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Juni 1919.

Morgens Briefe geschrieben.

Dann nach dem Frühstück zwei Stunden drüben in der Schmiede vor dem Amboß. – Der Luijt erzählt, daß ihm ein Amerikaner für ein Hufeisen, das ich geschmiedet habe, fünfundzwanzig Gulden geboten hätte; ob er ihm eins geben dürfe? Die Menschen sind doch unveränderlich bereit, unsereinem den Größenwahn zu suggerieren – sogar wenn wir fern ihrem Jahrmarkt auf einer kleinen Seegrasinsel sitzen. Früher haben sie meine fortgeworfenen Zigarettenstummel aufgelesen, und jetzt bietet ein Snob eine Summe, mit der man in der Heimat einem armen Menschen aus dem Elend helfen könnte, für ein Stück Eisen, das ich unter meinem Hammer hatte. Mich wundert's nicht, daß mancher so geworden ist, wie er bei diesem Kult am Ende werden mußte! Nein: unsereiner ist nicht immer allein schuld daran.

Von Luijt weg bin ich an den Strand gegangen – die Kleider 'runter – und dann in die See.

Wie einem das für eine Weile das Elend aus der Seele wäscht und diesen ganzen Kram vergessen läßt!

Mittags habe ich meinem guten Kummer, der hier eine Zeitlang bei mir ist, die Geschichte mit dem Amerikaner erzählt. Er ist Feuer und Flamme: »Fünfundzwanzig Gulden? Bei der Valuta?! Ich täte den ganzen Tag egal weg Hufeisen für die Brüder machen!«

Nach Tisch Durchsicht der alten Aufzeichnungen aus den Kämpfen von Verdun und Arbeit an der Darstellung für das Buch. Spaziergang mit Kummer.

Und jetzt ist wieder Abend.

Ein neuer Tag herum – wie lange noch?!

Im tannenumrauschten Gelbensande, dem Witwensitze der Großherzogin Anastasia Michailowna von Mecklenburg, verlobte ich mich an einem mir unvergeßlich schönen Sommertage des Jahres 1904 mit Cecilie Herzogin zu Mecklenburg. Noch nicht achtzehn Jahre war sie damals alt, stand in der ersten Jugendblüte und war voll Frohsinn und Heiterkeit. Die Jahre ihrer Kindheit an der Seite ihrer zwar etwas eigenwilligen, aber liebevollen und schönen Mutter waren voll ungetrübten Glückes für sie gewesen.

Als mir meine junge schöne Frau an einem strahlenden Junitage des folgenden Jahres ihre Hand fürs Leben reichte, ist sie wie auf Rosen in das neue Leben in Berlin eingeschritten, umjubelt von vielen Tausenden, getragen von der Liebe und Sympathie eines ganzen Volkes. Als ich an jenem Tage mit meiner 2. Kompanie die Linden herunter zum Schloß zog, um die Ehrenkompanie zu stellen, hat mich die warmherzige Anteilnahme all der vielen Menschen tief bewegt. Dazu bot die Stadt mit den fröhlichen Gesichtern, den vielen hübschen Mädeln und all und überall den Rosen ein unvergeßlich schönes Bild. Meine Grenadiere fühlten sich natürlich als völlig zur Familie gehörig und schritten stolz und stramm daher.

Ein gütiges Geschick hat es gefügt, daß meine Wahl frei von einengenden politischen oder dynastischen Rücksichten auf die Frau fallen konnte, der ich von Herzen zugetan war und die auch mir gern ihre Hand gegeben hat. Wir haben uns in echter und aufrichtiger Zuneigung zu einander gefunden.

Soll ich zu all dem Törichten, das über meine Ehe geredet und geschrieben worden ist, überhaupt etwas sagen? – Wenn sich die guten Leute, die so »glänzende Beziehungen« und durch sie so »intime Einblicke« und »sichere Nachrichten« haben, doch weniger wichtig tun wollten! – Wie wir beide, meine Frau und ich, zu einander stehen, das wissen nur wir. Aber das kann ich verraten: Wenn in den Zeitungen mehrfach zu lesen war: »Die Scheidung des Kronprinzenpaares nahe bevorstehend«, dann hat das auf uns beide nur fröhlich erheiternd gewirkt: Was doch die Herrschaften Bedarf an Sensationen haben!

Meiner Frau aber kann ich nur aus tiefem Herzen dafür danken, daß sie mir als bester und als treuester Freund und Kamerad zur Seite gestanden hat: eine fürsorgende Gattin und Mutter, nachsichtig und gütig verzeihend gegen manche meiner Fehler, voll Verstehen für das, was ich bin, unbeirrt zu mir haltend im Glück wie im Unglück.

Sie hat mir sechs liebe und gesunde Kinder geschenkt, auf die ich aus tiefem Herzen stolz bin und zu denen meine Sehnsucht immer geht, so oft ich hier einem der kleinen Fischerjungen über die flachsgelbe Bürste streiche. Mögen meine vier Jungen einst brave deutsche Männer werden, die ihre Pflicht im Dienste für das Vaterland erblicken – als echte Hohenzollern!

Auch während der qualvoll schweren Zeit nach Deutschlands Zusammenbruch hat meine liebe Frau in vorbildlicher Treue und Tapferkeit auf ihrem Posten ausgehalten und sich in hundert schwierigen Lagen als die kraftvolle, vornehme Natur bewährt, als die ich sie liebe und verehre.

Ein »Kriegserlebnis« gibt es aber doch in unserer Ehe!

Die Kronprinzessin hat mich 1915 einmal für zwei Tage in meinem Hauptquartier in Stenay besucht. Am Morgen des zweiten Tages um vier Uhr früh begann ein französischer Fliegerangriff, der sich offenbar lediglich auf mein Haus richtete, das damals noch keinen bombensicheren Keller oder Unterstand hatte. Ein Volltreffer hätte sicher ganze Arbeit gemacht. Der Angriff dauerte zwei Stunden. In dieser Zeit warfen vierundzwanzig Flugzeuge ihre Bomben rings um das Haus – gezählt wurden einhundertundsechzig Bomben. Mehrere von ihnen schlugen nur wenige Meter von dem Hause entfernt ein, sie forderten leider eine Anzahl von Menschenleben. Es war der schwerste Fliegerangriff, den ich bis dahin erlebt hatte. Auch bei dieser Nervenprobe erwies meine Frau ihren Mut und ihre gefaßte Ruhe. Prachtvoll hat sie sich gehalten!

 

Im Anschluß an meine nun bereits dreijährige Lehrzeit und Dienstzeit als Kompaniechef im 1. Garde-Regiment zu Fuß sollte ich nun eine Eskadron bekommen. Ich bat Seine Majestät durch Exzellenz von Hülsen, mir eine Schwadron des Regiments Gardeducorps anzuvertrauen. Seine Majestät wollte mich zu den Leib- Garde-Husaren tun. Schließlich gab der Kaiser nach; er kommandierte mich im Januar 1906 zur Führung der Leib-Eskadron des Regiments Gardeducorps, verlieh mir aber nicht die schöne Uniform des Regiments, sondern bestimmte durch eine besondere Kabinettsorder, daß ich die Uniform der 2. Kürassiere Königin tragen sollte.

Hier in dem neuen Kommando fanden meine reiterlichen Passionen wieder ein weites Tätigkeitsfeld, und ich denke mit tiefer Genugtuung der herrlichen Zeit, in der ich diesem stolzen Regiment angehörte, dessen ruhmvolle Tradition mit der Geschichte des brandenburgisch-preußischen Staates und seiner Gründer so eng verknüpft ist. Daß es keine Paradetruppe war, das hat das Regiment am Tage von Zorndorf ebenso bewiesen wie in dem gewaltigen Ringen des Weltkrieges. Eine wehmütige Freude war es für mich, gerade jetzt vor wenigen Tagen ein liebes Zeichen dafür in Händen zu halten, daß die alten Getreuen der Leib-Eskadron ihren Schwadronsführer von einst auch im Unglück nicht vergessen haben: zu meinem Geburtstage, zum 6. Mai, fand ein kleines Album mit den Unterschriften der Offiziere und Gardeducorps der alten Eskadron seinen Weg auf meine stille Insel. – Der Offiziere und der Gardeducorps – – Wie viele Namen da fehlen! Im Osten und im Westen ruhen ihre tapferen Träger. Meine Gedanken ziehen zu ihnen und grüßen sie. –

Eine Bemerkung über mein Kommando zur dritten Hauptwaffe, der Artillerie, sei, wenn es auch zeitlich später fällt, hier eingeschaltet. Um mich auch mit ihr vertraut zu machen, wurde ich im Frühjahr 1909 mit der Führung der Leibbatterie des 1. Garde-Feldartillerie-Regiments beauftragt. Ich habe mich im Kreise dieses dienstlich wie kameradschaftlich ausgezeichneten Regiments besonders wohl gefühlt und gedenke mit aufrichtiger Dankbarkeit der Unterstützung meines getreuen Mentors, des Majors Grafen Hopfgarten, und seiner vielseitigen Anregungen in allen artilleristischen Fragen.

