Ernst von Wolzogen
Die tolle Komteß
Ernst von Wolzogen

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Fünfzehntes Kapitel.

Vickis »seraphische Liebe«. Ein verhängnisvoller Kuß. Ein Brief aus Italien bringt Aufklärungen, welche die tolle Komteß zu thatkräftigem Eingreifen anspornen. Gräfin Bencken tritt vom Schauplatz ab.

Man hatte nicht umhin gekonnt, auch Herrn von Norwig die erschütternde Nachricht von Vetter Emichs Heirat mitzuteilen, und es hatte diesen nicht geringe Ueberwindung gekostet, seine allzu lebhafte Anteilnahme im Beisein der Herrschaften nicht an den Tag zu legen. Er suchte umsonst noch an demselben Tage Gelegenheit, mit Komteß Marie zu sprechen.

Der Graf und seine Frau hatten sich dahin geeinigt, daß sie die Neuvermählten mit einigen höflichen Zeilen abfinden, fortan aber den Vetter Emich als ins Ausland verzogen betrachten wollten. Der Graf machte geltend, daß der unglückselige Büsterloher seinen thörichten Streich bald genug bereuen würde, und dann könne man ihm ja immer noch durch freundschaftliche Aufklärung aus der Bredouille helfen. Sollte er sich aber gar im Besitze der reizenden Intrigantin mit den kleinsten Füßen glücklich fühlen, so möge man ihn darin nicht stören!

Komteß Marie war nun freilich andrer Ansicht und erwiderte auf Norwigs völlig ratloses »Was nun?«, daß sie nun sofort an ihren so arg betrogenen Vetter schreiben wolle, um ihm reinen Wein einzuschenken.

Norwig wandte ein, daß dadurch sein Verhältnis zu dieser Frau früher als beabsichtigt, das heißt, ehe er aus Amerika Antwort erhalten habe, an den Tag kommen würde; 127 doch blieb die Komteß dabei, daß endlich dieser Hydra der Lüge, ehe ihr immer neue Köpfe wüchsen, vollends der Garaus gemacht werden müßte. Norwig war nahezu verzweifelt über diese neue Verwickelung seiner Lage, doch die Komteß war beinahe heiter gestimmt dadurch und führte aus, daß sie ja nun ganz der immerhin unangenehmen Notwendigkeit überhoben würden, einen Scheidungsprozeß anzustrengen, dessen Ausgang, wie alles im Gebiete des Rechtes, unsicher sei. Es gelte ja jetzt nur, nachzuweisen, daß sie nicht Fräulein Bandemer, sondern vielmehr Josephine von Norwig, geborne Schweichel, sei. Dadurch würde sie ja selbst der Doppelehe überführt und die gerichtliche Auflösung beider Ehen zur selbstverständlichen Folge. Norwig mußte die Richtigkeit dieses Gedankens zugeben, blieb aber dabei, daß ihm eine Ahnung sage, er habe von seinem Schicksal nur noch schlimmere Wendungen zu erwarten. Josephine sei viel zu klug, als daß sie sich nicht in ihrer neuen Stellung der nötigen Deckung nach allen Seiten hin versichert hätte. Er sei überzeugt, daß es ihrer Schlauheit leichter fallen würde, einem Richter zu beweisen, daß er selber nicht Heinz Rolf von Norwig, als ihm, daß sie nicht Sophie Bandemer sei. Seinem Gelöbnis nach konnte er aber nichts anders thun, als sich dem Willen der Komteß ergeben.

Und sie zögerte nicht, ihrem erlauchten Vetter in einem langen Briefe die Augen zu öffnen. Das klassische Schreiben der Witwe Bandemer legte sie als Beweisstück bei. Aus der Andeutung am Schlusse seiner Heiratsanzeige vermutete sie ganz richtig, daß Fräulein Sophie ihre Entlassung als Folge irgend eines harmlosen Annäherungsversuches dargestellt habe, und verfehlte nicht, auch diesen Schwindel in das rechte Licht zu rücken.

Schon nach einigen Tagen traf die Antwort auf diesen Brief ein. Aber die Adresse zeigte nicht die großen steifen Züge des edeln Herrn zur Bencken, sondern eine zierliche Damenhand. Frau Gräfin Bencken-Büsterloh, geborne Bandemer, gab sich die Ehre, Komteß Pfungk mitzuteilen, daß sie nicht so thöricht sei, irgend welche aufregenden, unnützen Schriftstücke in die Hände ihres teuren Gatten gelangen zu 128 lassen. Der Grundsatz: »Was dem einen recht ist, ist dem andern billig,« sei freilich ein erzdemokratischer, aber die gnädige Komteß hätten in ihrem großmütigen Sinn ja so viel Verständnis für menschliche Schwäche und würden es ihr ebensowenig verdenken, daß sie zwei Männer für sich ersprießlich achte, wie sie Herrn von Norwig seine zwei Frauen mißgönnen würde. Sie möchte ihr sogar empfehlen, nunmehr die heilige Dreizahl zu erfüllen, da sie, Sophie, sich ja freiwillig kaltgestellt habe. Allerdings müsse sie sich für den Fall erneuter Angriffe die eventuelle Rückverwandlung in Frau von Norwig I. vorbehalten und darauf aufmerksam machen, daß ihr ein mächtiges Hilfscorps in Gestalt der Frau von Norwig II. jederzeit zur Verfügung stehe. Zum Schluß machte sie noch die ergebenste Mitteilung, daß sie, dank dem gütigen Entgegenkommen ihres Mannes, die Freude habe, ihre liebe Mama jetzt dauernd bei sich behalten zu dürfen! In einem eignen Postskriptum erklärte thatsächlich die verwitwete Wachtmeisterin, vormals Posamentier- und Schnittwaren, derzeit Rentiere Selma Bandemer, daß nur die »miserabelichte Malerei von den sauberen Herrn Fink« sie vermocht hätte, ihre geliebte Tochter zu verleugnen, welche sie vielmehr zweifelsohne als ihr leibliches Kind erkannt hätte, sobald sie persöhnlich (persönlich war mit einem h geschrieben!) in Lüneburg sich vorgestellt hätte.

