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Mai 1921.

Am frühen Morgen des 10. November erwäge ich auf der Heeresgruppe mit meinem Chef, dem Grafen Schulenburg, die durch die Abreise des Kaisers geschaffene neue Lage und die Möglichkeiten, die sie mir noch offen läßt. In mir drängt alles nach wie vor zum Widerstande.

Also Kampf gegen die Revolution? Aber nur der eine Mann, in dessen Hände der Kaiser den Oberbefehl über die Front- und Heimattruppen legte und dem ich selber als Soldat und Führer meiner Heeresgruppe unterstehe, besitzt das Recht, zu diesem Kampfe aufzurufen: Hindenburg.

Und während wir noch über ihn und die Entschlüsse sprechen, die er jetzt etwa fassen mag, kommt der Bericht aus Spa, daß der Generalfeldmarschall sich der neuen Regierung zur Verfügung gestellt habe!

Damit ist jeder Gedanke an Kampf in seiner Wurzel getroffen – jedes Unternehmen gegen die neuen Machthaber zur Aussichtslosigkeit verdammt. Mit Hindenburg und für eine auf Ordnung und Frieden gerichtete Parole war vielleicht noch viel zu retten – gegen ihn war nur noch mehr zu verlieren: deutsches Bruderblut – Aussicht auf Waffenstillstand und Frieden.

So muß denn für mich jede Versuchung, die angestammte Macht mir mit Waffengewalt zu holen, zurückgewiesen werden, und es kann nur mein Wunsch bestehen bleiben, auf jeden Fall meine Pflicht als Soldat zu tun, der seinem Kaiser den Treueid geschworen hat und dem von seinem Kaiser bestimmten Stellvertreter Gehorsam schuldet. So will ich den Oberbefehl weiter in Händen behalten und die mir anvertraute Truppe in Ordnung und Disziplin sicher in die Heimat zurückführen. Graf von der Schulenburg tritt dieser Ansicht mit seinem Rate bei, und meine Armeeführer von Einem, von Hutier, von Eberhardt und von Boehn, die zum Teil noch im Laufe des Vormittags im Stabe der Heeresgruppe vorsprechen, die ich zum Teile telephonisch erreiche, sind ebenfalls alle der gleichen Ansicht. Keiner unter ihnen, der nicht tief erschüttert wäre von dem Unglück dieser Fügungen – keiner unter ihnen, der nicht unverstehend auf die Vorgänge blickte, die sich in Berlin, die sich in Spa abgespielt haben. Immer wieder die eine Frage: Und Hindenburg? Und immer wieder die eine Antwort: General Gröner –

Am Nachmittage fahre ich, nachdem hierüber lange hin und her beraten wurde, aus Vielsalm fort. Schulenburg legt mir empfehlend nahe, während der Verhandlungen mit Berlin weiter nach vorne zur Truppe zu gehen und dort, abseits von den hinter der Front vielleicht rascher zum Ausdruck kommenden Zersetzungserscheinungen, das Weitere abzuwarten. Andererseits ist es nötig, meinen Aufenthalt so zu wählen, daß ich telephonisch erreichbar bleibe. So wird schließlich die Einigung dahin getroffen, daß ich zunächst zum A.O.K. 3 gehen möge.

Die Fahrt vergesse ich mein Lebtag nicht. Mein Ordonnanzoffizier Zobeltitz und der Nachrichtenoffizier der Heeresgruppe Hauptmann Anker begleiten mich, während meine beiden Adjutanten Müldner und Müller zurückbleiben, um die weiteren Verhandlungen mit der Regierung zu führen.

Beim Durchfahren eines Ortes wird mein Wagen von Hunderten junger Soldaten umringt, die mit Fragen und Rufen auf mich eindringen. Ein Rekrutendepot der Garde – und die Jungens wollen alle nicht an die Revolution glauben und bitten mich, mit ihnen in die Heimat zu marschieren. Kurz und klein wollen sie alles schlagen! Als sie hören, daß auch Hindenburg sich der neuen Regierung zur Verfügung gestellt habe, werden sie still. Das ist, als ginge ihnen das nicht in den Kopf. Viele Hände drücke ich, höre das Rufen der jungen Stimmen hinter mir drein: Auf Wiedersehen! – Liebe, treue deutsche Jungens – und heute wohl deutsche Männer! –

Auf unglaublichen Land- und Waldwegen arbeiten wir uns weiter und erreichen gegen neun Uhr abends bei einbrechender Nacht das Ziel unserer Fahrt. Weit und breit kein Stab! Zufällig taucht ein Veterinär aus dem Dunkel, der uns erklärt, hier habe noch nie ein Stab gelegen: Aus Versehen – der Name des Quartiers des A.O.K. 3 kommt zweimal vor – hat man mir einen falschen Zielort in die Karte eingezeichnet. Aber er will uns den Weg bis zum nächsten Orte weisen, dort sei gestern der Stab von Schmettow gewesen.

Durch einen riesigen, nachtschwarz verhüllten Wald geht es, und nach einer Stunde langen wir vor einem Schlosse an, wo aber bereits alles zur Ruhe gegangen ist. Rufen und Hupen. Endlich erscheint ein Offizier, der uns erklärt: hier liege eine Fähnrichsschule, die Gruppe von Schmettow sei schon wieder fort. Rührend nett ist der junge Mann – gleichsam, als müsse er es gutmachen, daß Schmettow abgezogen ist – und bittet mich, die Nacht zu bleiben. Wo A.O.K. 3 liegt, vermag er nicht zu sagen, nimmt aber an, daß Einem in der Nähe der kleinen Stadt Laroche Quartier genommen habe.

Wir fahren also weiter in die Nacht hinein und suchen. Endlich finden wir Laroche. Es ist Eisenbahnknotenpunkt. Ein wüstes Bild, durch das wir jagen: johlende, disziplinlose Urlauber, Geschrei und Gekreisch, Sturm auf die Züge. Aus der Kommandantur erfahren wir endlich, daß A.O.K. 3 ganz in der Nähe auf einem Schlosse liege.

Also wieder los! – Auf einem ausgefahrenen Landwege müssen wir unter einer engen Bahnüberführung durch. Hier hat sich eine österreichische Motormörserbatterie mit einer deutschen Munitionskolonne zu einem heillosen Gewirr verfahren. Stockdunkel ist es dazu, die kleinen Lichter schwanken, die Leute schreien, fluchen. Immer tiefer sinkt unser Auto in den Schlamm, und ein feiner kalter Regen rieselt nieder. So sitzen wir hilflos, eingekeilt inmitten dieses Chaos zwei Stunden lang. Das Gejohle und Getobe vom Bahnhof her klingt über uns hin, Gruppen von verschlampten Drückebergern und Etappensoldaten schieben sich mit mißtrauischen, schelen, gierigen Augen an uns vorüber. Zwei Stunden so – nach dieser Flut von furchtbarem Erleben, mit einem Herzen so voll Qual und Bitterkeit. Wie ein Bild des grauenvollen Endes unseres Heldenkampfes von viereinhalb Jahren dieses Ganze: Wirrnis, Wahnsinn, Verbrechertum!

