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......, 14. XI. 19.

Meine Erlebnisse am 9. XI. 1918 im Gr.H.Wu. (Nach dem Gedächtnis niedergeschrieben. Benutzt sind außerdem einige bereits am 2. XII. 18 von Hauptmann ...... und mir gemachte Aufzeichnungen, die sich im Besitz des Grafen Schulenburg befinden.)

In der Nacht vom 8. zum 9. November wurde General Graf von der Schulenburg telephonisch durch Major von Stülpnagel für den 9. XI. nach Spa bestellt. Major von Bock nahm die Bestellung entgegen. Gründe, weshalb Graf Schulenburg kommen sollte und wer ihn zu sprechen wünschte, waren nicht angegeben. – Graf Schulenburg war zwar etwas erstaunt, als ihm Bock die Bestellung übermittelte, befahl aber sofort die Abfahrt nach Spa für den Neunten früh. Zu seiner Begleitung bestimmte er Hauptmann im Generalstab ..., den Ordonnanzoffizier Leutnant ... und mich. Für den gleichen Morgen war Quartierwechsel des Oberkommandos der Heeresgruppe von Waulsort nach Vielsalm vorgesehen.

Am 9. XI. gegen 8.30 vormittags langten wir im Hotel Britannique in Spa an. Beim Ankommen fiel auf, daß im Vorsaal des Hotels eine große Zahl nicht zur O.H.L. gehörender Offiziere versammelt war und fortgesetzt neue eintrafen. Es waren ausschließlich Frontoffiziere; Oberbefehlshaber, Kommandierende Generale, Chefs und sonstige Generalstabsoffiziere fehlten.

Graf Schulenburg begab sich sogleich in den 1. Stock zur Operationsabteilung, um sich nach dem Grunde seiner Herbestellung zu erkundigen. Auf dem Wege dahin traf er auf der Treppe Oberst Heye. Dieser war offenbar über Graf Schulenburgs Anwesenheit überrascht. Nach kurzer Unterhaltung zwischen Schulenburg und Heye, die ich nicht anhören konnte, kam ersterer zu mir zurück und sagte etwa: »Wir sind hier offenbar garnicht erwünscht und platzen in eine Sache hinein, die uns garnichts angeht. Nun wollen wir aber sehen, was eigentlich los ist!«

Aus dem Munde der zahlreichen herumstehenden Offiziere erfuhren wir sodann, daß sie alle auf neun Uhr vormittags zu einer Besprechung herbeigeholt waren. Anscheinend war von jeder Division der Heeresgruppen Rupprecht, Kronprinz und Gallwitz je ein ausgesuchter Offizier, Divisions-Kommandeur, Infanteriebrigade- oder Infanterieregiments-Kommandeur beordert und in Kraftwagen in aller Eile herangeschafft worden. An das Oberkommando der Heeresgruppe war von dieser Bestellung nichts gelangt. Der Grund der Versammlung war nur zu vermuten. Der nächste Gedanke war, daß es sich um den in Kürze zu erwartenden Waffenstillstand handle. Es schwirrten aber auch Gerüchte herum über Maßnahmen gegen die Ausbreitung der revolutionären Bewegung in Deutschland. Unkontrollierbare Nachrichten über Bürgerkrieg in der Heimat, Vordringen meuternder Matrosen über Aachen, Bonn, Koblenz nach Westen, Sperrung der Bahnen am Rhein und damit der gesamten Heeresversorgung machten die Runde. Von den wenigen Herren der O.H.L., die ich zu Gesicht bekam, war in der Eile keine nähere Auskunft zu erhalten. Diejenigen, die ich sah, schienen gedrückt und ziemlich hoffnungslos. Es muß hier eingefügt werden, daß das Oberkommando der Heeresgruppe seit fast zwei Wochen keine Zeitungs- und Briefpost mehr erhalten hatte und daß wir daher selbst über die Lage in der Heimat nur ungenügend unterrichtet waren, daß aber die Front seit Wochen überhaupt nur von Gerüchten lebte. Die aus der Front eintreffenden Offiziere nahmen daher, wie ich beobachten konnte, auch sehr ungünstige Nachrichten, die in der Versammlung umliefen, ohne weitere Kritik in sich auf. Ein geeigneter Nährboden, alles schwarz zu sehen, war bei ihnen weiter dadurch vorbereitet, daß fast alle, so wie sie waren, aus den seit Wochen andauernden, aufreibenden und in jeder Beziehung deprimierenden Rückzugskämpfen herausgeholt waren. Sie hatten meist eine Nachtfahrt im offenen Auto in dünnem Mantel, vielfach von Hunderten von Kilometern hinter sich, waren durchfroren, ungewaschen, hatten nicht gefrühstückt.

