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Ende April 1921.

Zwei Monate beinahe, seit ich die letzten Zeilen geschrieben habe. –

Erst immer wieder, wenn ich daran gehen wollte, das tausendmal durchdachte letzte bitterste Erleben aufzuzeichnen, die Hemmungen, die einen überfallen, wenn man sich in die Qual der rückhaltlosen Erinnerung an kaum verblaßte Leiden begeben soll; dann andere Sorgen, andere Schmerzen, die mich von der Arbeit an diesen Blättern ferne hielten.

Zu Ende Februar war ich in Doorn; am siebenundzwanzigsten begingen meine Eltern die Feier der vierzigsten Wiederkehr des Hochzeitstages. Feier? Nein – eine Feier war es nicht. Trüb und gedrückt war alles in dem schönen und gepflegten Hause. Die Mutter mußte liegen, und die Schwäche gönnte ihr nur Stunden eines müden Wachens. So kraftlos war sie, daß sie kaum zu sprechen vermochte – und doch für jede kleinste Handreichung ein » – danke, mein guter Junge – « und dann ein stilles zärtliches Streicheln der Hand. – Man hat wahrhaftig die Zähne zusammenbeißen müssen. Das Ahnen, daß ich sie an diesem Tage zum letzten Male im Arm gehalten und geküßt habe, hat mich seitdem nicht mehr verlassen.

Was dann noch an Berichten von ihr sprach, war so, daß alle Hoffnung fallen mußte, daß man nur flehen konnte: Herr, mache es kurz. –

Und dann, sechs Wochen nach dem letzten Wiedersehen, kam die schwere Nachricht zu mir auf die Insel.

Wir sind nach Doorn gefahren, und ich habe es in all den langen Stunden der Fahrt zu ihr kaum fassen können, daß sie jetzt nicht mehr zu mir reden, daß ihre guten Augen jetzt nicht mehr auf mir ruhen würden. Der starke Magnet, der uns Kinder, wo wir auch waren, immer wieder ins Elternhaus gezogen hat, ist sie gewesen, alle unsere geheimsten Wünsche, Hoffnungen und Sorgen hat sie gekannt – und sollte jetzt für immer von uns fortgenommen sein.

Verändert, leer und fremd erschien mir Park und Haus und alles.

Mein armer Vater! Wie er sich auch hielt: ich weiß, daß er ins tiefste Herz erschüttert war. Sein alter Stolz, die anderen nicht zu Zeugen werden zu lassen, sich auch im Schwersten königlich zu halten, hat ihn, solange wir und Menschen der Umgebung um ihn waren, wieder gestützt. Aber die Einsamkeit –

Ich habe eine lange, stille Nacht am Sarge der geliebten Mutter und noch einmal, zum letzten Mal allein mit ihr, die Totenwacht gehalten.

In ungezählten Bildern aus Vergangenheiten ist sie da in dieser feierlichen Ruhe, in der von Kränzen und von Blumen ein schwerer Dunst und Duft lag und nur die Kerzen sachte niederbrannten, vor mir erschienen.

Ihre Freude, wie ich mich mit zehn Jahren als Leutnant bei ihr meldete und die Parade gut verlief, trotz meiner noch so kurzen Beine, denen das Mitkommen mit den langen Grenadieren doch reichlich sauer wurde.

Ihr glücklich leuchtendes Gesicht, als sie meine Braut zum ersten Male in die Arme schloß und zu mir sagte: »Ja, lieber Junge – du hast eine gute Wahl getan!« – Und von dem Tage bis zuletzt war eine große Liebe zwischen den zwei Frauen.

An den Betten der schwer erkrankten Brüder Fritz und Joachim sah ich sie sitzen – Nächte um Nächte, unermüdlich – eine hingebende Pflegerin, eine Mutter, die sich selber opfern mochte.

Ich sah sie bei Hoffesten im vollen Glanz der Krone. Schlank und edel die Gestalt, über dem frischen gütigen Gesichte das reiche, früh ergraute Haar. Und jedes Wort ein schlichtes, warmherziges Gebenwollen und Verbinden und Verstehen.

Dann immer wieder: in ihrem Schreibzimmer im Neuen Palais. – Zwischen Vor- und Nachmittagsdienst bin ich hinübergeritten und gehe nun, während sie zuhört und erwidert, vor ihr auf und nieder. Kleine Konflikte, in denen sie meine Beichtigerin ist, die immer den gerechten Rat und die würdige Lösung kennt – und ernste Sorgen um das Große, Ganze des Vaterlandes, für die im Herzen dieser scheinbar aller Politik so fernen Frau viel Raum war. Sie hat von diesem stillen Leid, durch ihr klares Erkennen manches Irrens, weit mehr getragen, als man draußen ahnte.

Die Kriegszeit dann: Sorgen – Sorgen – Sorgen –

Und das, was nachher kam.

Da sehe ich sie auch im Garten von Haus Doorn. Sie sitzt im kleinen Ponywagen, und ich halte ihre Hand und gehe neben ihr her. »Mein Junge, es ist ja schön hier, aber mein Potsdam, das Neue Palais, mein kleiner Rosengarten, unsere Heimat, das ist es nicht. Wenn du wüßtest, wie mich oft das Heimweh innerlich zerfrißt, oh, ich werde die Heimat ja nie wiedersehen.« –

Jetzt ruht sie in der Heimaterde, zu der sie ihre letzte Sehnsucht trug.

Ein Stück des Weges bis zum Bahnhof Maarn, habe ich ihr auf der Heimfahrt das Geleit gegeben – und bin wieder zurückgekehrt auf meine Insel.

Tage voll Schwermut sind das dann gewesen: nicht eine Stunde, in der mein Gedenken nicht bei ihr war. Aber was mir aus vielen tausend Briefen in diesen Tagen sagte, wie sehr sie in der Heimat unvergessen ist und wie die Liebe, die sie säte, aufgegangen ist und blüht, das war mir ein Trost.

