Ernst von Wolzogen
Die tolle Komteß
Ernst von Wolzogen

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Elftes Kapitel.

Handelt vorwiegend von den Zauberkünsten des Fräuleins Sophie und von Vickis erster Liebe.

Die Frau Gräfin hatte sich unterdessen den alten Hinrich in den Garten kommen lassen, um ihm verschiedene Aufträge zu erteilen. Es gehörte einiges Rednertalent und eine bedeutende Geduld dazu, um dem alten Hinrich einen Auftrag klar einzuprägen, nicht etwa, weil er schwach von Begriff gewesen wäre, sondern lediglich seines unglücklichen Gedächtnisses wegen, das mit den Jahren großlöcherig wie ein Kiessieb geworden war.

»Nu, Hinrich, warst du dat uk allens behollen?« schloß sie ihren Vortrag.

»I ja woll, gnä Fru,« grinste der alte Kutscher. »Ick sall tauirst nah dei Stadt führen . . .«

»Nee, Hinrich, nee! Tauirst sa'st du bi den Herrn Bahnhofentspekter vörführen und sa'st em den Kuhnhahn afgäben mit ein' schönen Gruß . . .«

»Un dei gnä Fru läten sick vählmoahl bedanken, dat Herr Bahnhofsentspekter so gaud west wihr un hadd dat Dings mit de Kist' un dat grote Winfaß so schön besorgt, un gnä Fru schickten Herrn Bahnhofsentspekter den Kuhnhahn un lät em gauden Ap'tit wünschen.«

»Sehr gut, Hinrich, sehr gut,« sagte die Gräfin. »Un dann sa'st du nah dei Stadt führen . . .«

»Nah dei Stadt führen un den Breif von gnä Fru bi den Herrn Klavierstimmer Möller afgäben un . . .«

»Na, un . . .?«

»Un . . . gauden Ap'tit wünschen!« stotterte der Alte mit einem ängstlichen Blick.

»Nee wat denn, Hinrich, wat's dat för dumm Tüg! Der Herr Klavierstimmer sall doch den Breif nich fräten! Du sa'st em blod afgäben un naher den Herrn Klavierstimmer mit to Hus bringen, verstanden?«

»Ja woll, gnä Fru – nu häv ick dat verstan'.«

»Na, Gott sei Dank! Denn lat di man den 44 Kuhnhahn von dat nige Fröln gew'n un denn mak, dat du wegkümmst!«

Der alte Hinrich suchte sofort das Fräulein auf, das von der Gräfin bereits den Auftrag bekommen hatte, einen fetten Kuhnhahn, auf deutsch einen Puter, sauber einzupacken. Nach langem vergeblichen Suchen und Fragen fand er Sophie endlich auf ihrem Zimmer mit Briefschreiben beschäftigt. Sie bat ihn sehr freundlich, doch einen Augenblick Platz zu nehmen, da sie ihm noch einen Brief mitzugeben habe. Hinrich saß bescheiden auf der äußersten Ecke eines Stuhles, dem reizenden Fräulein gegenüber und drehte verlegen seine Mütze in der Hand. Selbst auf diesen alten verwitterten Gesellen verfehlte Sophiens Schönheit ihren berauschenden Eindruck nicht. Er starrte sie mit offenem Munde an wie eine Lichterscheinung aus höheren Sphären, und der verwirrende Einfluß auf seine Sinne äußerte sich dadurch, daß, während er so das dunkle Köpfchen aufmerksam über das Papier gebeugt sah und die flüchtige Feder gleichsam mit elfenfeinem Stimmchen die Worte nachzirpen hörte, die sie schrieb, in seinem Kopfe der Bahnhofsinspektor, der Kuhnhahn und der Klavierstimmer Möller einen tollen Wirbeltanz aufzuführen begannen.

Das Fräulein war mit ihrem Brief fertig und sagte, während sie die Adresse schrieb: »Nicht wahr, lieber Hinrich, Sie sind so freundlich und übergeben diesen Brief dem Herrn Inspektor persönlich, mit der Bitte, ihn selbst in den Zugbriefkasten . . . oder warten Sie, ich will Ihnen lieber ein paar Zeilen an den Herrn mitgeben.«

Sie holte aus einem allerliebsten Täschchen eine Visitenkarte hervor und warf mit ihrer zierlichen, spinnwebleichten Schrift folgende Worte darauf hin: »Sehr geehrter Herr! Im Vertrauen auf Ihre Liebenswürdigkeit wage ich, Sie um die Gefälligkeit zu bitten, den beifolgenden Brief einem Zugführer zu übergeben mit dem Ersuchen, denselben auf der Endstation in den Kasten zu werfen. Mit freundlichem Gruß d. U.«

»So,« rief sie aufspringend, »diesen Brief und diese Karte geben Sie also, bitte, dem Herrn Inspektor ab.« Sie streckte 45 das rosigste und spitzeste Zünglein von der Welt heraus, um den Gummi des Umschlags zu befeuchten und reichte dann Brief und Karte, die letztere in einem kleinen Kouvert ohne Adresse, dem breit grinsenden alten Kutscher mit einem gewinnenden Lächeln hin. Dann ging sie mit ihm hinunter nach der Speisekammer, übergab ihm den sauber eingewickelten Kuhnhahn, entnahm dann ihrem Elfenbein-Portemonnaie eine Mark und sagte: »Nehmen Sie das für Ihre Mühe, lieber Hinrich.«

Der aber wies das Geldstück fast mit Entrüstung zurück und machte sich eilig davon. – Eine Viertelstunde später rollte der Jagdwagen aus dem Hofe. –

Die Herrschaften hatten sich inzwischen zum zweiten Frühstück zusammengefunden; auch Norwig mit Komteß Marie, welche jene unzeitige Störung durch den Inspektor Reusche doch zu der Erkenntnis gebracht hatte, daß der Pferdestall nicht eben der passendste Ort sei, um Bekenntnisse auszutauschen. Sie hatten es im Gegenteil für notwendig erachtet, sofort mit möglichster Unbefangenheit herauszutreten, und durch irgend eine leidlich wahrscheinliche Erklärung dem bestürzten Ludolf den etwaigen Verdacht zu benehmen, als ob er sie irgend wie unliebsam überrascht habe. Und nachher hatte sie, im Gespräch über wichtige Wirtschaftsangelegenheiten, der Inspektor bis an die Thür begleiten müssen.