Schon damals schien mir übrigens die Verwendung, teilweise auch das Schießverfahren unserer Feldartillerie im Vergleiche mit den Bestimmungen der Franzosen in einigen Punkten rückständig zu sein. Die Erfahrungen des Krieges haben rund fünf Jahre später gezeigt, daß die französische Armee in der Entwicklung dieser Waffe in der Tat einen starken Vorsprung vor uns gewonnen hatte. Das Artilleristisch-Technische war bei uns gegenüber dem Reiterischen in den Hintergrund gekommen: die Kanone hatte dem Pferde zuviel Vorrechte eingeräumt.

Aus den Reihen des Regiments erbat ich mir damals den Hauptmann von der Planitz als persönlichen Adjutanten. Als Abteilungsführer ist dieser ausgezeichnete und reich gebildete Offizier, der mir als aufrechter und vornehmer Mann und als langjähriger treuer Begleiter und Berater in stets dankbarem Angedenken bleiben wird, in Flandern den Heldentod gestorben. –

 

Durch die Zeitungen geht ein Bericht, der angeblich von einem Augenzeugen der Ermordung des Zaren Nikolaus stammt und der all das schreckliche Geschehen um sein blutiges Ende enthüllt.

Früh morgens habe ich diese in ihrer kalten Sachlichkeit doppelt grauenvolle Schilderung gelesen, und den ganzen Tag über, während draußen der endlose Regen niederrann, sind meine Gedanken dann immer wieder zu Erinnerungen an den armen Mann zurückgekehrt. Zu ihm und zu den Menschen, die um ihn waren, als ich ihm nahetrat die beiden Male, da ich sein Gast in Rußland war, und jenes dritte Mal, als er bei uns in Berlin zu Gaste war.

Jetzt, da ich diese Zeilen als den Bodenschlag meines Erinnerns an ihn niederschreibe, ist es Nacht.

Als ich den Zaren Nikolaus zum erstenmal in Petersburg sah – es war im Januar 1903, und ich war damals zum Fest der Wasserweihe entsandt – stand er auf der Höhe seiner Macht. Der Hof und die Truppen verliehen dem Feste einen ungemein glänzenden Rahmen. Der Zar selbst aber, der im Grunde eine einfache, schlichte Persönlichkeit war und sich im engeren Umgang herzlich und ungezwungen gab, machte in seinem öffentlichen Auftreten einen unsicheren, ich möchte fast sagen ängstlichen Eindruck. Die wunderschöne Kaiserin Alexandra war in dieser Richtung keine Stütze für ihn, da sie selbst peinlich verlegen, fast menschenscheu war. Ganz im Gegensatze zu ihr verkörperte die Kaiserin-Mutter Marija Feodorowna vollständig das Bild der Majestät und der großen Dame, und sie besaß damals auch den vorherrschenden Einfluß in der Petersburger politischen und Hof-Gesellschaft. Besonders auffallend war es, wie wenig der Zar es verstand, sich im Kreise seiner Familie, also bei den Großfürsten und Großfürstinnen, die ihm gebührende Würdigung zu verschaffen. Als zum Beispiel vor einem Diner die Gesellschaft versammelt war und das Zarenpaar eintrat, nahm kaum eines der Familienmitglieder hiervon Notiz. Eine geradezu herausfordernde Lässigkeit trug bei solchen Gelegenheiten der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch zur Schau, der mir gegenüber auch seine Abneigung gegen alles Deutsche im Gespräch ziemlich deutlich zum Ausdruck brachte. Vergebens suchte ich damals in der Petersburger Gesellschaft nach Spuren der alten Freundschaft zwischen Preußen und Rußland. Englisch und Französisch waren die Umgangssprachen dieser Schicht, für Deutschland hatte niemand Interesse – mehrfach stieß ich sogar auf offene Abneigung. Nur bei zwei Männern fand ich damals starke Neigung zu Deutschland, bei dem Hofminister Baron Fredericks und bei dem wenige Jahre später in den Grafenstand erhobenen Sergei Juliewitsch Witte. Mit Witte hatte ich ein langes Gespräch, das sich um die Frage eines neuen deutsch-russischen Handelsvertrags drehte und in dessen Verlauf der weitsichtige Finanz- und Wirtschaftspolitiker stark betonte, daß Rußlands gesunde Zukunft nach seiner Meinung vom engen wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland abhänge.

Die Furcht vor Attentaten war am Hofe sehr groß. Unter den vielen Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen, die ich überall getroffen sah, machte mir eine, auf die ich stieß, als ich dem Zaren eines Abends spät noch einen kurzen Besuch machen wollte, damals einen tiefen Eindruck: Auf dem Fußboden des Vorsaales zu seinen Privatgemächern war schachbrettartig, so daß niemand passieren konnte, der gesamte Leibkonvoi des Kaisers, etwa hundert Mann, gelagert. Es entstand ein wahrer Alarm und große Aufregung bei meinem unerwarteten Eintritt.

Im Kreise seiner engeren Familie war der Kaiser wie umgewandelt: ein fröhlicher, harmloser, liebenswerter Mensch, der zärtlich an seiner Frau und an den Kindern hing. Auch von der Kaiserin fiel hier jene Nervosität und Unrast, die sie in der Öffentlichkeit beherrschten, sie zeigte sich als liebe, warmherzige Frau und bot zwischen den jungen gut erzogenen Mädchen ein Bild der Anmut und Schönheit. Ich habe reizende Stunden dort verlebt. Das zweite Mal waren meine Frau und ich nach Zarskoe Selo eingeladen. Hier hätte man sich wie bei einem reichen Privatmann auf dem Lande fühlen können, wäre man nicht auf Schritt und Tritt durch die polizeilichen und militärischen Sicherheitsvorkehrungen daran erinnert worden, daß man sich bei einem Herrscher zu Gaste fand, der seinem eigenen Volke nicht traute. Zarskoe liegt in einem großen Park. Außerhalb des Parkgitters war ein Kordon von Kosaken postiert, die Tag und Nacht hin und her trabten und alles überwachten. Im Park standen ungezählte Posten, ja selbst im Schloß stieß man überall auf Doppelposten mit aufgepflanztem Seitengewehr. Ich sagte damals zu meiner Frau, man fühle sich da wie in einem Gefängnis, und ich würde es lieber darauf ankommen lassen, eines Tages durch eine Bombe in die Luft zu fliegen, ehe ich ein solches Leben auf die Dauer ertrüge.

Eine qualvolle Autofahrt ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Der Kaiser wollte uns das Palais an der See zeigen, und wir fuhren im geschlossenen Auto los. Es war seit Monaten das erste Mal, daß der Kaiser Zarskoe verließ. Die Fahrt dauerte etwa vier Stunden. Der Eindruck war trostlos und tief bedrückend. Alle Ortschaften, durch die wir kamen, wie ausgestorben: es durfte sich kein Einwohner auf der Straße oder in den Fenstern blicken lassen – nur Soldaten und Polizei. Unheimliche Stille, ein tief beklemmender Druck über allem. Nein – das war kein Leben des Lebens wert, wenn man sich so verstecken mußte.

Auch an einer großen Parade nahmen wir teil. Die Gardetruppen sahen glänzend aus; sie haben sich ja auch später im Kriege, ihrer alten Tradition getreu, glänzend geschlagen. Einen ungemein malerischen Eindruck machten die verwegen aussehenden Don-, Ural- und Transbaikal-Kosaken auf ihren kleinen struppigen Pferden.

Die Aufnahme im Familienkreise war, wie das erste Mal, ganz ungewöhnlich warm und herzlich. Stundenlang bin ich mit dem Zaren im Kanoe auf den Kanälen herumgefahren, und über manches politische Thema haben wir eingehend gesprochen. Dabei kam ich zu der Überzeugung, daß er an sich wohl aufrichtige Sympathien für Deutschland hegte, daß er aber zu schwach war, als daß er den Einflüssen der großen deutschfeindlichen Partei wirksam hätte entgegentreten können. Die Kaiserin-Mutter und der Großfürst Nikolai – beide ausgesprochene Gegner Deutschlands – hatten die Übermacht.