Dann war mein guter Schwager, der Herzog von Braunschweig, ein paar Tage bei mir. Sissy soll zunächst in Doorn drüben bleiben, damit der Vater leichter über die erste Zeit seiner großen Verlassenheit hinwegkomme und damit eine gute Frauenstimme in dem schönen und doch so freudlosen Hause sei.

Ich aber will nun doch daran gehen, auch das noch aufzuzeichnen, was ich zu dem letzten und bittersten Erleben des Zusammenbruches zu berichten habe. Weiß Gott, daß es mir schwerer wird als alles, was ich vorher niederschrieb.

Am 8. November 1918 abends erhielt ich in Waulsort unerwartet von Seiner Majestät Befehl, mich am 9. November vormittags in Spa bei ihm zu melden. Kein Wort weiter darüber, worum es ging und was ich sollte. – Blieb nur das Wissen, daß der Ruf viel Gutes nicht bedeuten konnte, das Ahnen neuer qualvoller Konflikte.

Bei trübem kalten Wetter ging die Autofahrt durch das von grauen, tieflastenden Nebeln fast erdrückte Land. Stumpf, trostlos, traurig, wie gebrochen alles: die halb zerfallenen Häuser, denen der Bewurf von dem geschundenen Leibe bröckelte, die endlos langen, von hunderttausend wuchtenden, hart stoßenden Rädern zerfahrenen, von hunderttausend Pferdehufen und Nagelschuhen zermalmten Straßen. Und diese abgezehrten grauen Menschen, die so voll Bitterkeit und Gram und Elend schienen, als ob sie sich nie wieder zu einem neuen Lebensglauben würden erheben können.

Durch Schlammfelder schlingerte der Wagen, sprühte den braunen Dreck in Garben und Fontänen um sich her – raste schleudernd vorüber an mühsam treckenden Kolonnen, an aufgelöst hinschürfenden Trupps und Gruppen von abgerissenen, mit unkennbarem Kram bepackten Gestalten von Männern, die einmal Soldaten gewesen waren – ließ fluchende Rufe und in das Grau gereckte Fäuste hinter sich.

Weiter – weiter –

Kurz nach zwölf war es, da wir, bis auf die Knochen durchfroren und erstarrt, in Spa ankamen.

In der Villa Fraineuse draußen vor der Stadt wohnte der Kaiser.

Der Hofmarschall General von Gontard empfing mich in der Halle. Sein Gesicht war ernst und tief besorgt. Nur ein hilfloses Aufheben beider Hände war die Antwort auf meine Fragen – und sagte mehr als Worte.

Und da war auch schon mein Chef, Graf Schulenburg, bei mir. Seit dem frühen Morgen schon war er in Spa und hat bis zu dem Augenblick, da ihm mein Eintreffen gemeldet wurde, beim Kaiser unsere Ansichten vertreten. Bleich, sichtlich tief erregt war er, wie er mich jetzt mit raschen, soldatisch knappen Worten über die Vorgänge, in die wir hier mithineingezogen wurden, ins Bild setzte, mich mit der ganzen Eindringlichkeit des starken, verantwortlichkeitsbewußten, kaisertreuen Mannes bat, auch meinerseits alles zu tun, um Seine Majestät von übereilten, niemals wieder auslöschbaren Entschließungen zurückzuhalten.

Nach dem Berichte Schulenburgs hatten die Ereignisse bis zu meinem Eintreffen sich wie folgt entwickelt:

Mein Vater hatte am frühen Morgen mit seinem Generalstabsoffizier, Major Niemann, die Lage eingehend erörtert und sich entschlossen, dem drohenden Umsturz die Stirn zu bieten. Mit diesem festen Entschluß kam der Kaiser zu einer Besprechung, zu der der Generalfeldmarschall und General Gröner, Plessen, Marschall, Hintze, Herr von Grünau und Major Niemann zugezogen worden waren.

Der Generalfeldmarschall hatte da als erster gleich einleitend ein paar Worte gesprochen, die klar erkennen ließen, daß er soweit war, das Ganze aufzugeben: Er müsse Seine Majestät um seine Entlassung bitten, da er das, was er auszusprechen sich genötigt fühle, seinem Könige und Herrn als preußischer Offizier nicht sagen könne.

Nur mit dem Kopfe hatte der Kaiser gezuckt: Erst hören, was es ist –

Jetzt hatte General Gröner das Wort ergriffen – mir war es, wie mir Schulenburg den Inhalt seiner Darlegung skizzierte, als ob ich ihn vor mir sähe und reden hörte! Gröner – seit knapp zwei Wochen der neue Mann auf dem verlassenen Platze Ludendorffs, der Mann, der Hemmungen, wie sie dem alten Generalfeldmarschall die Worte in der Kehle würgten, nicht kannte. Ein neuer Ton, der sich brüsk und demonstrativ von allem Herkommen lossagte, der sich an dieser Mißachtung aller Vergangenheit innerlich stark zu machen suchte für den Herzstoß, der jetzt kommen sollte.

Was mir Schulenburg von den Worten des Generals Gröner wiedergab, das hätte, wenn es die letzte Wahrheit gewesen wäre, in der Tat das Ende bedeutet: Die militärische Lage der Armeen verzweifelt – die Truppen wankend – ohne Zuverlässigkeit – Verpflegung nur auf Tage noch – dann furchtbar drohend Hunger, Auflösung und Plünderung. Die Heimat aufflammend in unhemmbarem Umsturz – was an Ersatztruppen herangezogen werden soll, versagt, zersplittert und läuft zu der roten Fahne über. Das ganze Hinterland, Bahnen und Telegraphen, Rheinbrücken, Depots und Knotenpunkte in der Hand der Revolutionäre. Berlin in einer Überspannung, die jeden Augenblick zerreißen und Blutströme über die Stadt ergießen kann. – Mit dem völlig unsicher gewordenen Heere kehrt zu machen und so, den Feind im Rücken, in der Heimat den Bürgerkrieg niederzuschlagen, sei ganz ausgeschlossen. – Dieser, seiner und des Generalfeldmarschalls Ansicht hätten sich auch die Abteilungschefs und die meisten Vertreter der O.H.L. angeschlossen. Wenn auch nicht ausgesprochen, lag in diesem Vortrag für meinen Vater die Aufforderung zur Abdankung.

