Ernst von Wolzogen
Die tolle Komteß
Ernst von Wolzogen

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Sechstes Kapitel.

In welchem die tolle Komteß ihrem Namen Ehre macht und einige Damen einiges »shocking« finden werden. Ist aber doch gut und nützlich zu lesen!

Während über den Häuptern des Grafen und seiner angebeteten Sophie ein so bedrohliches Ungewitter sich zusammenzog, trabte die tolle Komteß auf ihrem Graditzer Hengste, Potrimpos geheißen, querfeldein der Senthiner Gemarkung zu. Lord und Lady, die beiden prächtigen Bernhardiner, sprangen in weiten, schwerfälligen Sätzen nebenher und immer wieder laut blaffend am Halse des Pferdes in die Höhe, 95 nicht achtend der wohlgezielten Peitschenhiebe, die oft genug auf ihren dicken Pelz niedersausten. Die Komteß hatte bereits erfahren, wie lästig, wenn nicht gar gefährlich, die Hunde werden konnten, wenn sie den nervösen, überaus ungeduldigen Hengst ritt und sorgte dann stets dafür, daß sie zurückgehalten wurden. Heute aber hatten sich die Tiere zufällig gerade außerhalb des Gutshofes umhergetrieben und waren nun freilich weder durch den strengen Befehl noch die empfindlichsten Schläge zu bewegen, ihrem lang entbehrten Lieblingsvergnügen zu entsagen. Uebrigens trafen sie es heute immerhin noch gut damit, denn ihre hohe Herrin befand sich gerade in einer Laune, welche sie die Schwierigkeit in der Bändigung ihres Rosses als Ablenkung willkommen heißen ließ. Die überlegene Dreistigkeit und Heuchelkunst der neuen Hausgenossin empörte sie. Es durfte sie ja im Grunde wenig kümmern und war ein ganz begreiflich Ding, daß diese etwas abenteuerlich anmutende Stütze ihr hübsches Gesicht und ihren Mutterwitz dazu benutzte, sich möglichst bei allen Gliedern des gräflichen Hauses einzuschmeicheln. Gefallen und sich unentbehrlich zu machen wissen war doch nun einmal die erste Lebensaufgabe eines solchen Mädchens, das genötigt ist, sich sein Brot zu verdienen. Sie war offenbar auch die einzige Person im Hause, welche Fräulein Bandemers schmiegsames Wesen, ihre Ziererei und Schauspielerei als etwas Unangenehmes empfand. Warum schaute sie nicht ruhig der Komödie zu und hatte ihre kleine harmlose Schadenfreude an der Verliebtheit ihres galanten Papas, an der Backfischüberschwenglichkeit ihrer Schwester und der Nasführung ihrer guten Mama, welche das menschliche Herz so ausgezeichnet zu kennen glaubte und doch immer wieder dem kindlichsten Menschenvertrauen zum Opfer fiel? Dies Wesen konnte ja doch in keiner Weise ihre Kreise stören, welche sich mit der Hauswirtschaft kaum berührten. Und wenn sie auch wirklich die geargwöhnten früheren und engeren Beziehungen zu Herrn 96 von Norwig wieder aufnahm – was gingen sie, die Tochter des Hauses, die Liebesgeschichten des Oberverwalters und der Stütze an? So wenig die tolle Komteß daran zweifelte, daß sie ledig bleiben werde, so wenig neigte sie doch zu dem altjüngferlichen Neidsport, andern Leben und Liebeslust zu vergällen. Was also in aller Welt reizte sie so sehr wider das Fräulein, wider sich selbst auf? Sie vermochte sich die Frage nicht zu beantworten – und darum mußten Lord, Lady und Potrimpos die Peitsche kosten.

Sie ritt jetzt eben über den breiten Rücken eines Hügels hinweg, auf welchem noch die Stoppeln standen, und konnte gleich darauf, thalabwärts lenkend, die Moorwiese in der Niederung, sowie das ganze Senthiner Gebiet überschauen. Der Bach, welcher auch durch den Teich im gräflichen Park floß, bildete hier die Grenze zwischen beiden Gütern und der Dampfpflug, der die Weizenfelder für die Wintersaat umackern sollte, war nicht weit davon am Fuße des Hügels aufgestellt.

