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Dezember 1920.

Müldner ist wieder bei mir eingetroffen.

Wie heißt es von dem Vater Noah in der Bibel? »Da aber die Taube nicht fand, da ihr Fuß ruhen konnte, kam sie wieder zu ihm in den Kasten; denn das Gewässer war noch auf dem ganzen Erdboden. Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in den Kasten. – Da harrete er noch andere sieben Tage.«

So bleibt nichts, als das Herz in beide Hände nehmen und in den dritten Winter auf der Insel gehen.

Eine große Freude habe ich erlebt: Besuch! Meine kleine Schwester ist auf dem Rückwege von Doorn auf ein paar Tage auch bei mir gewesen. Wer wissen könnte, was wir einander seit Kindheitstagen sind – der »große Bruder« der kleinen Sissy und umgekehrt – der könnte auch mit uns fühlen, wie viel uns beiden dieses Wiedersehen nach so langen Jahren gegeben hat.

Kaum daß meine kleine Herzogin dann wieder abgereist war, hat auch das Stürmen von der See her eingesetzt. Wüst – ohne Pause durch Tag und Nacht. Gerade daß das Fegen uns das Dach der Pastorie nicht über unseren Köpfen fortgerissen hat. Wie im Großangriff ist der Winter diesmal über uns hergefallen: mit jäh hereinbrechendem Absinken der Temperatur, mit Schneetreiben und harten Frösten und Eismassen in der Zuidersee. Schlimmer noch als der bittere erste Winter unseres Hierseins vor zwei Jahren läßt er sich an.

Jetzt machen schneidend scharfer Nordost und schwerer Eisgang in der See die Verbindung mit dem Festlande beinahe unmöglich. Dazu ist die Telephonverbindung unterbrochen, so daß man richtig abgeschnitten ist von aller Welt.

Und die letzten Nachrichten vom Krankenbette meiner lieben Mutter so bitter trübe, daß man alles befürchten muß. Denk' ich daran, so drängt sich mir wie ein Gebet der Gedanke auf: Nicht jetzt – in diesen Tagen nicht! –

Um drei Uhr, spätestens um vier Uhr ist es dunkle Nacht. Dann sitze ich neben dem kleinen Eisenofen bei der Petroleumlampe vor den Büchern, vor den Papieren.

Wenn ich das Büchergestell mit den Bänden überschaue: Was habe ich nicht alles gelesen und durchgeackert in den beiden Jahren! Mehr als in den sechsunddreißig anderen, die vorhergegangen sind.

 

Während des Krieges waren mein A.O.K. 5 und meine Heeresgruppe oft dos Ziel für Besucher aus der Heimat und aus dem neutralen Auslande. Von einigen dieser Besuche sei hier kurz gesprochen. –

Die deutschen Bundesfürsten kamen häufig, um ihre Truppen zu sehen, und mit manch einem von ihnen konnte ich eingehende Gespräche über die Gesamtlage und über die Verhältnisse in der Heimat führen; häufig genug gingen ihre Mahnungen dahin, jede irgend mögliche Gelegenheit zur Verständigung mit den Gegnern zu suchen, und ich teilte diesen Gedanken durchaus mit ihnen. Es ist sehr zu bedauern, daß die deutschen Bundesfürsten nicht öfter von der Reichsleitung gehört wurden, viele von ihnen haben das Unglück sehr wohl kommen sehen. Der bundesstaatliche Charakter des Deutschen Reiches, den Bismarck stets ängstlich hütete, war leider in den letzten fünfzehn Jahren allzusehr in den Hintergrund gedrängt worden durch die zu große Zentralisation in Berlin. Man übersah, daß gerade der Stolz auf die eigene engere Stammesart den besten Kitt für das Reich bildete.

Von hervorragenden Persönlichkeiten, die aus verbündeten oder befreundeten Staaten als Besucher zu mir kamen, seien erwähnt Enver Pascha, der Kronprinz Boris von Bulgarien, Graf Tisza, Kaiser Karl und Sven Hedin.