Zar Nikolaus war nach meinem Urteil nicht eine Persönlichkeit, wie Rußland sie auf dem Throne gebraucht hätte. Ihm fehlten Entschlossenheit, Mut und Fühlung mit seinem Volk. Als einfacher Landedelmann wäre er vielleicht ein glücklicher Mensch geworden und hätte viele Freunde gehabt; die Eigenschaften, die notwendig sind, um ein Volk zur Höhe der Entwicklung seiner Kräfte zu führen, hat er nicht besessen – und vielleicht hat sein zaghaftes Gemüt über die Umrisse solcher Eigenschaften kaum nachzudenken gewagt.

Tief tragisch erschien uns schon damals der schwächliche und immer kränkelnde kleine Thronfolger Alexej Nikolajewitsch. Von einem riesigen Matrosen wurde er gewöhnlich wie ein kleines, wundes Tier getragen – und war doch schon acht oder neun Jahre alt. Mit einer von Angst durchsetzten, ewig zitternden Zärtlichkeit hingen die beiden Eltern an dem armen, lebensunfähigen Spätling ihrer Ehe, der dereinst Rußlands Zarenkrone tragen sollte. –

Vorbei – in Blut und Grauen erloschen auch dieses kleine, mühsam flackernde Leben!

 

Nachdem ich wieder zweiundeinhalb Jahre als Soldat Dienst getan hatte, drängte es mich lebhaft, an der Weiterbildung meiner noch recht lückenhaften Kenntnisse auf staatsmännischem und volkswirtschaftlichem Gebiete zu arbeiten. Wünsche in dieser Richtung, die ich auch in den letzten hingegangenen Jahren schon mehrfach zum Ausdruck gebracht hatte, waren ohne Berücksichtigung geblieben. Der Vorgang war auffallend, denn die Geschichte unseres Hauses zeigt, daß der jeweilige Herrscher die rechtzeitige Heranbildung des Kronprinzen für seinen künftigen Beruf stets als eine besonders hohe Pflicht seines ihm verliehenen Amtes aufgefaßt hatte. So fühlte ich mich hier beiseite geschoben und ferngehalten von der geistigen Erfassung und Durchdringung eines weiten Arbeitsgebietes, dessen Beherrschung für mich notwendig war. Ich kann ohne Übertreibung sagen, daß ich um die Zulassung zu jenen Stellen, an denen sich mir dieses unentbehrliche Wissen erschließen konnte, zäh und unnachgiebig ringen mußte.

Mit umso größerer Freude begrüßte ich daher im Oktober 1907 meine vom Kaiser endlich genehmigte Kommandierung zur Information beim Oberpräsidium in Potsdam, beim Ministerium des Innern, beim Finanzministerium und beim Reichsmarineamt. Mit meiner Einführung in die Fragen der auswärtigen Politik, die vor mir gerne ein wenig geheimnisvoll, als sei das eine Art geheimer Kunst, behandelt wurden, sollte bis zu einem späteren Zeitpunkt gewartet werden. Zunächst aber sollte mir auch die Möglichkeit gegeben sein, durch den Besuch von Vorträgen über Maschinenbau und Elektrotechnik auf der Technischen Hochschule in Charlottenburg größeres Fachwissen auf diesen von mir stets mit besonderem Interesse beobachteten Gebieten zu erwerben.

Damit war gegenüber dem bisher gepflegten Zustande doch alles Mögliche für mich erreicht: Türen, die man bislang mit Abwehr vor mir verschlossen gehalten hatte, standen meinem Wissenswillen endlich offen.

Meine informatorische Beschäftigung in den Ministerien, die mir durch eine an diese Stellen gerichtete Weisung meines Vaters, mir auf meine Anfrage jede gewünschte Auskunft zu erteilen, sehr erleichtert wurde, führte mich rasch zu einer lebhaften Beschäftigung mit den großen Fragen der Zeit und ihren internationalen Zusammenhängen. So kam ich zunächst zu eingehendem Studium der heimischen und ausländischen Presse.

Der Puls unseres Lebens ist die Zeitung – in ihr hämmert der Herzschlag der Zeit. Ruhe wie Spannung, Mattheit wie Fieber finden in ihr Wirkung und Ausdruck, werden unter Umständen durch sie für den, der für das Wohl des ganzen Organismus sorgen soll, zu mahnenden, warnenden Stimmen. Damals, in jenem Studienjahre, war es mein erster bescheidener Gewinn, daß ich diese Bedeutung der Zeitung für den, der hören, sehen und erkennen will, klar einschätzen lernte. Für den, der hören, sehen und erkennen will – der sich nicht etwa aus einer selbstgewählten oder aufgedrängten Vogelstrauß-Psychologie manchen Zeichen verschließt.

Ich hatte natürlich auch vor diesem Studienjahre Zeitungen gelesen – was man bei uns so Zeitungen lesen nannte. Hauptsächlich also Blätter konservativer Richtung oder freundlich gesinnte farblose Nachrichtenblätter. Immerhin hatte ich sie wenigstens unzerschnitten aufgenommen. Jetzt durchackerte ich täglich das ganze Feld von der »Kreuzzeitung« bis zum »Vorwärts«, und oft wanderten angestrichene Artikel mit der Bitte um Aufklärung und Erläuterung an die betreffenden zuständigen Stellen.

So ergaben sich auch in bezug auf kulturelle oder innerpolitische Einzelfragen für mich bald Gesichtspunkte, die mich die Probleme wesentlich anders sehen ließen, als Seine Majestät sie auf Grund der ihm zugänglich gemachten Pressestimmen und der ihm erstatteten Vorträge sah. Der Witz der Weltgeschichte hatte sich grotesk verkehrt: Der König war nach einem Materiale » ad usum delphini« orientiert – und der Dauphin schöpfte sein Wissen aus dem Vollen des Lebens. Auf Grund dieses breiteren Einblickes in die Triebkräfte der Massen und der Zeit erschienen mir viele von den Grundideen, an denen der Kaiser und seine Regierungsmethode festhielten, wurzellos geworden und nicht mehr vereinbar mit dem Geiste einer auch neuzeitliche Erscheinungen und Entwicklungen weise in Rechnung stellenden Monarchie.

Ein Staatswesen, das mir um diese Zeit neben dem deutschen besonderes Interesse bot, war das englische. In England war ich immer wieder herumgekommen, und über Englands politische Struktur, in der ich manchen auch für unsere jüngere Entwicklung geltenden Zug erkannte, hatte mir mein Großonkel König Eduard in manchen Stunden der Aussprache, in liebevollem Eingehen auf das mich lebhaft fesselnde Gebiet, viel erzählt. Wenn ich mich dieser für mich unvergeßlichen Unterhaltungen, die ich damals völlig naiv als ein junger Schüler eines erfolgreichen Meisters und väterlichen Freundes hingenommen habe, heute erinnere, will es mir scheinen, als habe mir der König damit mehr als eine bloße Belehrung über die Zustände in England geben wollen. Als habe der in dieser Art geniale Mann sehr wohl erkannt, daß die Ideen, in deren Zeichen die beiden ersten Jahrzehnte der Regierungszeit meines Vaters standen, sich von der Linie entfernten, auf der der Monarchismus in Deutschland sich entwickeln mußte, wenn er die fest gefügte, organische Krönung des staatlichen Baues bleiben wollte – und als habe er mich mit klar bewußtem Willen auf diesen Gefahrpunkt hingewiesen: um mich zu warnen, um mich schon an der Schwelle meiner politischen Bahn für andere, bessere Wege zu gewinnen.

Was mir mein alter Großonkel so aus der Fülle seiner Beobachtungen und Erfahrungen gab, habe ich gerne aufgenommen und in mir entwickelt. Dieser Besitz hat jedenfalls auch mit teil daran, daß ich im Zusammenhange mit meinen Ansichten über die Regierungsmaximen Seiner Majestät eine starke Neigung zu jenem System empfunden habe.

Besonders tiefe und anregende Eindrücke empfing ich in dieser Zeit begierigen Lernens beim Reichsmarineamt durch dessen Leiter, den Admiral von Tirpitz. In ihm erschloß sich mir eine wirklich überragend große Persönlichkeit, ein Mann, der nicht stur auf das engere Feld seiner Aufgaben und Pflichten starrte, sondern das Ganze bis in seine weltpolitischen Fernen und Wirkungen sah und dem Ganzen mit allen reichen schöpferischen Kräften seines umfassenden Könnens diente.