Gras Schulenburg begab sich, bald nach der Unterredung mit Oberst Heye, mit Hauptmann .... und mir in den Speisesaal des Hotels. Dort versammelten sich die Offiziere aus der Front. Bei Begrüßung des einen und anderen Bekannten verstärkte sich bei mir der Eindruck der niedergedrückten Gemütsverfassung der Ankömmlinge aus Gründen, wie ich sie erwähnt habe. Inzwischen waren auch Generaloberst von Plessen und General von Marschall in den Saal getreten. Ihr bedrücktes Wesen fiel auf. Als sie den in meiner Nähe stehenden Grafen Schulenburg sahen, gingen sie sofort auf ihn zu, sprachen ihn an. Von der sich entspinnenden Unterhaltung hörte ich nur einzelne Bruchstücke, und ich konnte nur ihren Sinn erraten. Sehr drastisch sagte Graf Schulenburg zu beiden ziemlich zu Beginn der Unterhaltung: »Ihr seid hier wohl alle verrückt geworden?!« ferner später unter anderem: »Die Armee hält fest zum Kaiser.« Ich merkte, wie Generaloberst von Plessen und General von Marschall durch die Unterhaltung mit Graf Schulenburg neue Zuversicht schöpften, und hörte die Worte: »Schulenburg muß gleich mit zum Kaiser.« Generaloberst von Plessen und General von Marschall nahmen dann den Grafen Schulenburg sehr bald mit aus dem Saal – die Versammlung war noch nicht eröffnet – und fuhren mit ihm zu Seiner Majestät. – Hauptmann ...., Leutnant .... und ich blieben zurück. Hauptmann .... und ich beschlossen, in der Versammlung zu bleiben, obwohl wir beide den Eindruck hatten, daß wir nicht gewünscht waren.

Etwa um neun Uhr erschien Generalfeldmarschall von Hindenburg mit Oberst Heye und einigen anderen Herren der O.H.L. im Saal. Der Feldmarschall begrüßte zunächst die Herren, die von draußen auf seine Veranlassung herbeigerufen seien, dankte ihnen mit warmen Worten für alles, was sie bisher geleistet, bezeichnete die Lage als ernst aber nicht verzweifelt und ging dann auf den Zweck der Zusammenkunft ein: In Deutschland sei Revolution ausgebrochen, an einzelnen Stellen sei bereits Blut geflossen. Man verlange den Rücktritt des Kaisers. Die O.H.L. hoffe dieser Forderung entgegentreten zu können, wenn ihr dazu die nötigen Sicherheiten aus dem Frontheer gegeben würden. Über diese Fragen, die im einzelnen nachher Oberst Heye vortragen werde, sollten sich die Herren äußern. Der Feldmarschall charakterisierte dann die Lage weiterhin etwa dahin, daß es sich für Seine Majestät darum handle, ob er an der Spitze des gesamten Heeres nach Berlin marschieren könne, um sich dort die Kaiser- und Königskrone wieder zu erobern. Hierzu müßte aber die gesamte Armee angesichts des Feindes, mit dem bis zur Stunde noch kein Waffenstillstand geschlossen sei und der naturgemäß rasch nachfolgen werde, kehrt machen und in Fußmärschen, die zwei bis drei Wochen dauern könnten, denn auf Bahnen sei nicht zu rechnen, kämpfend Berlin zu erreichen suchen. Die Schwierigkeiten für Versorgung jeder Art, da alle Vorräte in der Hand der Aufständischen seien, die zu erwartenden Anstrengungen und Entbehrungen, denen die Truppe ohne Pause von neuem entgegengehe, wurden vom Feldmarschall besonders hervorgehoben.

