Ernst von Wolzogen
Die tolle Komteß
Ernst von Wolzogen

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Sechzehntes Kapitel.

In welchem Vicki ihr Herz zur Ruhe setzt, eine neue, wichtige Person auftritt, die tolle Komteß vernünftig wird, und der Verfasser mit einigen passenden Worten von einem hohen Adel und geneigten Publiko gerührten Abschied nimmt.

Während Gräfin Marie von jenem Sterbebette weg in das Krankenhaus wanderte, um sich der Wissenschaft unter das Messer zu liefern, flatterte in Schwerin die glückselige Vicki von Fest zu Fest. Den vereinten Bemühungen des großherzoglichen Offiziercorps war es in überraschend kurzer Frist gelungen, den seraphischen Licentiaten aus dem Felde zu schlagen, so daß der holdseligen Pomona bald nichts wurmstichiges mehr anzumerken war.

Jungen Edelfräulein, die ganz in ländlicher Abgeschiedenheit groß geworden, und auf den kleinen Gesellschaftskrieg der Geschlechter noch nicht eingedrillt sind, pflegt der flotte Lieutenant, besonders wenn er in geschlossener Kolonne auftritt, ein vorzüglicher Lehrmeister zu sein – vorausgesetzt, daß betreffendes Gänschen nicht als Gans geboren und auf eine fette Leber hin von unverständigen Eltern geistig vernudelt wurde! Mädchen von Vickis kräftigem Schlage aber, welchen das Glück zu teil geworden, zwar in strenger, christlicher Zucht, aber ohne troddlige Sentimentalitäten und verbohrten Gouvernantenkrimskrams aufwachsen zu dürfen, als seelische Prießnitzkur und gesellschaftliche Schweningerei 146 durchaus zuträglich. Junge Offiziere sind, wenn schon nichts andres, so doch fürs erste einmal Leute von guter Erziehung; was die aristokratische Gesellschaft gute Sitte heißt, ist ihnen durch frühe Gewohnheit natürlich geworden; zum andern läßt ihr harmloses Geplauder zwar ungern tiefe, entschieden aber keine trübseligen Gedanken aufkommen; drittens, und das ist das beste, gilt es unter ihnen selbst für lächerlich und unsoldatisch, jungen Mädchen gegenüber den Romanhelden des Backfischstiles zu spielen: den Hohen-Hehren, den Unverstandenen, den faselhaft Geistreichen, den tief Schwermütigen, den übermenschlich Edeln, den dämonisch Vulkanischen, den gletscherhaft Keuschen – und wie sie alle heißen mögen. Dazu besitzt der Lieutenant fast immer auch ein scharfes Auge für alles Unnatürliche an den Damen und weiß alberne Heuchelei durch gebührende Neckerei oder gar härter zu bestrafen. Nur dumme Mädchen, wie gesagt, geraten leicht in die Gefahr zu »verlieutenanten«, klugen und natürlichen jedoch werden so ein oder einige Ballwinter in einer feschen Garnison durchaus zuträglich sein. Und wenn das Herzchen an einer Lieutenantsangel hangen bleibt – was thut's? Offiziere haben den Ruf, die besten Ehemänner zu stellen! Ob es wahr ist, das könnte vielleicht eine amtliche Umfrage bei den Lieutenantsgattinnen feststellen! Thatsache ist, daß Offiziere mit Geigen und Weinen die Eigenschaft gemein zu haben pflegen, daß sie je älter desto besser werden.

So sammelte denn auch das Pfungksche Komteßchen auf dem Manöverfelde des Hofparketts reiche Erfahrungen, lernte besonders des Feindes Schwächen erkennen und zu Zwecken der Verteidigung wie des Angriffs taktisch ausnützen. Das Gefühl der Hilflosigkeit im Verkehr mit Männern verlor sich sehr bald, sie lernte sich als junge Dame fühlen und gab sich doch mit voller kindlicher Unbefangenheit dem Genusse des Augenblicks hin. Ihrer frischen Jugend, ihrer robusten Anmut huldigte alles, von der Frau Großherzogin bis zu der Friseuse herab, welche sie in Behandlung hatte, von der ältesten Excellenz bis zum jüngsten Pagen. Aber sie wurde darüber nicht eitel und gefallsüchtig, wenn es sie 147 auch mit übermütiger Freude erfüllte. Daß die allgemeine Anbetung sie gegen die des einzelnen gleichgültiger machte, war bei ihrer Feuergefährlichkeit gewiß kein Unglück.

Die gute Mama, die mit schweren Seufzern alle die Bälle, Thees, Routs, Konzerte u. s. w. über sich ergehen ließ, versäumte zwar nicht, hie und da Gelegenheit zu nehmen, ihr Töchterchen in seinem glücklichen Rausche zu mahnen an »das Eine, was da not thut«; aber sie hütete sich auch wohl, allzuviel Wasser in ihren Freudenwein zu schütten. »Ja, ja – Jugend muß sich austoben« – pflegte sie zu sagen. »Es ist ja auch eine wahre Freude, wie sich das gute Kind die Finken und die Würmer aus dem Kopfe schlägt! Jammerschade nur, daß es sich nicht schickt, solch Ding allein in der Residenz zu lassen! Alle Abende sich in das französische Korsett schnüren lassen, und ein- bis zweimal die Woche gar ausgeschnitten –! Nein, nein, das ist doch 'n bißchen zu viel für eine solide Frau in meinen Jahren. Ich wünscht', ich säß' erst wieder in Räsendorf und könnt' mit min' Fründ Jehan Sötbier Pladdütsch snaken!«