Bei Tische war natürlich Komteß Maries Aussehen aufgefallen, und sie erklärte auf die besorgte Frage des Vaters der Wahrheit gemäß, daß der Anblick ihrer Pferde sie so schmerzlich aufgeregt habe. Der Graf tröstete sie damit, daß der Arzt ihr in Aussicht gestellt, sie werde doch bald wieder im stande sein auszufahren – und dann versprach er ihr zum Trost einen neuen Wagen zum Selbstkutschieren zu schenken, wie sie ihn sich gewünscht.

Was wohl Komteß Vicki für eine Erklärung gegeben hätte, wenn es jemandem eingefallen wäre sie zu fragen, was denn wohl das tiefe Karmin ihrer Wangen für eine Bedeutung habe! Doch war bei diesem gesunden Kinde an warmen Sommertagen alles begreiflich, und es blieb daher 46 völlig unbehelligt von neugierigen Fragen. Der erste Kuß hatte eine seltsame pathologische Wirkung auf Vickis Magennerven ausgeübt – sie vermochte kaum einen Bissen zu essen!

Uebrigens erging es Hanswurstfink nicht viel besser, und dem hatte doch noch niemand nachgesagt, daß er die gute Gabe Gottes bei Tische verachte! Beschämung und Furcht vor Entdeckung scheinen demnach dieselben gastrophysischen Eigenschaften zu entwickeln, wie die erste Liebe. Zum Glück glänzte Vetter Emich durch eine so erstaunliche Beredsamkeit in Pferde- und andern standesgemäßen Angelegenheiten, daß auch die Schweigsamkeit des Künstlers nicht besonders auffiel.

Komteß Vicki deutete sich natürlich diese Schweigsamkeit nach ihrer eignen Art. Gleich jedem unschuldigen jungen Mädchen aller zivilisierten Völker war sie überzeugt, daß der erste Kuß für das ganze Leben bindend und gewissermaßen eine Anweisung auf den Verlobungsring sei, zahlbar nach Besiegung etwa vorhandener Hindernisse. Diese Hindernisse schienen ihr in ihrem Falle doch einigermaßen bedenklich. Wenn sie ihren würdigen Papa mit dem weißen Zwickelbart, und ihre Frau Mama mit den beweglichen Wangen und dem Brüsseler Spitzenshawl so dasitzen sah, lief es ihr fröstelnd über den Rücken bei der Vorstellung, daß der ehrliche Hanswurstfink, des ollen Teerfinken Sohn, vor jenes erhabene Paar hintreten und um ihre Hand anhalten sollte. Und der teure Hans guckte so trübselig auf den Teller, als bewegten ihn ähnliche ungemütliche Vorstellungen. Am Ende legte er sich eben jetzt die Worte zurecht, durch welche er – vielleicht unmittelbar nach dem Frühstück! – das Herz der Mutter zu rühren und den starren Sinn des Vaters zu beugen gedachte! Komteß Vickis Herz klopfte so laut, daß sie fürchtete, es könnte Vetter Emichs knarrendes Kavallerieorgan übertönen, und sie wurde noch um eine Schattierung röter bei dem niederschmetternden Gedanken, daß sie gerade heute unglücklicherweise – ihr allerkürzestes Kleid anhatte! In diesem Aufzuge konnte sie sich unmöglich verloben, und sie beschloß, sofort nach Tisch ihr schwarzseidenes Konfirmationskleid anzuziehen, falls es 47 ihr nicht gelänge, vorher einen kleinen Aufschub der Entscheidungsstunde bei ihrem Zukünftigen durchzusetzen. Trotz aller Furcht vor dieser Entscheidung war sie aber doch fest entschlossen, an ihrem Hans festzuhalten, und sollte selbst ihr grausamer Vater sie wochenlang in seinem Burgverließ schmachten lassen, da wo es am finstersten war und die Ratten am muntersten. Zwar war weder ein solches mittelalterliches Gelaß im Schlosse vorhanden, noch hatte ihr Papa jemals Spuren von Grausamkeit gezeigt, doch wäre die Komteß im stande gewesen, selbst dies und Aergeres siegreich zu überwinden.

Herr von Norwig war genötigt, sofort nach beendigtem Lunch aufs Feld zu gehen, und Fink wollte noch ein Stündchen an seinem Bilde arbeiten. Der Graf und sein Neffe erbaten sich die Erlaubnis, im Atelier eine Cigarre rauchen zu dürfen, Komteß Marie fühlte sich sehr angegriffen und mußte sich auf ihr Zimmer zurückziehen. Komteß Vicki war zunächst den andern in den Hubertussaal gefolgt, aber nur um die Gelegenheit abzupassen, ihrem Zukünftigen ein Wort zuzuraunen. Diese Gelegenheit ergab sich bald genug, als die beiden Grafen, hinter der Leinwand stehend, mit der Gräfin über den Faltenwurf ihres Kostüms in Streit gerieten, während Fink bereits vor der Leinwand seine Farben mischte, um das Fleisch anzulegen. Da trat Vicki rasch hinter ihn und flüsterte ihm zu: »Sage noch nichts, Hans?«

Sie war über dies erste »Hans«, das ihre Lippen hervorgebracht hatten und über die glücklich gelungene Anwendung der süßen zweiten Person Singularis sehr stolz und glücklich und huschte gleich darauf unter irgend einem Vorwand hinaus.

Hanswurstfink wußte nicht recht, wie er ihre Worte deuten sollte, denn er hatte ja gar nicht daran gedacht, irgend etwas zu sagen! Er handhabte die Pinsel ziemlich zerstreut und brachte in jener Stunde nicht viel vor sich. – –

Während unter solchen Umständen eins der hervorragendsten Meisterwerke der modernen Kunst nur wenig gefördert wurde, war Fräulein Bandemer ihrerseits in voller Thätigkeit begriffen. Sie pflegte täglich wie ein 48 gewissenhafter Kaufmann Soll und Haben in ihrem Verhältnis zu den Menschen ihrer Umgebung zu summieren und die Bilanz zu ziehen. Sie hatte am vorigen Abend das Herz Ludolf Reusches und heute morgen die gute Meinung Finks als Saldo-Vortrag zu ihren Gunsten buchen dürfen. Doch konnten ihr von seiten des Grafen Bencken noch weit größere Gefahren drohen, als von seiten Hanswurstfinks und ihr kluger Kopf war daher rastlos thätig im Ersinnen neuer Listen, um ihre Feinde einen nach dem andern unschädlich zu machen.