Graf Ottokar Czernin war zweimal bei mir, und wir hatten ausführliche politische Gespräche. Ich gewann hierbei den Eindruck, einen vornehmen und klugen Staatsmann vor mir zu haben, der die tatsächlich vorhandenen Verhältnisse klar überblickte und mit ihnen rechnen wollte. Er war, als ich mich im Sommer 1917 in Charleville mit ihm eingehend über die schon recht drückend gewordene Lage besprach, der Ansicht, daß die Doppelmonarchie bereits am Ende der Kräfte angelangt sei, daß sie sich nur durch stimulierende Mittel noch weiter im Kampfe aufrecht erhalte und daß auch für uns die Gipfellinie unserer militärischen Leistungsfähigkeit überschritten sei. So sah er einen kommenden Zusammenbruch vor Augen und wollte diesen rechtzeitig durch größere greifbare Konzessionen an unsere Gegner verhindern. Ein Verständigungsfrieden auf Grund von Hingaben und Opfern von seiten der Zentralmächte war sein Ziel, und aus seinen Worten schien eine gewisse Überzeugtheit davon zu klingen, daß dieses Ziel, wenn die Voraussetzungen gesichert wären, erreicht werden könne. Wir sollten größere Teile der Reichslande an Frankreich abtreten und Kompensationen dafür im Osten finden, wo, auf eine Eingliederung Polens zuzüglich Galiziens zum Reiche hingewirkt werden sollte. Österreich seinerseits wollte nicht nur Galizien preisgeben, sondern auch das Trentino an Italien überlassen. Ich konnte mich angesichts der mir nur allzuwohl bekannten Schwierigkeiten unserer Lage seinen Ausführungen durchaus nicht verschließen, wies ihn aber darauf hin, daß die Vertretung eines Schrittes, wie er ihn vorschlage, in der deutschen Heimat auf völliges Unverständnis stoßen müßte. Die Heimat sah uns siegreich tief in Feindesland stehen, glaubte zum überwiegenden Teile noch an den guten Stand der Dinge – und konnte daher für den Gedanken, altes Reichsland hinzugeben, bloß um zu einem Frieden zu gelangen, nur Abwehr haben. Trotz der Erkenntnis dieser Schwierigkeit und trotz meiner absoluten Skepsis gegenüber der polnischen Kompensationsidee habe ich mich in der Abwägung des großen Opfers, das der Czerninsche Plan von uns forderte, gegen das unabsehbare Unheil, in das wir bei einer unbegrenzten Fortsetzung des Krieges nach meiner Überzeugung gleiten mußten, dem Grafen gegenüber bereit erklärt, im Sinne meiner eigenen Auffassung und seiner Anregung namentlich bei der Heeresleitung nach Kräften zu wirken. – Die Schritte, die Graf Czernin darauf selbst unternahm, brachten ihm keinen Erfolg. Der Reichsleitung erschien das uns zugemutete Opfer zu groß, Bethmann Hollweg schien – wenn ich die Situation recht erkannte – namentlich vor dem Probleme: »Wie bringe ich dem Reichstage, der Heimat die Wahrheit bei?« zurückzuschrecken. Noch weniger Gehör fand der Graf bei der O.H.L., die es, wie General Ludendorff ausführte, für unverständlich hielt, mit ungeschlagenem Heere über die Hingabe alten deutschen Landes, das nach langer Fremdherrschaft mit deutschem Blute zurückgewonnen worden war, zu sprechen. Ich ehre all die Gesichtspunkte, die General Ludendorff in Verfechtung seines Standpunktes ins Treffen führte und die übrigens in seinem Erinnerungswerke nachgelesen werden können: sie kamen aus dem optimistischen Herzen eines prachtvollen Soldaten – sie kamen nicht von einem kühl abwägenden Politiker. Ich für mein Teil suchte das Problem reduziert auf seine einfachste Fassung zu sehen, und die hieß: Prestigefrage um die französischen Teile des Elsaß – oder Existenzfrage für das Reich? So bin ich damals lebhaft für einen Versuch auf dem von Czernin gewiesenen Wege eingetreten – doch ist mein einziger Erfolg der geblieben, daß man mir nachsagte, ich sei zu den Flaumachern gegangen und habe »schlapp gemacht«. –

Holländische, schwedische, spanische, anfangs auch amerikanische Militärmissionen waren häufig unsere Gäste. Manch tüchtiger, sympathischer Offizier war unter ihnen.

Mehrfach auch fanden Abordnungen deutscher Parlamentarier den Weg zu mir, so die bekannten Abgeordneten von Heydebrand, Oldenburg-Januschau, Kämpf, Schultz-Bromberg, Trimborn, Fischbeck, David, Hermann Müller und andere.