Komteß Marie wurde durch die nichtswürdige Form dieses Briefes so gereizt, daß sie nahe daran war, Herrn von Norwig zu erklären, sie dürfe mit seinen Angelegenheiten fortan nichts mehr zu thun haben, da sie sich unmöglich als Dame derartigen unerträglichen Angriffen aussetzen könne.

Norwig bezeigte die größte Lust, auf der Stelle nach Friedenau zu reisen und diese teuflische Zerstörerin seines Lebens einfach über den Haufen zu schießen. Seine völlige Verzweiflung erweckte aber den selbstlosen Opfermut der Komteß aufs neue, und sie versprach, mit allem Fleiß auf neue Mittel und Wege zur Erreichung ihres Zieles sinnen zu wollen. – –

Aber es war Winter geworden, ohne daß die 129 Angelegenheit irgendwie gefördert worden wäre, oder gar von selbst eine günstigere Wendung genommen hätte. Bei solchem hoffnungslosen Zuwarten war die Stellung der beiden Liebenden zu einander wie zu den Hausgenossen eine wahrhaft qualvolle geworden. An ihre etwaige Vereinigung war jetzt weniger zu denken denn je, und Norwig konnte nichts thun, um sein Wort einzulösen, solange keine Antwort aus New York eintraf. Sein Freund, der Schuldirektor, hatte ihm geschrieben, daß der Aufenthaltsort der Clarks nicht zu ermitteln sei. Der Alte habe sein Geschäft verkauft und befinde sich seit Jahren mit seiner Tochter auf Reisen. Dadurch erklärte sich zwar das Ausbleiben der bang erwarteten Antwort, aber gleichzeitig wurde auch die Angelegenheit zum völligen Stillstand verurteilt. Unter diesen Umständen mußten sie beide um so ängstlicher voreinander auf der Hut sein, besonders seit dem Oberverwalter in der Person der jungen Frau Reusche – der Inspektor hatte Mitte November geheiratet – eine neue und gefährliche Aufpasserin erstanden war. Herr von Norwig wohnte auch seither im Schlosse, da den Inspektors das ganze obere Stockwerk des Wirtschaftshauses eingeräumt worden war. Trotzdem hatte sein Verhältnis zum Grafen an Herzlichkeit ein wenig eingebüßt, da dieser durch den sehr mittelmäßigen Ausfall der Ernte und gewisse geschäftliche Aergernisse, an denen freilich der Verwalter keinerlei Schuld trug, recht übellaunig und reizbar geworden und daher der böswilligen Flaumacherei Reusches in betreff der sehr teuren Moorkultur besonders zugänglich war. Es war schon so weit gekommen, daß der Inspektor es hatte wagen dürfen, dem Grafen durch die Blume zu verstehen zu geben, daß er recht wohl ohne einen Oberverwalter auskommen könnte, beziehungsweise daß er, Reusche, selbst eine solche Stellung vollkommen auszufüllen vermöge. Andrerseits hielt es Norwig für seine Ehrenpflicht, jede persönliche Empfindlichkeit zu unterdrücken und auf seinem Posten auszuharren, bis er dem Grafen durch den Erfolg bewiesen hätte, daß er sein Vertrauen keinem eitlen Gaukler geschenkt habe. Die schwierige Arbeit war ja nun glücklich vollendet, in den nächsten Tagen ging es an die Bestellung. Er konnte 130 ohne jedes Bangen dem Frühling entgegensehen, der seine Kühnheit glänzend rechtfertigen mußte.

Norwigs bester Freund war und blieb naturgemäß Herr von der Maltitz, aber diese Freundschaft konnte ihm freilich zur Zeit wenig nützen. Es war auch nicht zu verwundern, daß Herr von Norwig mit der Zeit seinen Reiz als amüsanter Gesellschafter für den Grafen mehr oder weniger verlor, da es ihm nicht gelang, die tiefe Niedergeschlagenheit seiner Seele völlig zu verbergen.

Wäre doch wenigstens Vicki zu Hause gewesen! Zu Weihnachten sollte sie kommen. Tante Auguste hatte in ihrem letzten Briefe geschrieben, sie sei zwar ein liebes, herziges Ding, aber zur Diakonissin durchaus nicht geeignet. Der Anblick der ersten Operation habe sie geradezu krank gemacht und es wäre mehr als grausam, sie zu etwas zwingen zu wollen, wogegen ihre frische Jugend sich mit allen Fasern sträubte. Nur zu einem Dienst sei sie wie keine andre geeignet: nämlich dazu, den auf dem Wege der Besserung befindlichen Kranken durch ihre lustigen Kindereien die Langeweile zu vertreiben. In dem Saale der Revierkranken herrsche oft eine so ausgelassene Heiterkeit, daß man sich eher in einem Vergnügungsort denn in einem Hospital zu befinden glaube. Selbst dem salbungsvollen und gemessenen Anstaltsgeistlichen, dem Licentiaten Theophil Wurm, sei es unmöglich, in ihrer Gegenwart ernst zu bleiben. Die Schwestern wetteiferten darin, sie zu hätscheln und zu verziehen und würden ihr Scheiden innig bedauern, trotzdem aber müsse sie dazu raten, das Mädchen wieder nach Hause zu nehmen, um so mehr, als sie ihre Liebesgrillen glücklich überwunden zu haben schiene.

