seines Weges gewiß war, sonst wäre er nicht so zuversichtlich und mutig vorangegangen. Schließlich mußten wir ja irgendwo ans Ufer kommen. Die Hauptsache war für uns, daß wir uns wach erhielten, denn der Schlaf hätte den gewissen Tod bedeutet.

Ungefähr drei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit bemerkte ich zu meiner angenehmen Überraschung, daß die Hunde etwas entdeckt hatten. Wegen der Dunkelheit und des Schneegestöbers konnte ich sie nicht sehen, aber ich fühlte, daß irgend etwas sie aufregte. Zuerst dachte ich, es sei am Ende ein wildes Tier, das sich im Schneesturm in unsere Nähe verirrt und ihre Jagdlust erregt hatte. Ich hatte aber keine Zeit zu Überlegungen, denn ich mußte mich fest am Schlitten halten und sorgen, daß er bei den aufgeregten Bewegungen der Hunde nicht umschlug. Solch plötzliche Geschwindigkeit konnte nicht lange dauern und es war auch nicht nötig, denn die Hunde gaben uns bald einen Beweis ihrer scharfen Witterung, und der edle Jack gewann alle Ehren eines unvergleichlichen Führers.

Nach einem Lauf von 100 Kilometern gegen den Sturm und bei einer Kälte von 30-50 Grad hatte uns das edle Tier an die Eishaufen geführt, die ein paar Indianerfamilien, die am Ufer wohnten, hier aufgetürmt hatten, wenn sie beim Wasserholen das Eis aufhackten. Im Lauf von mehreren Monaten war es ein ordentlicher Eisberg geworden. Jack nahm einen kräftigen Anlauf und mit Hilfe der anderen Hunde erstieg er den zackigen Abhang. Ehe ich mich's versah, holperten wir schon auf der andern Seite hinunter. Zum Glück fielen wir nicht in das offene Wasserloch, sondern kamen auf den getretenen Pfad, der in den Wald, zu dem Wigwam der Indianer führte. Die Hunde flogen nur so über ihn hin. Jetzt zogen sie uns den Abhang eines Hügels hinauf, dann folgte ein ebener aber gewundener Weg, und jetzt sahen wir aus den Wigwams von Birkenrinde die freundlichen Funken herausfliegen. Endlich waren wir gerettet. Es wird mich niemand tadeln, wenn wir dankbaren Herzens laut riefen: Bravo, Jack!


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