Wortlos, sichtlich tief erschüttert, hatte mein Vater diese in den dunkelsten Farben gehaltene Darstellung mitangehört und hatte sich dann, als ein starres Schweigen hinter General Gröners Worten blieb und er aus einer Bewegung meines Chefs erkannte, daß auch der gehört werden wollte, emporgerissen und an ihn gewendet: »Sprechen Sie, Graf – Ihre Ansicht – ?!« Da hatte dann mein Chef erwidert:

Daß er die Schilderung des Generalquartiermeisters nicht als den wahren Verhältnissen entsprechend auffassen könne. So habe sich zum Beispiel die Heeresgruppe Kronprinz in der langen Herbstschlacht trotz allen großen Schwierigkeiten und übermenschlichen Härten glänzend geschlagen, und sie liege nach wie vor fest und geschlossen in der Hand ihrer Führer. Jetzt sei sie nach der ungeheuren Leistung erschöpft, überanstrengt und erfüllt von dem Wunsche nach Waffenruhe. Komme es zum ausgesprochenen Waffenstillstande und gebe man den Truppen jetzt mit wenigen Ruhetagen eine neue Auffrischung durch Schlaf und erträgliche Verpflegung, gebe man damit zugleich den Führern die Möglichkeit, wiederum feste Fühlung mit den Leuten zu gewinnen und auf sie einzuwirken, so werde sich die allgemeine Stimmung auch wieder heben. Eine Kehrtschwenkung des ganzen Westheeres zum Bürgerkriege in Deutschland sei allerdings eine Unmöglichkeit – sie liege aber auch garnicht im Bereiche des Notwendigen. Was nottue, sei der entschlossene mannhafte Widerstand gegen ein Treiben, dem man leider allzulange tatlos zugesehen habe. Die sofortige energische Niederkämpfung der Aufständischen an den Brennpunkten des Aufruhres – die rücksichtslose Wiederherstellung von Ordnung und Autorität! Die Verpflegungsfrage sei von General Gröner zu schwarz gemalt, die Auswirkung eines tatkräftigen Vorgehens gegen die Bolschewisten im Rücken der Front werde einen neuen Zusammenschluß der Getreuen im Lande und ein Ersticken der revolutionären Bewegung bringen. Also: Kein Nachgeben vor dem Drohen mit verbrecherischer Gewalt – kein Abdanken – aber auch kein Bürgerkrieg; nur bewaffnete Wiederherstellung der Ordnung an den genannten einzelnen Stellen. Dazu werde die Truppe in ihrer Masse zweifellos getreu hinter dem Kaiser stehen.

Der Kaiser war dieser Auffassung beigetreten. So war es zu einem Gegensatze zwischen meinem Chef und General Gröner gekommen, der im Laufe dieser Auseinandersetzung nach wie vor seine Behauptung verfochten hatte, daß die Ereignisse zu weit vorgeschritten seien, um den von Schulenburg vorgeschlagenen Maßnahmen noch irgendwelche Chancen zu lassen. Der Zusammenschluß der Aufständischen überspannte nach seiner Darstellung schon die gesamte Heimat, die Revolutionäre würden zweifellos jede Verpflegungsmöglichkeit für eine etwa gegen sie operierende Armee sperren – und wieder: das Heer sei nicht mehr zuverlässig und stehe nicht mehr hinter Seiner Majestät.

Diese von General Gröner aufgestellten Gesichtspunkte fanden eine gewisse Stütze in telephonischen Nachrichten aus dem Reichskanzleramt, die während dieser Diskussion mehrfach einliefen, von blutigen Straßenkämpfen und Abschwenken der Heimattruppe zu den Reihen der Revolutionäre berichteten und immer wieder die Forderung auf Abdankung stellten. Wie weit diese augenfällig aus einer Panikstimmung kommenden Berichte, die durch ihr drängendes Wesen starken Eindruck machten, der Wahrheit entsprachen, konnte nicht nachgeprüft werden.

Trotz all dem war der Kaiser fest bei seiner einmal gefaßten Entschließung geblieben. Aber angesichts des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen den beiden Beurteilungen der Lage und der notwendigen Folgerungen hatte er sich endlich zu General Gröner gewendet und mit großer Bestimmtheit erklärt: daß er sich mit der geäußerten Ansicht des Generals in dieser ungeheuer schwer wiegenden Frage nicht zufrieden geben könne, daß er vielmehr auf einer schriftlichen Meldung durch den Generalfeldmarschall von Hindenburg und General Gröner bestehen müsse – auf einer Meldung, der das einzuholende Urteil aller Armeeführer der Westfront zugrunde gelegt werden solle. Der Gedanke, einen Bürgerkrieg zu führen, stehe für ihn außerhalb jeder Erwägung, aber seinen Wunsch, das Heer nach Abschluß des Waffenstillstandes in geschlossener Ordnung in die Heimat zurückzuführen, halte er aufrecht.