Aber als Vicki dann wirklich kam, entsprach sie gar nicht den Vorstellungen, die man sich nach der Schilderung der Tante von ihr gemacht hatte. Sie schien sich alle Mühe zu geben, den Ihrigen durch ihr ungemein sittsames, zurückhaltendes Betragen und einen beinahe unheimlichen Eifer für allerlei Uebungen der Frömmigkeit zu beweisen, daß der Aufenthalt in Berlin ihre Sinnesrichtung thatsächlich so vollkommen verwandelt habe, daß von der kindischen, 131 leichtherzigen Vicki kaum eine Spur mehr übrig geblieben sei. Die Eltern glaubten, daß ihr Kind absichtlich Komödie spiele, um sie zu überzeugen, daß schon das eine Vierteljahr vollkommen geleistet habe, was sie von einem ganzen erwartet hatten. Sie kamen sich in diesem Wahne sehr klug vor und beschlossen, Vicki als Weihnachtsfreude die Eröffnung zu machen, daß sie nicht wieder in das Krankenhaus zurückzukehren brauche. Komteß Marie aber schüttelte den Kopf zu solchem Verdachte, sie wußte, daß planmäßige Verstellung ihrer Schwester völlig fremd war, und überdies hatten die heimlichen Seufzer, ohne welche Vicki nie einzuschlafen pflegte, ihre Vermutung bestärkt, daß ihre Schwärmerei für das Krankenhaus und ihre Sehnsucht nach Berlin doch wohl einen tieferen Grund haben müßten.

Wie sie allen Zweifeln stets ohne Zaudern auf den Leib zu rücken gewohnt war, so zögerte sie auch nicht lange, ihr Schwesterchen ordentlich ins Gebet zu nehmen, indem sie eines Abends also zu ihr sprach: »Weißt du, Vickichen, daß du mir als weltflüchtige Himmelsbraut sehr komisch vorkommst? Sei einmal ganz ehrlich: du trauerst wohl immer noch um deinen davongeflogenen Finken?«

»Wie kannst du nur so spotten!« erwiderte Vicki mit frommem Augenaufschlag. »Seit mein Geist erweckt worden ist, kann ich nicht ohne tiefe Scham an meine – Verirrung denken. Nein, wie der Mensch zu mir gesprochen hat! Gerade wie die Schlange zur Eva! Mich schaudert, wenn ich noch daran zurückdenke. Ach, früher habe ich mir nie etwas darunter vorstellen können, wenn Mama sagte, daß der Teufel in mancherlei Gestalt unter den Menschen wandle. . . .«

»Ach jetzt hör auf! Du willst wohl gar unsern guten Hanswurstfink zum leibhaftigen Gottseibeiuns machen! Welch ein Dompfaff hat dir den Finken so verleidet?«

Das Komteßchen seufzte tief auf: »O Ma, wie ich dich bedauere! Du bist eben noch ganz verstrickt in eitler Hoffart und Weltlust. Du solltest mit mir kommen in unser geweihtes Heim. Ich bin überzeugt, wenn du unsern Prediger Wurm hörtest, würden dir auch die Augen aufgehen!«

132 Komteß Marie konnte sich nicht enthalten, herzlich zu lachen: »O du unverbesserliche Vicki! Ich sehe schon, dieser geistliche Ohrwurm hat sich in dein Herz geschlängelt – du bist wieder einmal verliebt!«

»Pfui, wie kannst du so reden!« rief Vicki weinerlich. »Wie dürfte ich wagen, meine eitlen Wünsche zu solchem Manne zu erheben! Er hat meine Seele errettet, er hat mein Herz für den Himmel erobert und dafür will ich ihm mein Leben lang durch innige Verehrung danken.«

»Ist er verheiratet?«

»Nein.«

»Jung?«

»Am zehnten November ist er neunundzwanzig Jahre geworden; denke dir, an einem Tage mit unserm teuren Martin Luther geboren! Ach, und er ist so schön! Ich muß immer an den Apostel Johannes denken. Freilich hat er keine so langen Haare und auch einen Bart – weißt du, so einen ganz kleinen, blonden Backenbart! Und ein Organ!«

»Ei, das muß ja ein wahrhaft seraphischer junger Gottesmann sein! Liebt er dich denn wieder?«

»Wie kannst du so etwas denken? Sein Sinn ist nur auf die ewigen Dinge gerichtet. Freilich kann er auch ganz heiter sein – er macht sogar Witze – natürlich nicht im Amt! Aber bei Tische ging es oft so fröhlich zu, wie auf der Hochzeit zu Cana. Denke nur – einmal sagte er zu mir – es gab Pellkartoffeln und ich hatte ein rundes Dutzend für ihn geschält – halten Sie ein, Komteß, sagte er, ich bin ein sterblicher Mensch! ha, ha, ha!«

»Was ist denn dabei so furchtbar witzig?« frug Komteß Marie verwundert.

Doch Vicki beachtete den Einwand nicht und fuhr fort: »Ja, denke dir – und nach Tisch – die Schwestern waren schon hinausgegangen – da traf er mich auf dem Korridor – du mußt es auch gewiß niemandem weiter sagen! – und sagte: ›Ach ja, ich bin ein sterblicher Mensch! Und eine Kartoffel, von Ihren Händen geschält, könnte einem armen Adam gefährlicher werden als der Apfel der Erkenntnis!‹ Und dabei sah er mich so an.«

133 Das war wieder ganz die alte Vicki! Und wie sie ihre lustigen Augen verdrehte, um den seraphischen Blick des Licentiaten Theophil Wurm zur Anschauung zu bringen, da mußte die Schwester sie lachend in die Arme schließen.