Nein – meinem schlimmsten Feinde nicht möchte ich die ausrührende Qual dieser Stunden wünschen. –

Nach Mitternacht endlich erreichen wir das A.O.K., werden von Exzellenz von Einem und von seinem Chef Oberstleutnant von Klewitz mit warmherziger Freundschaftlichkeit aufgenommen. Seit dem späten Nachmittag hatten sie unser Kommen erwartet und schon gefürchtet, sie würden uns nicht wiedersehen, es sei uns vielleicht ein Unglück zugestoßen.

Wir gehen bald zur Ruhe. Schlaf kann ich auch in dieser Nacht kaum finden. –

Der elfte ist ein trüber, kalter Tag. Von Revolution ist beim A.O.K. 3 auch nicht das geringste zu spüren – vom Chef herunter bis zur letzten Ordonnanz sind alle tadellos, und es ist eine Freude, die Strammheit und Dienstfreudigkeit der Leute zu sehen. Trüge ich nicht all dieses unsagbar bittere Erleben der letzten Tage unverwischbar eingebrannt in meinem Hirn, in meiner Brust, ich könnte angesichts dieser vollkommenen Ordnung glauben, aus einem wüsten Traume zu erwachen. – Klewitz erzählte mir übrigens, daß auch bei seinen Telephonisten sich ein Soldatenrat gebildet habe, dem er aber ein sehr schnelles Ende bereitet hatte: die Leute waren nachher selbst gekommen, um sich bei ihm zu entschuldigen.

Im Laufe des Vormittages melden sich bei mir der Führer der Ersten Garde-Division General Eduard von Jena und sein Generalstabsoffizier Hauptmann von Steuben, beides prächtige, in aller Not erprobte Männer. Erschüttert sie und ich, da ihnen, wie sie Abschied von mir nehmen, die Tränen aus den Augen brechen. –

Nachmittags telephoniere ich mit meinen Adjutanten in Vielsalm, die mir über den bisherigen Stand der Verhandlungen mit der Regierung berichten: Man hängt in Vielsalm eben wieder an der Strippe nach Berlin – Entscheidungen sind bisher nicht gezeitigt. Ich bitte mir auf jeden Fall das eine aus: daß keinerlei abschließende Abmachungen getroffen werden, daß jede letzte Entscheidung bei mir verbleibe.

Also weiter warten! Warten? Auf welches Wunder? Klingt nicht aus all dem, was ich schon weiß, was sich hinter der Form von Rücksprachen und von Verhandlungen kaum noch verbirgt, das Nein der Herren in Berlin ganz deutlich heraus? Und können sie, wenn sie die geraubte Macht behaupten wollen, anders entscheiden? Kann ich, wenn ich dem armen, tausendfach geprüften Lande den Frieden wünsche, diesem Nein widerstreben?

Unvergeßlich aus diesem Tage noch ein Eindruck:

Abend ist es, und ich gehe einsam und in quälende Gedanken versponnen im Parke des Schlosses. Eine Flucht in das Alleinsein, in die Abgeschlossenheit, in der ich allem Letzten, was sich jetzt noch vollziehen mag, ins Gesicht sehen will, ist dieser Gang.

Und wenn das Nein, das sicher kommen wird, dir deinen Platz bei deinen Kameraden, die Verantwortlichkeit und Pflichten des aktiven Soldaten genommen hat – was dann? Sollst du dann – um durch dein Verbleiben bei der Truppe nicht zum Kernpunkt von Unruhen zu werden – dich in Lüttich oder in Herbesthal in einen Heimatzug klemmen und nach Berlin fahren? Dir dort als müßiger Privatmann mitansehen, dort miterleben, wie sie alles, was dir und ihnen große und heilige Tradition gewesen ist, in einem irren Rausch und Wahn ihrer zermürbten und verführten, verhetzten Gehirne schänden? Oder dann doch auch dort der Mann sein, um den Für und Wider sich erhitzen?

Nein! – Aber ein Weg öffnet sich vor dir im Augenblick, wo du im Zwange ihres Nein den Willen, mit der Truppe heimzukehren, aufgeben mußt, in dem du von den neuen Herren abgesetzt und aus deinem Dienst entlassen bist: der Weg über die Grenze.

Dort drüben, allem gärenden Streite entrückt, ein paar Wochen warten, bis das schlimmste Toben vorüber ist und bis Vernunft und Erkenntnis der Ruhe wieder zum Siege helfen. Dann, spätestens mit dem Friedensschlusse: Rückkehr zu der Frau, den Kindern, der neuen Arbeit, die bei ihnen auf dich so wie auf jeden Deutschen wartet.

An den Vater denke ich, den ich so wiedersehen werde –

Und die ganze Bitterkeit dieses Scheidens und in die Fremde Gehens fällt über mich her.

Frühes Dunkel liegt über den spätherbstlichen Bäumen, halb schneit halb regnet es, und eine durchdringende Kälte steigt aus dem nassen, modernden Laub und Erdreich auf.

Da zieht draußen auf der Straße eine Kompanie vorbei, und die Leute singen. Unser liebes schönes altes Soldatenlied: »Nach der Heimat möcht' ich wieder –«. Singen – Marschieren –

Großer Gott! denke ich. Und wehre mich dagegen, so gut ich kann. Aber es ist doch stärker, und ich komme nicht dagegen auf.

Immer noch singen sie. Leiser jetzt – ferner –

Gehalten habe ich mich bis zu diesem Augenblick. Das, in dem Dunkel, in der Einsamkeit, in der mich keiner sehen konnte, hat mich umgeschmissen.

 

Spät abends ist die Erklärung der Regierung, daß sie nach Anhörung des Kriegsministers General Schëuch meinen Verbleib im Oberkommando der Heeresgruppe ablehnen müsse, eingetroffen.

Der neue oberste Befehlshaber hat keine Verwendung für mich. So bleibt mir nur übrig, den Abschiedsbrief zu schreiben.

Hier ist er:

»Hauptquartier Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, den 11. November 1918.

Lieber Herr Generalfeldmarschall!

In diesen für Meinen Herrn Vater und Mich schwersten Tagen Unseres Lebens muß Ich bitten, Mich von Euer Exzellenz auf diesem Wege verabschieden zu dürfen. Tiefbewegt habe Ich Mich entschließen müssen, von der Mir durch Euer Exzellenz erteilten Genehmigung Gebrauch zu machen, Meinen Posten als Oberbefehlshaber niederzulegen und Meinen Aufenthalt zunächst im neutralen Ausland zu nehmen. Erst nach harten inneren Kämpfen habe Ich Mich zu diesem Schritt durchgerungen, trotzdem es Mir mit allen Fasern Meines Herzens widerstrebt, Meine Heeresgruppe und Meine tapferen Truppen, denen das Vaterland so unendlich viel verdankt, nicht in die Heimat zurückführen zu können.