Die Komteß hielt an, um ihr Roß ein wenig verschnaufen zu lassen. Auch die beiden Bernhardiner legten sich alsbald mit langherausschlappenden, triefenden Zungen nieder, und aller Blicke, der Reiterin wie der drei Tiere, richteten sich nach der Stelle, wo um die augenblicklich stillstehende Maschine Arbeiter, Aufseher und alle drei Beamten versammelt waren, und alle schauten sie so würdevoll und kritisch da hinab, als stellten sie einen Generalstab vor, der von hier oben aus eine Schlachtordnung zu entwickeln gedenke.

Und wie um diese Vorstellung weiter auszuführen, sprengte bald ein Adjutant im Galopp den Hügel hinan. Es war Herr von Norwig, welcher seine Gebieterin nicht so bald da oben bemerkt hatte, als er auch schon seinen Fuchs Obotrit bestieg, um ihr unverweilt seinen Morgengruß entgegen zu bringen.

»Unterthänigsten guten Morgen, gnädigste Komteß,« rief 97 er ihr schon aus einiger Entfernung zu, seinen Hut artig lüpfend.

Natürlich ließen Lord und Lady es sich nicht nehmen, nun auch ihrerseits Obotrit mit zappeligen Freudensprüngen und lautem Gebell zu begrüßen, wodurch Potrimpos wieder um seine kurze Ruhe gebracht wurde und ärgerlich kehrt zu machen versuchte. Gräfin Marie war auf solche Nücke nicht vorbereitet gewesen und wäre um ein Haar aus dem Sitz geschleudert worden, wenn sie nicht noch gerade zur rechten Zeit den Sattelknopf erfaßt und sich wieder emporgezogen hätte. Dabei verlor sie aber den Steigbügel und damit an Gewalt über die Hinterhand, so daß es ihr nicht wenig Mühe kostete, den sich fortwährend drehenden und bockenden Hengst zur Vernunft zu bringen.

»Das Biest läßt mich effektiv nicht dazu kommen, Ihnen guten Morgen zu sagen!« rief die Komteß, die Zügel mit beiden Fäusten noch fester und kürzer fassend. Eine so kräftige, schwadronsmäßige Ausdrucksweise war übrigens nur ein Zeichen ganz ungewöhnlich schlechter Laune und keineswegs ihre Gewohnheit.

Norwig ritt an ihre Seite, hielt ihr den Bügel, so daß sie wieder hineintreten konnte, und sagte dann, ihrem Pferde beruhigend über den Hals streichend: »Noch etwas hart in den Ganaschen. Uebrigens meine Hochachtung, Gnädigste, daß Sie so mit ihm fertig werden.«

»Ah bah! Sie haben ja gesehen, wie gut er gestern ging. Nur die verd . . . die verwünschten Köter sind daran schuld, daß er heute so rappelköpfisch ist. – Ich wollte mich einmal nach dem Stande der Arbeiten umsehen.« Und wie entschuldigend fügte sie hinzu: »Ich bin nämlich beauftragt, meinen Vater zu vertreten, der sich heute von seinen Schreibereien nicht losreißen kann.«

»O Komteß – ich kann von Ihnen ja nur lernen,« erwiderte Norwig lächelnd. »Sie sind ja mein Vorgänger 98 im Amte und älter an Erfahrung. Hat denn aber der Hengst schon mit der Lokomobile Freundschaft geschlossen?«

»Nein, er soll sie heute erst kennen lernen.«

»Oh! Da möchte ich mir aber doch erlauben, Komteß zu warnen. Das Tier ist heute so erregbar; diese Probe scheint mir doch eine etwas zu gefährliche Sache zu sein. Dampfmaschinen sind überhaupt bei den Herren Pferden nur wenig beliebt,« scherzte er, um ihre amazonische Eitelkeit nicht zu verletzen.

»Und gerade heute könnte es mich reizen, dem übermütigen Herrn Potrimpos seine Meisterin zu zeigen!« stieß die tolle Komteß zwischen den Zähnen hervor und ihre kleinen grauen Augen blitzten hell auf. Sie wandte den Kopf des Pferdes nach der Richtung der Dampfmaschine zu, aus deren Schlote sich eben eine schwarze Rauchwolke zu ringeln begann.