Den Grafen griffen die Strapazen der Faschingscampagne sogar noch mehr an, als seine würdige Gemahlin. Unter ihrem wachsamen Auge war es ihm unmöglich, seine immer noch flugkräftigen Schmetterlingsflügel zu entfalten, und das ewige Whistspiel mit den Großwürdenträgern des Reichs wünschte er zu allen Teufeln. Vickis glänzende Erfolge aber stimmten ihn geradezu ernst und wehmütig. Der Gedanke, daß nun täglich die Stunde zu erwarten war, in der er seine Lerche einem fremden Vogelsteller überlassen mußte, brachte ihm erst recht zum Bewußtsein, wie sehr das Kind ihm ans Herz gewachsen war. Mit Grausen malte er sich die Zukunft auf Räsendorf aus, ohne seine Vicki. Nie hatte er es so schmerzlich empfunden wie jetzt, daß kein Sohn da war, der die Verwaltung des Gutes ihm abnehmen könnte – besonders jetzt, seit die arme Marie durch ihr Unglück gehindert war, mit derselben männlichen Energie wie vordem sich der Wirtschaft anzunehmen – seit an die Stelle des so klugen, überlegenen und doch weltmännisch verbindlichen, unterhaltsamen Norwig der geistvolle Ludolf 148 Reusche mit seinem gewichsten Schnurrbart und seinen Froschaugen getreten war und seit – die hübschen Stützen durch die entzückende Sophie für ewige Zeiten auf Räsendorf unmöglich gemacht worden waren! Jede Nacht, wenn Graf Pfungk zu seinen Balldamen in die Kutsche stieg, war seine erste Frage an Vicki: »Hast du dich wirklich auch nicht verliebt heute?« Und wenn sie dann lachend erwiderte: »Nein, wirklich nicht – aber ich finde sie alle reizend!« dann drückte er ihr so zärtlich und dankbar die Hand, als hätte sie ihm ein persönliches Opfer gebracht.

Eines schönen Tages aber – Vicki war gerade mit einer Freundin Schlittschuhlaufen gegangen – ließ sich Herr von der Maltitz aus Senthin bei den Pfungkschen Herrschaften melden und erklärte, es sei ihm daheim so einsam geworden, daß er eine Woche in der Residenz zubringen möchte. Trotzdem der Graf es ihm noch nicht vergessen konnte, daß er an ihn so viel schönes Geld für Sumpf und Sand los geworden war, wurde er doch recht gut aufgenommen. Er dehnte seinen Besuch auffallend lange aus und bemühte sich mit etwas nervösem Eifer, ein Gespräch über allerlei Gleichgültigkeiten im Fluß zu halten. Mindestens eine halbe Stunde hatte er schon so dagesessen, als die Gräfin durch einen Damenbesuch abgerufen wurde. Und kaum hatte sie den Herren den Rücken gewendet, als Wolf Dietrich von der Maltitz ohne weitere Einleitung dem Grafen die Eröffnung machte, daß er Komteß Viktorias entzückendes Bild nicht aus seinen Gedanken zu verbannen im stande und daß die Vorstellung ihm geradezu unerträglich sei, wie sie hier im Wirbel des Tanzes von einem Lieutenantsbusen an den andern sinke. Mit einem Wort, er sei sich während ihrer Abwesenheit darüber klar geworden, daß der Eindruck, den Vicki gleich damals bei der ersten Vorstellung als Wassernixe auf sein Herz gemacht, sich inzwischen zu einer ernsten Leidenschaft ausgewachsen habe – er bitte um die Erlaubnis, um Komteß Viktorias Gegenliebe werben zu dürfen.

Was sollte der gute Graf hierauf erwidern? Seine Gemahlin, die gewiß auf der Stelle eine entscheidende 149 Antwort gegeben hätte, war nicht zur Hand – es wurde ihm überhaupt schon schwer, einen Bittenden abschlägig zu bescheiden – zudem hatte er ja Gelegenheit gehabt, an diesem Manne allerlei vertrauenerweckende Charaktereigenschaften zu entdecken – er konnte ihm also doch wirklich nicht gut etwas andres sagen, als daß sein Töchterchen eigentlich wohl noch zu jung zum Heiraten sei, daß er aber ihren Gefühlen niemals Zwang anthun werde und also das weitere ganz ihm überlassen müsse.

Mit dieser Antwort zog denn auch der Senthiner ganz zufrieden ab, der Graf aber befreundete sich mit dem Gedanken, ihn zum Schwiegersohn zu bekommen, um so leichter, als ihm dann ja wenigstens die liebe Vicki so nahe blieb, daß er sie tagtäglich erreichen konnte. –

Am selben Abend war Hofball. Am Fuße der Treppe hatte sich Herr Wolf Dietrich aufgestellt, um die Pfungks abzufassen. Eine gute halbe Stunde mußte er dort ausharren, ehe er endlich des ersehnten Komteßchens ansichtig wurde, wie es in Pelzkragen und Shawltücher verpackt, die Füße in schrecklichen Filzüberschuhen und den raschelnden Drachenschweif von Tüll und gestickten Unterrockskanten mit der Linken so gut emporraffend, daß man auch ein hübsches Stück der prall sitzenden schwarzen Seidenstrümpfe bewundern konnte, über den Vorplatz huschte. Da machte der Senthiner eine kurze, stumme Verbeugung vor den Eltern und wandte sich dann rasch an die Komteß Tochter: »Guten Abend, Komteß – kann ich wohl den Kotillon mit Ihnen tanzen?« Und er schritt an ihrer Seite die Treppe hinauf.

»Ah – sind Sie es wirklich – Herr von der Maltitz?« rief Vicki überrascht und musterte ihn mit einem lustigen, wohlgefälligen Blick. »Und in Uniform! Das ist ja reizend, daß Sie sich auch einmal hier sehen lassen. Aber den Kotillon – haha, wo denken Sie hin! – den habe ich schon vor acht Tagen vergeben! Wissen Sie was – den Souperwalzer habe ich noch frei – den reserviere ich immer für besonders würdige Herren.«

»Vielen Dank für die Ehre – soupieren wir also zusammen.«

150 Im ersten Vorzimmer ward Vicki sofort von einem dichten Schwarm von Verehrern umdrängt, so daß Maltitz nichts Bessres thun konnte, als sich fürs erste zurückzuziehen. Der Anstand gebot, daß er sich im Laufe des Abends auch ein wenig am Throne der Frau Mama sehen ließ, um ihr seine pflichtschuldigen Huldigungen darzubringen. Er ergriff die nächste sich darbietende Gelegenheit hierzu.