Nach dieser Schilderung der Lage, die in allen Punkten vom Feldmarschall, nicht von Oberst Heye gegeben wurde, verließ ersterer den Saal. Es ist mir erinnerlich, daß mein nächster Eindruck, den ich sofort zu dem neben mir stehenden Hauptmann .... äußerte, etwa der war: Bedauerlich, daß der allseitig verehrte Feldmarschall, den viele der Anwesenden sicherlich damals zum ersten Male sahen, bei dieser ersten Gelegenheit in einer so traurigen Angelegenheit zu den Herren sprechen muß und ihnen eine militärische Lage entwirft, die kritische Köpfe teilweise doch nur mit Kopfschütteln anhören konnten. Mir war ferner kein Zweifel, daß bei dieser Schilderung der Lage wohl nur auf negative Antworten zu rechnen sein werde.

Oberst Heye legte nunmehr, anknüpfend an die Worte des Feldmarschalls, den versammelten Offizieren, zu denen immer noch neue hinzukamen – manche trafen erst nachmittags ein, nachdem das Ergebnis der Befragung längst Seiner Majestät gemeldet war – zwei oder drei Fragen vor. Ihre Fassung ist mir entfallen. Es wurde jedoch etwa die Antwort darüber verlangt, ob mit der Parole für den Kaiser die O.H.L. den Marsch nach Berlin und damit die Entfesselung des Bürgerkrieges mit Aussicht auf Erfolg von den Fronttruppen verlangen könne, oder ob das Heer dafür nicht mehr zu haben sei. Oberst Heye ersuchte die Herren, sie mögen sich jeder einzeln und unbeeinflußt von einander diese schwerwiegenden Fragen überlegen. Er werde nach einer gewissen Zeit die Herren in der Reihenfolge vom rechten Flügel ab, und zwar möglichst generalkommandoweise, geschlossen zu sich bitten, um die Ansicht jedes Herrn zu hören und niederzulegen.

Welche Antworten Oberst Heye erhalten hat, ist mir nicht bekannt. Nach dem Vorausgegangenen bezweifle ich aber nicht, wie ich auch bereits ausführte, daß sie überwiegend negativ gelautet haben. Wie ich später erfuhr, sind sämtliche an der Besprechung im Saale teilnehmenden Frontoffiziere durch Handschlag von Oberst Heye zur Verschwiegenheit verpflichtet worden. An Hauptmann .... und mich ist das Ersuchen hierzu nicht herangetreten.

Mein Urteil über die Versammlung und Befragung der Frontkommandeure geht dahin:

Bei der Tragweite des abzugebenden Urteiles jedes einzelnen nach Spa bestellten Offiziers war es eine schlechte Regie, diese Offiziere, die körperlich und seelisch vielfach so herunter waren, zu befragen, ohne ihnen vorher eine Erholungspause gegeben zu haben und ohne ihnen vorher eine gewisse Zeit zu lassen, die ihnen meist unbekannten Verhältnisse in der Heimat geistig einigermaßen zu verarbeiten. Es war auffallend, wie verändert dieselben Offiziere bereits am Nachmittag aussahen, nachdem sie sich etwas ausgeruht, gesäubert und nachdem sie gegessen hatten und bei einer Zigarre saßen.

Es war eine nicht zu verstehende Unterlassung, daß die Oberbefehlshaber, Kommandierenden Generale und Chefs nicht bestellt waren, man gewissermaßen hinter ihrem Rücken die Frontoffiziere hörte. Fürchtete die O.H.L. das Urteil der ersteren? Dazu lag doch wohl keine Veranlassung vor. Wenigstens hatte die O.H.L. von der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz seit Jahr und Tag, insbesondere aber seit den letzten Monaten und Wochen stets nur rücksichtslos offene Urteile über den wahren Kampfwert der Truppen erhalten. Leider hatten ihre Urteile nicht immer die gebührende Beachtung gesunden.