Da legte Norwig sanft die Rechte auf ihren linken Unterarm und sagte höflich, aber sehr entschieden: »Nein, Komteß, die Verantwortung für eine solche Tollkühnheit kann ich nicht übernehmen. Es ist meine Pflicht als Mann, die Dame, und als Beamter des Herrn Grafen, seine Komteß Tochter vor einer so augenscheinlichen Gefahr zu bewahren.«

»Was fällt Ihnen ein, mich zu schulmeistern!« brauste Komteß Marie auf. »Ich denke, Sie wissen, daß ich reiten kann.«

»Ganz gewiß können Sie reiten – besser als ich je eine Dame reiten sah. Aber ich muß mir die Bemerkung erlauben, daß Sie heute selbst nervös erregt scheinen – und das hat Ihr Potrimpos auch wohl schon gemerkt – sonst wär' er auch nicht so keck gewesen.«

Die Komteß wollte eben ihren Mund zu einer heftigen Erwiderung aufthun, als in einer Entfernung von kaum zwanzig Schritten ein Hase vorüberlief, welchen die beiden Hunde nicht sobald erblickt hatten, als sie sich auch schon an seine Verfolgung machten. Und Potrimpos, offenbar in dem Wahne 99 befangen, daß es eine regelrechte Parforcejagd gelte, folgte ohne weiteres ihrem Beispiel und stürmte mit weit vorgestrecktem Kopfe den glücklicherweise nicht steilen Abhang hinunter. Bei dem ersten unerwarteten Ruck waren der Reiterin die Zügel durch die Hände gerissen worden, jetzt im tollen Karriere bergab war natürlich keine Möglichkeit, sie wieder kurz zu fassen. In wenigen weiteren Sätzen war der Fuß des Hügels erreicht und da – mußte es ein unglücklicher Zufall wollen, daß in dem Augenblicke, als der Hengst unmittelbar davor angekommen war, die Dampfpfeife ihren schrillen Pfiff ertönen ließ und die Lokomobile rasselnd und dröhnend den Pflug in Bewegung setzte.

Potrimpos hielt, wie zu Tode erschrocken, fast plötzlich im Lauf inne und starrte mit emporgerissenem Halse und angstvoll zur Seite gebeugtem Kopfe das pfauchende Ungetüm an. Die Komteß streckte die linke Hand mit allen vier Zügeln weit nach hinten von sich und griff dann mit der Rechten fest hinein, soweit sie nach vorn reichen konnte. Da drehte sich das Tier ein paarmal im Kreise herum, stieg dann kerzengerade auf, so daß die Reiterin, um nicht hinten herunter zu fallen, nichts andres thun konnte, als sich mit beiden Händen an der Gabel des Sattels und an der Mähne festzuklammern. Die Leute kamen herbeigestürzt, um das rasende Tier festzuhalten und Herrn von Norwig, der dem Hengste alsbald nachgesetzt, wäre es beinahe geglückt, ihm in den Zügel zu fallen, wenn er nicht in diesem Augenblicke, laut aufschreiend, den Kopf zwischen die Beine gesteckt, dabei den Kandarenzügel zerrissen, und dann, als ob der Teufel hinter ihm drein jagte, durchgegangen wäre.

Die Reiterin befand sich in der allerunglücklichsten Lage. Zwar hielt sie die Trense und das eine Ende der abgerissenen Kandare noch in der Hand, aber sie hatte den Sitz verloren und hing, von der Gabel unter dem rechten Knie gestützt und mit der rechten Hand sich am Sattel festhaltend, gänzlich 100 hilflos über dem Pferde. Zum erstenmal in ihrem Leben lernte die tolle Komteß die Angst kennen – und sie erpreßte ihr einen lauten Schrei. Das heftige Stoßen gegen Brust und Hüften war unerträglich; doch was konnte sie thun? Sie hätte auf jede Gefahr hin den Absprung gewagt, wenn es nur möglich gewesen wäre, das Knie aus der Gabel herauszuholen. Zu allem Unglück merkte sie nun gar noch, wie der Gurt nachgab und ins Rutschen kam. Und wieder schrie sie laut hinaus. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen, der Atem ging ihr aus – und dann glitt sie mitsamt dem Sattel an der rechten Flanke des Pferdes hinunter, ihre Hände öffneten sich – ihr war, als stürzte sie hinterrücks in einen finster gähnenden Abgrund herunter – ein gewaltiger Stoß – dann war alles vorbei – – sie hatte das Bewußtsein verloren.