Sie versäumte nicht, Vickis Geheimnis den Eltern zu verraten und gab selbst, als bestes Mittel, die bedenkliche Empfänglichkeit dieses siebzehnjährigen Herzens unschädlich zu machen, den Eltern den Entschluß ein, das Komteßchen schon in diesem Winter in die Gesellschaft einzuführen. So wurde denn, ohne daß des Licentiaten Theophil Wurm weiter Erwähnung geschah, feierlichst die Absicht verkündigt, zu Neujahr nach Schwerin zu übersiedeln, um daselbst den Fasching zu verleben und sich fleißig bei Hof und in der Gesellschaft herumzutummeln. Modezeitungen und Stoffproben wurden bestellt, Schneiderinnen ins Haus genommen, ja sogar ein Privattanzmeister für einen vierzehntägigen Kursus aus der Stadt geholt. Mit demütiger Ergebung ließ Vicki alle diese Weltlichkeiten über sich ergehen; und als sie sich in dem ersten fertigen Ballkleide dem erstaunten Papa vorstellen durfte, da jauchzte sie sogar aus Versehen laut auf.

Der Graf war freilich nicht allzu entzückt von dem Gedanken, drei Monate hindurch als Ballvater sich herumschleifen lassen zu müssen und in großer Gala mit alten Excellenzen beim Whist auszuharren, bis das eilige Souper und das Glas Sekt verdient war. Die Gräfin hätte keine Frau sein müssen, wenn ihr die Aussicht, ihre Vicki bewundert und umworben zu sehen, nicht geschmeichelt hätte; aber ihr gutes Herz that ihr weh bei dem Gedanken an ihre älteste Tochter, welche durch die frischen Reize der Schwester nun gänzlich in den Schatten gestellt werden würde, abgesehen davon, daß ihr seit dem Sturze das Tanzen verboten war. Ueberdies langweilte sie das Gesellschaftstreiben der Residenz gründlich und dem Herumstehen und Knicksen bei Hofe unterzog sie sich nur unter stillem Protest.

Das Opfer, welches Komteß Marie ihrer Schwester brachte, indem sie sie nach der Residenz begleitete, vermochte niemand von den Ihrigen in seiner ganzen Größe zu 134 begreifen. Wie ganz anders als früher würde sie jetzt die Haltung der genußfrohen Gesellschaft der reizlosen Frau gegenüber empfinden! Zwar ist es ein Hauptmerkmal guter Erziehung und ritterlicher Sitte, daß die Herren der besten Gesellschaft es ängstlich zu vermeiden suchen, die häßlichen jungen Damen über den hübschen zu vernachlässigen; aber ein fein empfindendes Gemüt merkt den Unterschied nur allzu leicht: die Unterhaltung ist gezwungen, Höflichkeit und guter Wille sind an die Stelle der gefallsüchtigen Liebenswürdigkeit, des heimlich werbenden Eifers getreten! – Marie hatte einen Karneval mitgemacht und sich auf ihre Weise prächtig unterhalten dadurch, daß sie durch ihr Wesen, ihre Offenheit, die manchmal bis zur Derbheit ging, und durch ihre Unzugänglichkeit für allen blauen Dunst und alle Geckerei die Herrenwelt in eine Bestürzung versetzte, die ihr sehr drollig vorkam. Nun aber war sie ein liebendes Weib geworden. Und da sollte sie hinaus in die Welt, um sich dort bestätigen zu lassen, was ihr selbst schon so schmerzlich bewußt war! Daß sie in den Augen der Männer nicht liebenswürdig und begehrenswert erschien! Sie glaubte an die Liebe, die Norwig ihr entgegenbrachte, aber sie fragte sich auch mit bangem Zweifel: würde diese Liebe auch Bestand haben, wenn nicht mehr die Einsamkeit und Herzensverlassenheit sie nährte, wenn ihm Gelegenheit würde, zu vergleichen!? – Aber mit ihm allein im Hause zurückbleiben? Unmöglich! Sie mußte daran denken, wie damals im Stall die Leidenschaft sie hingerissen hatte – und sie wies den Gedanken, allein daheim zu bleiben, weit von sich. –

Eines Abends, es war wenige Tage vor der festgesetzten Abreise der Familie, stieg Norwig die Treppe empor, um sich zum Thee umzukleiden. Da trat ihm auf der Flur des ersten Stockwerkes, den eine Oellampe matt erhellte, Komteß Marie entgegen. Sie kam aus dem Zimmer ihres Vaters, dem sie sich in einer eben fertig gewordenen Toilette gezeigt hatte, und schritt wieder ihrem Zimmer zu. Norwig sah nicht das schillernde Seidengewand, das sich eng um ihre königliche Gestalt schmiegte, er sah nicht die kostbaren Spitzen, welche in reicher Fülle leicht über die raschelnden Falten 135 fielen, er sah nicht den prachtvollen Strauß künstlicher Theerosen, der an ihrem Busen prangte – auch nicht das Gesicht, das sie ihm lächelnd und errötend zuwandte – er sah nur den stolzen Nacken, die blendenden Schultern, die klassische Büste, die unverhüllt aus den duftigen Spitzen hervorwuchsen, den vollen weißen Arm, wie er in marmorner Pracht lose an ihrer Seite lag, um die Schleppe zu halten. Und er stürzte wie ein Rasender auf sie zu, umschlang die üppige Gestalt fest mit beiden Armen und heftete einen tollen Kuß auf ihre Schulter.

Die Komteß schrie auf vor Scham und Schmerz und stieß ihn gewaltsam von sich. Zugleich öffnete sich die Thür ihres Schlafzimmers und die Mutter, Vicki, die Zofe und die Schneiderin erschienen mit bestürzten Gesichtern in der Oeffnung.

Die Komteß zitterte am ganzen Körper. Vergebens suchte sie sich zu fassen, eine Lüge zu ersinnen, um den Skandal vor den Leuten zu vermeiden.