Das Bild der Lage, auf Grund dessen die Kommandeure ihr Urteil abgeben sollten, war so schwarz, daß auf eine Antwort im Sinne Seiner Majestät kaum zu rechnen war. Unter solchen Voraussetzungen war das Heer nicht für den Kaiser zu gewinnen. Es dürfte aber auch einem großen Teil der Frontoffiziere Augenmaß und das taktische Urteil dafür gefehlt haben, um gerade aus dieser so gekennzeichneten Lage den nüchternen Kern herauszuschälen.

Wenn der Fragestellung auch die Bedeutung zugrunde lag, wie es heute den Anschein hat, ob der Kaiser innerhalb seiner Armee bleiben konnte oder nicht, war es ein schuldhaftes Versäumnis, daß die Befragten nicht schärfer auf die Folgerungen, die sich aus ihren Antworten ergeben konnten, hingewiesen wurden und daß nicht eine ebenso ausführliche Beurteilung der Lage gegeben wurde, was eintreten würde, wenn Seine Majestät nicht Oberster Kriegsherr blieb. Die Frage, ob Seine Majestät bei der Truppe sicher sei, ist meines Wissens nicht gestellt worden.

Erst um 4.30 nachmittags kam Graf Schulenburg in das Hotel zurück. Hauptmann ...., Leutnant .... und ich hatten die Zeit meist mit Warten im Hotel verbracht, ohne bis dahin von irgend einer Seite etwas von Bedeutung erfahren zu können. Graf Schulenburg war tief erschüttert. Mit kurzen Worten und voll tiefer Empörung schilderte er das inzwischen Vorgefallene. Als wesentlichste seiner Äußerungen sind mir vor allem folgende in der Erinnerung geblieben: »Wir haben keinen Kaiser mehr. Eben ist in der Villa des Feldmarschalls darüber beraten worden, Seine Majestät heute nacht noch nach Holland abzuschieben. Gröner hat gesagt, er könne nicht mehr eine Nacht für seine Sicherheit garantieren. Bolschewisten seien im Anmarsch von Verviers auf Spa. Das Urteil der Frontoffiziere, das Heye überbracht habe, ist negativ ausgefallen. Meine Einwendungen, die Armee sei königstreu und halte fest zu ihrem Fahneneid, sind von Gröner mit den Worten abgetan worden: Königstreue und Fahneneid seien letzten Endes nur eine Idee! Mit meiner Forderung, die Oberbefehlshaber und Kommandierenden Generale zu hören, bin ich nicht durchgedrungen. Seine Majestät hat mir noch beim Weggehen versprochen, er bleibe König von Preußen und bleibe bei der Armee.« Über alles, was sonst in der Villa Seiner Majestät und des Feldmarschalls vorgefallen war und was Graf Schulenburg uns damals noch weiter berichtete, gibt die inzwischen in der Presse veröffentlichte Niederschrift über die Ereignisse vom 9. November in Spa genaue Auskunft. Ich betone, daß die darin gemachten Angaben sich völlig mit dem decken, was uns Graf Schulenburg im Hotel Britannique und auf der Rückfahrt nach Vielsalm, also noch unter dem ersten Eindruck des gerade Erlebten, mitgeteilt hat.

......,

z. Zt. ... im Generalstabe des Oberkommandos
der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz.

 

Unvermittelt zu all dem aufrührenden Erleben des Tages und unstimmig zu den letzten Eindrücken, die ich und mein Generalstabschef aus Spa mitgenommen hatten, erreichte mich in der Nacht ein Brief meines Vaters, der die Voraussetzung für alles, was wir noch an Hoffnung und Zuversicht zur Wiederherstellung der alten Ordnung in uns trugen, zunichte machte. Der Brief stellte mich vor unabänderlich gewordene Tatsachen, die auch mein Schicksal aus der Bahn des Weges drängen mußten, den ich bis dahin als einzig richtig erkannt hatte und den ich, gestützt auf mein Recht und meine Pflicht, unbeirrt hatte verfolgen wollen.