»Nun sagen Sie bloß,« schnitt die Gräfin ihm die ersten höflichen Redensarten ab, nachdem sie ihn eingeladen, neben ihr Platz zu nehmen. »Sie haben es sich wirklich in den Kopf gesetzt, meine Vicki zu heiraten? Das Nestküken, das eben erst flügge geworden ist!«

»Aber wie flügge! Sehen Sie nur, gnädigste Gräfin, wie es fliegen kann!«

»Jawohl, von einem Arm in den andern und immer rundum wie ein Brummkreisel; aber . . . denken Sie bloß, lieber Maltitz, all diese Lieutenants liebt sie – Sie müßten eine ganze Brigade durch Ihre fabelhafte Liebenswürdigkeit niedermetzeln, ehe Sie an das Herzchen herankommen!«

Wolf Dietrich nahm ihren Ton auf und versetzte: »Und wenn ich bis an die Kniee im Blute meiner Nebenbuhler waten müßte – ich wage den Versuch, mich durchzuschlagen! Es ist zwar eine große Vermessenheit, den Kampf gegen so viele jüngere, glänzendere und – besser situierte Kameraden aufnehmen zu wollen, aber . . .«

»Nun was den letzten Punkt betrifft,« unterbrach ihn die Gräfin, ihm gutmütig den Arm mit dem Fächer klopfend, »so viel, daß Sie wieder ganz munter obenauf zu schwimmen kämen, gäben wir unserm Kinde schon mit. Aber nun lassen Sie mich aus dem Spiel: wenn die Grundlage gut ist, dann haben sich die Alten in Herzensangelegenheiten der Jungen nicht zu mischen.«

Der stattliche Dragoner küßte der Gräfin dankbar die Hand und machte sich dann auf, um Vicki zu einer Extratour aufzufordern. Sie willigte ein, obwohl sie eben erst, schier atemlos, von der letzten Runde Halt gemacht hatte. Maltitz war ein vorzüglicher Tänzer und die große, üppige 151 Komteß ein wenig zu schwer, um für eine Sylphe erster Klasse gelten zu können. Aber in seinem starken Arm kam sie sich selber federleicht vor und hätte am liebsten ihren Tänzer, einen spinnenbeinigen Grenadier, im Stiche gelassen, um diese Wonne ganz auszukosten. Mit glänzenden Augen und hochklopfendem Herzen lieferte er sie ihrem Ritter wieder aus.

»Hören Sie, Herr von der Maltitz, ich sehe Sie schon den ganzen Abend thatenlos an den Thüren herumstehen – das geht nicht. Sie dürfen uns Ihre wertvolle Kraft nicht entziehen. Sehen Sie, da hinten sitzen noch eine ganze Masse überzähliger Damen – wollen Sie sich wohl gleich nützlich machen!«

»Wenn Sie befehlen, Komteß.«

»Ja, ich befehle.«

Und sie hieß ihren Tänzer als Adjutanten mit ihm gehen, um ihm jene minderschönen, aber um so dankbareren Mauerblüten vorzustellen. –

Als die Souperpause gekommen war, stellte sich Wolf Dietrich wieder bei Vicki ein. Sie legte zutraulich ihren Arm in den seinen und schwatzte so eifrig auf ihn ein, daß er kaum zu Worte kommen konnte. Absichtlich schloß er sich dem langen Zuge nach dem Speisesaal so zögernd an, daß sie bereits alle die kleinen Tische zu vier bis sechs Personen besetzt fanden, welche für die nicht zur herrschaftlichen oder zur Marschallstafel Befohlenen gedeckt waren. Ein einziges Tischchen für zwei Paare stand noch verwaist, und dort nahmen die beiden allein Platz.

Auf diese Wahrscheinlichkeit hatte der Senthiner gerechnet, denn er hatte die feste Absicht, wenn irgend möglich, gleich heute abend zu reden.

Zunächst freilich eröffnete Vicki das Gespräch: »Nun, wie sieht es denn jetzt bei uns zu Hause aus? Papa hat Sie ja sozusagen zum geheimen Oberkontrolleur von Räsendorf ernannt.«

»Ich bin auch oft drüben gewesen, um nach dem Rechten zu sehen, sehr oft, Komteß – ach!«

»Warum seufzen Sie denn so komisch?«

152 »Weil es dort gar zu gräßlich aussah!«

»Gräßlich?«

»Ja, so einsam, so öde, so kalt und tot – wie überall, wo Sie nicht sind, Sie Reizende, Sie Einzige, Sie Unvergleichliche!«

Vicki begann plötzlich sehr hastig von dem Ragout zu essen und machte den schwachen Versuch, ihren gar zu überschwenglichen Nachbar auszulachen.

Der aber fuhr unbeirrt fort: »Ich kann mir nicht helfen – und wenn Herr Ludolf Reusche inzwischen ganz Räsendorf und Senthin dazu einpackte und damit durchginge! – ich mußte hierher und Sie wiedersehen, Komteß.«

»Aber nein, wie können Sie so reden! Das ist wirklich nicht hübsch von Ihnen, sich so über mich lustig zu machen.«

»Lustig – ich mich über Sie lustig machen? O Komteß – bitte, schauen Sie mich einmal an – sehe ich so aus, als ob ich mich über Sie lustig machen wollte?«

Statt ihn anzuschauen, verbarg das Komteßchen vielmehr ihr erglühendes Gesicht hinter ihrem Fächer und wehte sich eifrig Luft zu.