Ich lege aber Wert darauf, Euer Exzellenz in dieser Stunde noch einmal Meine Stellungnahme in kurzen Zügen zur Darstellung zu bringen, und bitte Euer Exzellenz, von Meinen Worten ganz nach Ihrem Gutdünken Gebrauch machen zu wollen.

Im Gegensatz zu vielen ungerechten Stimmen, die Mich von jeher als Kriegshetzer und Reaktionär hinzustellen sich bemüht haben, habe Ich von Anfang an den Standpunkt vertreten, daß dieser Krieg für uns ein Verteidigungskrieg war, und habe in den Jahren 1916, 1917 und 1918 bereits mündlich und schriftlich oft betont, daß Deutschland das Ende des Krieges suchen und froh sein müsse, sich der ganzen Welt gegenüber auf dem Status quo zu behaupten. Innerpolitisch bin Ich der letzte gewesen, der sich einem freiheitlichen Ausbau unseres Staatswesens verschlossen hat. Diese Meine Auffassung habe Ich auch dem Reichskanzler, Prinz Max von Baden, noch vor wenigen Tagen schriftlich dargetan. Trotzdem bin Ich, als die Wucht der Ereignisse Meinen Herrn Vater vom Throne stürzte, nicht nur nicht gehört worden, sondern man ist über Mich als Kronprinz und Thronfolger einfach zur Tagesordnung übergegangen.

Euer Exzellenz bitte Ich daher zur Kenntnis zu nehmen, daß Ich gegen diese Vergewaltigung Meiner Person, Meiner Rechte und Ansprüche Verwahrung einlegen muß.

Trotz dieser Tatsachen blieb Mein Standpunkt der, weiter auf Meinem Posten zu verharren, um nach den schwersten Erschütterungen, die der Armee der Verlust ihres Kaisers und Obersten Kriegsherrn und die schmählichen Waffenstillstandsbedingungen bringen mußten, ihr die neue Enttäuschung zu ersparen, nun auch den Kronprinzen seiner Stellung als militärischer Oberbefehlshaber enthoben zu sehen. Dabei hat Mich der Gedanke geleitet, durch den Zusammenhalt Meiner Heeresgruppe für unser Vaterland, dem wir alle dienen, weitere schädigende Momente zu vermeiden, auch wenn Meine Person den peinlichsten Folgen und Konflikten ausgesetzt sein könnte. Ich hätte diese getragen in dem Bewußtsein, dem Vaterland einen Dienst zu erweisen. Für Mein weiteres Verbleiben auf Meinem militärischen Posten mußte aber auch die Stellungnahme der jetzigen Regierung maßgebend sein. Von ihr ist Mir der Bescheid geworden, daß die Regierung nicht mit einer weiteren militärischen Verwendung Meinerseits rechne, obwohl Ich Mich zu jeder Verwendung bereit gefunden hätte. Ich glaube daher, so lange auf Meinem Posten geblieben zu sein, wie es Meine Ehre als Offizier und Soldat Mir vorschrieb.

Euer Exzellenz wollen gleichzeitig davon Kenntnis nehmen, daß Abschriften dieses Briefes an den Herrn Minister des Königlichen Hauses, das preußische Staatsministerium, den Herrn Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses, den Herrn Präsidenten des Herrenhauses, den Herrn Chef des Militärkabinetts, den Herrn Chef des Zivilkabinetts und einige Mir nahestehende militärische Führer gegangen sind.

Ich sage Euer Exzellenz hiermit Lebewohl mit dem heißen Wunsche, daß unser geliebtes Vaterland aus diesen schweren Stürmen den Weg zu innerer Gesundung und einer neuen besseren Zukunft finden möge, und schließe als Ihr

(gez.) Wilhelm
Kronprinz des Deutschen Reiches
und von Preußen.

An Seine Exzellenz Herrn Generalfeldmarschall von Hindenburg, Chef des Generalstabes des Feldheeres, Großes Hauptquartier.«

Ich habe bald nach diesen Vorgängen den Wunsch gehabt, daß alles und daß namentlich der Hergang der während meines Aufenthaltes beim A.O.K. 3 zwischen meiner Heeresgruppe in Vielsalm und der Regierung in Berlin spielenden Verhandlungen in einem kurzen Tatsachenberichte festgelegt werde. Ich setze dieses von meinem Chef, dem Generalmajor Grafen von der Schulenburg, und von meinen beiden verhandelnden Adjutanten Müller und Müldner aufgesetzte und unterzeichnete Schriftstück als Ergänzung zu der von mir selbst gegebenen Schilderung hierher:

»Tatsachenbericht zu den Vorgängen vom 10. und 11. November 1918.

Der Chef des Generalstabes der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, Generalmajor Graf Schulenburg, hat am 10. XI. 18 Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Kronprinzen dringend geraten, an der Spitze der Heeresgruppe zu bleiben. Die Oberbefehlshaber von Einem, von Boehn, von Eberhardt und von Hutier, die z. T. persönlich im Hauptquartier der Heeresgruppe erschienen, haben sich dieser Auffassung angeschlossen und sie, ein jeder einzeln, dem Kronprinzen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Der Kronprinz begab sich am 10. XI. nachmittags an die Front zum A.O.K. 3, damit er nicht vorzeitig mit verschiedenen auslösenden Erscheinungen in Berührung komme.

Am 11. November fand in Vielsalm, dem Hauptquartier der Heeresgruppe, eine Besprechung mit Exzellenz von Hintze statt, an der Graf Schulenburg und die beiden persönlichen Adjutanten, die Majore von Müller und von Müldner, teilnahmen. Graf Schulenburg vertrat hierbei die Auffassung, daß der Kronprinz an der Spitze seiner Heeresgruppe bleiben müsse. Er wies darauf hin, daß auch der Feldmarschall und Gröner derselben Auffassung seien. Die beiden persönlichen Adjutanten stimmten dieser Auffassung im allgemeinen zu, wiesen aber darauf hin, daß der Kaiser vor seiner Abreise nach Holland sich dahin geäußert habe, daß unter keinen Umständen ein Bürgerkrieg entfesselt werden dürfe. Zu dessen Träger aber mußte nach Übertritt des Kaisers auf holländisches Gebiet aller Wahrscheinlichkeit nach der Kronprinz werden, gewollt oder ungewollt, so wie die Verhältnisse lagen.