Das Schreiben meines Vaters lautete:

»Lieber Junge

Da der F.M. mir meine Sicherheit hier nicht mehr gewährleisten kann, und auch für die Zuverlässigkeit der Truppen keine Bürgschaft übernehmen will, so habe ich mich entschlossen, nach schwerem innerem Kampfe das zusammengebrochene Heer zu verlassen. Berlin ist total verloren in der Hand der Sozialisten, und sind dort schon zwei Regierungen gebildet, eine von Ebert als Reichskanzler, eine daneben von den Unabhängigen. Bis zum Abmarsch der Truppen in die Heimat empfehle ich auf Deinem Posten auszuharren und die Truppen zusammenzuhalten! So Gott will auf Wiedersehen. Gen. von Marschall wird Dir weiteres mitteilen.

Dein tiefgebeugter Vater
(gez.) Wilhelm.«

Einzelheiten über die Umstände, die den Kaiser von seinem Entschlusse, als König auszuharren, in der Frist weniger Stunden abzudrängen und alles aufzugeben vermochten, fehlten. So blieb uns zunächst nur die Annahme, daß die Einwirkung jener Männer, deren Auffassung Graf Schulenburg und ich nach Kräften bekämpft und während unseres Verweilens in Spa außer Macht gesetzt hatten, nach unserem Fortgang Boden gewonnen und den Kaiser ihrem Willen gefügig gemacht habe.

 

Die Einzelheiten über den Verlauf des verhängnisvollen Nachmittags habe ich erst sehr viel später aus Gesprächen mit Seiner Majestät und mit Herren seiner Umgebung sowie aus den mir zugänglich gewordenen Niederschriften einzelner beteiligter Personen erfahren.

Danach hat nach der Abfahrt des Grafen Schulenburg ein Vortrag bei Seiner Majestät stattgefunden, an dem der Feldmarschall, die Generale Gröner und von Marschall, Exzellenz von Hintze und Herr von Grünau teilnahmen. Später ist noch Admiral Scheer hinzugekommen. Hier ist der Kaiser aufs schärfste bedrängt worden, die Abdankung auszusprechen und die Reise nach Holland anzutreten. Betont wurde hierbei, daß fünfzig Offiziere von allen Teilen der Armee sich dahin ausgesprochen hätten, daß die Truppen auch an der Front nicht mehr sicher seien. Die Herren erklärten: der Kaiser müsse unter diesen Umständen das zusammenbrechende Heer verlassen und nach Holland gehen. Gröner betonte, daß der ganze Generalstab derselben Ansicht sei. Entscheidend war für Seine Majestät die Stellungnahme des Generalfeldmarschalls. – Ein endgültiger Entschluß scheint nicht gefaßt worden zu sein. Seine Majestät hat nur genehmigt, daß die vorbereitenden Schritte für seine Reise nach Holland getroffen würden. –

Nach der Beendigung dieser Besprechung sagte der Kaiser zu Graf Dohna, der sich vom Urlaub zurückmeldete: »Ich habe Gröner sehr deutlich geantwortet, daß ich mit ihm jetzt fertig sei, trotz aller Vorschläge bleibe ich in Spa.« – Zu den beiden diensttuenden Flügeladjutanten bemerkte er: »Ich bleibe während der Nacht in der Villa, besorgen Sie sich Waffen und Munition. Der Feldmarschall hat mir gesagt, daß wir mit bolschewistischen Angriffen rechnen müssen.«

Erst nach einer weiteren Besprechung mit dem Generaloberst von Plessen und Herrn von Grünau entschloß sich der Kaiser, die Nacht nicht in der Villa Fraineuse, sondern im Zuge in Spa zu verbringen, und er hat Befehl gegeben, daß alle Maßnahmen hierzu getroffen würden. Erst weiteren Einwirkungen, die nach der Abendtafel wieder an ihn herantraten und die sich auf den Wunsch des Generalfeldmarschalls sowie auf die von diesem betonte Gefahr bolschewistischer Angriffe von Aachen, Verviers her beriefen, gelang es, den Kaiser zur Abreise zu bewegen.