»Wollen Sie nicht? Ahnen Sie, was jetzt kommen muß? Wissen Sie, daß es mich ganz toll macht, so zusehen zu müssen, wie alles Sie umschwärmt? Daß mir zu Hause allnächtlich die Liebeserklärungen in den Ohren summten, die Ihnen hier gemacht wurden, und mich nicht einschlafen ließen?«

Wieder lachte Vicki verlegen. »Aber mir hat doch kein einziger eine Liebeserklärung gemacht.«

»Wirklich nicht? – Dann käme ich armer Landjunker doch noch nicht zu spät, wenn ich Ihnen nun . . .«

Ein Lakai präsentierte den zweiten Gang – Rehrücken. Komteß Vicki spießte in der Verwirrung drei große Stücke auf, die schwer auf ihren Teller aufklatschten.

»O weh!« sagte sie erschrocken: »Was mache ich denn da? Nehmen Sie das, Herr von der Maltitz – denken Sie, ich hätte es für Sie genommen.«

Sie wechselten die Teller und Vicki wählte nun bedächtig ein ganz dünnes Scheibchen für sich aus.

153 »Soll das vielleicht ein Wink sein, Komteß,« fuhr der Dragoner fort, sobald der Diener sich entfernt hatte, »daß ich meinen Mund zu etwas Besserem gebrauchen soll?«

»Nein, gewiß nicht, ich . . . ich weiß nicht, wo ich hingucken soll . . . die Leute sehen uns gewiß alle an!«

»Nun, dann lassen Sie mich Ihnen im Angesichte der ganzen Menschheit sagen, daß ich Sie liebe, Komteß, von dem Augenblicke an, als ich Sie zum erstenmal sah! Sie kamen aus dem Wasser, wissen Sie noch? – Aber mir legten Sie Feuer ans Herz! Ich liebe Sie über alles in der Welt, Vicki, ich kann nicht ohne Sie leben!«

»Sehen Sie doch, sehen Sie doch auf –« mahnte Vicki mit bebender Stimme. »Der Herzog Paul möchte Ihnen zutrinken.«

Wolf Dietrich erhob sein Sectglas, verbeugte sich dankend gegen den Herzog, der ihm liebenswürdig zulächelte, und trank dann auf einen Zug aus.

»Ich leerte mein Glas auf das Glück in der Liebe,« wandte er sich flüsternd an die Komteß. »Werde ich es finden? Darf ich hoffen?«

Zögernd, ängstlich erwiderte Vicki: »Ach Gott . . . ich weiß wirklich nicht . . . was man in solchem Falle sagt . . . Mama wird mich auslachen – ich bin noch so jung . . . und viel zu dumm zum – zum Heiraten, sagte Mama.«

»Sie möchten also noch nicht heiraten?«

»Ach doch – furchtbar gern; aber Mama . . .«

»Oh mit Mama habe ich schon gesprochen. Die erlaubt es!«

»Mama erlaubt's?! Nein, gehen Sie aber energisch vor?« rief Vicki, indem sie zum erstenmal und zwar bewundernd zu ihm aufblickte.

»Nicht wahr, Komteß? Schneidige Kavallerieattacke! Schlagen Sie ein? Sagen Sie ja?«

»Ach Gott – ich bin ganz wirr! Wenn ich nun ja sage, dann – dann wären wir ja verlobt!«

»Allerdings, das wäre dann freilich die nächste üble Folge.«

»Seien Sie mir nicht böse, Herr von der Maltitz – 154 ich schwatze so dummes Zeug, aber mir ist so wirr im Kopf . . . ich kann mich noch nicht fassen. Lassen Sie mich erst zur Besinnung kommen. Morgen früh um elf – Sie laufen doch Schlittschuh? – da bin ich auf dem großen See. – Wir könnten ja vielleicht nach Kaninchenwerder oder Zippendorf laufen.«

»Bis an den Nordpol, wenn Sie es wünschen, Komteß! Uebrigens haben Sie recht: es ist eine garstige Idee, sich beim Essen zu verloben!« – –

Kalt und klar war der andre Tag herausgezogen, kein böses Tauwetter machte das Eis und die schöne Hoffnung des verliebten Senthiners zu Wasser. Und Vicki kam ihm frisch und rot, mit leuchtenden Blauaugen entgegen und rief: »Wissen Sie schon das Allerneuste, Herr von der Maltitz? Heute früh kam ein Brief aus Berlin von Marie – sie hat sich mit Herrn von Norwig verlobt. Papa und Mama waren ganz starr. Aber natürlich müssen sie es zugeben, denn gegen Marie richten sie doch nichts aus, wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Glauben Sie nicht auch, daß die beiden sehr gut zu einander passen?«

»Gewiß – ich weiß es längst, daß sie sich liebten,« versetzte Wolf Dietrich lächelnd. »Und was wird jetzt aus uns, Komteß?«

Lange zögerte Vicki mit der Antwort. Sie hatte ihre Hand in die seine gelegt und in sausendem, köstlichem Fluge glitten sie über die glatte Bahn, über das grüne, krystallklare Eis dahin. Endlich, als sie den großen Schwarm der Schlittschuhläufer weit hinter sich gelassen, begann Vicki: »Ich muß eine unbescheidene Frage thun, Herr von der Maltitz, eine Gewissensfrage: haben Sie wirklich Keine vor mir geliebt?«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich bis jetzt, wo mich die wahnsinnigste Sehnsucht und Angst, daß ein andrer Sie mir rauben könnte, hierher trieb, noch nicht gewußt habe, was Liebe sei!« rief Maltitz feurig und ohne sich einen Moment zu besinnen.