Selbst wenn dieses Moment ausgeschaltet würde, wäre mit Sicherheit anzunehmen, daß die neue Regierung eine tunlichst schleunige Beendigung einer so entscheidenden militärischen Führerstelle, wie der Kronprinz sie einnahm, herbeigeführt hätte. Diese müßte spätestens am Rhein eintreten, und dann bliebe dem Kronprinzen keine weitere Entschließung mehr für sein Handeln. Er würde voraussichtlich gezwungen, jede ihm auferlegte Bedingung anzunehmen, und hätte nicht einmal die Wahl für einen künftigen Aufenthaltsort. Wählte er diesen in Deutschland, so bliebe er immer der Mittelpunkt von Strömungen, die zu unberechenbaren Folgen führen könnten. Exzellenz von Hintze erklärte, daß die Frage – Bleiben oder Abreise – von den militärisch verantwortlichen Persönlichkeiten zu entscheiden sei. Man einigte sich dahin, bei der Regierung anzufragen, und Exzellenz von Hintze erbot sich, diese Anfrage zu übermitteln. Er bat den Reichskanzler ans Telephon. Dieser war in einer Sitzung und nicht zu sprechen. Es meldeten sich dafür Herr von Prittwitz und Herr Baacke. Während Exzellenz von Hintze mit diesen Herren sprach, diktierte Graf Schulenburg dem Major von Müldner die Anfrage des Kronprinzen an die Regierung: ›Der Kronprinz hat den dringenden Wunsch, an der Spitze seiner Heeresgruppe zu bleiben und wie jeder andere Soldat in dieser ernsten Zeit seine Pflicht zu tun. Er wird seine Truppen in straffer Ordnung und Disziplin in die Heimat zurückführen und verpflichtet sich, in dieser Zeit nichts gegen die Regierung zu unternehmen. Wie stellt sich die Regierung zu dieser Frage?‹ Exzellenz von Hintze gab diese Anfrage telephonisch an Herrn Baacke auf, der sie aufschrieb und kollationierte. Während dieser Verhandlungen rief der Kronprinz den Grafen Schulenburg und Exzellenz von Hintze an und verlangte, daß keine abschließenden Abmachungen getroffen würden und daß er sich in jedem Fall die Entscheidung vorbehalte.

Spät am Abend erhielt Major von Müldner die telephonische Mitteilung, daß die Regierung nach Anhörung des Kriegsministers Schëuch die Anfrage des Kronprinzen in verneinendem Sinn beantworten müsse und nicht die Absicht habe, den Kronprinzen im Oberbefehl zu belassen.

Der Kronprinz legte darauf mit Erlaubnis des Feldmarschalls von Hindenburg das Kommando nieder und entschied sich nach schwerem Kampf für die Reise nach Holland, weil er sich sagte, daß nach den bereits getroffenen Entschließungen sein Verbleib einen anderen Ausgang der Lage nicht herbeiführen, sondern sie nur erschweren und verwirren konnte, und er von der Überzeugung durchdrungen war, dem Vaterland dieses Opfer bringen zu müssen.

Die Abreise erfolgte am 12. XI. vormittags.
Berlin, 4. April 1919.

(gez.) von Müller Müldner von Mülnheim
Major z. D. Major z. D.
Graf von der Schulenburg
Generalmajor.«

Die Nacht zum neuen Tage schlaflos, ruhelos. Sie ist wie eine einzige Grausamkeit gegen ein zerquältes Herz, das sich jetzt losreißen soll von all dem, womit es verwachsen ist, gegen ein Gehirn, das sich ausweglos nach einer anderen, besseren Lösung der Probleme zergrübelt.

Am Ende immer nur die eine Klarheit: daß nicht durch mich oder um meinetwillen ein weiteres Blutvergießen über die Heimat kommen darf, daß ich kein Hemmnis werden darf, wenn sie vielleicht so besser innere Ruhe und einen Frieden findet, den sie ertragen kann.

Am frühen Vormittag wollen wir fahren – über die Grenze – nach Holland fahren. Zwei Wagen, nur das Allernötigste an Gepäck. Seit Tagen hat man jetzt davon gesprochen, hat nächtelang kaum anderes gedacht – und jetzt, da es als Wirklichkeit vor einem steht, kann man es doch kaum fassen.

Ganz still, ohne viel Worte möchte ich das A.O.K. 3 verlassen. Was man sich sagen kann, ist ausgesprochen. Auch dienstlich ist jede Pflicht bis zum letzten Augenblick erfüllt. Der Oberbefehl über die mir bisher anvertraute Heeresgruppe ist von mir mit Eintritt des Waffenstillstandes an Generaloberst von Einem abgegeben. – Abschied – das harte Muß ist da. Warum das Herz sich nur noch schwerer machen.

Dann aber, wie ich in die Halle komme, steht unten doch das ganze A.O.K. 3 im Dienstanzug, Helm auf dem Kopf, versammelt. Alle, auch die Schreiber, die Ordonnanzen. Vor ihnen, auf seinen Pallasch gestützt, der alte, prachtvolle Generaloberst von Einem, daneben sein Chef, mein guter Klewitz – dieser famose Soldat, der nie verzagt ist, so dreckig es auch oft war! Nur ist jetzt etwas in den derben Zügen, was ich vorher in ihnen nie gesehen habe.

Einem spricht. Herzstärkende, tiefempfundene Sätze: Glauben an eine neue Zukunft! – Ein dreimaliges Hurra auf den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe füllt die Halle, schlägt über mir zusammen.

Oberbefehlshaber der Heeresgruppe –? Bin ich's denn noch? In dieser Stunde hält der Generalfeldmarschall vielleicht schon meinen Abschiedsbrief in Händen.

Ich kann nicht sprechen, kann nicht antworten. Drücke den alten kriegserprobten Offizieren nur die Hände – und sehe Tränen auf den Backen von Mannschaften.

Fort – fort –

Zunächst noch einmal Halt im A.O.K. 1, das in dem malerischen Ardennenschlößchen Rochefort unweit Namur Quartier genommen hat. Dort bei General von Eberhardt, der lange Zeit ein treu bewährter Führer meiner Heeresgruppe gewesen ist, will ich meinen Chef treffen. So liegt noch einmal eine bitter schwere Abschiedsstunde auch von dem Manne vor mir, der mir während der schwersten Zeit des Krieges als militärischer Helfer und Berater am nächsten stand und dem ich für all das, was er so als Soldat und Mann mir gab, zu tiefem Dank verpflichtet bin.

Tief ergriffen sind wir alle, da ich nun noch den letzten Armeebefehl an meine Truppen unterzeichne:

»An meine Armeen!

Nachdem Seine Majestät der Kaiser den Oberbefehl niedergelegt hat, bin auch ich durch die Verhältnisse gezwungen, nun, da die Waffen ruhen, von der Führung meiner Heeresgruppe zurückzutreten. Wie immer bisher, so kann auch heute ich meinen tapferen Armeen, jedem einzelnen Mann, nur aus tiefstem Herzen danken für ihren Heldenmut, für Opferfreudigkeit und Entsagung, mit der sie allen Gefahren ins Auge gesehen und alle Entbehrungen willig für das Vaterland ertragen haben in guten und in bösen Tagen.