Sie war wieder einmal nach dem Obstgarten gegangen, um einiges Obst zur Tafel zu holen. Die unter so eigentümlichen Umständen zu Falle gekommene Thür in der Weinwand war noch nicht wieder hergestellt worden und Sophie konnte, als sie dort vorüber kam, die beiden Pfarrerstöchter in ihrem Garten sehen. Wie ein Blitz zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß ja Fräulein Beate Meusel, seitdem sie mit ihrer Verräterei bei der Gräfin so übel angekommen, ihr ewig feind sein müsse und daß sie, die ja schon schier von jedermann als des Inspektors Braut angesehen wurde, in ihrer Eifersucht ein gefährlicher Spion sein würde. Sie trat rasch in die Maueröffnung und wünschte den jungen Mädchen mit freundlicher Heiterkeit guten Tag.

Sei es nun, daß der Haß gegen die hübsche Sophie bei Fräulein Beate bereits einen solchen Grad erreicht hatte, daß sie deren bloßen Anblick schon nicht mehr zu ertragen vermochte, oder schämte sie sich der sehr tugendhaften und nützlichen Beschäftigung, bei welcher sie überrascht worden war – die beiden Schwestern buddelten nämlich sehr brav und fleißig Kartoffeln aus – kurz, sie stieß einen kleinen Schrei aus und rannte eiligst davon. Fräulein Agnes dagegen zeigte sich freudig überrascht, warf ihre Hacke fort, ließ ihre hochgeschürzten Röcke herunter und ging dann mit einem herzlichen guten Tag Sophien entgegen. Eine große, mit weißer Leinwand überzogene Schute umrahmte ihr Gesichtchen vollständig, das, von der tüchtigen Arbeit gerötet, wirklich hübsch aussah.

»Ach, Fräulein Bandemer!« rief das Mädchen: »Kommen Sie nicht ein bißchen zu uns herein?«

49 »Aber nur in den Garten,« erwiderte jene. »Ich war ja so ungezogen, Ihnen trotz der freundlichen Aufforderung Ihres Herrn Vaters noch immer nicht meine Aufwartung zu machen.«

»O, ich kann mir recht denken, wie beschäftigt Sie gewesen sind: Ehe man sich eingelebt hat – und dann die Krankheit der Komteß Marie – Sie haben gewiß sehr viel zu thun gehabt!«

»Ach freilich ja! Aber nun will ich auch wirklich bald kommen. Ich fürchte nur, daß Ihr Fräulein Schwester mich am Ende nicht gern sehen möchte. Ich weiß zwar nicht, was ich ihr zu Leide gethan habe – denn für das Unglück mit der Gartenthür kann ich doch eigentlich nicht.«

Agnes zupfte verlegen an ihrer Schürze, als sie erwiderte: »Nein, gewiß nicht. Es war ja auch bestimmt gar nicht so schlimm, wie Beate sich das dachte – wir wissen ja alle, daß der Herr Graf sich gern mal einen kleinen Scherz erlaubt! Meine Schwester ist nur ein bißchen eifersüchtig, glaube ich, weil Herr Reusche Sie so viel angeguckt hat, damals am ersten Tage, wissen Sie.«

Sophie lachte fröhlich. »Ich kann doch nicht gut jemandem verbieten, mich anzusehen!« sagte sie. »Aber im übrigen mag Ihr Fräulein Schwester nur ganz ruhig sein: Ich habe wirklich nicht die Absicht, ihr ihren Bräutigam abspenstig zu machen! Sie sind ja wohl so gut wie verlobt?«

»Ach nein, so weit ist es noch lange nicht!« seufzte Agnes. »Herr Reusche ist nämlich ein bißchen schüchtern – und gerade an dem Tage, wie wir auf das Schloß gingen, da war er dicht daran, sich zu erklären. Aber nachher, wie er Sie gesehen hatte, da hat er doch wieder nichts gesagt, und Beate meint, weil Sie doch so sehr hübsch sind, hätte er sich nun mit einemmal in Sie verliebt.«

Fräulein Bandemer ergriff beide Hände des Mädchens, bückte sich zu ihr herab und schaute ihr lächelnd unter das weiße Sonnendach. »Glauben Sie denn das auch, Fräulein Agnes?«

Das junge Mädchen öffnete seine runden Aeuglein weit und blickte in schwärmerischer Bewunderung zu dem Fräulein 50 auf, indem es lispelte: »Ach Fräulein, Sie sind ja so reizend und nett; wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich bestimmt auch in Sie verlieben!«

Sophie gab der Schmeichlerin einen schallenden Kuß, der sie sehr zu beglücken schien. Und dann legte sie ihren Arm um die überschlanke Taille der Kleinen und sagte: »Glauben Sie, daß Ihre Schwester mir wohl auch gut sein könnte, wenn ich ihren Schatz dazu brächte, sich endlich einmal zu erklären?«

»Ach Fräulein, wie wollten Sie denn das anfangen?«

»Das ist mein Geheimnis. Vorläufig suchen Sie nur Fräulein Beate den Argwohn gegen mich auszureden.«

Agnes war ihr noch behilflich beim Obstpflücken, und dann empfahl sich Sophie und eilte nach dem Schlosse zurück. –

Als sie in die Hausthür trat, wäre sie fast mit dem eben herauskommenden Herrn Inspektor zusammengeprallt. Er stammelte eine Entschuldigung und berichtete, daß er soeben mit der Köchin Rücksprache genommen habe, ob in dieser Woche ein Hammel oder ein Kalb geschlachtet werden solle. Und dann, als dieses Thema erledigt war, sah er sich in dem weiten Vorplatz um und flüsterte ihr, da sie allein waren, mit wichtiger Miene zu: »Mit dem Herrn Oberverwalter und Komteß Marie ist es richtig so, wie Sie gedacht haben, Fräulein. Ich kam zufällig gerade dazu, wie er ihr vorhin im Pferdestall eine Erklärung machte.«

»Ah – das ist allerdings der passendste Ort, um diese Stallprinzessin zu erobern,« lachte Sophie höhnisch auf. »Aber erzählen Sie doch – haben Sie denn etwa gehört, was er sagte?«

»Nein – ich hörte ihn nur ganz laut »Komteß« rufen, und wie ich in die Thür trat, da lag er vor ihr auf den Knieen – im Pferdestall – denken Sie bloß!«

»Ah – nicht möglich!«

»Und nachher wollte er sich damit herausreden, daß die Komteß ausgeglitscht wäre und sich ein wenig den Fuß verstaucht hätte!«

»Ach so – da wollte er ihn natürlich gleich auf der Stelle wieder zurechtrücken,« sagte das Fräulein ironisch. »Das ist 51 ja der reine Heilgehilfe, dieser Herr von Norwig! Man sollte fast glauben, daß die Komteß dies ewige Herunterfallen und Ausgleiten nur ihm zur Liebe arrangiert.«

»Diese adligen Herrschaften haben doch wirklich ganz sonderbare Begriffe von Anstand!« versetzte der Inspektor, ihren höhnischen Ton nachahmend. »In einem anständigen Bürgerhause würde man doch einem Manne, der sich so etwas gegen die Tochter herausnimmt, gleich die Thüre weisen – nicht wahr, Fräulein?«

»Ja, lieber Herr Reusche, wenn Sie Zucht und gute Sitte suchen, so müssen Sie den Großen dieser Welt fernbleiben. Ich spreche aus Erfahrung!« seufzte sie wehmütig und wandte sich zum Gehen.