Der als Generalstabsoffizier der O.H.L. zum Kaiser kommandierte Major Niemann hat eine Schilderung der Vorgänge gegeben. Danach hat sich bei der Entschlußfassung Seiner Majestät im Laufe des Nachmittags und Abends des 9. November die folgende Entwicklung ergeben:

»Zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags meldeten Feldmarschall von Hindenburg und Staatssekretär von Hintze Seiner Majestät, daß die Lage sich ständig verschlechtere, und baten, den Übertritt in das neutrale Ausland als äußersten Ausweg zu erwägen. Der Feldmarschall brauchte in seiner Darstellung die Worte: ›Ich kann es nicht verantworten, daß der Kaiser von meuternden Truppen nach Berlin geschleppt und der revolutionären Regierung als Gefangener ausgeliefert wird.‹ – Seine Majestät erklärten sich damit einverstanden, daß Exzellenz von Hintze vorbereitende Schritte für eine eventuelle Aufnahme S. M. in Holland träfe. Nach dieser Unterredung gaben S. M. erneut persönlich Weisung, Sicherheitsmaßnahmen für ein weiteres Verbleiben in Spa zu treffen.

Gegen 7 Uhr abends kamen Exzellenz von Hintze und Generaloberst von Plessen erneut zu S. M., um gleichzeitig im Auftrage des Feldmarschalls S. M. zu bitten, noch in der Nacht nach Holland abzufahren. Die Lage in der Heimat und beim Heere – so führte der Staatssekretär aus – machte eine schnelle Entschließung S. M. notwendig. Die vom Feldmarschall geschilderte Möglichkeit, daß S. M. von eigenen Truppen aufgehoben würde, rückte immer näher. – S. M. gaben dem Drängen zunächst nach. Später kamen S. M. aber nach ruhiger Überlegung doch zu dem Entschluß, nicht abzureisen, sondern beim Heere zu bleiben und bis zum äußersten zu kämpfen. Auf der Fahrt zum Hofzuge, in dem der größte Teil des Gefolges wohnte und in dem sämtliche Mahlzeiten eingenommen wurden, teilten S. M. gegen 7.45 abends den begleitenden Flügeladjutanten von Hirschfeld und von Ilsemann diese Entscheidung mit und begaben sich nach Ankunft im Hofzuge zum General von Gontard. Dem General von Gontard sagten S. M. ausdrücklich: Er werde dem von der O.H.L. ihm gegebenen Rat, die Armee zu verlassen und außer Landes zu gehen, nicht folgen, vielmehr wolle er bei seinem Heere bis zum äußersten ausharren und sein Leben einsetzen. Die Zumutung, die Armee zu verlassen, sei unerhört. Das gleiche äußerten S. M. zu dem Generaloberst von Plessen und dem General Freiherrn Marschall.

Als um 8.30 abends zu Tisch gegangen wurde, schien der Gedanke an Abreise endgültig aufgegeben.

Nach der Abendtafel, gegen 10 Uhr abends, erschien im Auftrage von Exzellenz von Hintze Freiherr von Grünau und meldete S. M., sowohl der Feldmarschall von Hindenburg wie Staatssekretär von Hintze seien zur Überzeugung gekommen, daß S. M. ohne Verzug nach Holland abreisen müßten. Die Lage sei unhaltbar geworden, da die Aufstandsbewegung von Aachen und Eupen nach Spa überzugreifen drohe und aufständische Truppen bereits im Anmarsch auf Spa seien. Der Weg zur Front aber sei durch meuternde Etappentruppen verlegt.

S. M. gaben diesem erneuten kategorischen Drängen der verantwortlichen obersten militärischen und zuständigen politischen Ratgeber nach und befahlen die Abfahrt nach der holländischen Grenze für den 10. November, 5 Uhr vormittags.« – –

Durch die Feststellung all dieser Tatsachen scheint mir erwiesen, daß Seine Majestät nicht aus sich heraus den Entschluß gefaßt hat, nach Holland zu gehen. Im Gegenteil, er hat sich bis zuletzt gegen diesen Gedanken gewehrt. Aber alle beratenden Stellen und obenan die O.H.L. haben alle Mittel angewandt, um dem Kaiser diesen Entschluß abzuringen. Auch die maßgebenden Herren seiner Umgebung scheinen im Laufe des Nachmittags umgefallen zu sein und sich bei Seiner Majestät für die schnelle Abreise eingesetzt zu haben.