Die Gräfin konnte nicht darüber im Zweifel sein, was hier vorgegangen sei. Sie drückte rasch die Thür hinter sich ins Schloß, trat mit zornroten Wangen auf Herrn von Norwig zu und sagte mit vor Entrüstung zitternder Stimme: »Sie werden begreifen, mein Herr, daß Sie unser Haus verlassen müssen. Ich werde sofort mit dem Grafen reden.«

Komteß Marie floh in ihr Wohnzimmer und riegelte die Thür hinter sich zu. Norwig folgte der Gräfin in das Zimmer ihres Gatten. Auch dieser war sprachlos vor Entrüstung. »Wie ist es möglich,« rief er endlich aus, »daß Sie, ein Mann von vierzig Jahren – ein Edelmann – einen solchen Vertrauensbruch begehen konnten. Ja, einen Vertrauensbruch nenne ich das! Ich habe erfahren, daß Sie auch mit der Dame, die jetzt die Gattin meines Neffen ist, ein . . . ein weitgehendes Verhältnis unterhalten haben – ich habe dazu stillgeschwiegen, aber wenn nun auch mein Haus nicht vor Ihnen sicher ist. . . .«

Ein dumpfer Klagelaut entrang sich Norwigs Lippen und er streckte wie abwehrend die Hände gegen den Grafen aus.

136 »Haben Sie etwas zu Ihrer Entschuldigung anzuführen?«

»Nein – nichts! Ich werde versuchen, noch heute nacht den Jahresabschluß fertig zu machen und Ihnen morgen die Bücher vorlegen. Dann werde ich Sie ohne Zögern von meiner unwürdigen Gegenwart befreien.« Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Bald ruhelos umherwandernd, bald ihr Haupt in die Kissen des Diwans hineinwühlend, wachte die Komteß Marie die Mitternachtsstunde heran. Und noch einmal, ehe sie zur Ruhe ging, betrachtete sie im Spiegel das rote Mal auf ihrer Schulter. Sie fühlte es – nie würde das aufhören zu brennen und sie daran zu mahnen, daß eine Frau nicht ungestraft dem Manne ihre Leidenschaft zuerst verrät. Hätte er je gewagt, sie so zu beschimpfen, wenn nicht jene Scene im Pferdestall vorausgegangen wäre? Hatte er denn etwas Aergeres gethan als sie? Weshalb zürnte sie ihm denn so sehr? Und sie mußte sich gestehen: Hätte er dich auf den Mund geküßt, du hättest in seliger Hingebung standgehalten und keinen Laut von dir gegeben. Und wäre auch die Mutter dazu gekommen – du hättest frei und offen deine Liebe bekannt.

Dieser Kuß aber war ihr kein Zeichen seiner Liebe gewesen! Und wenn sie sich vorstellte, daß sie dieses Mannes Gattin werden sollte, dann dämmerte ihr die grausame Erkenntnis auf, daß in dieser Ehe die duftige Blüte holdester Sinnenlust niemals aufblühen werde. Dankbarkeit und Seelenverwandtschaft allein könnten das Glück der Liebe nicht ersetzen und . . . sie starrte lange in den Spiegel und dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. – –

Am andern Mittag stand Norwig auf dem Bahnhof von Mellenthin und sah in der Richtung, von wo der Zug nach Berlin erwartet wurde, das Gleis hinauf. Herr Büchting, der Bahnhofsinspektor, stand neben ihm und ärgerte ihn weidlich durch seine Klagen über den Weggang des reizenden Fräuleins Bandemer. Im tiefsten Vertrauen teilte er ihm mit, daß das Fräulein damals gar nicht nach 137 Lüneburg abgefahren sei, sondern vielmehr heimlich den Berliner Zug abgewartet habe. Es seien köstliche Stunden gewesen, die er mit ihr verplaudern durfte. Sollte er ihr vielleicht zufällig – dabei erlaubte er sich bedeutsam mit den Augen zu winken – in Berlin begegnen, so möge er sie doch recht schön von ihm grüßen.

Die Signalglocken schlugen an – H G E! Mit schrillem Klang schnitt die Erinnerung an den Tag seiner Ankunft auf diesem Bahnhofe Norwig ins Herz. Und wie damals pfiff er jene Walzermelodie vor sich hin.

»Ha ha!« lachte Herr Büchting. »Es ist mir auch schon aufgefallen!« Und mit einem heisern Nasentenor intonierte er vergnügt: »Denn ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküßt!«

Der Berliner Zug kam und Norwig bestieg eiligst einen Abteil zweiter Klasse. Er war allein. Er warf sich erschöpft auf das Polster und versuchte zu schlafen, denn er hatte die ganze Nacht mit wüstem Kopf und hämmernden Pulsen über dem Hauptbuch gesessen. Aber er konnte nicht schlafen – unaufhörlich und unnachsichtig dröhnte in seinen Ohren jene Leierkastenmelodie und der rollende Zug klapperte den Takt dazu. – –

Zu Neujahr hatte Vetter Emich, wie alljährlich, den Pfungks seine pflichtschuldigen Glückwünsche auf einer Postkarte abgestattet. Zum Schluß hieß es darauf: »Meine gute Schwiegermutter und ich sehen dem neuen Jahr mit ernstester Sorge entgegen – unsre liebe Sophie ist lebensgefährlich erkrankt.«

Und etwa vierzehn Tage später traf ein Schreiben für Komteß Marie ein mit dem Poststempel Neapel und mit einer Fürstenkrone auf dem Umschlag. Die Komteß erbrach es neugierig und las zunächst die Unterschrift: Arabella, Princesse da Mirandola, née Clark. Das Schreiben war in elegantem Französisch abgefaßt und lautete in der Uebersetzung etwa folgendermaßen:

»Ihr Brief, verehrte Komteß, ist mir monatelang durch die halbe Welt nachgereist. Zum Glück traf er mich allein, 138 denn er erweckt die Erinnerung an eine Vergangenheit, von der mein Gatte nichts ahnt. Erfahren Sie also folgendes: Sobald Herr von Norwig mich nach der Entdeckung seines Betruges verlassen hatte, war es mein und meines Vaters erstes Bestreben, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Ich gestehe, daß ich schwach genug war, jene Person, seine erste Frau, nicht sofort aus unserm Hause zu weisen; denn es drängte mich, über den Mann, der, wie ich nicht leugnen will, eine wärmere Neigung in mir zu erwecken gewußt hatte, möglichst viel zu erfahren – sei es nun, um ihn entweder entschuldigen, oder so verachten zu können, daß sein Bild völlig aus meiner Seele getilgt wurde. Sie werden sich vorstellen, in welchem Sinne jene Frau mich einzunehmen suchte. Nach unsern Gesetzen war meine Ehe allerdings ohne weiteren Prozeß als null und nichtig anzusehen; Herr von Norwig dagegen wegen Betruges zu verfolgen. Es kostete viel Ueberlegung und manche Lüge, um ein peinliches Aufsehen zu vermeiden. Natürlich war uns nichts unbequemer als die Anwesenheit der Frau von Norwig in unserm Hause, besonders nachdem es feststand, daß ihr Gatte dem Arme des Gesetzes glücklich entronnen und ihre Aussicht ihn wiederzugewinnen, abermals in weite Ferne gerückt sei. Bisher hatte sie die grausam mißhandelte Gattin, die schnöde ihres Kindes beraubte Mutter gespielt – jetzt benutzte sie ihre eigentümliche Stellung, um für ihr Schweigen Geld zu erpressen. Sie kostete meinem Vater erhebliche Summen und noch viel mehr Angst und Aerger; ja, diese Furcht vor dem immer drohenden Skandal trieb ihn zuletzt zu dem Entschluß, sich von dem Geschäft zurückzuziehen und mit mir auf Reisen zu gehen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich nach dieser Erfahrung das Vergehen meines Gatten weit milder beurteilen lernte. Ja, ich kann sagen, daß in der Erinnerung an die wenigen Wochen voll häuslichen Glückes und geistiger Anregung, die ich an seiner Seite verlebte, sowie besonders im Vergleiche mit den Männern der großen Welt, die ich auf unsern Reisen kennen lernte, das Bewußtsein seines Wertes sich eher verstärkte als verblaßte. Ich habe Jahre gebraucht, ehe ich mich entschließen konnte, den 139 Werbungen, die an mich herantraten, Gehör zu geben. Ich bin erst seit einem halben Jahre die Gattin des edlen und feinsinnigen Fürsten Mirandola.

»Was aus jener Person geworden ist, nachdem sie unser Haus verlassen hatte, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß sie eine Dienerin unsres Hauses, die Frau unsres farbigen Kochs, veranlaßte, ihr heimlich zu folgen. Es war eine Deutsche und hieß Sophie. Ihren Mädchennamen habe ich vergessen, doch weiß ich, daß ihre Mutter eine Wachtmeistersfrau in Lüneburg war. Vielleicht glückt es Ihnen, diese Spur zu verfolgen und über die Dame Näheres zu erfahren.

»Mit der Bitte, Herrn von Norwig mitteilen zu wollen, daß ich ihm verziehen habe und ohne Groll seiner gedenke, empfehle ich mich Ihnen als Ihre &c.« – –

Auch der Schweriner Arzt, welchen die Gräfin über das Leiden ihrer Tochter befragte, hatte ihr geraten, zu jenem berühmten Berliner Spezialisten zu gehen, um sich nötigenfalls in dessen Privatklinik einer Operation zu unterwerfen.

Man hatte bisher immer noch gezögert, diesem Rate nachzukommen, weil ja die Komteß durch ihr Leiden wenigstens nicht in ihren Lebensgewohnheiten empfindlich gestört wurde. Als aber einige Tage nach dem Eintreffen des Briefes der Fürstin eine den Pfungks befreundete ältere Dame nach Berlin zu reisen im Begriff war, benutzte Komteß Marie die Gelegenheit, sich ihr anzuschließen, indem ihr plötzlich die Erkenntnis aufgegangen zu sein schien, daß es doch ein sträflicher Leichtsinn sei, die Mahnung des Arztes so lange unbeachtet zu lassen. In Berlin war ja Obdach und Pflege durch ihre Tante Auguste aufs beste vorgesehen.

Sie hatte absichtlich unterlassen, die Stunde ihrer Ankunft mitzuteilen. So konnte sie denn am Hamburger Bahnhof allein eine Droschke besteigen und sich nach Friedenau hinausfahren lassen.

Es war eine sehr einfache, einstöckige Villa, welche ihr erlauchter Vetter bewohnte. Die hölzernen Jalousieen waren 140 an der Stirnseite des schmucklosen Häuschens sämtlich herabgelassen, so daß die Komteß befürchten mußte, die Bewohner seien verreist. Sie zog an der Glocke des Gartengitters und hörte den gellenden Klingelton im Hause durch das Kläffen eines Hundes beantworten. Erst als sie nach einer längern Pause ungeduldig zum zweitenmal geschellt hatte, kam ein Junge von etwa zwölf Jahren, mit geborstenen Lackstiefeln und schlecht geflicktem Anzug bekleidet, um das Haus herumgelaufen und fragte, ohne die Thür zu öffnen, nach ihrem Begehr.