»Dann – ach mein Gott!« schluchzte Vicki urplötzlich auf, indem sie seine Hand losließ und den kleinen Pelzmuff 155 gegen ihre Augen drückte. »Dann bin ich Ihrer gar nicht wert; denn ich habe schon zweimal – oder eigentlich dreimal geliebt.«

»Wirklich, Vicki?« flüsterte Wolf Dietrich lächelnd und legte seinen Arm um ihre Taille. »Aber darf man fragen, wie?«

»Oh, das erste Mal – aber das dauerte nur acht Tage und war nicht sehr – Herr von Norwig gefiel mir nämlich so gut.«

»Der kommt nicht mehr in Betracht. Seinen Schwager darf man ja auch ein wenig lieben. Und das zweite Mal?«

»Das zweite Mal – ach, das war sehr schlimm, da – da habe ich mich sogar küssen lassen und . . .«

»Wieder geküßt?«

»Ja – auch wieder geküßt! Nicht wahr, Sie haben gewiß noch nie ein fremdes Mädchen geküßt?«

»O, das möchte ich nicht eben beschwören; ein Heiliger bin ich auch nicht gerade gewesen. Küssen ist ja noch nicht immer lieben!«

»Sie haben geküßt – wirklich? Kann ich mich darauf verlassen? Wie oft wohl schon?«

»Gezählt habe ich es nicht. Jedenfalls aber öfter als Sie, meine süße, offenherzige, kleine Komteß!«

»O, dann . . . dann . . . Aber wissen Sie, Herr Fink war wirklich zu nett und ich hätte ihn gern geheiratet, wenn – seine Philosophie es ihm erlaubt hätte.«

Wolf Dietrich lachte hell auf. »Seine Philosophie erlaubte es ihm nicht? Das finde ich ausgezeichnet! – Herr Fink – ei, ei! Eine Künstlerliebe – die macht jedes junge Mädchen einmal durch. Darum grämen Sie sich nicht! Sie sind mir jetzt aber noch den dritten Vorgänger schuldig.«

»Ach, der hieß Wurm – das Schaf – von dem rede ich gar nicht!« Und Vicki, vergessend, daß sie die Holländer an den Füßen hatte, wollte ärgerlich aufstampfen, rutschte dabei aus und – setzte sich mit wuchtiger Plötzlichkeit aufs Eis.

Das war so überraschend gekommen, daß alle beide, Wolf und Vicki, nicht umhin konnten, in ein lautes, 156 herzliches Gelächter auszubrechen, das lustig über den weiten glitzernden See hinschallte. Er faßte sich zuerst, hob sie lachend auf, nahm sie in die Arme und küßte sie wohl ein dutzendmal rasch hintereinander auf die vollen Lippen, ehe sie sich losmachen und, immer noch lachend, die Tauspuren seines gefrorenen Schnurrbarts aus ihrem glühenden Gesicht reiben konnte.

Nun waren sie also verlobt! Und sie fragten nicht danach, ob diese wunderliche Liebesscene unter allerfreiestem Himmel Zeugen gehabt haben mochte, sie kehrten vielmehr spornstreichs um, ihr Glück der ganzen Welt zu verkünden. – – –

Mit Mariens überraschender Verlobung aber hatte es folgende Bewandtnis gehabt.

Es hatte sich in der That eine Operation als notwendig herausgestellt, und sie hatte sich derselben ohne Zögern unterworfen. Sie war vollständig geglückt und nun lag die Dulderin im Krankenhause und ließ sich von der vortrefflichen Tante Auguste und den Schwestern gesund pflegen. Acht Tage lag sie, fast ohne sich zu rühren – und dabei hatte sie Muße über die Zukunft nachzudenken. Eine stille Heiterkeit, eine himmlische Ruhe war über sie gekommen, so daß Tante Auguste »die tolle Komteß« von einst gar nicht wieder erkannte. Der berühmte Professor, der sie operiert, hatte ihr offen gesagt, daß sie aller Voraussicht nach vollkommen gesund werden würde, aber die Hoffnung aufgeben müsse, jemals Mutterfreuden zu genießen. Und diese Eröffnung, statt sie niederzudrücken, richtete sie vielmehr aus ihrer Verzagtheit auf. Jetzt konnte sie sogar den Kuß verzeihen, der ihr erst jüngst so grausam die Augen geöffnet hatte über das traurige Verhängnis ihres reizlosen Gesichtes. Sie konnte dies Gesicht nun nicht an ihre Kinder vererben, die es dann dem alternden Vater beständig wie einen Spiegel vorhielten, von dem er in mühsam verhaltenem Groll seine schönheitsdurstigen Augen abwenden mußte. Sie fühlte sich jetzt ganz frei und völlig der Aufgabe gewachsen, Norwig eine neue Gefährtin für das Leben und seinem Sohne eine wirkliche Mutter zu werden. Und er war auch frei und 157 durfte von seiner Freiheit den Gebrauch machen, den sein Herz ihm vorschrieb. Aber nun war er ja auch für sie verschollen, denn niemandem hatte er gesagt, wohin er sich wenden wollte.

An dem Tage, an dem sie zum erstenmal ihr Bett verlassen durfte, brachte ihr die Schwester, die sie bediente, einen prachtvollen Blumenstrauß.

»Von wem?« frug sie froh bewegt.

»Der Herr hat seine Karte in die Blumen gesteckt. Er fragt, ob er Ihnen vielleicht in den nächsten Tagen seine Aufwartung machen dürfe. Er hat einen wunderhübschen Knaben bei sich.«

Die Komteß hatte einen Blick auf die versteckte Karte geworfen und rief leicht errötend: »Bitte, lassen Sie den Herrn sogleich eintreten.«

Wenige Minuten später erschien Heinz Rolf von Norwig auf der Schwelle und führte an der Hand seinen elfjährigen Bill herein, ein wirklich ungewöhnlich hübsches Kind mit dunklem Krauskopf, frischen, gesunden Farben und großen, lustigen blauen Augen. Er verbeugte sich stumm an der Thür und dann flüsterte er dem Knaben ins Ohr: »Go up to this lady, Bill, and kiss her hand - she has been very, very kind to your poor papa!«

Und mit strammem, stolzem Schritt ging der kleine Amerikaner auf die Komteß zu und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie aber kniete rasch nieder, zog ihn an sich und sagte, indem sie ihm mit überströmender Zärtlichkeit ins Auge sah: »Willst du mir nicht lieber den Mund küssen, Bill?«

Der Kleine küßte sie herzhaft auf die bebenden Lippen – und sie preßte seine schmächtige, zierliche Gestalt fest an sich und brach in lautes Schluchzen aus.