Mit den Waffen ist die Heeresgruppe nicht besiegt! Hunger und bittere Not haben uns bezwungen! Stolz und hocherhobenen Hauptes kann meine Heeresgruppe den mit dem besten deutschen Blut erkämpften Boden Frankreichs verlassen. Ihr Schild, ihre Soldatenehre ist fleckenlos und rein. Ein jeder sorge, daß sie es bleibe, hier und später in der Heimat.

Vier lange, schwere Jahre durfte ich mit meinen Armeen sein in Sieg und Not, vier lange Jahre gehörte ich mit ganzem, vollem Herzen meinen treuen Truppen. Tief erschüttert scheide ich heute von ihnen und neige mich vor der gewaltigen Größe ihrer Taten, die die Geschichte einst in flammenden Worten den späteren Geschlechtern künden wird.

Nun steht zu euren Führern treu wie bisher, bis ihr Befehl euch freigeben kann für Weib und Kind, für Heimat und Herd. Gott mit euch und unserem deutschen Vaterlande!

Der Oberbefehlshaber
Wilhelm
Kronprinz des Deutschen Reiches
und von Preußen.«

Dann ist auch hier der Augenblick des Scheidens da.

Kaum losreißen kann ich mich.

Aber es muß sein – die Herren drängen. Und Müldner hält mir schon seit einer Meile die Mütze hin – eine graue Infanteriemütze; denkt wohl, ich werde es in dieser Qual und Hingenommenheit nicht merken, will mich in ihr verstecken, hält mich fürsorglich für sicherer und nicht so leicht erkennbar in den ungewohnten Farben.

»Nein – ich will meine Husarenmütze auch auf dieser letzten Fahrt! Mir tut schon keiner was!«

Jetzt stellen sie sich an, als ob sich die nicht fände. Aber ich warte. Und da ist die Schwarze mit dem Totenkopfe endlich doch zur Stelle und sitzt mir im Genick – noch dieses eine Mal!

In treue Augen sehe ich – nur nicken können wir – die Worte würgt es uns im Halse. Und Schulenburg stößt vor: »Wenn Sie drüben in Holland meinen Herrn und Kaiser sehen – –« Da stockt auch er.

Dann setzt der Motor an, wir fahren.

 

Durch das sich aus der festgefügten Form von vier Kriegsjahren unsinnig überhastet lösende Etappenland von zwei aufsplitternden Armeen fahren wir.

Zwei graue Wagen: ich und meine drei Getreuen bis zum bitteren Ende. Müller und Müldner vorneweg, dann ich mit dem erkrankten Zobeltitz.

Soldaten überall – grüßend und rufend. Nein, ich habe Recht: mir tut kein Mann etwas.

Und ich grüße wieder und winke ihnen zu und muß nur immer denken: Jungens, was wißt denn ihr, wie's mir ums Herz ist?!

Über Andenne geht die Fahrt auf Tongern. Belgischer Boden – überall wehen die belgischen Fahnen in den Städten, und die Bevölkerung jubelt.

Auch das Bild unserer Leute wird anders, je tiefer wir in die Etappe rollen. Aufgelöste Schwärme von Menschen, die einmal Soldaten waren und jetzt zuchtlos hinziehen. Und Zurufe, die keine Freundlichkeit mehr in sich tragen. Die ewige Wiederkehr der dummen Schlagworte dieser Tage, mit denen einer sich vor dem anderen großtut, in denen Auflehnung und Renitenz sich großmäulig ausleben: »Messer her!« »Haut ihm!« »Blut rühren!«

Aufgehalten werden wir nirgends.

Einmal passieren wir einen Viehtransport, der von Landsturmleuten getrieben wird. Ein alter Landsturmkerl, der dicht neben dem Auto hergeht und eine rote Fahne über seinen Ochsen schwingt, schimpft laut auf mich ein: die Offiziere seien an allem schuld – gefeiert haben sie – und er sei halb verhungert! – Das geht mir denn doch über die Hutschnur, und ich sage diesem elenden Burschen dermaßen Bescheid, daß er zitternd und schreckensbleich eine Ehrenbezeugung nach der anderen macht. – Pack, das niemals vor dem Feinde gestanden hat und jetzt Revolution spielt!

Kurz vor Oroenhoven sehen wir die letzten deutschen Truppen: einen Landsturmposten, der sich Marschrichtung Heimat davonmacht.

Und bei Oroenhoven halten wir dann im holländischen Draht.

Mit heißen Schlägen hämmert mir das Herz, wie ich jetzt aus dem Wagen springe. Ganz klar bin ich mir, daß die wenigen Schritte Raum da vor mir entscheidend sind. Und wie in einen einzigen Augenblick zusammengepreßt jagen all die grausam harten Bilder der letzten Tage noch einmal an mir vorüber: Spa – und der Kaiser – der Feldmarschall, Groners Gesicht – mein Schulenburg, der, unerschütterlich, immer wieder sich gegen diese anderen wirft, beschwort – der Brief meines Vaters –. Und die Entscheidung aus Berlin, die mir auch als Soldaten den Abschied gibt, den Boden nimmt.

Nein, es muß sein – muß sein – es ist kein anderer Weg. –

Und plötzlich steht das Reiterwort des Generals von Falkenhayn in mir, das er dem Jungen zurief, wenn es hieß ein schweres Hindernis zu nehmen: »Schmeiß erst dein Herz 'rüber – dann kommt das Andere hinterher!«

Da tue ich die wenigen Schritte vor.

Wie unter einem Schleier, unscharf und verwischt ist mir der nächste Eindruck.

Menschen sind um mich her, die Kameraden: Müller totenernst, und Müldner sachlich und wie immer soldatisch klar, gefaßt – und Fremde –

Ein junger, sehr korrekter holländischer Offizier, der sich vor Überraschung zunächst garnicht fassen kann und der nichts mit uns anzufangen weiß. Nur daß wir hier nicht bleiben können, sieht er ein. So werden wir, vorbei an einer präsentierenden Wache, zunächst in ein kleines Lokal gebracht, wo freundliche Wirtsleute, ohne viel zu reden, ein paar Töpfe mit heißem Kaffee vor uns hinstellen. Inzwischen wird nach Maastricht telephoniert.

Und der junge Offizier kommt wieder, ist selbst bedrückt von einer Pflicht, die auf ihm liegt: er muß um unsere Waffen bitten. Ein Augenblick voll abgrundtiefer Bitterkeit, der nur durch den vollkommenen Takt des anderen erträglich bleibt.