Er trat aber noch einmal auf sie zu und flüsterte, mit dem komischen Bestreben, seine verliebten Augen dabei recht hinreißend zu rollen: »Heut nacht wird es gewiß wieder recht schönen Mondschein geben. Kommen Sie nicht vielleicht ein bißchen heraus?«

»Ich will sehen, Herr Inspektor, ich will sehen,« hauchte sie in scheinbarer Verwirrung, drückte ihm rasch die Hand und eilte dann nach den Wirtschaftsräumen. – –

Die tolle Komteß lag mit hämmernden Schläfen und brennenden Augen auf dem Ruhebett in ihrem Zimmer ausgestreckt. Scham und Liebe, bittrer Groll und verzehrende Sehnsucht tosten in schäumender Brandung gegen den Fels ihres Stolzes. Ein Unerhörtes hatte sie gethan: sie hatte trotz der eignen Erkenntnis ihrer Unliebenswürdigkeit, oder wenigstens des Mangels aller jener eigentümlich weiblichen Eigenschaften, welche sonst das Herz des Mannes allein zu unterjochen im stande sind, einem, noch dazu unfreien Manne ihre erste unselige Leidenschaft verraten. Und dennoch wußte sie, daß sie unter denselben Umständen auch ein zweites Mal ebenso handeln würde! – Wie sie so einsam vor sich hin grübelte und gleich einem Anatomen ihr Denken und Fühlen in allen Fasern bloßzulegen suchte, kam sie endlich dahin, ihre Handlungsweise nicht nur zu entschuldigen, sondern selbst als die einzig richtige zu betrachten. Wäre Herr von Norwig, so machte sie sich klar, ein unabhängiger freier Mann 52 gewesen, so hätte sie sich nimmermehr ihm gegenüber so weit vergessen; so wie aber die Verhältnisse bestanden, legte ihr Geständnis ihm auch nicht die kleinste Verpflichtung auf, welcher sich sonst vielleicht sein ritterlicher Sinn selbst gegen die Stimme seines Herzens unterworfen hätte. Da sie ihm unmöglich in dem häßlichen Lichte einer heiratssüchtigen alten Jungfer erscheinen konnte, so durfte ihm ihr leidenschaftlicher Ausbruch auch nur als natürliche Folge jener Wahrhaftigkeit erscheinen, die den schönsten Zug ihrer »Tollheit« ausmachte. Er war tief unglücklich, verbittert, hoffnungsarm: sollte ihm die Gewißheit nicht einen erwünschten Trost und Halt gewähren, daß er in ihr eine Seele gefunden habe, welche sich der seinen zu vermählen trachtete aus jenem heiligen Mitleid, welches die reinste Blüte menschlicher Liebe darstellt?

Während sie noch also sann, drang aus dem Nebenzimmer leichtes Geräusch an ihr Ohr, Tappen, Rücken und Rascheln.

»Bist du es, Vicki?« rief Marie.

»Ja, ich bin's.«

»Was machst du da?«

»Ach, nichts.«

Bekanntlich erregt keine Auskunft auf die gleichgültige Frage nach dem Treiben eines andern so sehr die Neugier, als dieses verdächtige »Ach, nichts!« Komteß Marie fühlte sich zu schwach, um sich auf weitere Nachforschungen einzulassen; aber dennoch genügte der Anstoß, den ihre Neugier erhalten hatte, um ihre Gedanken in wohlthätiger Weise abzulenken. Nachdem sie einige Zeit still gelegen und gewartet hatte, rief sie wieder: »Vicki, kommst du nicht ein bißchen zu mir herein?«

»Gleich, Ma, gleich!«

Aber es verging doch noch eine recht lange Weile, ehe die Schwester hereintrat. Und wie trat sie herein! Trotz ihrer Kopfschmerzen mußte Komteß Marie doch laut auflachen.

»Hallo! Vicki! En grande tenue? Was hat das zu bedeuten?«

Das Komteßchen hatte sich wirklich das schwarzseidene Konfirmationskleid angezogen, sich alle ihre Juwelen umgehängt und sich eine möglichst erwachsene Frisur gemacht, die 53 allerdings ziemlich verunglückt war. Sie stellte sich vor den großen Spiegel hin, besichtigte sich aufmerksam von allen Seiten und frug endlich: »Wie findest du mich, Marie?«

»O, natürlich einfach großartig – nur wird deine Frisur gleich auseinander fallen und der Kleiderrock sitzt etwas schief.«

»Willst du mir nicht helfen, das in Ordnung zu bringen? Fräulein Sophie hatte gerade keine Zeit.«

»Aber willst du mir nicht sagen, was diese Maskerade gerade heute bedeuten soll?«

»Maskerade?« rief Vicki gekränkt.

»Nun ja, meine richtige Original-Vicki erkenne ich in diesem Aufzug kaum wieder,« scherzte die große Schwester. »Hat sich etwa Vetter Emich etwas gegen dich herausgenommen, daß du ihm durch das Kostüm imponieren willst?«

»Ach der!« Das Komteßchen zuckte mitleidig die Achseln. »Weißt du, für den habe ich einen ganz neuen, prachtvollen Titel erfunden: Karl Egon Emich, Graf und edles Biest von Büsterloh! Das kann er sich auf seine Visitenkarten drucken lassen.«

Komteß Marie mußte herzlich lachen über diese neue Bosheit ihrer erfinderischen Schwester, dann aber zog sie sie an sich, erfaßte ihren Kopf mit beiden Händen, schaute ihr gerade in die Augen und sagte: »Du wolltest also wohl – malerischer aussehen?«

Es wäre das erste Mal in ihrem sechzehnjährigen Leben gewesen, wenn Komteß Vicki ihr Geheimnis nun noch länger zu bewahren im stande gewesen wäre. Sie kniete, ungeachtet dessen, daß der stolze Faltenwurf ihres Gewandes darunter leiden konnte, am Lager der Schwester nieder, lehnte ihren Kopf auf deren Busen und beichtete – alles ohne Rückhalt, verschämt und selig.