Das große Werk der Schaffung einer deutschen Kriegsflotte war ihm vom Kaiser anvertraut, und sein Leben, Denken und Tun war erfüllt allein von dem Drang und Willen, die ungeheure Aufgabe trotz aller äußeren und inneren Widerstände zum Wohle des Reiches zu meistern. Wie sehr ihm das gelungen ist, dafür wird ihm die Schlacht am Skagerrak ein ewiges, ehrendes Zeugnis und Denkmal bleiben – Skagerrak, wo die von ihm geschaffene und von seinem Geiste getragene deutsche Flotte ihre Feuertaufe gefunden und im Kampfe mit der vielfach stärkeren ersten Flotte der Welt glänzend bestanden hat. Deutschland hatte damals allen Grund, auf den herrlichen Angriffsgeist und die vorbildliche Disziplin seiner blauen Jungens stolz zu sein.

Nur in einer grundlegenden Frage war ich in jenem Jahre der Zusammenarbeit anderer Ansicht als der Großadmiral. Er hielt daran fest, daß der Kampf mit England um die Freiheit der Meere einmal ausgetragen werden mußte, und sein Ziel war der »Risikogedanke«, das will sagen: er trat dafür ein, unsere Flotte so stark zu gestalten, daß den Engländern ein etwaiger Kampf gegen uns als ein zu schweres Wagnis erscheinen mußte, weil für sie alsdann ein zu großer Einsatz auf dem Spiele stand. Ein Einsatz, der nicht erfolgen konnte, ohne daß im Verlustfalle die englische Seeherrschaft als Ganzes in Frage gestellt würde. Der grundsätzlichen Idealität dieses defensiven Gedankens habe ich mich nicht verschlossen, in Berücksichtigung unserer politischen und wirtschaftlichen Lage aber schien er mir in dieser Form, die uns allein zum großen Abwehrrivalen Englands zur See aufrüsten wollte, nicht bis zum Ende durchführbar. Ich stand vielmehr auf dem Standpunkt, daß der »Risikogedanke« nur dann gesund und stark zu einer tatsächlichen Kräftebalance zur See ausreifen könne, wenn das gegen England gedachte Gegengewicht von uns gemeinsam mit einer verbündeten Großmacht getragen würde, deren Landstreitkräfte damit für keine gegnerische Kombination in Betracht kamen, deren Flotte aber als Addend neben unserer eigenen Flotte eine Kräftesumme von jener angestrebten, Achtung und Zurückhaltung gebietenden Höhe ergeben würde. Auf diesem Wege konnte, wenn er sich irgendwie als gangbar erwies, nicht nur eine außerordentliche Erleichterung unserer maritimen Rüstungslast herbeigeführt, es konnte so auch leichter der große Gefahrpunkt des ganzen Problems: die Erstickung unserer Kräfte zur See vor Erreichung des Zieles, überwunden werden. Denn diese Ansicht habe ich schon damals klar vertreten und später immer wieder zum Ausdruck gebracht: daß die Engländer das volle Ausreifen unseres Risikogedankens garnicht erst abwarten, sondern ihre Politik folgerichtig fortsetzen und unsere von ihnen mit dem größten Mißtrauen beobachtete Flotte vernichten würden, ehe sie sich zu dem ihnen ebenbürtigen oder im Sinne der Risikotheorie gefährlichen Gegner entwickeln konnte.

Daß der Wille zu einem solchen radikalen Vorgehen in der Tat eine Zeitlang bestanden hat, das wurde mir erst in den jüngsten Tagen wieder durch die Lektüre des Buches des englischen Admirals Fisher bestätigt. Der sagt da mit einer geradezu verblüffenden Offenheit: »Bereits im Jahre 1908 schlug ich dem Könige vor › to Kopenhagen the German fleet‹« – auf gut deutsch: die deutsche Flotte (so wie einst die dänische auf der Reede von Kopenhagen) im Frieden zu überfallen und zu vernichten, solange das noch ohne allzu große Umstände möglich sei.

All meine erwähnten Bedenken mußten angesichts der durch unsere politische Isolierung geschaffenen Lage – Erwägungen und Bedenken bleiben. Einen Verbündeten, dessen Flotte für eine Bindung mit der unsrigen zur gemeinsamen Abwehreinheit in Frage gekommen wäre, besaßen wir nicht. Auch der von Tirpitz stets erstrebte Anschluß an Rußland hätte ihn uns nicht gebracht.

Nachdem die verschiedenen Versuche, in der Flottenfrage zu einer Verständigung zu kommen, in nichts zerronnen waren, war der Augenblick – der letzte Augenblick! –, der deutschen Flotte mit einiger Aussicht auf Erfolg an den Kragen zu gehen, für England mit der im Jahre 14 gegebenen Kriegsgelegenheit gekommen. Auch die Fassade wirkte tadellos: man hatte bindende Verträge zu erfüllen und trat als reiner Held und Schützer aller kleinen Völker auf.

Bei all dem ist es natürlich nicht das Flottenproblem an sich, das England diese Gelegenheit erfassen und in den Krieg gegen Deutschland eintreten ließ. Seemacht ist Weltmacht; unsere Flotte war der Schutzschild unserer Weltwirtschaft – nicht dem Schilde, sondern den Werten, die er deckte, galt der sicher nicht gerne gewagte Kampf. Die motorischen Energien, die jenseits des Kanals nach Krieg und Austrag drängten, waren die gleichen, die vorher unsere wirtschaftliche Einkreisung bewirkt hatten, und entwuchsen dem Existenzkampfe Englands gegen den ungeheuren Auftrieb der deutschen Industrie, des deutschen Handels. Jene wirtschaftliche Abschnürung der Vorkriegsjahre hatte ihren Zweck nicht erreicht, die deutsche Expansion ging weiter. Damit ließ England den Versuch, um den Krieg herumzukommen, fallen – der letzte Austrag mußte kommen. Kein Kenner der Verhältnisse konnte daran zweifeln, daß England eine so gute Gelegenheit, wie sie ihm durch unsere Behandlung des österreichisch-serbischen Konfliktes geboten wurde, nach Kräften nutzen werde. Nur Mangel an politischem Blick und staatsmännischem Instinkt konnte das übersehen und auf eine Neutralität Englands hoffen – wie Bethmann Hollweg das tat.

Als wir dann einmal im Kriege mit England standen und unserer Flotte über die defensiven Aufgaben hinaus, für die sie geschaffen war, weitere offensive Ziele erwuchsen, war es ein verhängnisvoller Fehler, dem Großadmiral von Tirpitz, der das von ihm geschmiedete Instrument kannte wie kein anderer, die freie Hand in der Führung der Flotte und ihren Einsatz zur Schlacht zu versagen. Man klebte an dem Bethmannschen Gedanken, die Flotte wenn möglich unbeschädigt durch den Krieg zu bringen und sie am Ende bei etwaigen Friedensverhandlungen als Rückhalt in Rechnung zu stellen – eine Idee, die nicht viel klüger ist als etwa die Absicht, das Heer oder die Munition völlig intakt durch den Krieg zu tragen und als Verhandlungsstütze für einen so niemals erreichbaren guten Frieden einzusetzen. Man theoretisierte über ferne Möglichkeiten und verpaßte die Stunde der Tat! –

Heute wie damals bin ich überzeugt davon, daß Admiral von Tirpitz, dieser geniale und willensstarke Mann, zu dem die ganze Marine mit festem Vertrauen aufblickte, weil seine verantwortungsfrohe und entschlußfreudige Persönlichkeit gleichsam als eine Verkörperung des Kampfideales seiner Waffe erschien, die volle Wucht der Flotte so rasch wie möglich gegen England eingesetzt hätte. Der Erfolg hätte sich dem kühnen, mit frischem Glauben an die eigene Kraft und ihren Sieg geführten Stoße sicher nicht versagt. Dafür, daß eine solche Auffassung keineswegs phantastisch ist, daß sie vielmehr auch auf der Feindesseite geteilt wird, sprechen die Ausführungen, die Admiral Jellicoe in seinem Buche gibt. Da heißt es: »Bei meiner Kenntnis der deutschen Marine, bei meiner Wertschätzung ihrer Leistungen und mit Hinblick auf den Geist ihrer Führung und Mannschaften war es für mich eine große Überraschung, die ersten Wochen und Monate des Krieges verstreichen zu sehen, ohne daß die deutsche Flotte Unternehmungen im Kanal und gegen unsere Küsten geführt hätte. Die Möglichkeiten zu Erfolgen bei sofortigem Einsatz der deutschen Streitkräfte hätte ich nicht unterschätzt.«

Aber Begeisterung ist nach Goethe »keine Heringsware, die man einpökelt auf einige Jahre«, und Angriffsgeist, Nationalbewußtsein und Disziplin kann man nicht einwecken! Sie sind in unserer zu Kriegsbeginn so stolzen, starken Flotte verwelkt und zerfallen, weil man sie ihre Kräfte nicht erweisen ließ, weil man die rechte Stunde nicht nutzte. So hat die Waffe, die hier nicht zuzuschlagen wußte, sich am Ende gegen unser Vaterland selbst gekehrt und Mitschuld an unserem Niederbruch auf sich geladen.