Die Antwort General Gröners hatte sich brüsk abtuend – als ob er jede Weiterung für unnütz und als leeren Zeitverlust vor einem festen Programm taxieren müsse – darauf beschränkt, zu erklären: »Das Heer wird unter seinen Führern und kommandierenden Generalen geschlossen und in Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter der Führung Eurer Majestät!«

Auf die erregte Frage meines Vaters: »Wie kommen Sie zu dieser Meldung? Graf Schulenburg meldet das Gegenteil!« hatte Gröner nur geantwortet: »Ich habe andere Nachrichten.« Hierzu muß festgestellt werden, daß General Gröner diese Meldung meinem Vater lange vor dem Zeitpunkt machte, zu dem das Votum der Frontkommandeure vorlag. Was für »andere Nachrichten« hat der Erste Generalquartiermeister also besessen, und welcher Führer der Westfront hat sie erstattet? Diese Fragen sind bis heute noch nicht beantwortet. Von den mir unterstellten vier Armeen habe ich nicht eine Meldung erhalten, die diese Schlußfolgerung für die Front und selbst für meine Etappe zuließ. Diese Meldungen müssen dem General Gröner am 7. oder 8. November zugegangen sein, denn in Charleville war er noch guten Mutes, am fünften setzte er sich in Berlin scharf für den Kaiser ein, und am sechsten schrieb die O.H.L. den Armeen der Westfront, daß es für die Armee keine Kaiserfrage gebe und daß sie, ihrem Eide getreu, unerschütterlich fest zu ihrem Obersten Kriegsherrn halte.

Auf den nochmaligen Einspruch meines Chefs hin hatte sich dann endlich auch der Generalfeldmarschall entschlossen, aus seiner bisherigen Zurückhaltung herauszutreten. Bei aller Zustimmung zu dem Geiste soldatischer Treue, von dem die Schulenburgschen Gedanken getragen seien, kam er praktisch zu der Auffassung des Generals Gröner, daß auf Grund der Nachrichten, die der O.H.L. aus der Heimat und von dem Heere vorliegen, die Revolution nicht mehr niedergeschlagen werden könne. Wie Gröner, so könne auch er die Verantwortung für die Zuverlässigkeit der Truppen nicht mehr tragen.

Der Kaiser hatte endlich die Aussprache mit der Wiederholung seines Wunsches um Befragung der Oberbefehlshaber geschlossen: » – melden Sie, daß das Heer nicht mehr zu mir steht, dann bin ich bereit zu gehen – aber eher nicht!«

Im Anschluß an diese Besprechung und Entschließung, aus der deutlich hervorging, daß der Kaiser im Interesse des deutschen Volkes und zur Erhaltung der inneren und äußeren Friedensmöglichkeit bereit war, seine Person zum Opfer zu bringen, hatte mein Chef dann noch besonders darauf hingewiesen, daß bei allen etwaigen Entschlüssen Seiner Majestät die Fragen betreffend die Kaiserwürde von jenen, die sich auf den preußischen Königsthron bezogen, scharf auseinanderzuhalten seien: Nur um die Abdankung des Kaisers, nicht um einen Thronverzicht des Königs von Preußen könne und dürfe es sich im äußersten Falle handeln. Er hatte die für diesen Standpunkt wichtigen Gesichtspunkte entwickelt und weiter seine Ansicht zum Ausdruck gebracht, daß die Berliner telephonischen Alarmnachrichten der genauen Nachprüfung bedürften, ehe sie zur Grundlage von Entschließungen gemacht werden könnten.

Mein Vater hatte ihm darauf versichert, daß er unter allen Umständen König von Preußen bleiben und als solcher das Heer nicht verlassen werde. Er hatte weiter die sofortige telephonische Rückfrage über die Berliner Lage beim Gouverneur von Berlin angeordnet und sich hierauf mit einem Teile der Herren seines Gefolges in den Garten begeben, während der Generalfeldmarschall, General Gröner und Graf von der Schulenburg im Beratungsraume zurückgeblieben waren. Bei der Aussprache, die zwischen ihnen nun noch über die letzten Ausführungen Schulenburgs stattfand, bekannte sich auch der Generalfeldmarschall zu der Meinung, daß der Kaiser sich als König von Preußen unter allen Umständen halten müsse, General Gröner aber blieb dieser Forderung gegenüber skeptisch und ablehnend. Er sprach aus, daß eine freie Entschließung des Kaisers in diesem Sinne, falls sie vor Wochen gefallen wäre, eine Umgestaltung der Lage vielleicht bewirkt hätte – daß sie aber nach seiner Ansicht jetzt zu spät komme, um gegenüber dem in ganz Deutschland entzündeten Aufruhr, der in jedem Augenblicke weiter um sich greife, noch von Belang zu sein.

Was sich dann weiter Schlag auf Schlag abgespielt hatte, war nur geeignet erschienen, um dieser Auffassung des Generals Gröner Recht zu geben – wenn man es als die objektive Wahrheit über die Zustände und Stimmung in der Heimat gelten lassen konnte. Die Antwort des Chefs des Generalstabes beim Gouvernement Berlin, Oberst von Berge, war eingetroffen und hatte eine allerdings einschränkende Bestätigung der vom Reichskanzleramt gegebenen Darstellung gebracht: Blutige Straßenkämpfe – Überläufe der Truppen zu den Revolutionären – keinerlei Machtmittel zur Bekämpfung der Bewegung in den Händen der Regierung. – Dazu weiter ein Anruf des Prinzen Max von Baden, daß der Bürgerkrieg unvermeidlich wäre, wenn Seine Majestät die Abdankung nicht in den nächsten Minuten bekanntgäbe.

Mit diesen Botschaften waren der Generalfeldmarschall, General Gröner und Exzellenz von Hintze in den Garten zum Kaiser geeilt – und hierüber hielten sie ihm nun, während Graf von der Schulenburg mich über den Stand der Dinge informierte, Vortrag. –

Mit meinem Chef begab auch ich mich jetzt zum Kaiser.

In einer Gruppe von Herren stand er im Garten.