Unter andern Umständen hätte Komteß Marie ihr thörichtes Schwesterchen mitleidlos ausgelacht und ihr solche »Dummheiten« energisch auszureden gesucht. Heute aber rührte sie dies kindliche Geständnis so, daß ihr die Thränen unaufhaltsam über die Wangen flossen und sie nicht fähig war, ein Wort zu sprechen. »So nimmt sich also die Liebe 54 schöner, freier Menschenkinder aus!« dachte sie und drückte wieder und wieder Vickis Haupt an ihr wildpochendes Herz.

Vicki wußte nichts Bessres anzufangen als zur Gesellschaft mitzuweinen, obwohl sie nicht den geringsten Grund hatte, traurig zu sein. Das währte wohl eine Viertelstunde, und dann erhoben sich beide Schwestern und wandelten Arm in Arm im Zimmer auf und ab.

Endlich begann Vicki: »Glaubst du wohl, daß er heute noch anhalten wird?«

Marie beantwortete diese Frage in einer sehr eigentümlichen Weise. Sie küßte die Schwester wohl zehnmal auf den Mund und sagte dann, durch ihre Thränen lächelnd: »Du bist ein süßes Schaf! Aber die alte dumme Staatsfahne mußt du wieder ausziehen.«

Und dann führte sie sie trotz ihres Schmollens und Widerstrebens in das Schlafzimmer und nötigte sie, ein duftiges helles Kleid aus baumwollenem Spitzenstoff anzulegen und ihren sämtlichen Schmuck wieder sorgfältig einzupacken.

»Du kannst dich darauf verlassen, Vicki, daß du ihm so weit besser gefällst,« versicherte sie der Schwester, als sie endlich fix und fertig vor ihr stand.

Die dumpfen Klänge eines chinesischen Gong dröhnten durch das Haus und riefen die Familie zur Tafel. Komteß Marie bat die Schwester, sie zu entschuldigen, da sie sich zu elend fühlte, bei Tische zu erscheinen. – –

»Ei ei!« rief der alte Graf schmunzelnd aus, als sein Töchterchen zur Thür hereintrat. »Für wen hast du dich denn so hübsch gemacht?«

»Für Vetter Emich natürlich,« lachte Vicki errötend.

»Ah sehr schmeichelhaft, chère Cousine. Du siehst wahrhaftig aus wie . . . wie . . . ah . . .«

»Na sapperment, wie denn? Raus damit! Wir wollen beten!« rief die Gräfin ungeduldig.

»Wie eine Wolke von weißen Blütenblättern, wenn der Maiwind einen Apfelbaum schüttelt,« ergänzte Herr von Norwig lächelnd.

»Ganz recht, ganz recht – so etwas Aehnliches schwebte mir auf der Zunge,« versicherte Karl Egon Emich.

55 »Zu schade, daß Hans das nicht gesagt hat!« dachte das Komteßchen und stellte sich mit einem vorwurfsvollen Blick auf den befangen dreinschauenden Sünder hinter ihrem Stuhl auf.

»Wo bleibt denn Marie?« frug die Gräfin, welche schon die Hände zum Gebet gefaltet hatte, nach einer kleinen Pause der Erwartung. Vicki brachte die aufgetragene Entschuldigung vor und beantwortete die teilnahmsvollen Fragen mit beruhigenden Redensarten. Unter gleichgültigen Gesprächen verlief das Mittagsmahl wie gewöhnlich, nur daß Fräulein Sophie mit kaum zu verbergender Neugier in Norwigs Zügen zu lesen versuchte, und daß Meister Fink weder seine Mundfertigkeit noch seinen Appetit wieder gefunden zu haben schien.

Nach Aufhebung der Tafel und nachdem Fräulein Bandemer sich zurückgezogen hatte, bat Herr von Norwig Komteß Vicki beiseite und fragte sie ernsthaft, was ihrer Schwester fehle. Und nachdem sie ihm so gut sie es vermochte Auskunft gegeben hatte, fuhr er fort: »Komteß Marie bat mich vorhin um Beantwortung einiger wichtiger Fragen; vielleicht wären Sie so freundlich, der Komteß zwei Zeilen von mir zu überbringen. Es liegt ihr vielleicht doch daran, die Auskunft gleich zu erhalten.«

Vicki brachte auf seine Bitte einen Briefbogen nebst Umschlag aus dem Zimmer ihres Vaters herbei und Norwig schrieb am Eßtisch mit Bleistift folgende Zeilen:

»Teuerste Komteß!

Ich höre zu meinem größten Bedauern, daß Sie nicht wohl sind. Die Gelegenheit, uns ungestört auszusprechen, dürfte sich vielleicht, besonders in diesen Tagen, durch die Unruhe des Besuches, schwer oder gar nicht darbieten. Um nicht in den Verdacht zu kommen, als ob ich mich meinem gegebenen Versprechen doch noch entziehen wollte, habe ich mir vorgenommen, Ihnen schriftlich eine kurze Darstellung meines Schicksals zu geben, die ich Ihnen morgen oder übermorgen zustellen werde.

Aber lassen Sie mich Sie bald wiedersehen – gesund, heiter und stark wie ehemals!

Ganz der Ihrige

R. v. N.«

56 Er steckte dies Schreiben in den Umschlag und übergab es Vicki, die es sogleich zu ihrer Schwester hinauftrug. Dann lief sie, da Marie allein zu bleiben und zu schlummern wünschte, in den Park hinunter. –

Die tolle Komteß überflog die wenigen Zeilen in einer Erregung, als enthielten sie die glühendsten Liebesschwüre – und dann küßte sie sie gar wieder und immer wieder! Und als sie dann den schweren Tritt ihrer Mama auf der Treppe hörte, faltete sie das Blatt rasch zusammen und verbarg es in ihrem Busen.

Die Herren rauchten unterdes im Zimmer des Grafen eine Cigarre und die Unterhaltung schleppte sich schwerfällig und gähnend dahin, bis plötzlich Komteß Vicki die Thür aufstieß und lebhaft in das Zimmer hineinrief: »Papa, Papa! Es kommt Besuch! Herr von der Maltitz ist soeben vorgefahren.«

»Ah, sehr willkommen!« rief der Graf. »Geh hinauf, Vicki, und avertiere Mama.«

Die Herren gingen dem Gast entgegen und Vicki flog die Treppe hinauf.