Zwischen dem Scheuen des Hengstes und dem Sturz der Komteß waren kaum drei Minuten vergangen, dennoch hatte das rasende Tier in dieser kurzen Zeit eine beträchtliche Strecke zurückgelegt und war, indem es der Biegung des Höhenzuges folgte, den Blicken der Verfolger längst entzogen. Norwig aber hatte seinem Fuchs sofort die Sporen in die Weichen gestoßen und war hinter dem Durchgänger hergeprescht, was sein trefflicher Mecklenburger laufen wollte. Kaum eine halbe Minute nach dem Hengste sprengte auch er um den letzten Ausläufer des Hügels herum, sah das ledige Tier mit dem Sattel unter dem Bauch dem Bache zustürmen und mäßigte sofort den Lauf seines Obotrit.

Und da, auf der Wiese, auf dem Rücken lang ausgestreckt, bleich und leblos, lag die stolze, kühne Komteß. Im Nu war Norwig vom Pferde herunter, streifte sich die Zügel über den Arm und kniete neben ihr ins Gras.

»Mein Gott, sie kann doch nicht . . .?« sagte er halblaut vor sich hin, als er kein Lebenszeichen an ihr bemerkte. »Es wird doch keine Gehirnerschütterung . . . das wäre entsetzlich! Aber hier auf dem weichen Moorboden . . .!«

101 Und sein gutes Tier erkannte nun auch seine Gebieterin, die es so oft getragen hatte, ehe der böse Potrimpos es an die zweite Stelle gedrängt. Es bog seinen Kopf herab und schnoberte fast ängstlich an ihrem Haar, von dem der Hut im tollen Ritte abgeflogen war, und schien durch seinen seltsam bekümmerten Blick und das eifrige Spiel der Ohren seinen neuen gestrengen Herrn zu rascher Hilfeleistung auffordern zu wollen.

Herr von Norwig tupfte noch schnell mit seinem Tuche eine Schaumflocke hinweg, die von den Lippen des Wallachs auf ihre bleiche Stirn geflogen war, und dann lief er eiligst nach dem Bache, der glücklicherweise kaum zwanzig Schritte entfernt war, band das Pferd an einem Baume fest und schöpfte dann seinen kleinen festen Filzhut voll Wasser. Davon spritzte er, zurückgekehrt, der Komteß ins Gesicht, goß ein weniges über ihre halbgeöffneten Lippen, und den Rest ließ er langsam über ihr Hinterhaupt rinnen. Zu seinem Schrecken wollte sich aber noch kein Lebenszeichen einstellen. Er richtete nun ihren Oberleib etwas auf, indem er ihren Nacken gegen seine Kniee stützte. Er wollte ihr Luft um den Hals verschaffen, den der hohe Stehkragen der prall sitzenden Taille fest umschloß. Da diese jedoch im Rücken geschlossen war, so war es nicht leicht, die Knöpfe zu öffnen, und es währte geraume Zeit, bis er zum Ziele gelangt war und ihr die Kehle frei machen konnte. Dann ließ er sich auf beide Kniee nieder, zog die schwere Gestalt halb auf seinen Schoß, bettete ihren Kopf an seinem linken Oberarm und wehte ihr dann mit seinem nassen Hute Kühlung zu. Und da – oder war es nur eine Täuschung gewesen? – da war es ihm erschienen, als kehre ein leises Rot auf ihre fahlen Wangen zurück, als blähe ein erster Atemhauch die Nasenflügel ein wenig auf, als zuckten die Augenlider leicht zusammen. Mit ängstlichem Eifer gingen seine Blicke diesen schwachen Lebensspuren nach – und als sie endlich gar für eine Sekunde die 102 Augen zu ihm aufschlug, da drückte er in einer fast zärtlichen Regung der Freude den nassen Kopf an seine Brust.

Mittlerweile waren auch die Männer herangekommen, die zu Fuß der wilden Jagd gefolgt waren. Neugierig, auch wohl ernstlich besorgt, liefen sie herzu und bestürmten den Oberverwalter mit Fragen.

»Es ist hoffentlich nur eine Ohnmacht,« antwortete Norwig dem Inspektor. »Sie hat bereits die Augen aufgeschlagen. – Ah, Hinrich, da sind Sie ja auch. Sie sind ja ein verheirateter Mann, nicht wahr?«

»Jawoll, Herr, ick bün all Grotvadder!« grinste der alte Kutscher.