»Komteß, teuerste Komteß – was bewegt Sie so?« rief Norwig. »Sie sehen, ich löse mein Wort ein, soweit ich es vermag – Bill gehört Ihnen.«

Master Bill machte sich ungeduldig aus der Umarmung los und rief mit possierlichem Stirnrunzeln: »How now! I dont like to see great big people a crying. Pa says, 158 you was rather a jolly woman and would let me have a pony to ride on.«

Durch Thränen lächelnd trat die Komteß auf Norwig zu, reichte ihm beide Hände hin und sagte: »Seien Sie mir herzlich willkommen – Beide! Ihr Bill hat mit seinen unschuldigen Lippen das Mal verlöscht, das sein böser Papa . . .« Sie errötete tief und ließ den Satz unvollendet. »Wie haben Sie mich hier entdeckt?«

»Ich wandte mich an meinen Freund, Herrn von der Maltitz – er hat mir Ihre Adresse mitgeteilt. Und als ich in der Zeitung las, daß – sie gestorben ist, da konnte ich nicht widerstehen: ich mußte es wagen, zu Ihnen zu dringen, um Ihre Verzeihung zu erflehen!«

Sie hielten einander so lange umschlungen, bis der kleine Bill sie sehr energisch auf die Langweiligkeit ihres Betragens aufmerksam machte. –

»Ja, wir drei wären nun wohl miteinander im reinen,« sagte Heinz Rolf im Verlaufe des Gesprächs. »Aber wie werden es die Eltern aufnehmen? Wie werden sie dich empfangen, wenn du ihnen den Mann, den sie mit Schimpf und Schanden aus dem Hause gejagt, als deinen Verlobten wieder bringen willst?«

»Schimpf und Schande werden wohl auf mir sitzen bleiben müssen,« versetzte Marie, indem sie ihr Haupt an seine Schulter lehnte. »Sie sind ja die Tollheiten von mir gewöhnt und haben mir schon mancherlei zu verzeihen gehabt, was man für gewöhnlich shocking findet. Sie haben mich ja immer damit geneckt, daß ich mich wie ein Mannsbild betrüge – nun, da bin ich ja gar nicht einmal aus der Rolle gefallen, als ich damals – den ersten Schritt that.« Sie legte ihre Arme um seinen Hals und flüsterte ihm erglühend ins Ohr: »Nicht wahr, mein Rolf, du versprichst es mir, daß zwischen uns nie von dieser Geschichte die Rede sein soll? Ich wußte ja damals nicht, was ich that – wirklich, ich wußte es nicht! Aber seit mich die Liebe zum Weibe gemacht hat, empfinde ich es erst, daß es solche Dinge gibt, die eine Frau niemals ungestraft thut! Nun – du hast mich dafür gestraft, und ich habe nichts 159 zu vergeben; aber jetzt, nicht wahr, jetzt erinnerst du mich nie mehr daran?«

Er strich ihr zärtlich über das Haar: »Mein gutes Herz, ich verspreche dir, was du willst – wir können ja sogar Potrimpos und Obotrit abschaffen, damit uns die Zeugen deiner tausendmal gesegneten Tollheit aus den Augen kommen. Aber du kannst mir nicht verwehren, an jene Stunde ewig dankbar zurückzudenken. Hättest du nicht das erlösende Wort gesprochen, wie hätte ich armseliger, schuldbeladener Mensch jemals wagen dürfen, um deine Hand zu werben – um die starke, liebreiche Hand, die mir so unverzagt aus dem Sumpfe meiner Vergangenheit herausgeholfen hat.« In überströmendem Gefühle kniete er vor ihr nieder und bedeckte ihre Hand mit Küssen. Und sie drückte kosend seinen dunklen Kopf zwischen ihren Handflächen und erwiderte glücklich lächelnd: »Und was habe ich dir zu danken, mein Freund? Du hast glücklicherweise gar keine Ahnung, was für ein unwissendes, talent- und gedankenloses Frauenzimmer ich im Grunde bin! Seit ich dich kennen lernte, sind mir erst die Augen aufgegangen über mich selbst und über noch so manches andre, Wichtigere in der Welt. – Dabei fällt mir ein: meine Mama wird nicht eben sehr erbaut davon sein, daß du mich denken lehrtest! Sie hält dich, seit du dich 'mal so offen zum Darwinismus bekannt hast, für einen ganz schlimmen Atheisten, weißt du!«

»Und obendrein Sozialdemokraten, Nihilisten und Dynamitarden am Ende gar – haha! Nun, ich hoffe ihr mit der Zeit eine günstigere Meinung von mir beizubringen – wenn uns die Gelegenheit dazu geboten wird. Was wird die liebe, gute Gräfin – übrigens habe ich vor ihrer Frömmigkeit die größte Hochachtung – nur die Abendandachten ausgeschlossen! – was wird deine Mama erst sagen, wenn sie meinem Bill das Glaubensbekenntnis abnimmt. Come along, Bill, how goes your first article - at school, you know?«

Und der kleine Kerl ließ sofort Kaffee und Kuchen, womit man seine Ungeduld beschwichtigt hatte, im Stich und 160 schmetterte mit gefalteten Händen die Worte heraus: »At the beginning there was the Protoplasm!«