»Herr von der Maltitz aus Senthin? Läßt sich der wirklich auch einmal sehen?« rief die Gräfin, als Vicki ihre Meldung vorgebracht hatte. Und dann klopfte sie ihrer ältern Tochter ermunternd auf die Hand, welche sie mütterlich in der ihrigen gehalten hatte, und sagte: »Sieh doch zu, Marie, daß du noch etwas zu uns herunter kommst. Du weißt, Herr von der Maltitz ist einer der wenigen Epouseurs der Umgegend; zwar nichts weniger als eine glänzende Partie, aber noch einen halben Kopf größer als du! Ach ja, wenn man solch langes Mädchen hat, dann darf man es nicht so genau nehmen – da verzichtet man lieber auf die Ahnenprobe und ist froh, wenn er nur das richtige Maß hat.«

»Aber Mama,« seufzte Marie matt lächelnd: »Ich dachte, wir hätten uns beide darein gefunden, daß ich in meinem ledigen Stande verharren wollte! Da keine Aussicht vorhanden ist, daß sich mein Gesicht noch wesentlich zu meinen Gunsten verändern könnte, so thun wir wohl beide besser . . .«

»Paperlapap!« rief die Gräfin Mutter. »Ein 57 Gutsbesitzer, der so auf der Kippe steht, wird viel danach fragen, ob seine Frau wie eine Venus aussieht, wenn sie man tüchtig was mitkriegt.«

Die Komteß runzelte unwillig die Stirn und versetzte: »Lassen wir das Thema fallen, Mama, du weißt, ich habe keine sentimentalen Grillen im Kopf, aber ich danke doch dafür, mich nur so wie ein altes Segel zum Verstopfen eines Lecks benutzen zu lassen! Wozu haben wir denn unsre Vicki?«

»Vicki? Das Küken! Na hör' mal, Marie, du hast doch wirklich manchmal zu tolle Ideen! Das Gör, das noch gar nicht einmal bei Hofe präsentiert ist! Na, Vicki, ich hoffe, du läßt dir keine Dummheiten einfallen. Ich gehöre, Gott sei Dank, nicht zu den thörichten Müttern, die ihre Töchter am liebsten aus der Kinderstube weg vor den Altar schleppten! Da käme ich mir gerade so vor wie die Leute, die die Kälber nüchtern schlachten! Nein, nein! Ein ungebörntes Kalb ist mir nicht greulicher als wie solche junge Frau unter zwanzig, die heute die Puppe weglegt und morgen ein Kind kriegt!«

Komteß Marie mußte trotz ihrer Kopfschmerzen laut auflachen, und zwar über Vickis weinerliches, ängstlich enttäuschtes Gesicht nicht weniger als über die drastischen Aphorismen ihrer Mama. Sie versprach auf ein paar Minuten herunterzukommen, und dann nahm die Gräfin Vicki beim Arm und stieg mit ihr die Treppe hinunter.

Auf dem Flur trafen die Damen den Diener, welcher ihnen mitteilte, daß die Herren im Zimmer des Grafen Geschäfte verhandelten, denn sie hätten einen großen Plan auf den Tisch gelegt und von Zahlen gesprochen. Der Graf habe den Kaffee erst etwa nach einer halben Stunde befohlen. Die Gräfin schloß daraus, daß die Herren nicht gestört zu werden wünschten und trug Vicki auf, Fräulein Sophie bei Anordnung des Kaffeetisches in der Veranda behilflich zu sein.

»Wir könnten ja mal die Familientassen herausgeben,« schloß sie. »Es ist immer ganz gut, wenn so ein Herr sieht, daß man etwas Apartes hat. Mach dich etwas nützlich beim Servieren, Vicki; aber daß du mir nicht vorlaut bist! Ich werde mich inzwischen noch ein bißchen von dem alten gräßlichen Malen erholen gehen.«

58 Vicki suchte gehorsam Sophien auf und richtete ihren Auftrag aus. In dem Bewußtsein, deren Warnung vor Fink so leichtsinnig in den Wind geschlagen zu haben, trat sie ihr mit einiger Scheu entgegen. Während sie ihr die kostbaren alten Tassen herausgab, deren jede eine wertvolle Erinnerung an irgend ein Familienereignis darstellte, bemühte sie sich, ihr Gespräch auf einer Bahn zu erhalten, auf welcher sie keinem gefährlichen Gegenstande begegnen konnte. Mit jenem Geschick, das sich sogleich einstellt, wenn man etwas zu verbergen hat, brachte sie die Rede auf die Dienerschaft und erzählte mit großer Zungengeläufigkeit und vielem Humor die Herzensschicksale der Witwe Sigglikow, welche nun schon zwölf Jahre lang darauf wartete, daß ein gewisser Pastor Hoppensack, der einmal ihre berühmte Fischpastete überschwenglich gelobt hatte, wiederkehren und sie heimführen werde – sobald er nur selbst Witwer geworden. Und so wußte sie von jedem der Reihe nach ein spaßiges Histörchen zu berichten, selbst von Lining, dem Küchenmädchen, welches eine unglückliche Liebe für Ludolf Reusche im Herzen trug und welchem man nachsagte, daß es einen Cigarrenstummel, den ihr Angebeteter einst vor ihren Augen fortgeschleudert, mit Vergißmeinnicht bewickelt, als teures Andenken aufbewahre.

Fräulein Sophie trug dann die kostbaren Tassen selber nach der Veranda und Vicki folgte ihr mit der frischen Tischwäsche dorthin nach.

»Sie hätten mir das eigentlich auf englisch erzählen sollen, Komteß,« sagte das Fräulein. »Das wäre eine gute Uebung gewesen. Lassen Sie uns jetzt wenigstens englisch sprechen. Merken Sie auf: ich werde Ihnen nun auch eine kleine Geschichte erzählen, und die müssen Sie verstehen.«

Sophie sprach so ernst und blickte sie so bedeutsam an, daß Vicki ängstlich aufhorchte. Und das Fräulein erzählte auf englisch, wie sie heut vormittag der Zufall zum Zeugen einer gewissen verfänglichen Scene zwischen einem jungen Maler und einer noch viel jüngeren Komteß gemacht habe.

In Vicki regte sich der Trotz. Ein Mädchen, das zum erstenmal liebt, ist jeder Gouvernante entwachsen – und dies Fräulein war gar nicht einmal als solche angestellt; sie 59 hatte ihr gar nichts zu sagen! Vicki zog ein krauses Gesichtchen und zupfte nervös die Kaffeeserviette zurecht, ohne eine Antwort zu geben.

»Wie, Komteß, läßt Sie das so gleichgültig? Habe ich das um Sie verdient, daß Sie meine Warnung so wenig beachten? Oder hatten Sie schon vergessen, was ich Ihnen von diesem Herrn Fink und seiner netten Familie mitteilte?«

»Das ist nicht wahr! Das glaube ich nicht – das will ich nicht glauben!« rief das Komteßchen entrüstet, mit leuchtenden Augen und schlug dabei sogar laut auf den Tisch.