Aus Maastricht kommen Baron von Hünefeld und Baron Grote. Bald darauf der Gendarmerieoberst Schröder mit seinem Adjutanten. In seinen Händen liegt jetzt das Schicksal unserer Fahrt. Energisch greift er zu. Telephone rasseln, und Depeschen fliegen aus. Berichte – Anfragen – Verhaltungsmaßregeln. So kommt jetzt Linie in unser Schicksal.

Jedenfalls sollen wir zunächst nach der Präfektur in Maastricht und im Hause des Gouverneurs der Provinz Limburg auf die Entscheidung der Regierung warten.

Wiederum fahren wir. Kriegerisch alles auch hier. Die Straßen der Stadt abgesperrt durch Posten, Draht, spanische Reiter. Dabei doch Menschen, die mit harten Augen nach uns starren überall, denn unser Kommen hat sich unbegreiflich schnell herumgesprochen: Die Boches sind da! De Kronprins!

Gegen ein Uhr ist es, da wir die Präfektur betreten.

Auf dem Platze unten eine tobende, johlende Volksmasse, hauptsächlich Belgier.

Mit allem menschlich-vornehmen Verständnis für unsere Lage nimmt der Baron van Hoevel tot Westerflier uns auf, gibt sich die größte Mühe, uns die traurige Lage zu erleichtern. Auch er erklärt, daß unser Übertritt der holländischen Regierung völlig überraschend gekommen sei, daß weitere Bestimmungen nun abgewartet werden müßten. Im großen Saale des Gouvernementsgebäudes, der uns mit kalter Pracht umfängt, läßt er uns dann allein.

Im Grunde, mag die Form auch noch so taktvoll und zurückhaltend gehandhabt werden, fühlt man sich als Gefangener. Nicht mehr als freier Mann, der Herr seiner Entschlüsse ist, sondern als einer, der bleiben muß oder der gehen soll.

Und ein Gefühl, als ob man unsichtbare Fesseln trüge, kommt damit noch zu all der anderen Qual.

Auf seltsam feierlichen Stühlen sitzen wir untätig um den langen Tisch, rennen im Raume ohne Rast umher und starren durch die hohen Fenster.

Was wird nun werden?

Wie festgehalten sind die Zeiger der Kaminuhr; bisweilen ist es mir, sie stünde überhaupt.

Der gute Zobeltitz hat dazu einen Anfall von Magenkrämpfen, liegt stöhnend und verkrümmt auf einer mit rotem Plüsch bezogenen Bank. Armer Kerl!

Manchmal redet einer, mehr vor sich hin als zu den anderen. Immer wieder dasselbe, spricht einen von den Gedanken aus, die uns allen im Kopfe umtreiben, die keiner fassen kann. Aber kaum eine Antwort kommt darauf.

Zeitweilig klopft es, geht die Türe. Dann ist alles voll Spannung – aber es ist nichts. Da läßt der Gouverneur nach unseren Wünschen fragen, oder der Gendarmeriekommandant teilt uns mit, daß er noch immer auf Entscheidung warte.

Und wieder sind wir allein – verwachsen mit Vergangenheiten, von denen wir uns räumlich trennten, und ohne Blick in das, was kommen mag. Grübeln nur immer wieder: Was geht, während wir hier wie eingeschlossene Tiere warten, dort hinter uns jetzt vor? Im Felde, bei den Menschen, mit denen man als Kamerad viereinhalb Jahre lang gelebt hat –? In der Heimat –? Bei Frau und Kindern –?

Jetzt hat sich Zobel mühsam von seiner Bank erhoben, schleicht gebückt im Raum umher. Manchmal trifft mich der Blick der guten dunklen Augen. Als ob er mir in all seiner Quälerei mit dem kaputen Magen, der längst schon auf den Operationstisch gehört hätte, noch etwas Liebes tun wollte. Steht dann in einer Ecke still vor der weißen Büste des dritten Wilhelm von Oranien, der satt und würdig von dem Säulensockel nieder steht, und nickt ihm mild und philosophisch zu: »Ja, ja, mein guter Van Honten – das hätt'st de dir auch nicht träumen lassen –!«

Was solch ein gutes Menschenwort, das mitten in Verzweigungen aus einem jäh ausleuchtenden Humor geboren wird, einem die Bitterkeiten milder machen kann!

Beinahe leichter wird uns die Marter dieses Wartens.

Auch ein Diner läßt uns der Baron servieren. Trotz aller Ablehnung ein richtiges Diner. Das alles ist so gut gemeint – nur daß wir in der Stimmung, die uns wie in Krallen hält, kaum ein paar Bissen hinunterwürgen können.

Endlich um Mitternacht ist Klarheit: Wir sollen bis auf weiteres in dem Schloß Hillenraadt des Grafen Metternich Unterkunft haben.

Wieder sitzen wir in den offenen Wagen. Der Gendarmerieoffizier an unserer Seite. Die Straßen, die wir passieren, sind durch Patrouillen der Marées Chaussées abgesperrt, alle Anordnungen des Oberst Schröder zweckmäßig und gut.

Ein eisig kalter Nebel liegt aus der Landschaft und macht die tiefe Nacht noch undurchdringlicher. Nur die Scheinwerfer bohren weiße Trichter in das Dunkel, in das wir jagen. Das ist, als ob sie uns in jedem Augenblick verschlingen wollten und dann doch immer weiter vor uns wichen.

Zwei Stunden so.

Bei Roermond liegt das Schloß des Grafen, vor dem wir endlich halten.

In einer großen Halle, die schwach von Kerzenlicht beleuchtet ist, legen wir ab. Erstarrt von Frost sind wir – elend in unseren Herzen – wurzellos auf diesem fremden Boden.

Da erscheint plötzlich, die Treppe niedersteigend, die Hausfrau. Jung, blond, ganz in Schwarz gekleidet, eine Perlenkette um den schlanken Hals. Keine Fremdheit bleibt vor dem warmen, mitempfindenden Ausdruck dieser Augen bestehen.

Mit feinstem Herzenstakt sorgt die gütige Frau von dieser Stunde ab durch die namenlos schweren zehn Tage, die wir auf Schloß Hillenraadt verbringen, für uns und wird mir eine gütige Freundin, mit der ich mich über manches aussprechen kann, was mich zerquält. Eine gläubige Katholikin ist die Gräfin und leidet schwer unter dem Unglück, das unser Vaterland getroffen hat; zudem sorgt sie sich um ihren Mann, der während der Revolution in Berlin ist.