Unvergeßlich für alle Zeiten ist mir das Bild dieses Halbdutzends Menschen in ihren grauen Uniformen vor den vom späten Herbst gezeichneten welken, entfärbten Blumenbeeten. Kein Mensch sonst und kein Laut. Nur rings weit in der Runde der ansteigende Kessel des Bergwaldes in seiner späten nebelüberhangenen Pracht aus fahlem letzten Grün, aus Rostbraun, Gelb und Rot in allen Stufen.

Nicht anders, als ob er in erregtem Auf- und Niedergehen mit ihnen eingehalten hätte, stand er da. Und leidenschaftlich aufgerührt, mit heftig malenden Bewegungen der Rechten redete er auf die Nächsten ein: auf General Gröner, Exzellenz von Hintze – dazwischen streifte sein Blick den Generalfeldmarschall, der schweigend in die Ferne nickte, den greisen Generaloberst von Plessen. In kleinem Abstand von der Gruppe standen General von Marschall, Legationsrat von Grünau und Major von Hirschfeld.

Gebeugt, bedrückt, gleichsam wie ausweglos umstellt wirkten die meisten von den Herren nach Ausdruck und nach Haltung, schienen, während allein der Kaiser redete, wie erstarrt zu einem dumpfen Schweigen.

Jetzt bemerkte mein Vater mich, winkte mich heran und trat mir ein paar Schritte entgegen.

Und nun, da ich ihm gegenüberstand, konnte ich erst erkennen, wie verstört seine Züge waren, wie es in dem hager und gelb gewordenen Gesichte zuckte und flatterte.

Kaum Zeit ließ er mir, den Generalfeldmarschall und die Herren der Umgebung zu begrüßen, da wendete er sich schon an mich, und während die anderen sich ein wenig zurückzogen und General Gröner nach dem Hause zu abging, überstürzten, übersprudelten mich schon seine Worte.

Tatsachen schüttete er rückhaltlos vor mir aus, wiederholte manches von dem, was mir mein Chef soeben kurz berichtet hatte, ergänzte es mit anderem, ließ mich, der ich von meiner Heeresgruppe und aus der Abgeschiedenheit der Front hierhergekommen war und das von Schulenburg Gehörte eben noch in mir zu ordnen und zu überschauen suchte, noch tiefer in das Bild einer aus Haltlosigkeit und Aufsplitterung des Willens und der Kräfte drohenden Katastrophe blicken. So erfuhr ich jetzt, daß schon am Abend vorher – gestern, ehe er mich telephonisch nach Spa beschied – eine eingehende Besprechung der Lage hier stattgefunden hatte, in der General Gröner dem Kaiser dringend abgeraten habe, nach der Heimat zurückzukehren, den »Durchbruch nach Innen« zu versuchen. Aufrührerische Massen seien unterwegs nach Verviers und Spa, und zuverlässige Truppen gebe es überhaupt nicht mehr! Auch an die Front – um etwa da zu kämpfen und zu sterben – dürfe mein Vater nicht, da dieser Schritt die Entente angesichts des bevorstehenden Waffenstillstandes möglicherweise zu falschen Folgerungen veranlassen könnte, die dann nur größeres Unheil und Blutvergießen zur Folge haben würden. Mein Vater erzählte mir weiter, daß nach den Mitteilungen der Herren auch in den Städten Köln, Hannover, Braunschweig und München die Arbeiter- und Soldatenräte die Gewalt an sich gerissen haben – daß in Kiel und Wilhelmshaven die Revolution ausgebrochen sei – daß er im Hinblick auf die scheinbar notwendige Abdankung als Kaiser den Oberbefehl über das deutsche Heer dem Generalfeldmarschall übertragen werde.

In all meiner tiefen Erschütterung versuchte ich sofort wenigstens da einzugreifen und zu hemmen, wo auch nach meiner Ansicht, trotz des bisherigen überstürzten Ablaufes der Ereignisse, ein Halten noch möglich war, noch erreicht werden mußte, wenn nicht alles verloren gehen sollte: War schon die Abdankung als Kaiser wirklich nicht mehr vermeidbar, so mußte er doch unerschütterlich als Preußenkönig bleiben!

»Natürlich!« Und das kam so selbstverständlich, während seine Augen fest in die meinigen trafen, daß mir mit diesem einen Wort, das ich nun hielt, schon viel gewonnen schien.

Auch die Notwendigkeit, daß er unter allen Umständen bei dem Heere bleibe, betonte ich, und ich regte an, daß er mit zu meiner Heeresgruppe kommen und mit ihr, an ihrer Spitze in die Heimat zurückmarschieren möge.

Jetzt stieß General Gröner wieder zu der Gruppe der anderen Herren, und in seiner Begleitung war der Oberst Heye, der, wie ich nun erfuhr, aus einer von der O.H.L., über die Kopfe der Heeresgruppen- und Armeeoberkommandos weg, eilig zu einer Art von Konsilium berufenen Versammlung von Frontoffizieren kam, deren Votum von Gröner als entscheidend beurteilt wurde.

Der Kaiser forderte ihn auf, zu sprechen, und Oberst Heye gab seinen Bericht: Es sei den Kommandeuren die Frage vorgelegt worden, ob man für den Fall eines Bürgerkrieges in der Heimat auf die Truppen rechnen könne – die Frage sei verneint, die Sicherheit der Truppen von einzelnen der Herren nicht unbedingt verbürgt worden.

Graf von der Schulenburg sprang ein: Was wir, die wir unsere Leute kannten, aus eigener Erfahrung wußten, führte er an; vor allem eines: daß das Heer vor der Frage, ob es etwa seinen Fahneneid brechen und seinen Kaiser und Obersten Kriegsherrn in der Not verlassen wolle, sich in seiner Masse sicher als kaisertreu erweisen würde.