»Na, dann bleiben Sie mal hier und helfen Sie mir. Und Sie, Herr Reusche, sind wohl so freundlich, mit den übrigen Leuten die Verfolgung des Hengstes aufzunehmen.«

»Gewiß, gern,« versetzte der Inspektor. »Sollten wir nicht vielleicht erst nach einem Wagen aufs Schloß schicken?«

Herr von Norwig überlegte: »Hm! Ich möchte nur nicht den Herrschaften einen überflüssigen Schreck verursachen. Vielleicht ist es nur eine Ohnmacht, und die Komteß erholt sich.«

»Na, wie Sie meinen, Herr von Norwig. Ich komme denn hier wieder vorbei und frage nochmal an.«

»Bitte sehr. Aber wollen Sie sich nicht vielleicht auf mein Pferd setzen? Sie werden es brauchen können, wenn die Bestie noch weit gerast ist.«

Der Inspektor befolgte den Rat seines Vorgesetzten und machte sich, von den fünf Arbeitern gefolgt, auf den Weg.

Der alte Hinrich hatte seine Mütze auf die Seite gerückt und kratzte sich hinterm Ohr: »Ja, Herr, wat sall ick dorbi dhaun?«

»Treten Sie hierher, lieber Hinrich,« ordnete Norwig mir gedämpfter Stimme an. »So, halten Sie die Komteß 103 im Nacken fest – so – daß der Oberkörper aufgerichtet bleibt.«

Der Alte that, wie ihm geheißen, und dann öffnete Norwig vollends die Reihe der Knöpfe im Rücken der Taille, hakte dann das Gurtband um den Kleiderrock auf, fand glücklich den Knoten der Schnürsenkel und schnürte rasch und geschickt den festsitzenden Leib auf. Und dann wies er den ernst und stumm zuschauenden Hinrich an, den linken Arm der Ohnmächtigen auf und nieder zu führen, indem er dasselbe mit dem rechten that und gleichzeitig den Oberkörper vor und rückwärts beugte.

Die beiden Männer hatten die Freude, ihre Anstrengungen ziemlich bald belohnt zu sehen. Die junge Gräfin schlug mit einem tiefen Seufzer abermals die Augen auf, ihr Busen hob und senkte sich wieder selbstthätig und ihre Lippen bewegten sich, als ob sie reden wollten.

»Erkennen Sie mich, Komteß?« frug Norwig mit sanfter Stimme.

Sie blickte ihn groß an – antwortete aber nicht.

»Fühlen Sie Schmerzen? Haben Sie sich verletzt?«

Sie antwortete noch nicht; und ihre grauen Augen ruhten mit einem seltsamen Glanz auf Norwigs Zügen. Dann begann sie rascher zu atmen, öffnete lechzend die Lippen und brachte mühsam das eine Wort »Wasser« heraus.

»Laufen Sie, Hinrich; da, nehmen Sie meinen Hut – schnell!«

Der Alte trollte sich mit dem Hute nach dem Bache. Und als Norwig sich abermals über das Haupt der Geretteten beugte, das er nun wieder in seinem Arme hielt, tauchten ihre Blicke wieder so seltsam fest und gleichsam mit ernster Frage in die seinen, daß er sich wie in Verlegenheit abwenden mußte.

Welch ein blendendweißer Nacken, welch prachtvoll gerundete Schultern waren ihm da preisgegeben! Wie kann 104 die schaffende Natur sich so an ihren Meisterwerken versündigen. Ach, sie fragt so wenig nach den Gesetzen der Schönheit, wie nach der Gerechtigkeit. Im Ganzen ist sie groß, erhaben, ewig schön, weil sie göttlich ist, doch im Einzelnen schafft sie nach Lust und Laune – menschenwitzig, wenn nicht gar teuflisch grausam!

Hinrich kam mit dem Wasser. Durch Einknicken der Krämpe gelang es, eine Rinne herzustellen, aus der Norwig die Lechzende langsam schlürfen ließ. Schlechtes Flußwasser aus einem alten Filzhut; aber es schien sie wunderbar zu erquicken. Er tauchte sein Taschentuch in das Wasser und legte es ihr auf die Stirn.

»Wie fühlen Sie sich jetzt, Komteß?«

»Gut – sehr gut!« hauchte sie.

Und ihr starrer, leuchtender, fragender Blick senkte sich so tief in seine Augen, suchte sie flehend, sobald er sie abwandte und verklärte sich wunderbar, wenn er sie ihr wieder zukehrte. Endlich schlossen sich ihre Lider, wie in tiefer Müdigkeit, und – zum erstenmal auch ihren Unterkörper selbständig bewegend – wandte sie sich ein wenig zur Seite und suchte wie ein müdes Kind an seiner Brust den besten Ruheplatz für ihr Haupt. Norwig ward seltsam ergriffen; es überkam ihn eine Rührung ohnegleichen – und wie in einem holden Morgentraume zogen die Bilder der wenigen Jahre und Stunden seines Lebens an seinem geistigen Auge vorüber, in denen er ein reines, menschlich schönes Glück genossen hatte. Er seufzte tief auf und – eine Thräne wollte sich in sein Auge stehlen.