Nur so ist es zu erklären, daß wir in Vielsalm, das nur eine Autostunde von Spa entfernt liegt, diesen Entschluß nicht so rechtzeitig erfahren haben, daß wir noch eingreifen und den Kaiser veranlassen konnten, zu uns, zur Heeresgruppe zu kommen. – Gewiß war die Lage an der Front aufs äußerste gespannt, und unsere Anwesenheit in unserem Hauptquartier Vielsalm bitter nötig. Trotzdem war es ein Fehler, daß Schulenburg und ich nicht in Spa blieben oder den Kaiser gleich mit uns nahmen. Wir haben auf die Zusicherung des Kaisers und darauf gebaut, daß die Umgebung, die unsere Ansicht und Stellungnahme kannte, uns rufen würde, sobald an der Entschließung des Kaisers etwas geändert würde.

Wenn ich rückschauend die Kaiserabdankung überdenke, so will mir scheinen, daß nur einmal und zwar Ende September der Augenblick dafür gegeben war, als Kaiser und Volk durch den militärischen Zusammenbruch und die Forderung der O.H.L. auf ein sofortiges Waffenstillstandsangebot überrascht wurden. Die Enthüllung der nackten Wahrheit war so niederschmetternd, daß das Volk es verstanden hätte, wenn sein Kaiser die Verantwortung auf sich nahm und sich opferte. Diese Abdankung wäre freiwillig erfolgt und hätte die Monarchie nicht geschwächt. Im Oktober wurde der Krone ein Recht nach dem anderen abgepreßt. Selbst die O.H.L. fand sich damit ab, daß Mitte Oktober dem Kaiser – dem Obersten Kriegsherrn – im Kriege die Kommandogewalt entrissen wurde. Als Letztes dazu wurde dann die Abdankung und zwar um so lauter gefordert, je mehr die feindliche Propaganda in dasselbe Horn stieß. Wäre sie damals unter diesem Drängen erfolgt, so hätte sie die Krone dem Absolutismus des Parlamentes und der Massen ausgeliefert – und das Ende doch nicht ausgehalten.

Oder glaubt heute noch irgend jemand daran, daß die Dynastieen nicht gestürzt wären, wenn der Kaiser in den ersten Novembertagen oder noch am Vormittage des 9. November abgedankt hätte? Die Revolution richtete sich nicht gegen die Person des Kaisers, sondern gegen die Monarchie.

Seit Monaten war der Boden unterwühlt, und man wartete auf den günstigen Augenblick. Dieser war da, als das Vertrauen des Volkes zu Hindenburg und Ludendorff durch die Erkenntnis, daß der Krieg verloren war, einen schweren Stoß erlitten hatte. Mürbe war das Volk geworden. Mürbe die Massen und aufnahmefähig für den Umsturz; mürbe das Bürgertum, das apathisch die Dinge laufen ließ. Kriegs- und Widerstandswille waren erlahmt, und man gab sich dem Irrwahn hin, einen besseren Frieden zu bekommen, wenn man den Kaiser beseitigte.

Die Revolution hat ein erstaunlich leichtes Spiel gehabt! Wenige Stunden genügten, um die angestammten Fürsten mit ihren Regierungen wegzufegen. Kampflos und ohne Blutvergießen vollzog sich die Umwälzung, ein Beweis dafür, wie gründlich sie – teils durch die bewegenden und umschichtenden Kräfte unseres unglücklichen Schicksals, teils durch die planmäßige Arbeit und Wirkung der Revolutionäre – vorbereitet gewesen ist.

Der Kaiser hat erkannt, daß die von ihm geforderte Abdankung der Anfang eines Chaos sein würde. Er hat erkannt, daß für die schweren Zeiten, denen wir entgegengingen, eines vor allem nötig war: die Erhaltung der Autorität und Schlagfertigkeit des Heeres, um zum Widerstande befähigt zu sein, wenn ein Diktatfriede aufgezwungen werden sollte. Hat er damit nicht Recht gehabt? Das deutsche Volk hatte die weitestgehenden demokratischen Rechte erhalten. Die alte Autorität konnte in der höchsten Gefahrstunde nicht entbehrt werden. Den schmachvollen Waffenstillstand mußte auch die O.H.L. unterschreiben, nicht weil wir wehrlos waren, sondern weil das Feldheer mit der Revolution im Rücken den Kampf nicht fortsetzen konnte.