Aber dazu zuckte der General Gröner nur mit den Schultern und zog die Oberlippe überlegen bedauernd hoch: »Fahneneid? Kriegsherr? Das sind schließlich Worte – das ist am Ende bloß eine Idee – «

Zwei Welten standen da einander gegenüber, zwei Auffassungen, zwischen denen keine Brücke war und kein Verstehen möglich blieb: Der kaiser- und königstreue, in Pflicht und Hingabe großgewordene preußische Offizier, der in Erfüllung seines Treuschwures, den er als junger Mensch geleistet hat, lebt und stirbt – der andere, der die Dinge wohl niemals so heilig ernst verpflichtend, mehr als Symbole und »Idee« genommen hat, der immer gerne ein »moderner« Mensch gewesen ist und dessen wendigere Mentalität sich jetzt unschwer aus Bindungen befreit, die unbequem zu werden drohen.

Wieder antwortete Schulenburg, sagte dem General, daß solche Worte nur erkennen ließen, daß er Seele und Puls der Männer vorne gar nicht kenne, daß das Heer Fahneneid und Treue halten und am Schluß eines vierjährigen Krieges seinen Kaiser nicht preisgeben werde.

Er sprach noch, als er durch Exzellenz von Hintze unterbrochen wurde, der inzwischen wieder Berichte aus Berlin empfangen hatte und diese neuen Hiobsbotschaften dem Kaiser unterbreiten wollte: Der Reichskanzler Prinz Max, der zugleich um seine Entlassung gebeten, hatte ihm soeben mitgeteilt, daß sich die Lage in Berlin zur äußersten Bedrohlichkeit entwickelt habe und daß die Monarchie nicht mehr zu retten wäre, wenn der Kaiser sich nicht sofort zur Abdankung entschlösse. –

Der Kaiser nahm die Nachricht mit tiefem, schweigendem Ernst entgegen. Farblos die fest geschlossenen Lippen in dem graugelb gewordenen und wie um Jahre gealterten Gesichte. Nur wer ihn kannte wie ich, konnte ermessen, was er trotz dieses mühsam aufrecht gehaltenen Bildes der Fassung und Haltung unter der brüsk und ungeduldig drängenden Forderung des Kanzlers litt.

Als Hintze zu Ende war, nickte er kurz – suchte dann mit seinen Augen den Blick des Generalfeldmarschalls, als müßte er bei ihm Kraft und Hilfe finden in seiner Qual. Aber da war nichts. – Still, tief erschüttert, in ausweglosem Schweigen stand der große alte Mann und ließ das Schicksal seines Königs und Herren, dem er so lange treu und tapfer als Soldat gedient hatte, sich erfüllen.

Allein war der Kaiser. Nicht einer mehr von all den Männern der O.H.L., die einst von Ludendorff zu einer festen Einheit zusammengeschlossen worden waren, trat jetzt zu ihm und sprang ihm bei. Zersplittert, in Zersetzung alles auch hier – nicht anders als in der Heimat. Hier, wo der eisern starke Wille hätte aufspringen, sich in alle Befehlsstellen zwingend auswirken, alle gesund gebliebenen Kräfte an den Fronten rings zur starken Tat hätte zusammenraffen müssen, um sich durchzusetzen. Nichts – nichts davon. Jetzt herrschte General Gröners Wesen, und das gab den Kaiser mit einem Achselzucken auf.

Rauh und fremd, gleichsam unwirklich klang die Stimme meines Vaters, wie er den immer noch still wartenden Hintze dann sachlich beauftragte, dem Reichskanzler zu telephonieren, daß er bereit sei, die Kaiserkrone niederzulegen, wenn nur dadurch der allgemeine Bürgerkrieg in Deutschland zu vermeiden sei, daß er aber König von Preußen bleibe und sein Heer nicht verlassen werde.

Schweigen der Herren ...

Schon wollte der Staatssekretär gehen, da machte Schulenburg darauf aufmerksam, daß es unter allen Umständen notwendig sei, diese tief bedeutungsvolle Entschließung Seiner Majestät zunächst schriftlich festzulegen. Erst nach Genehmigung und Unterzeichnung des Schriftstückes könne sie an den Reichskanzler gemeldet werden.

Der Kaiser dankte: – ja, das war richtig. Und er forderte den Generaloberst von Plessen, den General von Marschall, Exzellenz von Hintze und den Grafen von der Schulenburg auf, diese Erklärung sogleich aufzusetzen und ihm zur Unterschrift zu reichen.

So ging man wieder in das Haus.

Die Herren waren noch bei der Arbeit, als wiederum ein Anruf aus Berlin erfolgte: Der Chef der Reichskanzlei, Exzellenz von Wahnschaffe, drängte nach der Abdankungserklärung – und wurde von dem Grafen von der Schulenburg dahin beschieden, daß der von Seiner Majestät bereits gefaßte Entschluß soeben formuliert und alsbald an die Reichsregierung abgehen werde.

Das Schriftstück sprach nicht die Abdankung als Kaiser, sondern die Bereitwilligkeit dazu aus, wenn nur dadurch weiteres Blutvergießen und vor allem ein Bürgerkrieg vermieden würde. Dazu betonte es, daß er König von Preußen bleiben und das Heer in geschlossener Ordnung in die Heimat zurückführen werde.

Sache des Kanzlers war es danach, auf Grund dieser Entschließung erneut über die in der Heimat entwickelte Lage Vortrag zu halten. Erst dann wäre die endgültige kaiserliche Entscheidung erfolgt.

Exzellenz von Hintze übernahm es, den Wortlaut des Schriftstückes an das Reichskanzleramt zu telephonieren.