»O, o! So heftig? Man könnte Sie hören – please speak english at least!« mahnte Sophie.

»Nun, ja meinetwegen! Dann sage ich Ihnen auf englisch: He is very, very nice indeed! Und weiter know I nichts und weiter say I nothing! So.« Nach dieser schwungvollen Rede ließ sich Vicki in den nächsten Korbsessel fallen, verschränkte die Arme über der Brust und warf trotzig den Kopf auf.

Fräulein Sophie war über dieses Benehmen doch einigermaßen erschrocken. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, schüttelte wehmütig ihr schönes dunkles Haupt und sagte: »Sie sollten doch nicht so unartig gegen mich sein, Komteß – wenn ich nun Ihrer Frau Mutter sage, was ich gesehen habe! Sie müssen zugeben, es wäre eigentlich meine Pflicht.«

»Gehen Sie doch! Gehen Sie doch meinetwegen gleich hin und verklagen Sie mich!« rief Vicki mit bebenden Lippen. »Ich werde schon wissen, was ich zu thun habe. Von Ihnen lasse ich mich nicht wie ein Kind behandeln!«

»Sie sind ein Kind. Glauben Sie mir, liebste Komteß, Sie wissen nicht, was Sie thun. Ich meine es wirklich gut mit Ihnen.« Dabei streckte ihr das Fräulein mit ihrem bezauberndsten Lächeln beide Hände entgegen.

Aber Komteß Vicki verbarg die ihrigen rasch auf ihrem Rücken und eilte an jener vorbei aus der Veranda.

Fräulein Bandemer war eine sehr erfahrene Dame, aber sie hatte doch nicht bedacht, daß mit einem verliebten jungen Mädchen hundertmal schwerer fertig zu werden sei als mit dem halsstarrigsten und klügsten Manne, sobald es sich eben um die frische Herzenswunde handelt. Sie atmete heftig 60 und nagte zornig ihre Lippen, während sie fortfuhr den Tisch zu decken. –

Vicki war planlos in den Park hineingelaufen. Sie mußte durch eine heftige Bewegung ihre innere Aufregung betäuben – und dazu kamen ihr gerade die beiden großen Hunde recht. Sie griff Lord links und Lady rechts in das Halsband und rannte dann mit ihnen so rasch sie konnte den Tannengang hinunter nach dem Teich zu. Die beiden Tiere waren außer sich vor Vergnügen über diesen Spaß, bellten wie toll und zerrten, plump voranspringend, das atemlose Mädchen zwischen sich fort. Und wie sie unten am Ufer des Teiches angekommen waren, da trat hinter einer dicken Rüster hervor, den Hut nachlässig in den Nacken geschoben, die Hände in den Hosentaschen verborgen, niemand anders als – Meister Fink, der sich bei dem Gespräche der Herren über die Moorkultur sehr bald überflüssig vorgekommen und nachdenklich den Park hinunter geschlendert war.

Komteß Vicki ließ mit einem leisen Aufschrei die beiden Hunde plötzlich los und flog – sie war nun einmal im Schwunge und konnte nichts dafür – dem Maler um den Hals.

Er wagte nicht, sie an sich zu drücken. Er legte seine Arme nur lose um ihre volle Gestalt. Worte hatte er vorläufig noch nicht, nur das köstliche Gefühl, daß dies von den vielen schönsten Augenblicken seines Lebens höchst wahrscheinlich der allerschönste sei.

Vicki fand, sobald sie einigermaßen zu Atem gekommen war, das erste Wort; aber er verstand sie nicht, weil die beiden Hunde nicht aufhören wollten, laut blaffend um sie herum zu springen. Dreimal mußte sie wiederholen: »Nicht wahr, Hans, es ist nicht wahr?«

»Was denn?« fragte er zurück und bemühte sich, die Hunde zum Schweigen zu bringen.

»Daß du so ein schlechter Mensch sein sollst.«

»Ich? Wer sagt denn das?«

»Wer denn anders als dieses abscheuliche Fräulein Bandemer mit ihrem dummen Gethu und Gehabe. Sie sagt, du gingest nur darauf aus, uns Mädchen zu bethören – das ist doch gewiß nicht wahr!«

61 Hanswurstfink machte ein sehr wunderliches Gesicht, riß die Augen weit auf, spitzte die Lippen, als wenn er pfeifen wollte, und sagte schließlich kopfschüttelnd: »Nein, das hat noch keiner meinem Vater seinem Sohne nachgesagt! Im Gegenteil, ich kann wohl sagen, daß ich immer der Bethörte gewesen. Ganz besonders aber in diesem Falle; denn einem so über alle Begriffe reizenden Komteßchen mag der Teufel widerstehen.«

Vicki sah ihm entzückt in die Augen. O, wie berauschend das Bewußtsein ihres Sieges ihr in die Seele drang! So sah also der erste Mann aus, der vor ihr die Waffen streckte – und dafür wollte sie ihn auch ihr lebelang in allen Treuen lieben!

»Ich habe es dir also wirklich angethan?« flüsterte sie selig. »Und doch hast du mich seit heute morgen kaum ein einziges Mal mehr angesehen und nicht ein Wort zu mir gesprochen! War es dir denn schon wieder leid geworden?«

»Leid? Nein, das gewiß nicht,« erwiderte Fink ziemlich verlegen. »Aber wenn ich mir's recht überlege, dann war es doch vielleicht nicht recht, daß ich so . . . na, es ist einmal geschehen, und schön war's jedenfalls! Aber wissen Sie – weißt du – ich traf nachher die Cousine Bandemer im Garten – die hat nämlich die ganze Geschichte durch die verwünschte Glasthür mit angesehen und mir ganz gehörig den Standpunkt klar gemacht. Wenn sie es nun deinen Eltern petzt, dann bin ich erstens einmal scheußlich hereingefallen, und zweitens – was das allerschlimmste ist – nehmen Sie an Ihre – hm! an deine erste Liebe eine Erinnerung mit, die . . . ich habe mir nämlich so eine Art Privatphilosophie zurecht gemacht, die den obersten Grundsatz hat: nur nicht ängstlich; immer was riskieren; aber alles was man thut, so thun, daß man nachher keine unangenehme Erinnerung ins fernere Leben mitschleppt!«

Vicki machte sich schmollend von ihm los und sagte: »Eigentlich ist es Ihnen doch schon leid – und bloß weil Sie sich fürchten, daß die alte gräßliche Person uns verklagt. Lassen Sie sie doch schwatzen. Einmal müssen es ja die Eltern doch erfahren! Und wer will zwei Herzen trennen, die sich wahrhaft lieben?!«

62 Jetzt bekam Hanswurstfink aber doch einen gelinden Schrecken.

»Ach du lieber Himmel!« rief er erbleichend aus. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß wir beide ein Paar werden könnten?«

»Warum denn nicht? Ich habe immer gehört, um einen berühmten Künstler bemühten sich sogar Prinzessinnen. Und wenn wir uns leiden mögen, geht es doch keinen weiter etwas an. Aber freilich, wenn Sie sich von Fräulein Bandemer einschüchtern lassen!« Sie warf ironisch den Kopf auf.