 

Ich durchblättere die Seiten, die ich gestern geschrieben habe.

Nein – ein geregeltes und ordentliches Erinnerungsbuch, das die Ereignisse in der genauen Zeitenfolge festhält, wird das nicht. Von meiner Einführung in die Geschäfte des Reichsmarineamtes und von der wertvollen Zusammenarbeit mit Admiral von Tirpitz habe ich berichten wollen und bin in der unerloschenen Bitterkeit meines Erinnerns den folgenden Ereignissen um Jahre vorausgeeilt. –

Ich habe da bei der Erwähnung der Tirpitzschen Risikotheorie unsere politische Isolierung gestreift. Zu dieser Frage bleibt vielleicht noch allerlei zu sagen.

Als ich, bald nach jener Zeit der Arbeit im Reichsmarineamt, mehr und mehr auch in die Probleme der äußeren Politik des Reiches eindrang, fand ich immer wieder die von mir schon auf meinen Reisen beobachtete Tatsache bestätigt, daß unser Vaterland in der ganzen Welt wenig beliebt, vielfach geradezu verhaßt war. Abgesehen von der uns verbündeten Donaumonarchie und etwa von den Schweden, Spaniern, Türken, Argentiniern mochte uns eigentlich niemand recht leiden. Woher kam dieser Zustand? Sicher vor allem aus einer gewissen Mißgunst gegen unseren gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung, gegen die ständig wachsende Macht des deutschen Kaufmannes auf dem Weltmarkte, gegen den großen Fleiß und die schöpferische Intelligenz und Energie des deutschen Volkes. In erster Linie war es England, das sich durch diese Umstände in seiner wirtschaftlichen Sonderstellung bedroht fühlte. Daraus brauchten wir uns natürlich keinen Vorwurf zu machen, denn ein gesundes, anständiges Streben nach Hebung des eigenen Wohlstandes und nach Ausdehnung der wirtschaftlichen Einflußsphäre ist das gute Recht jedes Volkes. Im ehrlichen Wettbewerb der Völker untereinander gelangt die gesamte Menschheit zu immer höheren Kulturstufen. Nur weltfremde Phantasten können glauben, daß bei einer Ausschaltung des Wettbewerbes auf eine Aufwärtsbewegung im Leben der Einzelnen wie der Völker und letzten Endes der gesamten Menschheit zu rechnen sei.

Aber nicht Mißgunst gegen deutsche Tüchtigkeit allein hat uns die Abneigung der großen Mehrheit eingetragen; wir hatten es auch verstanden, uns durch weniger erfreuliche Eigenschaften, als Tüchtigkeit ist, mißliebig zu machen. Unklug ist es, wenn sich ein Einzelner oder ein Volk in seinem Vorwärtsstreben über Gebühr vorlaut vordrängt; Mißtrauen, Widerstand, Abwehr und Feindschaft werden dadurch geradezu herausgefordert. In diesen Fehler aber sind wir Deutschen amtlich wie persönlich nur zu oft verfallen. Das offenbar herausfordernde, laute Auftreten, das alle Welt bevormundende, fortwährend belehren wollende Gebaren mancher Deutschen im Auslande fiel den anderen Nationen auf die Nerven. Es richtete im Verein mit Torheiten und Geschmacklosigkeiten, die sich auf der gleichen Linie bewegten und die im Lande von führenden Persönlichkeiten oder von leitenden Stellen ausgingen und draußen heilhörig aufgesogen wurden, großen Schaden an. Auch wieder vornehmlich in England, das sich ja von dem neuen Deutschland besonders nachhaltig bedroht fühlte.

Mein alter Großonkel, König Eduard VII., mit dem ich mich übrigens stets sehr gut gestanden habe und der ganz zweifelsohne eine bedeutende Persönlichkeit von durchaus welterfahrener Weisheit und von großer Sachlichkeit gewesen ist, hat mir verschiedentlich in politischen Plauderstunden, die für mich zu Lehrstunden wurden, seine Sorge darüber ausgedrückt, daß die wirtschaftliche Konkurrenz Deutschlands eines Tages zum Zusammenstöße mit England führen würde. »There must be put a stop to it!« sagte er bei solcher Gelegenheit.

Fand man sich mit all diesen Tatsachen sachlich ab und verlor man weiter den geschichtlich festliegenden Grundsatz nicht aus den Augen, daß die englische Schlagbereitschaft sich stets gegen die von Fall zu Fall stärkste europäische Kontinentalmacht gewendet hat, so ergab sich die Folgerung, daß es für das Deutsche Reich eines Tages unausweichbar zum Kriege kommen mußte – wenn es nicht gelang, den Gegensatz mit England aus der Welt zu schaffen.

Ich persönlich hielt es damals für wünschenswert, eine Verständigung mit England aus wirtschaftlichem, handelspolitischem und kolonialem Felde anzustreben. Über die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens gab ich mich keinen Illusionen hin. Es war mir klar, daß ein solcher Versuch nicht nur eine gründliche Aussprache über den Flottenbau, sondern auch eine offene Diskussion der Wirtschaftsfragen voraussetze, und daß wir in beiden Punkten um allerhand Zugeständnisse nicht herumgekommen wären. Das Ziel schien mir solcher Opfer wert zu sein, denn die Lösung der politischen Spannung, die letzten Endes in ein Bündnis mit England hätte ausmünden sollen, würde uns andererseits neben der Sicherung des Friedens Vorteile erschlossen haben, durch die wir die erwähnten Zugeständnisse reichlich ausgewogen hätten.

Fürst Bülow, mit dem ich die heikle Frage einmal besprach, verwies mich damals aus ein Wort des Fürsten Bismarck, der ausgesprochen habe: daß er gerne bereit wäre, die Engländer zu lieben, aber sie wollten sich ja nicht lieben lassen. Zu einem Bündnisse mit England, das für uns nicht die dunkle Gefahr eines Krieges mit Rußland in sich geschlossen hätte und andererseits geeignet gewesen wäre, England wirklich und ernstlich zu binden, schien er damals grundsätzlich geneigt zu sein. Aber hierfür war nach seiner Auffassung in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts der englische Premierminister Lord Salisbury nicht zu haben gewesen, und so glaubte er nach Lage der Umstände mit einer »Politik der freien Hand« am besten abzuschneiden.

Auch wo sonst ich meine Gedanken vor den leitenden Staatsmännern unserer Regierung entwickelte, wurde mir stets etwa die gleiche Antwort: eine Verständigung mit England sei unmöglich; England wolle das gar nicht, und wenn man schon eine derartige Basis fände, dann würden wir bei dem ganzen Handel sicher wesentlich zu kurz kommen. Überzeugen konnten mich die Gründe, die man mir anführte, nicht. Jeder Blick über die schwarz-weiß-roten Grenzen zeigte, daß rings umher ganz andere Kunststücke, als sie hier in Frage kamen, gelangen – allerdings als Erfolge von Männern, die ihr Handwerk verstanden und ihre Zeit begriffen. Auch daß England nicht wollte oder nicht willig hätte gemacht werden können, stimmt für jene Jahre, von denen ich hier spreche, meines Erachtens nicht – wenn uns die Dinge auch nicht mehr so auf dem Präsentierbrett dargeboten wurden wie zu Beginn des Burenkrieges unter den treibenden Bemühungen Josef Chamberlains, der ganz offen für ein Bündnis Deutschland–England–Vereinigte Staaten von Nordamerika eingetreten war. Völlig erloschen waren die Möglichkeiten, dort anzuknüpfen, wo man damals versagte, keineswegs. Bei alledem mußte ich mich mit der Tatsache abfinden, daß Fürst Bülow und seine Politiker für eine ernsthafte, auf fester Grundlage ruhende Verständigung mit England nicht zu haben waren. Sie schienen mit dem Zustande äußerlich guter und höflicher Beziehungen durchaus zufrieden, fanden ihn bewährt und gut und sahen keinen Grund, die Lage für so empfindlich und drohend zu halten, wie sie sich dem Urteil vieler einsichtiger Männer darstellte.

So versuchte ich, auf dieser durch die Auffassung der Wilhelmstraße einmal gegebenen und erstarrenden Basis weiter zu denken.