Mit dem Mehrheitssozialisten David hatte ich bei solcher Gelegenheit im Sommer 1917 ein längeres interessantes Gespräch. Obgleich unsere Anschauungen naturgemäß keineswegs in allem übereinstimmten, fanden wir doch mancherlei Berührungspunkte. Als ich ihn nach den nächsten Forderungen seines Parteiprogrammes befragte, betonte er die Notwendigkeit eines Gesetzes zur Unterstützung der Arbeitslosen. Meiner Einwendung, daß es doch wohl sehr schwierig werden dürfte, in jedem Falle festzustellen, ob wirklich unverschuldete Arbeitslosigkeit vorliege, begegnete er mit der Versicherung, daß man eine sehr scharfe, jeden Mißbrauch ausschließende Kontrolle einführen werde. Wenn ich jetzt immer wieder von den riesenhaften Summen lese, die das Reich und die Kommunen für die Zwecke der Arbeitslosenunterstützung ausgeben, kommt mir bisweilen jenes Gespräch mit dem Genossen David in Erinnerung. Ob es ihm und den anderen Vätern des Gesetzes wohl gelungen ist, die jeden Mißbrauch ausschließende Kontrolle, von der ihre Theorie träumte, in der Praxis durchzuführen? Ich möchte es wünschen – und muß doch daran zweifeln. Später ist mir dann noch ein kleiner Vorgang aus den Tagen von Davids Reise in das Kriegsgebiet gemeldet worden, eine Episode, die den Abgeordneten als wackeren Mann erkennen läßt: Eine Anzahl von Parlamentariern besuchten einen Frontabschnitt, um die Verhältnisse hinter unserer Linie durch eigenen Augenschein kennen zu lernen. In einem kleinen Orte lagen Landwehr und einige Kolonnen – meist ältere Herren, die dem Kriege nicht mehr viel Reiz abgewinnen konnten. Sie erkannten Herrn David und erklärten ihm, sie wollten nach Hause und nicht mehr kämpfen. Da hat der Sozialdemokrat David ihnen eine forsche Rede gehalten, in der er ihnen sagte, jeder habe seine Pflicht zu tun, und streiken vor dem Feinde gebe es nicht. – Die Rede hat ihre Wirkung nicht verfehlt.

Mit Herrn von Heydebrand hatte ich im Juli 1918 ein Gespräch über die Lage und die Kriegsziele, und ich war dabei betroffen über den Optimismus, mit dem er auch zu diesem Zeitpunkte noch in die Zukunft blickte. Er war geradezu erschüttert, als ich ihm die nackte Wahrheit enthüllte, als ich ihm sagte, daß wir schon seit langer Zeit an der Westfront einen Verzweiflungskampf mit ermüdeten, erschöpften Truppen gegen eine riesige Übermacht führten. Als ich ihm dann genaue Zahlen als Unterlagen für meine Ausführungen nannte, ihm unsere bitter traurige Ersatzlage darlegte, schien er die harte Wirklichkeit, wie sie sich da vor ihm auftat, kaum fassen zu können. Mein Chef hat ihm im Anschluß an meine Aufklärung die Angaben bestätigt und noch weiter ergänzt. – Herr von Heydebrand sagte mir darauf, nach dem, was er jetzt erfahren habe, müsse er bekennen, daß er bisher eine völlig falsche Auffassung von unserer Lage gehabt habe; man habe ihn und seine Partei in Berlin völlig unrichtig orientiert. –

Die Tatsache der zu rosigen amtlichen Orientierung erklärt auch die sonst völlig unverständlichen, oft viel zu weit gesteckten Ziele der infolge ihrer Fehlwünsche so verschrieenen alldeutschen Partei. Sie, wie viele andere, wußte eigentlich nichts von dem tatsächlichen Bilde der Lage. Die Alldeutschen wollten dem Volke Kriegsziele zeigen, für die wir kämpften; Frankreich focht für Elsaß-Lothringen, England um die Vorherrschaft zur See und um sein Handelsmonopol, Rußland um Konstantinopel und um einen Zugang zum eisfreien Meer, Italien endlich um die »unerlösten Provinzen«. Wofür kämpfte Deutschland? Darauf wollte die sogenannte alldeutsche Partei die Antwort geben – und die schlichte Wahrheit: »um seinen Bestand, um sein ungekränktes Dasein, um seine ungeengte Entwicklung!« klang ihr nicht stark genug. Und doch war das die einzig unerschütterliche, die stärkste und würdigste Kampfparole von allen!

Aus Traumländern sind Millionen Deutscher durch die unglücklichen Vorgänge des Jahres 18 in eine grausam harte Wirklichkeit gerissen worden. Ein unvergängliches Beispiel dafür, welche verhängnisschweren Folgen gerade im Kriege die künstliche Züchtung eines unbegründeten Optimismus, einer zu günstigen Beurteilung der allgemeinen Lage mit sich bringt! Ja, ich behaupte, daß der Zusammenbruch in Deutschland niemals zu einer so grausamen Katastrophe hätte werden können, wäre das Volk nicht durch die von ihm für ganz und gar unmöglich gehaltenen schweren Rückschläge an der Front aus allen von den amtlichen Stellen ängstlich gehegten Illusionen gerissen worden. Man hatte doch allgemein geglaubt, es stehe alles sehr schön – und man erkannte nun, daß man von einem Patjomkinschen Dorf der Stimmungsmache genarrt worden war. So fest war dieser gedankenlose, nebelhafte Optimismus den Gehirnen aufgezwungen worden, daß sich die müden Menschen selbst in Zeiten schwerster Spannung in ihn flüchteten, daß die Wenigsten nur die Kraft und den selbständigen Mut hatten, sich die Folgen einer möglichen Niederlage klar vor Augen zu stellen. Und doch haben sicher gerade diese dann die stärkere Widerstandskraft aus einer solchen inneren Auseinandersetzung mit letzten bitteren Möglichkeiten gewonnen – denn sie haben dabei erkennen gelernt, daß jede äußerste Anstrengung dem Kampfe und dem Siege gelten, daß das Unterliegen Vernichtung bedeuten mußte.