Inzwischen war es etwa ein Uhr geworden, und man ging zum Frühstück. – Dieses wortkarge Beieinandersein in dem weißen hellen Raume, um die Tafel, auf der frische Blumen standen und um die doch nur Qual und verzweifelnde Sorge saßen, gehört zu meinen grausamsten Erinnerungen: Keiner, der sein Gesicht dem anderen ohne Maske zeigte – ein krampfhaftes Bemühen, für diese halbe Stunde unbefangen zu erscheinen und nicht von dem Gespenst zu reden, das hinter unseren Rücken stand und das doch keiner auch nur für einen Augenblick vergessen konnte – Bissen, die einem im Munde quollen und die nicht durch die Kehle wollten – das Ganze wie ein grauenvolles Totenmahl.

Nach dieser unerträglich quälenden Tafel blieb Seine Majestät mit mir und Schulenburg im Gespräch und wurde – es war wenige Minuten nach zwei Uhr – von General von Plessen hinausgerufen: Staatssekretär von Hintze, der soeben nach Berlin telephonierte, sei durch eine neue Berliner Mitteilung gewissermaßen überrannt worden.

Wir anderen blieben zurück in einem erregt wartenden Empfinden, daß irgend ein völlig unvorhergesehener Zwischenfall sich ereignet und die verworrene und erstickende Lage noch mehr zerrüttet haben müsse. Unendlich lang erschienen mir die wenigen Minuten, die so vergingen.

Dann wurden Schulenburg und ich zum Kaiser befohlen.

Wir fanden ihn, bei aller äußerlich gewaltsam bewahrten Fassung und Würde, seelisch aufs tiefste erschüttert. Und immer noch gleichsam im Kampfe mit dem Zweifel, ob das, was er soeben erlebt hatte, denn auch Wirklichkeit und Wahrheit sein könne, sagte er uns: er habe soeben die Mitteilung des Reichskanzleramtes erhalten, daß eine Botschaft über seine Abdankung als Kaiser und als König von Preußen und gleichzeitig über meine Verzichterklärung im gleichen Umfange vom Prinzen Max von Baden, ohne daß der Prinz die Erklärung des Kaisers abgewartet hätte, über unsere Köpfe weg ausgesprochen und durch das Wolffsche Telegraphenbureau verbreitet sei – daß der Prinz als Reichskanzler zurückgetreten und zum Reichsverweser ernannt und der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ebert nunmehr Reichskanzler sei.

Wir alle waren von dem Schlage dieser Nachricht so benommen und erstarrt, daß wir im ersten Augenblicke kaum fähig waren, zu sprechen. Dann aber versuchten wir sogleich, den ganzen beispiellosen Vorgang im Zusammenhänge festzulegen:

Exzellenz von Hintze hatte also soeben damit begonnen, die von Seiner Majestät vollzogene Erklärung zu telephonieren, als er unterbrochen wurde: diese Erklärung nütze garnichts – es müsse die völlige Abdankung – auch als König von Preußen – ausgesprochen werden, und Herr von Hintze möge zuhören, was ihm jetzt telephoniert werde! – Der Staatssekretär hatte sich diese Unterbrechung verbeten, hatte erklärt, daß jetzt vor allem der Entschluß Seiner Majestät zu Worte kommen müsse, und diesen verlesen. In unmittelbarem Anschluß an seine Worte hatte Berlin darauf mitgeteilt, daß eine Erklärung durch das Wolffsche Bureau bereits veröffentlicht worden und alsbald auch bei einzelnen Truppen durch Funkspruch bekannt geworden sei. Diese Erklärung sage: »Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amte, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind ...« Der Staatssekretär von Hintze hatte sofort entschiedenen Protest erhoben gegen diese ohne Ermächtigung des Kaisers erfolgte Bekanntgabe, die den Entschließungen Seiner Majestät in keiner Weise entspreche, und hatte wiederholt den Reichskanzler persönlich zu sprechen verlangt. Prinz Max von Baden war dann an das Telephon gekommen, hatte sich auf Hintzes Anfrage zu der eigenmächtig verfaßten und verbreiteten Erklärung bekannt und erklärte, daß er für sie eintrete.

Er leugnete also garnicht, der geistige Urheber dieses unbegreiflichen Schrittes zu sein, der angebliche, in dieser Form niemals gefaßte Entschlüsse Seiner Majestät ohne dessen Ermächtigung bekanntgab und der meinen eigenen Entschließungen – die bisher überhaupt noch nicht auch nur mit einem Worte zur Diskussion gestanden hatten – zum mindesten leichtfertig vorgriff!

Denn dieses war uns klar: daß bei der erregten und empfänglichen Stimmung von Heimat und Truppe durch das unerhörte Vorgehen des Prinzen der Schein vollendeter Tatsachen geschaffen war, durch den uns der Boden, auf dem wir standen, unter den Füßen fortgenommen werden sollte.

Klarer in unserem Urteil über das, was Seiner Majestät und mir hier widerfahren war, und in der Ansicht über das, was nun nottat, gingen wir wieder in das Kaminzimmer hinüber, in dem sich die anderen Herren inzwischen versammelt hatten.

Eine tiefe Bestürzung über die ungeheuerliche Tatsache ergriff auch sie. Rufe der Empörung und Vorschläge, wie diesem tückischen Streiche zu begegnen sei, mengten sich.

Schulenburg und ich beschworen Seine Majestät, sich der Vergewaltigung durch diesen Staatsstreich unter keinen Umständen zu beugen, der Machenschaft des Prinzen mit allen Mitteln entgegenzuwirken und unbeirrt auf seinem vorher gefaßten Entschlusse zu beharren. Der Graf betonte dabei, daß durch diesen Vorgang die Notwendigkeit für den Kaiser, als Oberster Kriegsherr beim Heere zu verbleiben, nur noch zwingender geworden sei.