War der Gegensatz zu England als unwandelbar anzunehmen und die seit den Tagen des Burenkrieges und der voreiligen Krüger-Depesche (deren Zustandekommen man übrigens völlig zu Unrecht dem Kaiser zuschiebt!) aufgesprungene Kluft unüberbrückbar, so blieb als anderer in Frage kommender leistungsfähiger Verbündeter in Europa nur Rußland. Standen wir mit Rußland im Bunde, so konnte England sich niemals in einen Krieg mit uns einlassen – mehr noch, es mußte zufrieden sein, wenn dieser Bund nicht die englische Herrschaft in Indien bedrohte. Somit mußte alles aufgeboten werden, um den nach Bismarcks Ausscheiden mit unserer Kündigung des Rückversicherungsvertrages gerissenen Draht wieder anzuknüpfen, die russisch-französische Allianz zu lockern und Rußland für ein Zusammengehen mit uns zu gewinnen. Auch das war sicher kein leichtes Werk; aber es blieb doch Aussicht auf sein Gelingen bestehen, wenn wir Rußlands Wünschen auf die Dardanellen und den persischen Meerbusen unterstützend entgegenkamen. Ich sprach damals mit türkischen Politikern über diese Frage und fand sie dem Gedanken der freien Durchfahrt durch die Dardanellen durchaus nicht unzugänglich. Auch von seiten unseres Bundesgenossen Österreich-Ungarn würde ein Widerstand gegen diese Lösung kaum zu fürchten gewesen sein. Hier schien mir also ein Anknüpfungspunkt zu liegen.

Frankreich schied seit der im Frühsommer 1905 endgültig verpaßten Möglichkeit, zu einer restlosen Verständigung mit dem nach Rußlands ostasiatischer Schwächung entgegenkommenden Kabinette Rouvier zu gelangen, bei all diesen Erwägungen von Bündnisfragen aus. Durch geschickte Züchtung des alten Revanchegedankens gegen Deutschland war dort inzwischen sogar die Bitterkeit über die von England erlittene Schmach von Faschoda wieder überwuchert worden. Die conditio sine qua non für jede Verständigung wäre zuerst die Herausgabe zum mindesten eines Teiles der Reichslande gewesen – im Frieden eine für uns undiskutierbare Frage.

Von seiten der Regierung aber wurde sowohl in der Ära Bülow wie in der Zeit des Herrn von Bethmann weder eine Verständigung mit England noch ein Anschluß an Rußland energisch und mit einem klaren Aktionsprogramm angestrebt. Man klammerte sich an die Hoffnung, die etwaigen Kriegsklippen umschiffen zu können, wollte es mit niemand verderben und trieb so eine kurzfristige Politik von der Hand in den Mund, die mit den kunstvoll weitgespannten Ideen Bismarckscher Tradition nichts mehr gemein hatte.

So beschlichen mich oft recht bedrückende Ahnungen, wenn ich durchdachte, wie sich unseren führenden Staatsmännern unsere politische Lage darstellen mochte. Daß sie den Ernst der Dinge verkannten, wollte ich nicht glauben, denn allein die Tatsache unserer Vereinsamung mußte ja auch jeden Laien von einigem gesunden Menschenverstand zu der Folgerung führen, daß wir mit unserer Friedenspolitik – »niemand zu Liebe, niemand zu Leide« – auf dem besten Wege waren, uns zwischen alle Stühle zu setzen. So blieb mir nur übrig, unverstehend die Ruhe festzustellen, mit der unsere politischen Führer das Reich einsam durch diese Zeit führten – während sich drüben der Ring unserer Gegenspieler immer fester schloß.

Das Spiel war ungleich!

Auch in bezug auf die Persönlichkeiten, die sich als Exponenten der beiderseits wirksamen Triebkräfte gegen überstanden.

Hier Seine Majestät, der bis in den November des Krisenjahres 1908 mit starkem Selbstvertrauen und einem vielleicht allzu offen betonten Willen zur Macht regierte; daneben, gehandicapt durch allerlei Stimmungen und gefühlspolitische Sympathien oder Antipathien des Kaisers, Fürst Bülow. Vom Sommer des folgenden Jahres an Theobald von Bethmann. –

Und drüben König Eduard VII. und neben ihm und nach ihm ein Halbdutzend starker, klarer Köpfe, die in der Linie einer fest verankerten Tradition weiterbauten und unbeirrt von Sentiments das für England und sein Wohl errechnete Programm erfüllten.

Noch einmal: Das Spiel war ungleich!

Ich unterschätze die großen Gaben nicht, über die Fürst Bülow verfügte und die ihn immer wieder, auch in schwierigen Lagen, zu Überbrückungen von Gegensätzen, zu Ausgleichen, Balancen und zu Verkleidungen von Rissen kommen ließen. Kein Dombaumeister – kein Mann des Bismarckschen Formates und der gewaltig, mit dem Blick in Höhen und in Fernen, schaffenden Faust. Aber ein glänzender Beherrscher der kleinen Mittel, mit denen man sich aus einem üblen Heute in ein vielleicht erträglicheres Morgen rettet. Ein ernsthafter Politiker, der die Technik seines Handwerkes gründlich gelernt hatte und mit Grazie beherrschte. Sicher in diesem Besitz und darum ohne Charlatanerie. Dazu ein Menschenkenner, der seine Leute zu nehmen wußte – eine Persönlichkeit.

Mir erscheint der Fürst Bülow von allen nachbismarckischen Kanzlern als der weitaus bedeutendste – ich schätze ihn weit über den Rahmen dieses recht relativen Komplimentes, das eigentlich nicht sehr viel sagen will, hinaus. Er hat in seiner Art geführt und sich die Zügel nicht aus den Händen nehmen lassen. Er verstand es glänzend, seine Politik im Reichstage zu vertreten, und seine von echtem nationalen Empfinden getragenen Reden verfehlten kaum je ihre Wirkung. Dabei konnte er verhandeln, war im persönlichen Verkehr mit Parlamentariern, Ausländern und Pressevertretern taktvoll und geschickt und stellte, wie kein anderer seit dem ersten Kanzler, den Wert der Presse und der öffentlichen Meinung richtig in seine Arbeit ein. An meine Unterhaltungen mit ihm denke ich mit Vergnügen zurück: Wieviel spielerisch hingegebener Geist, wieviel gesunder Verstand, welch treffende Urteile über Menschen und Probleme.

Er war nach meiner Überzeugung auch noch im Sommer 17 der beste Mann, der zur Verfügung stand, und so habe ich es damals sehr bedauert, daß nach Bethmanns Abgang nicht Fürst Bülow an die erste Stelle berufen wurde. Seine besondere Art hätte es sicher verstanden, eine fruchtbare Zusammenarbeit der Reichsstellen mit der O.H.L. zu erreichen, auch glaube ich, daß es dem gewandten Diplomaten doch noch gelungen wäre, einen Weg aus den Schwierigkeiten des Weltkrieges heraus zu finden, und daß er einen für unser Vaterland erträglichen Frieden zustande gebracht hätte. – Bei den beiden Kanzlerwechseln im Kriege habe ich mich für ihn oder Tirpitz bei Seiner Majestät eingesetzt. Leider erfolglos. Die Wiederwahl Bülows zum Kanzler wäre an der in den Novembervorgängen des Jahres 1908 wurzelnden Abneigung des Kaisers gegen den Fürsten nicht gescheitert, wenn die maßgebenden Stellen sich restlos für ihn eingesetzt hätten. Ich konnte in beiden Fällen feststellen, wie vorgesorgt war, daß der Kaiser Bülow ablehnte. –

Drüben stand der King.

Ich weiß, daß vielfach – und nicht nur in der breiten Öffentlichkeit – die Neigung besteht, den König Eduard mit den Zügen einer persönlichen Gehässigkeit gegen Deutschland, einer diabolischen Vernichtungsfreude, die sich im Schmieden eines politischen Würgerings betätigte, auszustatten. Einer solchen Zeichnung seiner Persönlichkeit mangelt nach meiner Ansicht jede Objektivität. Auch mein Vater hat den König Eduard wohl niemals ohne allerlei Vorurteile betrachtet. Der im Leben des Kaisers immer wieder vortretende Zug, daß er leicht geneigt ist, sachliche Mißerfolge als Wirkung einzelner Persönlichkeiten und als persönlich gegen ihn gerichtete Rancüne aufzufassen, mag auch hier eine Rolle spielen. Dazu hat aber in der Tat eine, ich möchte sagen latente Mißbilligung der beiden Männer gegen einander trotz aller äußeren Herzlichkeit wohl stets bestanden. Der Kaiser mochte fühlen, daß seine bisweilen ein wenig laut und mehr klirrend als innerlich stark wirkende Art dort auf einen welterfahrenen Wirklichkeitssinn – auf kühle Skepsis – vielleicht auch manchmal auf ein ironisches Schweigen stieß. Auf eine Art von stiller Obstruktion, die einerseits zu glatt geschliffen war, als daß sie neue Angriffspunkte gegeben hätte, andererseits aber den Kaiser leicht zu Steigerungen seiner Art verführte.