»Hier wohnt Graf Bencken?«

»Jawoll, det stimmt.«

»Ist der Herr Graf zu Hause?«

»Allemal! Aber rinlassen darf ick Ihnen nich.«

»Wer bist denn du, du ungewaschener kleiner Schlingel?«

»Ick bin der jräfliche Jrohm,« versetzte der Schmutzfink stolz. »Ick kenne meine Schuldigkeit.«

»Aber warum willst du mich denn nicht einlassen?«

»Die Frau Jräfin liejen auf'n Dode.«

»Dann muß ich sofort herein!« herrschte die Komteß den verdutzten Groom an. »Ich bin eine nahe Verwandte des Grafen.«

»Det kann jeder sagen. Haben Sie nich wenigstens Ihre Karte bei sich?«

Die Komteß griff ärgerlich in ihre Tasche und entnahm ihrer Börse einen Thaler, den sie dem verfrorenen Jungen durch das Gitter reichte.

»Donnerwetter! Eenen janzen Dahler! Na, denn kommen Sie man rin – davor kann ick mir schon eene Backfeife jefallen lassen, wenn't nachher nich recht ist!« Er lief davon, um den Schlüssel zu holen.

Es war bitter kalt. Die Komteß mußte lange warten, bis der kleine Diener zurückkehrte. Er hatte es für nötig befunden, sich in aller Geschwindigkeit wenigstens die Livreejacke überzuziehen. Durch die Hinterthür geleitete er sie ins Haus. Eine dumpfe, stickige Luft schlug ihr entgegen, als sie, von einem hinkenden Dachs grimmig angeblafft, den halbdunklen Korridor betrat. Der Groom öffnete ihr die 141 Thür des »Salons« und lud sie ein, einen Augenblick dort zu warten. Es war vollständig finster in dem Zimmer und er mußte erst eine Jalousie aufziehen, damit sie überhaupt einen Stuhl finden konnte. Die Polstermöbel steckten alle in grauen Staubmänteln, ein Läufer von grobem Sacktuch war über den Teppich gelegt. Der Kronleuchter war auch sorgfältig eingewickelt und es sah aus, als ob da ein großer Kampferbeutel von der Decke herabhinge, um die Motten von all der verhüllten Herrlichkeit fern zu halten. Ein ungemütlicheres Zimmer hatte die Komteß in ihrem Leben noch nicht gesehen – und dabei war es eisig kalt.

Gleich nachdem der Junge hinausgegangen war, hörte sie im Nebenzimmer das leise Schelten einer Frauenstimme und bald darauf trat er wieder herein und bedeutete ihr achselzuckend, daß sie nur wieder ihrer Wege gehen möge – weder der Graf noch die Frau Schwiegermutter könnten sich jetzt von dem Sterbebette entfernen. Mit einem Seufzer folgte die Komteß dem Knaben hinaus. Hinter der ersten Thür, an der sie vorüberschritten, hörte sie ein krampfhaftes Husten. Sie blieb stehen, bis der Anfall vorüber war, dann drückte sie rasch entschlossen auf die Klinke und betrat leisen Schrittes das Zimmer. Auch hier war es trotz der frühen Nachmittagsstunde so dämmrig, daß sie nur eben die Umrisse der im Zimmer befindlichen Gestalten erkennen konnte.

Die kleine, formlose Frau, welche am Kopfende des Bettes saß, fuhr auf und machte Miene, dem unberufenen Eindringling entgegenzutreten, aber der Graf, der am Fußende saß, bedeutete ihr, sobald er seine Base erkannt hatte, durch eine Bewegung des Kopfes, daß sie sich beruhigen möge. Dann nickte er mit trübseligem Lächeln der Komteß zu – und sie trat geräuschlos hinter ihn und legte die Hände auf seine Schulter.

»Guten Tag, lieber Emich,« flüsterte sie ihm zu. »Ich konnte doch nicht nach Berlin kommen, ohne zu sehen, wie es bei euch steht.«

»Schlecht, sehr schlecht,« gab der Graf zurück. »Der Arzt ist schon gegangen – gar keine Hoffnung mehr!« Er ließ den goldenen Klemmer von der Nase fallen – große 142 Thränen liefen ihm in den blonden Schnurrbart, der ungepflegt, schlaff über die Mundwinkel herabhing. Aber selbst in seinem tiefsten Schmerze vergaß er doch nicht die Pflicht der Höflichkeit und stellte die Komteß mit der Würde eines alten Kammerherrn seiner Schwiegermutter vor. Die kleine Dame machte einen tiefen Knix, rückte ihre Haube zurecht und nahm ihren Platz am Kopfende des Bettes wieder ein.

»Was ist es?« frug die Komteß leise.

»Schwindsucht!«

In dem breiten, reich geschnitzten Benckenschen Erbehebette, über welchem sich, auf vier gedrehten Holzsäulen ruhend, ein purpurner Himmel ausspannte, lag die sterbende Frau. Ihre Augen waren geschlossen, die langen schwarzen Wimpern zeichneten sich scharf gegen die durchsichtig weiße Haut ab. Der bleiche Mund war halb geöffnet, und der rasche aber schwache Atem blähte kaum mehr die zarten Flügel der gar so schmal und spitz gewordenen Nase. Die dunkle Lockenfülle breitete sich wirr über das weiße Kissen und die reich gestickte Morgenjacke aus. Frau Bandemer hielt die rechte Hand in der ihren, mit der linken krallte sich die Sterbende in den Falten des Gewandes über ihrer Brust fest. Und aus diesen Falten hervor lugte der Kopf einer schlafenden grauen Katze.

Komteß Marie stieß ihren Vetter leicht an und deutete fragend auf das Tier.

»Sie friert so furchtbar,« stammelte der Graf, mühsam ein lautes Aufschluchzen unterdrückend. »Die Katze muß immer auf ihrem Busen liegen, sonst, sagt sie, wäre ihr das Herz wie Eis. Ihre Füße sind schon wie abgestorben.«

Und mit neuem Eifer begann der arme Graf diese kalten, kleinen, weißen Füße unter der Bettdecke zu reiben und zu drücken; wie er es nun schon wochenlang unermüdlich gethan hatte.