»Haben Sie je so etwas gehört? Hahaha! – Im Anfang war das Protoplasma! Das hat der Knirps in der Schule gelernt! Sein Direktor, mein alter Freund, hat eben auch seinen kleinen Sparren. Er machte sich hier damit unmöglich – aber drüben hat er es wirklich fertig gebracht, eine darwinistische Klippschule ins Werk zu setzen. Ich möchte wissen, was sich der Junge von seinem heiligen Urschleim für eine Vorstellung macht. Jedenfalls hat er ihn ebensowenig jemals mit Augen geschaut wie wir unsern lieben Herrgott. Er hat also seinen Glauben so gut wie wir, aber ich möchte wetten, er wird sich darum in Worten und Werken durchaus nicht von den andern Buben seines Alters unterscheiden. Er wird ›ach Gott!‹ und ›Gott sei Dank!‹ sagen wie jeder ehrliche Christenmensch und sich ebensowenig dabei denken. Ich hoffe aber, es soll trotz Urschleim und Uraffe ein so tüchtiger deutscher Edelmann aus ihm werden, als seine Descendenz es ihm irgend erlaubt. Seine Seele ist heute noch so weich wie – Protoplasma; vielleicht daß unsre Erziehung eine solche glückliche Schiebung der Atome in ihm zuwege bringt, daß es ihm gelingt, abzustoßen, was etwa . . . nun, lassen wir sie ruhen! Sie sehen, es hat nur jeder Glaube seine besondre Sprache. Im Grunde streben alle tüchtigen Leute auf der ganzen Erde nach dem einen Ziele der Veredlung ihres eignen Selbst, nach Bereicherung ihres Gedanken- und Empfindungslebens zum Zwecke der Erhöhung der eignen Glückseligkeit, der Selbsterlösung von dem dumpfen Drucke der Furcht und Verzweiflung, die kleinmütige Menschen angesichts all der Ungerechtigkeit und Not dieser Welt überwältigt. Aus den Adels-Affen gingen die ersten Menschen hervor – vielleicht daß aus den Adels-Menschen, wie ich sie im Sinne habe, einmal eine neue Gattung hervorgeht, von der wir mit unsern Begriffen von Menschlichkeit uns keine Vorstellung machen können. Ich glaube an eine solche unendliche Entwicklungsfähigkeit – – und auch noch an manches andre: an die Allmacht der Liebe zum Beispiel, meine gute, starke, herrliche – tolle Komteß!«

161 Noch am selben Abend schrieb Heinz Rolf von Norwig an den alten Grafen Pfungk nach Schwerin einen langen Brief, in welchem er ihm, mit der Bitte, den armen Grafen Bencken niemals aus seinen so wehmütig glücklichen Illusionen zu reißen, über das angebliche Fräulein Sophie und seine Beziehungen zu ihm die nötigen Aufklärungen und damit auch den Schlüssel zu seinem verborgenen Verhältnis zu Komteß Marie gab. »Ich bin ein Mann, der außer seinem Kinde und seiner Arbeitskraft nichts besitzt, worauf er seine Zukunft gründen könnte« – hieß es dann weiter. »Die Welt wird ohne Zweifel sagen, und vielleicht werden auch Sie es denken, daß ich in meiner dienenden Stellung das hochherzige Vertrauen der Komteß mißbraucht habe, um mir durch sie wieder zu Ansehen und Besitz zu helfen. Nun, wir beide wissen, daß ganz andre Erwägungen uns zusammengeführt haben und wir werden fest zusammenhalten, auch wenn uns der elterliche Segen und dereinst das elterliche Erbe nicht zu teil werden sollten. Meine teure Braut ist entschlossen, wenn es sein muß, auch ein Leben voll Entbehrung und Arbeit mit mir zu teilen, wie sie auch entschlossen ist, meinem Sohne eine zweite, in höherem Sinne ja sogar eine erste Mutter zu werden! Aber wir bitten Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin trotzdem um diesen Segen, weil wir uns bewußt sind, daß unser Verhältnis des Segens der edelsten Eltern würdig ist. Ich stehe Ihrer herrlichen Tochter nicht nur in materieller Beziehung als armer Schlucker und Sünder gegenüber; ich blicke zu ihr hinauf als zu meiner Retterin – die Hand, die sie mir in hochherziger Wallung entgegenstreckte, darf ich nicht zurückweisen aus irgend welcher Bedenklichkeit eines spitzfindigen Ehrgefühls. Ich bin stolz genug, die Gewißheit zu hegen und auszusprechen, daß ich nunmehr auch ihr etwas mehr werde sein können, als ein dankbarer Schuldner. – Ich habe an mir selbst alle die Gefahren erlitten, welche einem Edelmanne in unsern Tagen so häufig drohen. Ich bin leichtsinnig eine unwürdige Ehe eingegangen, die in der Folge mich materiell zu Grunde richtete und mich in ein Leben hineintrieb, in welchem meine festesten Ueberzeugungen ins Schwanken gerieten. Schwerer 162 Versuchung bin ich erlegen, Ekel und Verzweiflung wurden mein Lohn, Einsamkeit mein Los – als ein Abenteurer kam ich in Ihr Haus. Aber die frische, gesunde Luft, die ich dort atmen durfte, hat mich gestählt zu dem letzten, schweren Kampfe gegen jenes Weib, das das Verhängnis meines Lebens geworden war, und zur rechten Zeit, in höchster Herzensnot durfte ich die Hand Mariens erfassen, und mich von ihr zu meinem bessern Selbst zurückgeleiten lassen. Im Bunde mit dieser echten Edelfrau werde ich mich wieder als echter Edelmann fühlen dürfen und meinen Sohn zu einem solchen erziehen können. Verehrtester Herr Graf, verehrteste Frau Gräfin: ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter Marie.«

Das Schreiben der Komteß hatte bereits die Eltern überzeugt, daß gegen den festen Entschluß der Tochter mit Allerweltsgründen nicht zu kämpfen sein würde; sie hatten aber auch zu dem klaren Blick und dem hohen sittlichen Ernst Mariens von jeher ein so festes Vertrauen gehegt, daß sie sich einigermaßen versichert halten konnten, daß sie ihre seltsame Wahl nicht im Rausche einer blinden Leidenschaft getroffen habe. Der edle, männliche Ton im Schreiben Norwigs that zudem auch das Seine, um die beiden trefflichen Leute mit dem Gedanken zu versöhnen, sich einen Schwiegersohn mit dem Kinde einer andern Frau ins Haus zu nehmen. –

Der Graf schrieb einen kurzen, sehr höflichen Brief an Norwig, in welchem er ihn als Schwiegersohn willkommen hieß und ihn einlud, sich baldmöglichst mit Braut und Sohn in Räsendorf einzufinden, wohin man nach dem kurzen und erfolgreichen Schweriner Ballfeldzug demnächst zurückzukehren gedachte.