Mir, der ich den König Eduard seit meiner frühen Jugend kannte und der ich bis nahe an sein Ende immer wieder Gelegenheit hatte, mit ihm über Vergangenes und Gegenwärtiges zu sprechen, hat sich das Bild seines Wesens ganz anders gestaltet, und ich sehe in ihm einen geklärten, welterfahrenen Menschen und den erfolgreichsten, modernsten Monarchen Europas seit langer Zeit. Persönlich ist er gegen mich, so lange ich denken kann, von einer ganz besonderen Freundlichkeit und (wie ich an anderer Stelle schon erwähnte) von einer regen Anteilnahme an meiner Entwicklung gewesen. Im Jahre 1901, gleich nach dem Heimgange der Queen, hat er mich im Schloß Osborne mit dem Hosenbandorden investiert, er hat damals an mich, der ich noch vor der Schwelle des zwanzigsten Lebensjahres stand, eine überaus herzliche und verwandtschaftlich warme Ansprache gehalten und schien sich damit zu einer Art Verantwortlichkeit für mein Wohlergehen verpachtet zu fühlen. Sein Sinn für Familienzugehörigkeit war überhaupt stark ausgeprägt – ihn etwa im Kreise seiner dänischen Angehörigen in Kopenhagen zu sehen, war eine Freude: da war er nur der gute Onkel und der liebenswürdige Mensch.

Oft haben wir in ungezwungener Weise stundenlang zusammengesessen, er bequem in einem großen Lehnstuhl mit einer riesigen Importe. Und dann erzählte er von vielen interessanten Dingen – gelegentlich auch aus dem eigenen Leben. Und aus dem, was er mir so gab, sowie aus dem, was ich mit eigenen Augen sah, ist mir sein Bild geworden – ein Bild, das keinen Zug von Intrigantentum enthält. Das nur einen glänzenden Vertreter der Interessen seines Landes zeigt – einen Vertreter, der diese Interessen nach meiner Überzeugung lieber mit Deutschland gesichert hätte als gegen Deutschland. Der aber, als sich dieser erste Weg nicht öffnen wollte, allein auf eines hinarbeitete: eben auf die ihm nötig erscheinende Sicherung an sich.

Durch die lange Regierungszeit seiner Mutter ist Eduard VII. erst als bejahrter Mann auf den Thron gekommen. Als Prinz von Wales hat er seine überlange Vorbereitungszeit auch überreich ausgefüllt. Nachdem er mit einer guten Erziehung und Bildung dem Elternhause entwachsen war, hat er sich genußhungrig in das Leben gestürzt und seinen damals starken Leidenschaften für Frauen, Spiel und Sport sich hingegeben. Er ist so durch alle Kreise, alle Schichten, ob gut, ob schlecht, gegangen, und nichts Menschliches ist ihm dabei fremd geblieben. Wie ein alter, ruhig gewordener Seefahrer von überstandenen Fahrten seiner vergangenen Jahre spricht, so hat er mir von dieser Zeit erzählt, in der die Öffentlichkeit nur harte, ablehnende Urteile über ihn kannte. – Für ihn und für sein Land sind diese Jahre seines ruhelosen Umtriebes fruchtbar geworden. Sein scharfer und kühl wägender Blick, sein praktischer Verstand haben ihn dabei zu einer treffsicheren Menschenkenntnis geführt und ihn die schwere Kunst, die Menschen richtig zu nehmen, lernen lassen. Ich habe kaum einen anderen Mann getroffen, der es gleich ihm verstand, die Menschen, mit denen er in Berührung kam, zu charmieren. Dabei war er ohne Eitelkeit, ohne den sichtbaren Wunsch, etwa durch seine Liebenswürdigkeit, durch sein Gespräch Eindruck zu machen. Im Gegenteil, er trat beinahe in den Hintergrund – der andere schien wichtiger zu werden als er selbst. So konnte er zuhören, fragen, sich erzählen lassen und bei jedem Einzelnen den Eindruck erwecken, daß er, der König, sich aufs lebhafteste für das Tun und Denken des Betreffenden interessiere, daß er von ihm gefesselt sei und Anregungen empfange. Auf diese Weise hat er eine große Zahl von Menschen und vor allem jene, auf die es ihm ankam, zu seinen Freunden und Anhängern gewonnen.

Auch sein großes Verständnis für Sport sicherte ihm in seinem Lande eine gute Position. Er besaß einen vorzüglichen Rennstall, widmete sich mit viel Hingabe dem Segelsport und war vielleicht der beste Flintenschütze in England. Auch seine Vorliebe für schöne Frauen, die er bis in die späten Tage seines Lebens sich erhalten hat, wurde schließlich ein Schlüssel zu der außerordentlichen Beliebtheit, die er in England und überall auf dem Kontinent genoß. In seiner äußeren Erscheinung und seinem Benehmen war er Grandseigneur und vollendeter Weltmann.

Ein guter Menschenkenner und ein kühler Taktiker hat er überall dort, wo er seine Persönlichkeit ins Treffen stellte, nachhaltige Erfolge in der Tat erzielt. Sein Einfluß war es, der Frankreich trotz Faschoda in der Entente cordiale an England band, und er persönlich hat den Zaren von Deutschland mehr und mehr entfernt und, trotz der großen wirtschaftlichen Gegensätze im fernen Osten und in Persien, für England gewonnen.

Warum das alles? Um Deutschland zu vernichten? Sicher nicht! – Aber er und sein Land hatten erkannt, daß Deutschland in den letzten Jahren wirtschaftlich, handelspolitisch und industriell in einen so stark ansteigenden Wettbewerb eingetreten war, daß England in Gefahr kam, überflügelt zu werden. Hier mußte eingegriffen werden. Da es zu der Verständigung nicht kommen wollte, war ihm die wirtschaftliche Einkreisung das Mittel, unserer Entwicklung die Möglichkeit zu kürzen. Den Krieg mit Deutschland hat der König nach meiner Meinung nicht gewünscht. Ich glaube auch, daß er nicht nur imstande gewesen wäre, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, sondern daß er ihn auch verhindert hätte. Ich glaube es deshalb, weil der staatsmännische Weitblick des Königs sowohl die revolutionären Gefahren wie das Risiko erkannt hätte, das die Großmächte Europas liefen, wenn sie sich – gerüstet wie nie zuvor – gegenseitig zerfleischten und wenn sie in der Weltkonkurrenz Macht und Einfluß verloren. Ich gehe noch weiter. Bei der anerkannten Bedeutung, die der König in Europa und in der Welt hatte, wäre er wahrscheinlich bei der Schaffung der Triple-Entente nicht stehen geblieben, wenn ihm eine längere Regierung beschieden gewesen wäre. Er hätte vielleicht die Brücke gebaut zwischen Entente und Dreibund und damit die Vereinigten Staaten von Europa geschaffen. Er konnte es – aber nur er.

Seine Epigonen haben sein Werk in den Dienst von Rußland und Frankreich gestellt, und das war der Krieg – lang ehe er mit seinen letzten Mitteln, mit der Waffe, entschieden wurde.

 

Angesichts dieser außenpolitischen Lage blieb für das Deutsche Reich nur die gebieterische Pflicht bestehen, sich für den mit Sicherheit zu erwartenden letzten Austrag mit allem Nachdruck zu rüsten und eine gleiche Wehrfähigkeit auch von dem unter dem Einflusse des Erzherzogs Franz Ferdinand und der von ihm berufenen Männer politisch recht regsam gewordenen Österreich zu verlangen, damit wir im Falle der Not wenigstens einige Aussicht auf einen ehrenvollen und erträglichen Ausgang hatten. Aber nicht nur die allgemeine außenpolitische Konstellation wies auf Gefahr – auch die fieberhaft und unverhüllt mit der Spitze gegen uns betriebenen Rüstungen der Ententemächte ließen erkennen, daß man drüben fertig sein wollte, um dann nur noch das rechte Losungswort zum Anspruch zu erwarten. Frankreich erschöpfte seine Menschenkräfte und seine Finanzen, um ein für seine Mittel unverhältnismäßig großes Heer bereit zu halten – Rußland steckte für Frankreichs Geld Hunderttausende von seinen Bauern in die düster erdbraune Uniform – Italien starrte begehrlich nach dem türkischen Tripolis und baute Fort um Fort gegen die Grenze seines tief gehaßten Dreibundsgenossen, gegen Österreich. England aber überwachte dieses Treiben und ließ Schiff um Schiff vom Stapel laufen.