Wir fanden bei diesen Ausführungen auch Unterstützung bei General von Marschall und besonders bei dem greisen Generaloberst von Plessen, dessen ritterlich getreues Wesen und dessen altes Soldatenblut die sonst oft allzu vorsichtig gewahrte Form des hohen Hofmannes durchbrach und sich flammend gegen den schmählichen Streich empörte, den man hier gegen seinen Kaiser und gegen dessen ganzes Haus geführt hatte. Von großer Wichtigkeit war es, daß er durch persönliches Rückfragen die Haltlosigkeit einer Grönerschen Behauptung, daß auch die Truppen des Hauptquartieres unverläßlich geworden seien und dem Kaiser einen genügenden Schutz nicht mehr gewährten, erwiesen hatte.

Graf von der Schulenburgs und mein weiterer Vorschlag, uns mit der Niederwerfung der revolutionären Elemente in der Heimat zu betrauen, und unser Anerbieten, zunächst in Köln geordnete Zustände wiederherzustellen, lehnte der Kaiser ab. Er wollte keinen Krieg von Deutschen gegen Deutsche.

Schließlich erklärte er aber wiederholt und mit großer Bestimmtheit, daß er bei seinem Entschlusse, eventuell nur als Kaiser abzudanken, verharre, daß er König von Preußen bleibe und als solcher die Truppen hier nicht verlassen werde. Den Generalen von Plessen und von Marschall sowie Exzellenz von Hintze gab er den Auftrag, dem Generalfeldmarschall von dem Berliner Geschehnis und von seiner Stellungnahme sogleich Meldung zu machen.

Zur Not beruhigt durch die fest wirkende Stimmung meines Vaters, der nun einen klaren Weg durch all diese Wirrnisse und Erschütterungen vor sich zu sehen schien, verabschiedete ich mich von ihm – meine Pflichten als Oberbefehlshaber riefen mich in das Hauptquartier der Heeresgruppe nach Vielsalm.

Ich ahnte nicht, als ich beim Scheiden seine Hand in der meinen hielt, daß ich ihn erst nach Jahresfrist in Holland wiedersehen sollte.

Graf von der Schulenburg verblieb noch weiter in Spa. –

Über die weiteren Vorgänge, die dieser verhängnisvolle 9. November im Großen Hauptquartier von Spa brachte, bin ich nicht durch eigenes Miterleben, sondern durch den Bericht meines Chefs, des Grafen von der Schulenburg, unterrichtet.

Schulenburg, der sich etwa gleichzeitig mit mir vom Kaiser verabschiedet hatte, war danach noch einmal von ihm zurückgerufen worden, und mein Vater hatte ihm wiederholt: »Ich bleibe König von Preußen und danke als solcher nicht ab, ebenso bleibe ich bei der Truppe!« – Im Anschluß hieran wurde die Frage erörtert, wer den Waffenstillstand abschließen solle, da man doch unmöglich die revolutionäre Regierung in Berlin anerkennen konnte. Seine Majestät entschied dahin, daß der Feldmarschall von Hindenburg den Oberbefehl übernehmen und die Verhandlungen verantwortlich führen solle. Am Schluß der Unterredung reichte der Kaiser dem Grafen Schulenburg die Hand und wiederholte: »Ich bleibe beim Heere. Sagen Sie das den Truppen!«

Von Seiner Majestät weg hatte sich Schulenburg in die Wohnung des Generalfeldmarschalls begeben, wo unter Teilnahme auch der Generale Gröner und von Marschall, des Staatssekretärs von Hintze und des Legationsrates von Grünau um halb vier Uhr eine Besprechung der durch die Berliner Aktion geschaffenen augenblicklichen Lage begann. Hierbei wurde von General Gröner erklärt, daß militärische Machtmittel zur Wirkung gegen die in Berlin ausgesprochene Abdankung nicht vorhanden seien. – Auf Vorschlag von Exzellenz von Hintze wurde beschlossen, daß ein schriftlicher Protest gegen die ohne Einwilligung und Genehmigung des Kaisers ausgesprochene Abdankungserklärung aufgesetzt und nach Unterzeichnung durch den Kaiser als Dokument an sicherer Stelle niedergelegt werde. – Bei Besprechung der persönlichen Sicherheit des Kaisers, für die General Gröner jede Verantwortung ablehnte, wurde die Frage gestreift, welchen Aufenthalt der Kaiser wählen könnte, wenn etwa eine Entwicklung der Dinge ihn zwingen sollte, ins Ausland zu gehen. Hierbei war das Wort Holland ausgesprochen worden. – Graf Schulenburg blieb mit seiner Auffassung, daß es ein schwerer Fehler sein würde, wenn Seine Majestät das Heer verließe, allein. Er betonte, Seine Majestät müsse zu meiner Heeresgruppe kommen, der Weg dahin sei frei.

Im festen Vertrauen auf die rückhaltlose Entschlossenheit des Kaisers war Graf von der Schulenburg dann mit seinen Begleitern aus dem Stabe der Heeresgruppe nach Vielsalm zurückgefahren, wo er wegen der gespannten Lage an der Front dringend nötig war.

 

Wie ich bei der Darstellung der Ereignisse des 9. November in Spa zeigte, wurden als Kronzeugnisse für die nach der Ansicht des Ersten Generalquartiermeisters bei der Fronttruppe vorherrschende Stimmung die Aussagen aus einer Versammlung von Frontoffizieren angeführt, denen von Oberst Heye bestimmte Fragen vorgelegt worden waren.

Über die Art und den Verlauf dieses von der O.H.L. direkt berufenen Konziliums gibt ein Schriftstück Auskunft, das ein Generalstabsoffizier der Heeresgruppe, der damals in Begleitung des Grafen Schulenburg nach Spa gefahren war, auf meine Veranlassung niedergeschrieben hat.

Als Schlüssel zu der Stimmung und geistigen Verfassung von Spa und als notwendiges Dokument zum psychologischen Verständnis der Vorgänge sei es hierhergesetzt. Mit Rücksicht auf die Dienstbeziehungen des Offiziers wird sein Name hier fortgelassen.

 


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