Zehn Tage also – in denen Unglücksnachrichten um Unglücksnachrichten aus dem Felde und der Heimat kommen, durch die Verhandlungen mit der holländischen Regierung über unsere Zukunft ziehen. Bei diesen Aussprachen ergibt es sich, daß Holland an meine Grenzüberschreitung und meinen Wunsch, vorübergehend auf seinem neutralen Boden zu verweilen, im Zwange äußerer Umstände die Frage meiner Internierung knüpfen muß. Nur gegen Bürgschaften nach außen kann der neutrale Staat mir Gastfreundschaft gewähren, kann er versuchen, gegen das schon laut werdende Verlangen, mich »auszuliefern«, standzuhalten. So bin ich jäh in eine Zwangslage versetzt, an deren Möglichkeit bei der Erwägung des Gedankens dieser Hollandfahrt, angesichts des am 11. November um zwölf Uhr mittags eingetretenen Waffenstillstandes, niemand auch einen Augenblick nur dachte: nicht ich und nicht mein Chef oder die Herren meiner Umgebung, nicht der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Exzellenz von Hintze, und nicht die O.H.L. Wir alle waren der unangezweifelten Überzeugung gewesen, daß ich für mich genau die gleichen Rechte wie alle Herren des kaiserlichen Gefolges in Anspruch nehmen könne, von denen keiner interniert wurde oder interniert werden sollte, denen es anheim gegeben war, sich frei zu bewegen. So schwierig und qualvoll diese Besprechungen und Verhandlungen sich auch gestalten, sie werden von den Vertretern der holländischen Regierung im Geiste einer echten Menschlichkeit geführt. Jeder von den Männern, mit denen wir dabei in Berührung kommen, erweist sich, dem holländischen Volkscharakter entsprechend, als gerecht, als unparteiisch und als willig, für seine Unabhängigkeit und Überzeugung einzutreten.

Endlich erhalten wir dann auch etwas wie einen Anhalt für meine Zukunft. Der Oberst Schröder bringt die Nachricht, die holländische Regierung habe mir als Wohnort die Insel Wieringen angewiesen.

Wieringen? Die Insel Wieringen?

Niemand im Hause weiß, wo diese Insel liegen mag.

Wieringen?

Zum erstenmal im Leben höre ich den Namen, kann mir dabei nichts vorstellen, nichts denken.

Und lebe jetzt, da ich die Zeilen der Erinnerung schreibe, drei Jahre bald auf diesem kleinen Flecken fester Erde in der See.

 

Auch dieser letzte Teil der Reise ins Exil ist voll von kleinen Hindernissen, Widrigkeiten, Tücken.

Früh morgens nehmen wir von unserer guten Gräfin Abschied, um sieben Uhr verläßt der Zug den kleinen Bahnhof von Roermond. Ein holländischer Hauptmann ist uns als Begleiter beigegeben.

Gegen ein Uhr mittags sind wir in Amsterdam – sehr viele Neugierige auf dem Bahnhof, Militär zur Absperrung – und um drei Uhr kommen wir in Enkhuizen, einem kleinen Neste am Strande der Zuidersee an. Hier soll uns, wie wir schon auf der Fahrt erfuhren, eine Dampfyacht der Wasserbauverwaltung erwarten und nach der Insel Wieringen hinüberbringen.

Aber die Yacht hat sich im Nebel auf eine Sandbank vor Enkhuizen aufgesetzt – und läßt schön grüßen. Während meines hierdurch verursachten Verweilens produziert sich die Population von Enkhuizen in Schreien, Johlen, Pfeifen und Schimpfen. Eine nicht mißzuverstehende Geste nach dem Halse – und dann höher, die mir hierbei mit bemerkenswertem mimischen Aufwand immer wieder aus der Menge gezeigt wird, macht mir klar, wie tief das Zerrbild, das die Ententepropaganda von mir entworfen und verbreitet hat, auch im neutralen Ausland Wurzel faßte. Immerhin wirkt das alles nicht gerade neu belebend auf die Stimmung.

Endlich, nach langem Palaver, ist der Entschluß gefaßt, an Bord eines kleinen Schleppdampfers zu gehen und unsere Yacht zu suchen.

Also los! Über der Zuidersee liegt der Nebel so dick, daß man kaum zwanzig Meter weit sehen kann, und dazu fegt ein eisig kalter Wind vom offenen Meer herein. So steht man auf dem Deck des kleinen schlingernden Schleppers und starrt ins Grau. Stundenlang! Trostlos ist das. –

Endlich finden wir die Yacht. Aber viel Freude kann man an ihr nicht genießen: ihre Schraube ist gebrochen. Zunächst muß sie abgeschleppt werden, dann wird sie längsseits des Schleppers vertäut – und jetzt ist man wieder glücklich so weit, um nach Wieringen zu steuern.

Ja! Wenn man wüßte, wo Wieringen liegt. Im Nebel, in zunehmender Dunkelheit und bei starkem Sturm und Seegang suchen unsere fabelhaften Navigatoren stundenlang nach der Insel – und können sie nicht finden. Weg ist sie, wie aufgeschluckt von See und Nebel. Endlich, um zehn Uhr abends etwa, geben die Herrschaften das Suchen auf und beschließen, über Nacht vor Anker zu gehen. Aber auch das erweist sich nicht als die rechte Weisheit, denn der Seegang ist so heftig, daß die beiden Schiffe immer wieder gegeneinanderschlagen. Schon sind eine Anzahl von Nieten dabei gesprungen – und wenn's so weiter geht, haben wir alle miteinander die beste Aussicht, zu ersaufen. Also wieder herauf mit dem Anker!

Jetzt suchen wir nach dem Hafen Medemblik am Festlande; und weil auch kühne Seefahrer manchmal mehr Glück als Verstand haben, so finden wir ihn endlich gegen Mitternacht.

Wieringen? – Nur einen Vorgeschmack, der die Erwartungen nicht allzu hoch aufschießen läßt, brachte der hingegangene Tag. –

Aber am nächsten Tage gelingt das Werk! Am Morgen, da die See still geworden ist, gehen wir wieder auf das Schiff und erreichen gegen Mittag bei ruhig klarem Winterwetter die Insel.

Unvergeßlich die Eindrücke der Stunde, in der ich den Fuß auf den festen Boden des kleinen Fleckens Erde setzte.

Im Hafen wieder Menschen über Menschen, Einheimische, die still und mißtrauisch der merkwürdigen Einquartierung entgegenstarren, redselige Reporter aus aller Welt und fingerfertige Photographen.

Wie ein seltenes Tier, das sie jetzt glücklich eingefangen haben, kommt man sich vor. Und möchte jedem von diesen hastigen und geschäftigen Herren sagen: Fragt nicht und bleibt mir mit der Camera vom Leibe. Ruhe will ich – Ruhe, Sammlung, Fassung nach all dem Unglück – weiter nichts!

In einem uralten Wagen – sicher dem besten, den es auf der Insel gibt – geht dann die Fahrt nach dem Dorf Oosterland. Nach Tran und Mief und altem Leder riecht es in dem ehrwürdigen rumpelnden Kasten. Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe und dieser Stunde gedenke, spüre ich den unvergeßlichen Geruch.