All diesen ungeheuren Gefahren gegenüber sind unsere eigenen Rüstungen auf das Mindestmaß des Notwendigen beschränkt geblieben – und wenn es der Beweise dafür bedürfte, daß wir den Krieg nicht gesucht haben, so wäre der Hinweis auf die Tatsache, daß er uns nicht so vorbereitet fand, wie wir hätten sein müssen, nicht der schlechteste. – Soweit ich bei meiner engumgrenzten Betätigungsmöglichkeit und bei meinem schwachen Einfluß dazu beitragen konnte, habe ich mich, in stetem Gedenken der bedrohlichen Lage, in diesen Jahren vor dem Kriege gerne immer wieder für eine Kräftigung unserer militärischen Mittel eingesetzt.

Viel erreicht wurde nicht. Die letzte Wehrvorlage von 1913 mußte dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg geradezu aufgezwungen werden. Die Umbewaffnung der Feldartillerie ließ sich bis zum Kriegsausbruch überhaupt nicht mehr durchführen, und so hat uns das überlegene französische Feldgeschütz noch lange schwer zu schaffen gemacht.

 

Ich spreche hier schon von der Ära Bethmann und möchte die Zeit der Kanzlerschaft des Fürsten Bülow doch nicht verlassen, ohne bei einem der erschütterndsten Erlebnisse des Kaisers in der Vorkriegszeit zu verweilen, bei den Konflikten im November 1908.

In der Reichstagssitzung vom zehnten – genau und auf den Tag zehn Jahre vor dem Ende und der Hollandreise! – war der Sturm gegen ihn ausgebrochen, und am elften hatte er weitergetobt. Die Ursachen sind bekannt.

Wie verhielten sich die Dinge in Wahrheit?

Mein Vater hatte im Jahre 1907 während seines Aufenthaltes auf der Insel Wight mit dem General a. D. Stuart Wortley, dem Besitzer von Highcliffe Castle, eine Reihe von zwanglosen Gesprächen geführt, in denen ihm manche zweifellos nicht beabsichtigte und daher ungeeignete Ausführungen unterliefen. Als Wortley später den hauptsächlichen Inhalt dieser Mitteilungen mit Hilfe des englischen Journalisten Harold Spender zu einem für den Daily Telegraph bestimmten Interview eingerichtet und den Kaiser unter Vorlage des Manuskriptes um seine Veröffentlichungsgenehmigung gebeten hatte, hat dieser den Text zunächst in völlig loyaler Weise an den Reichskanzler nach Berlin weitergereicht und um dessen Meinungsäußerung ersucht. Der Geschäftsgang war also völlig korrekt innegehalten worden, nichts Ungehöriges war bisher geschehen – es sei, daß man die Äußerungen als solche so nennen müsse. Aber zugute wird man dem Kaiser auch dann halten dürfen, daß er sie in der reinen Absicht tat, durch sie zur Besserung der deutsch-englischen Beziehungen beizutragen, so wie der General a. D. Stuart Wortley aus dieser gleichen Absicht auf den Gedanken fiel, sie weiteren Kreisen zuzuführen.

Aus dem Bureau des Reichskanzlers erhielt der Kaiser das Manuskript mit dem Bemerken zurück, daß Bedenken gegen die Veröffentlichung nicht vorlägen – nur daß infolge einer Reihe von Lässigkeiten und unglücklichen Zusammentreffen keiner der Herren, die für dieses Urteil verantwortlich waren, den Text in der Tat sorgfältig gelesen hatte. So nahm das Unheil seinen Weg.

Zwei Tage lang tobte der Reichstagsaufruhr gegen den von Berlin abwesenden Kaiser, zwei Garnituren von Vertretern nahezu aller Parteien gossen ihre angestauten Entrüstungsfluten gegen ihn – alles, was während zwei Jahrzehnten an Unzufriedenheit mit seiner Art und seinem Regiment sich angesammelt hatte, brach hemmungslos hervor. Der Mann aber, der doch durch das Vertrauen meines Vaters berufen war, hier abzuwehren und für seinen kaiserlichen Herrn einzustehen, ihn zu decken, rückte mit einer kaum verhüllten Geste der Resignation und des Achselzuckens ab, versagte. – Nerven? Vielleicht. Der einzige, der damals zur Verteidigung seines Königs ritterlich in die Bresche sprang, war der alte in seiner Treue prachtvolle Abgeordnete v. Oldenburg. Die Aufgabe, vor der Fürst Bülow stand, war angesichts der allgemeinen und ungeheuren Entrüstung, die sich da enthüllte, zweifellos überaus schwer – andererseits aber ist es verständlich, daß der Kaiser, der doch in diesem Falle völlig korrekt gehandelt hatte und der, aus Sicherheit und Ahnungslosigkeit gerissen, sich hier plötzlich zum ersten Male vor einer nahezu geschlossenen Gegnerschaft des Volkes sah, sich von dem Kanzler preisgegeben und im Stiche gelassen fühlte.

Der Zeitungssturm ging unterdessen weiter und warf tagtäglich ein paar Dutzend anklagender, mißbilligender Aufsätze aus.

Mein Vater war zurückgekehrt und lag, von Aufregung, von Unverstehen und Erschütterung über die Vorkommnisse niedergeworfen, in Potsdam krank. Das für ihn kaum Faßbare war geschehen: nach zwanzig Jahren, während derer er sich für den Abgott der Mehrheit des deutschen Volkes und seine Regierungsart für vorbildlich gehalten hatte – war ihm und seinem Wesen das Mißtrauen ganz unverkennbar ausgesprochen worden.

In diesen Tagen war es, daß ich dringend ins Neue Palais gerufen wurde.

In der Tür empfing mich der Kammerdiener meiner Mutter, der alte Höpfner. Er hatte auf mich gewartet, um mir zu bestellen, ich möge erst zu Ihrer Majestät kommen, ehe ich mich beim Kaiser melden ließe.

Meine Mutter empfing mich sogleich. Sie war erschüttert, hatte rote Augen. Sie küßte mich, hielt meinen Kopf vor sich in beiden Händen:

»Du weißt, mein Junge, warum du hier bist?«

»Nein, Mutter –«

»Dann geh hinein zum Vater. Und prüfe dein Herz, ehe du dich entscheidest.«

Da wußte ich, worum es ging.

Minuten später war ich bei meinem Vater, der zu Bette lag. Ich war tief erschreckt über sein Aussehen.

Nur einmal noch habe ich ihn so gesehen! Zehn Jahre später, an dem Unheilstag in Spa, als General Gröner ihm den letzten Halt, den Glauben an die Treue der Armee mit einem Achselzucken kalt zerbrach.

Um Jahre schien er mir gealtert, war hoffnungslos, fühlte sich verlassen von allen, war zusammengebrochen unter der Katastrophe, die ihm den Boden unter seinen Füßen fortgenommen, sein Selbstbewußtsein und Vertrauen zertrümmert hatte.

Ein tiefes Mitleid war in mir. Kaum jemals habe ich mich ihm so nah gefühlt wie in dieser Stunde.

Er hieß mich setzen, redete drängend, anklagend und sich überstürzend von diesen Vorgängen. Enttäuschung, Mutlosigkeit und Resignation hielten ihn umfaßt; dabei kam immer wieder die Bitterkeit über das Unrecht durch, das er in den Vorgängen sah. –

Ich habe ihn beschwichtigt und aufzurichten gesucht.

Wohl eine Stunde habe ich damals an seinem Bette gesessen. Nie vorher, seit ich denken kann, war das geschehen.

Am Ende wurde vereinbart, daß ich für eine kurze Zeit und bis er von seiner Erkrankung völlig wiederhergestellt sei, eine Art von Stellvertretung des Kaisers übernehmen solle.

Ich habe mich bei der Ausübung dieses Amtes völlig zurückgehalten und konnte mich seiner rasch genug ganz entledigen, denn schon nach wenigen Wochen war der Kaiser scheinbar wieder obenauf.

Scheinbar! Denn wie ich schon an anderer Stelle sagte: gesundet ist er niemals wieder von diesem Schlage. Unter dem äußeren Mantel seines alten Selbstbewußtseins hat er sich von da ab mehr und mehr eine Zurückhaltung auferlegt, die vielfach noch hinter den durch seine verfassungsmäßige Stellung gezogenen Grenzen zurückblieb. Im Kriege führte ihn diese Selbstbescheidung fast bis zur völligen Ausschaltung seiner Person gegenüber den operativen und organisatorischen Maßnahmen des Chefs des Generalstabes. Ich habe diesen Umstand stets bedauert, denn wann auch immer ich persönlich mit meinem Vater über die strategische Gesamtlage sprach, ich hatte dabei beinahe stets den Eindruck, daß sein Urteil den Nagel auf den Kopf traf.

 


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