Der auf einem Denkfehler ruhende Mangel an Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit der Heimat gegenüber, der manchen Herrn der hierfür verantwortlichen Stellen in Fleisch und Blut übergegangen war, hat sich schwer gerächt. Nicht mit dem einschläfernden Opiate ewiger Beruhigungen, daß alles zum besten stehe, spannt man die Leistungen des Einzelnen wie eines ganzen Volkes zu ihrer letzten Höhe an. Stärker wirkt der ehrliche Hinweis darauf, daß Ungeheures in einem Kampf um Leben oder Sterben zu vollbringen ist, daß dieser Kampf sich härter als irgend einer gestaltet, den ein Volk je durchrungen hat – daß bei dem Auf und Nieder seiner Phasen kein Nerv nachlassen, keine Seele lässig werden darf, soll nicht alles verloren gehen. Den klaren Blick in die Folgen einer etwaigen Niederlage hätte man der Heimat nicht vorenthalten, die ganze Furchtbarkeit des Ringens an den Fronten hätte man ihr nicht durch eine falsche Geheimnistuerei im Fall von Mißerfolgen verschminken dürfen.

Ich rede da gewiß keiner trübseligen Flaumacherei das Wort – aber einer Auffassung, nach der dem deutschen Volke von Anfang an die Ehre gegeben werden mußte, es für mündig und reif genug zu nehmen, daß es die ganze harte Wahrheit sehe und sein Herz an ihrem Anblicke stähle!

Was ich meinen Truppen hundert und hundert Mal zugerufen habe: »Kameraden, es steht hart und bitter schwer. Es geht um Leben oder Sterben für euch und für das alles, was wir Deutsche haben. Ob wir durchkommen werden, weiß ich nicht. Aber allen Glauben habe ich an euch, daß keiner den anderen und das Ganze im Stiche läßt. Und es gibt keinen anderen Weg – darum vor – mit Gott für Kaiser und Reich! für alles, was ihr liebt und nicht zertreten sehen wollt!«, das etwa in der Anwendung auf unsere jeweilige Lage hätte auch die Heimat immer wieder hören müssen.

Man hat es vorgezogen, die Wahrheit zu rationieren. Der Erfolg war, daß die Hungernden gierig nach Gerüchten und Legenden als Ersatz für das ihnen Vorenthaltene haschten, daß Mißtrauen und zersetzende Zweifel groß geworden sind. Schon bei der ersten Marneschlacht hat diese falsche Taktik eingesetzt – wir sind sie bis zum Zusammenbruch nicht los geworden.

Nicht der deutschen Presse darf die Schuld an der falschen Orientierung ihrer Leser zugeschoben werden – die Wurzel des Übels lag dort, wo der deutschen Presse das Material zugewiesen wurde. Den ehrlichen Drang nach Wahrheit haben die Zeitungen aller Richtungen in diesen Jahren wohl durchweg gehabt – daß dabei parteimäßige Färbungen und Eigenbröteleien mitspielen konnten, versteht sich von selbst. Während des Krieges haben mir führende Vertreter aus den verschiedensten Richtungen der deutschen Presse und namentlich Kriegsberichterstatter, die meine Gäste waren und die ich bei der kämpfenden Truppe immer wieder traf, oft genug darüber geklagt. daß sie nicht so über die Dinge schreiben dürften, wie sie ihnen hier vor Augen stünden, das heißt, daß sie ihren Lesern nur einen Teil der Wahrheit sagen und nicht den ganzen Ernst der Lage darstellen könnten. Bittere Nachrichten würden am liebsten ganz zurückgehalten. Dazu wüte der Rotstift, namentlich in Zeiten kritischer Vorgänge an der Front, in den Depeschen und Berichten, und was so am Ende stehen bleibe, das sehe oft genug ganz anders aus als das, was im Zusammenhange gemeldet wurde.

Die Zensur hat durch ihren Einfluß auf diese Berichte unmittelbarer Augenzeugen viel und schwer an der Heimat gesündigt.


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