Vor dem kleinen arg verwohnten Pastorenhaus werden wir ausgefrachtet. Kahl, öde ist das alles.

Ein paar alte klapperige Möbel – richtig: Klamotten.

Kälte und Einsamkeit dazwischen eingenistet wie Gespenster.

Draußen vor dem Hause dreht die gebrechliche Karrete ächzend und stöhnend um und schlingert durch den Dreck in den Nebel hinein.

Daheim!

Die Kehle würgt es mir beinahe ab bei dem Gedanken.

 

Tage und Wochen, die so lichtlos und so bleiern lastend sind, daß sie sich kaum ertragen lassen.

Wie ein Gefangener, Geächteter bewegt man sich in diesem kleinen Kreise zwischen Menschen, die finster, scheu zur Seite schauen, wenn sie vorüberkommen, die im besten Falle neugierig einen Blick aus halb verdeckten Augen wagen. Ich bin der Blutsäufer und Kinderschlächter – man ist erbittert gegen die Regierung, die mich auf dieser Insel frei umhergehen läßt, die dieser ehrsamen Insel eine solche Last aufpackte.

Der Bürgermeister Peereboom hat zu tun, um die erregten Seelen zu beruhigen.

Und aus der Heimat tropfenweis Berichte über den Verlauf der Vorgänge, die einem schier das Herz zerbrechen wollen! Deutsche Zeitungen gibt es nicht. Aus holländischen Blättern, die veraltet sind, wenn sie der Eisenkahn vom Festland bringt, buchstabiert man sich den Text der Londoner, Pariser, Amsterdamer Telegramme zusammen: Blut und Aufruhr. Das Schloß zerschossen und geplündert – Matrosenherrschaft – Spartakistenkämpfe – drohender Einmarsch der Entente.

Man möchte schreien um ein wenig Hoffnung, um ein wenig Licht für dieses Land, an dem man mit der letzten Faser seines Herzens hängt, für dessen Ruhe, dessen Rettung man jedes Opfer bringen würde!

Opfer? Ja – eines fordern sie auch noch von mir, und auch davon soll hier gesprochen werden.

Am 1. Dezember erscheint im Auftrage der Deutschen Gesandtschaft im Haag, die wieder eine Forderung der neuen deutschen Regierung damit zu erfüllen hat, der Legationssekretär von Pannwitz auf der Insel. Ein Korpsbruder von mir aus der Bonner Borussenzeit! – Weiß Gott, die Fahrt mag ihm nicht leicht geworden sein, und er hat sie wohl nur auf sich genommen, weil das, was er mir bringt, aus Freundesmund leichter zu hören ist als von einem Fremden.

Er soll einen formellen Verzicht auf meine persönlichen Ansprüche von mir erreichen.

Einen Verzicht? – Warum? – Wozu? – Die Herren in Berlin, die alle Macht in Händen halten und deren Stimmen nach ihrer Behauptung den Willen der Mehrheit des deutschen Volkes vertreten, sind doch bisher nicht so pedantisch und kleinlich vorgegangen, wenn es sich um Hohenzollernrechte handelte? Hat man denn nicht am 9. November die Abdankung Seiner Majestät und meinen Verzicht verkündet, ohne die Entscheidung des Kaisers abzuwarten, ohne mich auch nur zu verständigen? Und hat nicht auch der gleiche Mund, der Seiner Majestät erst Wochen vorher den Treueid geschworen hatte, dann skrupellos die deutsche Republik ausgerufen? Was kann den Herren mein Verzicht da noch bedeuten? Ihr Stil hat sich doch bisher nicht mit derlei Kleinigkeiten abgegeben!

Aber da drängen doch auch andere Erwägungen heran und suchen Gehör: Was ist für einen Herrscher und für einen Thronanwärter – für den, der sich als erster Diener eines Staates fühlen darf, für den, der nach den überkommenen Gesetzen dereinst den ersten Dienst des Staates übernehmen soll – das wahre Fundament der Rechte, die er übt? Das Herkommen und der ererbte und verbriefte Anspruch allein? Oder gewinnt er nicht den wahren Inhalt des lebendigen Rechtes immer aufs neue erst durch das Vertrauen der Nation, die der Führerschaft des Trägers jener Tradition mit Willen folgt? Ist nicht eines ohne das andere halb und leer? Und kann ich an Vertrauen und Zugehörigkeit der Mehrheit aller Deutschen nach unserem Niederbruche – in dieser Stunde tiefster Nöte und Erniedrigung, in einer Zeit, in der so viele Hunderttausende mein Bild nicht anders als entstellt, verunglimpft, in einer Verzerrung meines wahren Wesens vor sich sehen, ohne weiteres glauben? – Nein!

Soll ich das Schauspiel geben, meiner deutschen Heimat als einer zu erscheinen, der auf einem Recht beharrt, an dem sie ihm vielleicht das Beste: die Liebe, das Vertrauen weigert? Soll ich durch ein starres Bestehen »auf meinem Schein« allen jenen, die im Reiche für den Monarchismus stehen, eine Kampfparole geben – in einer Zeit, in der nach meiner tiefsten Überzeugung das Vaterland von allen, ob sie sich nun zur Republik, ob sie sich zur Monarchie bekennen, nur eines fordert: Innere Einigkeit gegen die raffgierigen Gelüste der »Sieger« rings um uns und Arbeit – Arbeit – Arbeit!? – Wiederum Nein!

Und gibt jemand, der in großer Not zum Wohl des Ganzen den Verzicht auf ein verbrieftes Recht erklärt, etwas von dem höheren freien Rechte preis, dem Ruf zu folgen, wenn er jemals aus dem Willen der Mehrheit an ihn ergehen sollte? Mein aus Liebe zu dem Vaterlande ausgesprochener Verzicht kann auch für mich kein Makel sein, sondern nur ein Zeugnis dafür, daß ich in einer Schicksalsstunde, in der es, angesichts des inneren Zwiespaltes und angesichts der Feinde draußen, nur darum gehen konnte, die Heimat um jeden Preis vor weiteren Aufsplitterungen zu bewahren, die Forderungen, die ihr nutzen konnten, begriff.

So gebe ich dem etwas posthumen Wunsche der neuen Regierung nach. Noch einmal: Nicht ihretwillen und nicht, weil ich das, was überkommenes Recht an meiner Stellung ist, durch die Gewalttaten des Umsturzes auch nur als berührt anerkennen wollte. Nein: Weil ich, was an mir liegt, wie nur irgend einer aus dem deutschen Volke, ehrlich dazu helfen will, Zündstoffe auszuschalten, das Gesunden und Erstarken des so schwer heimgesuchten Vaterlandes zu fördern. Durch Hingaben und Opfer – bis die Stunde kommt, in der auch ich durch schaffende Arbeit neben den Volksgenossen auf unserem Heimatboden wirken kann.

 


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