Wie sehr die Komteß auch dieses Weib verachtete, das sein Leben hindurch nichts als Falschheit geübt, jetzt, da sie es im Sterben, und ein Menschenherz in ehrlichem Jammer ihm nachweinen sah, überkam auch sie eine Rührung, die ihr fast die Thränen in die Augen trieb. Sie setzte sich 143 still nieder und lauschte gleich den andern auf die immer schwächer werdenden Atemzüge der Sterbenden, welche in der unheimlichen Stille des Zimmers von dem behaglichen Schnurren der Katze übertönt wurden.

Plötzlich schlug die Gräfin Bencken die Augen groß auf und heftete sie glänzend und starr auf ihre Feindin. Sie schien nicht verwundert zu sein, sie hier zu sehen, obwohl etwas wie ein Wiederschein des Erkennens über ihre Züge huschte. Sie bewegte die Lippen – aber der schwache Atem reichte nicht mehr aus, verständliche Worte zu formen. Unruhig warf sie den Kopf hin und her, dann winkte sie mit der Linken die Komteß näher heran und preßte, als diese das Ohr ihrem Munde näherte, mit verzweifelter Anstrengung die Worte hervor: »Sagen Sie ihm . . . sagen Sie ihm . . .« ihre Kraft war erschöpft – die Lippen bewegten sich noch, aber sie waren auf immer verstummt.

Der Graf sprang auf und beugte sich über sie. »Sophie, stirb nicht! Hast du kein Wort für mich?«

Ein mattes Lächeln verklärte für einen Augenblick ihre wachsbleichen Züge, dann war es aus. – –

Die graue Katze sprang plötzlich wie entsetzt von ihrem Ruheplatz empor und mit einigen Sätzen über die Kissen hinweg an einer der hölzernen Säulen hinauf. Sie schlug ihre Krallen in die schweren Falten des Vorhangs ein, ihre grünen Augen richteten sich voll Grausen auf den starren Leib der Herrin, dessen Kälte sie aus ihrem Schlummer emporgeschreckt hatte – und dann ließ sie ein langgezogenes, überaus klägliches Miauen ertönen.

Der Graf brach an dem Bette zusammen und schluchzte wie ein Kind. Die Komteß wußte weiter nichts zu thun, als ihm immer wieder über die Schultern zu streicheln. Da hob er sein thränenüberströmtes Gesicht und rief laut aufjammernd, indem er das seidene Deckbett von den Füßen der Leiche zurückschob: »Sieh doch nur! Sind sie nicht göttlich schön? Und das ist nun alles tot – verloren auf immer!« Und er bedeckte die kleinen starren Füße mit glühenden Küssen. – –

Angesichts des furchtbaren Schmerzes des armen Vetters 144 war es der Komteß natürlich unmöglich, ihn über den Betrug aufzuklären, dem er sein kurzes Eheglück zu verdanken gehabt hatte – denn ihn hatte dieses Weib wirklich zu beglücken vermocht! Aber die Frau Bandemer nahm sie doch alsbald ernstlich ins Gebet. Der erschütternde Tod ihrer angeblichen Tochter hatte doch einen solchen Eindruck auf ihr Gemüt gemacht, daß sie sich bald genug zu dem Geständnis bequemte, Fräulein Sophie habe sie durch die verlockende Aussicht, die Schwiegermutter eines Grafen zu werden und in dessen Hause ihren alten Tagen sorgenlos entgegenzugehen, zu bestimmen gewußt, sie als ihre Tochter anzuerkennen. Die Papiere hatte sie ihrer wirklichen Tochter abgekauft, als diese, die einer Strafthat wegen polizeilich gesucht wurde, sich unter falschem Namen nach den Südstaaten begab. Ihre echten Papiere wurden in ihrem Nachlaß gefunden und die Komteß nahm sie, im Einverständnis mit Frau Bandemer, an sich, ohne ihrem Vetter etwas davon zu verraten. Mochte er in glücklichem Wahne ohne Bitterkeit seiner Sophie nachtrauern.

Es waren nun über fünf Jahre vergangen, seit Frau von Norwig Deutschland verlassen hatte. Und wenn das Gesetz sie auch noch nicht für verschollen erklären durfte, so lag doch in der Thatsache, daß sie so lange voneinander getrennt gelebt und nichts voneinander hatten hören lassen, ein triftiger Scheidungsgrund. Mochte man ihn auch der böswilligen Verlassung für schuldig erklären, weil er sie all die Jahre hindurch nicht unterstützt hatte – was kümmerte ihn dies Schuldig. Er konnte verurteilt werden, für ihren Unterhalt auch ferner zu sorgen – aber ihre Spur war ja nun von der Erde verwischt. Für den wenig wahrscheinlichen Fall, daß eifrigste polizeiliche Nachforschungen in den Vereinigten Staaten die wirkliche Sophie Bandemer entdecken sollten, konnte ja immer noch bewiesen werden, wer in Wahrheit als Gräfin Bencken gestorben war. Aber dieser Fall war undenkbar, solange nicht etwa die Witwe Bandemer sich selbst verriet und ihre Mitschuld an dem Betrug eingestand. Doch diese ehrwürdige Dame machte durchaus nicht den Eindruck, als ob sie sich von Gewissensbissen über 145 eine derartige Kleinigkeit aus ihrem warmen »Austragstüberl« in der bescheidenen Residenz des edeln Büsterlohers vertreiben lassen würde. Sie führte ihm sehr umsichtig die Wirtschaft und setzte sich besonders dadurch in Ansehen, daß sie ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit eröffnete, seine verstorbene Gattin sei die Tochter eines Prinzen von Geblüt gewesen. Daher die kleinen Füße! – – –

 


 


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