Fink haschte nach ihrer Hand und legte seinen linken Arm fest um ihre Hüfte. »Du liebes, süßes Herz,« sagte er. »Von Fräulein Bandemer ließe ich mich gewiß nicht einschüchtern, wenn nur sonst die Sache in Ordnung wäre. Aber siehst du, ich bin zweiunddreißig Jahre alt und du . . .?«

»Schon lange sechzehn gewesen!«

»Nu siehst du, da bin ich also gerade noch einmal so lange auf der Welt wie du – und wie sich dein Köpfchen das denken mag, so geht es nun einmal nicht darin zu, das mußt du mir nun schon glauben – so einem alten Herrn wie ich bin! Und dabei komme ich mir doch zum Heiraten immer noch zu jung vor; denn wenn man heiratet, dann sollen von Rechts wegen die Dummheiten aufhören und man fängt schon an, von seinen Erinnerungen zu zehren, wie die Bienen im Winter. Und da meine ich immer, ich hätte noch zu viel leere Zellen in meinen Waben und könnte am Ende in meinem Alter noch einmal Hunger leiden. – Laß uns Honig eintragen, Vicki – süße Vicki!«

Dabei küßte er sie dicht unter ihrem weichen, rosigen Ohrläppchen auf den Hals.

Vicki wußte nichts zu sagen – sie begann also leise zu weinen und er fuhr nach einer kleinen Pause fort, nachdem er sie noch fester in seine Arme genommen hatte: »Siehst du, Kind, ich habe wohl schon an die tausend Lieben gehabt – genau kann ich's nicht sagen –, aber daß du die reizendste von allen bist, das kann ich dir schwören.«

Vicki begann etwas lauter zu weinen und Hans strich ihr tröstend über das Haar, indem er fortfuhr: »Aber das 63 schadet wirklich gar nichts, du kannst es mir glauben! Jede Liebe ist wieder schön und die letzte ist immer die allerschönste! Für die meisten Menschen hat das Leben so verwünscht wenig Spaßhaftes, daß sie es nur immer dankbar mitnehmen sollten, was ihnen von Liebe am Wege blüht, denn das muß ich dir aus meiner zweiunddreißigjährigen Praxis sagen: außer der Liebe ist alles fauler Zauber in der Welt, und selbst die Liebe verträgt's nicht immer, daß man ihr zu sehr auf den Grund geht.«

»Ach, Sie sind doch ein recht abscheulicher Mensch!« schluchzte das Komteßchen und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Ich weiß es ganz bestimmt, ich werde dich nun doch ewig lieben müssen, ich armes, unglückliches Geschöpf!«

»O nein, ganz bestimmt nicht,« versicherte er ernsthaft: »Nur bis zum nächsten Mal! Und wer weiß, wie viele Nachfolger ich noch bekomme, ehe du, wie sich's gehört, deinen Grafen oder was er sonst Gutes sein mag, heiratest! Und nun denke einmal an: wenn das nun nach einigen Jahren ein recht langweiliger alter Peter geworden sein wird, mit welchem Vergnügen wirst du dann an die schöne Zeit zurückdenken, wo dir Hans Fink hinter seiner Leinwand den ersten Kuß gab.«

»Nein, dann würde ich mir erst recht die Augen ausweinen, daß ich damals meinen Hans nicht bekommen habe!«

»Ja, aber der Hans würde ja doch mit der Zeit auch so ein langweiliger alter Peter werden.«

»Das glaube ich nicht.«

»Doch, das ist so gut wie sicher,« lachte Fink. »Ich fange ja schon an, dick zu werden, und Dickwerden ist aller Laster Anfang! Uebrigens – wenn auch hie und da mal einer den Kopf oben behält bis zuletzt, dann sind es sicher seine frohen Erinnerungen, die ihn jung erhalten haben – das ist nun einmal mein bombenfester Glaube! Was kann man denn Besseres thun, als glücklich sein und glücklich machen? Das erhält den Menschen jung und gesund – wenn man nur immer so weit auf sich aufpaßt, damit man nichts thut, was man als anständiger Mensch bereuen müßte. – Ja, nun siehst 64 du mich groß an. Einen solchen Philosophen hättest du wohl nicht in mir gesucht? Siehst du, das habe ich alles von meinem prachtvollen Alten! Der hat sich bei dieser Weisheit immer sehr wohl befunden, trotzdem es ihm manchmal schlimm genug ergangen ist. Und der ist denn auch ausnahmsweise kein langweiliger alter Peter geworden.«

»Und hat nie etwas zu bereuen gehabt?« frug das Komteßchen ernsthaft.

»Nicht das ich wüßte,« lachte Hans. »Außer Einem freilich: daß er einmal seinem besten Freunde hundert Thaler geliehen hat – und nachher ging der Kerl hin und eröffnete ihm gerade gegenüber ein Geschäft in Teer, Pinseln und anderm Schiffskram.«

»Es ist wirklich empörend!« rief Vicki da aus. »Denke dir, die gräßliche Person hat mir erzählt, dein Vater wäre ein ganz berüchtigter, gewissenloser Mensch, der sogar schon so und so oft im Gefängnis gesessen hätte! Da ist doch gewiß kein Wort davon wahr?«

Fink war sprachlos vor Entrüstung. Dann aber machte er seinem Herzen in einer Weise Luft, daß dem Komteßchen ordentlich eine Gänsehaut überlief und es alle Mühe hatte, ihn davon abzuhalten, daß er nicht spornstreichs davonlief, um der Verleumderin seine Meinung zu sagen. Er gab endlich ihrem Flehen nach, verschwor sich aber hoch und teuer, daß ihr die Strafe für ihre Nichtswürdigkeit nicht geschenkt bleiben sollte. Nur sehr allmählich gelang es Vickis Schmeicheln und Kosen, ihn von jenem Thema ab- und zu der beglückenden Wirklichkeit zurückzubringen. Sie bestiegen dann zusammen den kleinen Kahn, ruderten auf den Teich hinaus, und wo das hohe Schilf ihnen Deckung bot, da herzten und küßten sie sich und vergaßen die ganze Welt ringsum – samt der Kaffeegesellschaft auf der Veranda. 65

 


 


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