Alle Schuld an unserem Unglück hat das Volk auf seinen alten Kaiser gehäuft. Als Sohn, der niemals ein blinder Bewunderer gewesen ist, muß ich hier Gerechtigkeit im Urteil über meinen Vater fordern. Seit drei Jahren wird er mit Schmähungen überhäuft – von den Parteien der gegenwärtigen Reichsregierung, die jeden Mißerfolg immer noch dem Schuldkonto des alten Regimes und im besonderen dem Kaiser zuschieben, von den Helden zur äußersten Linken und – auch von rechts. Das ist menschlich und geschichtlich, aber nicht gerecht. Auch mein Vater war ein Mensch, auch er war mürbe geworden. Haben nicht Stärkere in diesem Kriege ihre schwache Stunde gehabt?

Was ist auf diesen empfindsamen und friedlichsten aller Fürsten in diesem Kriege nicht alles eingestürmt! Das letzte Kriegsjahr brachte eine Enttäuschung nach der anderen. In den letzten Monaten reihte sich eine Hiobsbotschaft an die andere, und in den letzten Tagen und Stunden brach alles um ihn zusammen. Er war entschlossen, den Weg der Pflicht zu gehen und auf diesem Wege zu kämpfen und auch zu fallen. Er stützte sich hierbei auf die O.H.L., die sich mit dem ganzen Gewichte ihrer Stellung bis zum 6. November für ihn einsetzte. In der entscheidenden Stunde, als Volk, Heimatheer und Flotte ihn verließen, versagte sich ihm der Mann, der für ihn wie für das Volk die größte Autorität war und dem auch er – der Kaiser – sich untergeordnet hatte.

Ist es ein Wunder, daß mein Vater diesem Manne und verantwortlichen Ratgeber mehr geglaubt hat als mir und meinem Chef? Ist es ein Wunder, daß er in der ungeheueren Aufregung und Anspannung, die auch ihn ergriffen hielten, sehr widerstrebend, aber doch schließlich dem allseitigen Drängen nachgab, weil sich sein großer Feldmarschall mit allen Mitteln dafür einsetzte? Ist es nicht selbstverständlich, daß er einen blutigen Kampf gegen zwei Fronten scheute, noch dazu einen Kampf, dem nach dem Urteil des Generalfeldmarschalls das deutsche Heer moralisch nicht mehr gewachsen war? Welche ungeheuren Schwierigkeiten lagen allein darin, daß der Feindbund nur mit einer sogenannten Volksregierung über den Waffenstillstand zu verhandeln bereit war! Ohne Zweifel würden unsere Feinde im Falle des Konflikts die Auslieferung des Kaisers zur Vorbedingung für die Fortführung der Waffenstillstandsund Friedensverhandlungen gemacht haben. Sollte mein Vater Heer und Heimat in solch furchtbaren Zwiespalt bringen? – So hat er sich in das Schicksal gefügt und seinem tapferen schwerleidenden Volk und Heer den Bruderkampf um seinetwillen nicht zugemutet. Nur logisch war es, daß er ins Ausland ging, nachdem er den Kampf gegen den Umsturz aufgegeben hatte.

Gerechtigkeit des Urteils und Menschlichkeit der Erwägungen rufe ich für den Kaiser auf – und fürchte doch, daß ich die Gegner nicht überzeugen werde: die Gegner, die mit Steinen nach dem Kaiser werfen, weil er nach Holland ging – und die ihn ebenso gesteinigt hätten, wenn er nach seiner Abdankung mit dem Heere in die Heimat zurückmarschiert wäre. Aber ich hoffe, Verstehen für meinen Vater bei jenen national gesinnten Deutschen zu wecken, die den ehrlichen Mut haben, rückschauend an die eigene Brust zu schlagen: Wer weiß sich frei von Schuld!

 


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