Es wurde dem Grafen und seiner Gattin keineswegs leicht, ihre beiden Töchter an so wenig glänzende, einfache Edelleute wegzugeben, aber da beide Töchter nicht thöricht und gefährlich gewählt hatten, so durften sie ihrem Glücke nicht in den Weg treten. Der Senthiner war ja auch ein prächtiger Bursche, ein zuverlässiger, tüchtiger Mann, wie die lose Vicki einen brauchte, und dabei kein Philister, der 163 dem lustigen, warmblütigen Mädchen seine Jugend versauert hätte. Aber das, wie der Graf immer noch zu glauben geneigt war, weggeworfene Geld für die Pacht, das zog er ihr doch von der Mitgift ab, und sein Moor mochte er sich selbst weiter kultivieren, zur Strafe, daß er die liebe Lerche von Räsendorf entführte!

Uebrigens sind wir in der Lage, dem Leser zu verraten, daß Norwigs wirtschaftliche That, die berühmte Moorkultur, sich bereits im nächsten Jahre glücklich bewährte und für die Folgezeit glänzende Erträge verhieß. Unter diesen Umständen konnte auch der Senthiner die »gnädige Straf« des gestrengen Schwiegerpapas gleichmütig über sich ergehen lassen, denn die gesegnete Moorkultur erwies sich bald als der sicherste Reingewinn aus seiner so brüderlich belasteten Wirtschaft. Ludolf Reusche war freilich nicht wenig ergrimmt darob, daß seine Unglücksweissagungen sich nicht erfüllt hatten. Er sah sich darum bald nach der feierlichen Doppelhochzeit veranlaßt, Räsendorf zu verlassen; und da bekanntlich seine Beate »ein bischen was mitgekriegt hatte«, so übernahm er eine eigne kleine Pachtung. Brinkmann trat an seine Stelle – doch ist »Achneß« Meusel trotzdem bis heute unvermählt geblieben! –

In Bezug auf die Zukunft beschloß der Graf nach vielem ernsten Nachdenken und gründlicher Erwägung mit seiner Frau, Räsendorf einst Vicki zu vermachen, falls sie männliche Nachkommen haben sollte, weil er es bei der Wahrscheinlichkeit, daß Marie kinderlos blieb, nicht mit seinem feudalen Familiensinn vereinigen konnte, die alte Pfungksche Herrschaft in ganz fremde Hände gelangen zu lassen – noch dazu an den Sohn jener reizenden Schlange, verwünschten Angedenkens! Dagegen sollte Norwig schon in einigen Jahren die Verwaltung Räsendorfs selbständig übernehmen und die Einkünfte daraus zum größern Teile beziehen, so daß er bei einiger Umsicht und Sparsamkeit dereinst im stande wäre, sich wieder selbst anderswo anzukaufen. Der alte Graf freute sich eigentlich darauf, sich nun bald ganz von der Wirtschaft zurückzuziehen, um dann auf Reisen leben zu können. Daß seine gute Gattin ihn nicht überall hin begleiten werde, des 164 war er gewiß – und darauf gründete er allerlei leichtfertige Pläne, dieser unermüdliche Bewunderer der Jugend und der Schönheit! Die Frau Gräfin gedachte dagegen aus ihrem Altenteil in Räsendorf und Senthin gutwillig nicht zu weichen; aber auch sie freute sich auf die Schwieger- und besonders die Großmutterschaft. Die böse Freigeisterei Norwigs war ihr freilich ein Wermutstropfen in den Freudenkelch, aber endlich beruhigte sie sich doch bei dem Gedanken, daß ja nun ihrer schwiegermütterlichen Missionsthätigkeit eine hohe Aufgabe harre, welche erfolgreich zu lösen ihr des Himmels besondern Segen ins Haus bringen müsse.

Die Arme ahnte nicht, daß auch ihre Tochter bereits so sehr abtrünnig geworden war, daß sie gleich ihrem heidnischen Verlobten sich als höchsten Lebenszweck die Aufgabe gestellt hatte, ihren Bill zu einem Edelmann der neuen Zeit zu erziehen, welche er als Mann vielleicht berufen war, auch für den deutschen Adel mit heraufzuführen. Ein Mann sollte aus ihm werden, der seinen Vorzug vor andern Menschenkindern nicht darin sehe, daß er gegen eigne Ueberzeugung, gegen die innerste Empfindung seiner Generation an alten Vorurteilen zäh festhalte, sich absperre gegen die Forderungen der Gegenwart und in pfäffischer Gedankenlosigkeit die Erkenntnis von »dem Volke« fern zu halten strebe, sondern vielmehr ein Mann, der seinen Adel dadurch bethätige, daß er in stolzer Selbstachtung sich fern halte von der Gemeinschaft mit all der Niedrigkeit, der Heuchelei, der kalten Grausamkeit und unwürdigen Liebedienerei, die der wütende Interessenkampf der Gegenwart allüberall erzeugt, und den gemeine Naturen sich zu nutze machen, um lachend im Trüben zu fischen. Reine Hände, reines Herz! Edle Sitte, edler Sinn! Den Kopf weit offen für alles Neue und Jung-Gesunde, aber das Haus ängstlich verschlossen vor den Dünsten des großen Sumpfes, in welchen all die trüben Wässerlein aus den Höhen des Gesellschaftslebens hinuntersickern und aus dem die glänzenden Irrlichter aufsteigen, die so leicht den Mann verlocken, der nicht mit dem Wappenschilde des echten Adels sich die Augen verdeckt.

 

Ende.

 


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