Da sagte der alte Hinrich, sich eifrig hinterm Ohr kratzend und mit der allergreulichsten Meerkatergrimasse: »Ja, ja – dei dulle Kunteß! Ne – ick segg . . .!«

»Ja, mein Alter,« lächelte Norwig; »heute hat sie's wirklich ein bißchen toll getrieben.«

Wohl eine Viertelstunde lang schlummerte sie in derselben 105 Stellung fort. Dann erschienen als Vortrab der dem Potrimpos nachgesandten Leute die beiden Bernhardiner, welche bald ihre Hasenjagd aufgegeben und es vorgezogen hatten, den durchgehenden Hengst zu verfolgen. Sie weckten durch ihr Gebell die Schlummernde auf und ließen sich in ihrer zudringlichen Neugier nur durch die Fußtritte Hinrichs davon abhalten, durch ihr, wahrscheinlich wohlgemeintes Schnüffeln und Belecken der Komtesse lästig zu werden.

Mit ratlos verwundertem Ausdruck blickte diese nun auf und um sich. Ohne Unterstützung setzte sie sich aufrecht hin, griff sich nach dem Kopfe, behielt dabei den nassen Umschlag in der Hand und rief, ihn von allen Seiten betrachtend, äußerst erstaunt aus: »Bin ich denn nicht verwundet?«

»Ich hoffe nicht, Komteß. Wollen Sie nicht versuchen, aufzustehen? Vorausgesetzt, daß Sie keine Schmerzen in den Gliedern fühlen.«

»Ah, Herr von Norwig – ich danke Ihnen!« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Bei dieser raschen Bewegung ward sie erst gewahr, in welchem Zustande ihre Kleidung sich befinde. Sie ward blutrot, bedeckte ihre Augen mit ihren Händen und rief mit bebender Stimme: »Mein Gott, was haben Sie mit mir gemacht!«

»Es war notwendig, Komteß – Sie dürfen mir darum nicht zürnen,« flüsterte Norwig ihr zu.

»Halloa!« rief der alte Hinrich laut dazwischen und schlug sich auf die Kniee. »Da bringen sei dei Karnalj vun'n Beist. Na, täuw du Aas – di sall dat Ledder bi lebendigem Liew dörchwalkt war'n, dat . . .«

»Und alle diese Leute haben mich – so gesehen?« fragte Gräfin Marie hastig, verwirrt.

»Nur der alte Hinrich und ich.« Norwig beeilte sich wenigstens die Taille einigermaßen zu schließen, ehe die Männer herankamen.

Inspektor Reusche drückte in unbeholfenen Worten seine 106 Freude über den glücklichen Ausgang des Abenteuers aus und berichtete dann, wie sie des Hengstes habhaft geworden waren. Das Tier hatte nicht fern von der Stelle, wo die Komteß heruntergestürzt war, den Versuch gewagt, den Bach, der dort einen Bogen machte und so ihm den geraden Weg verlegte, zu überspringen. Doch mußte der Sprung zu kurz und der Hengst nachher nicht im stande gewesen sein, das jenseitige, senkrecht abgestochene Ufer zu erklimmen. Bei der Anstrengung, sich wieder an das diesseitige Ufer hinaufzuarbeiten, war ihm dann der Sattel auf dem Bauche noch mehr nach vorn gerutscht, das Horn war zwischen seine Vorderbeine zu stehen gekommen und hatte das Pferd, nachdem es gelandet, sehr bald zu Falle gebracht. Auf der Seite liegend, keuchend und strampelnd hatten sie es gefunden und mit Mühe und Not wieder auf die Beine gebracht. Es blutete aus dem Maule, so arg hatte die Reiterin an der Kandare reißen müssen, und lahmte auf dem linken Vorderfuß. Ein Arbeiter trug den Sattel auf den Schultern.

»Soll ich nicht vielleicht hinüber reiten und die Kalesche anspannen lassen?« fragte der Inspektor mit einem besorgten Blick auf seine junge Herrin, die immer noch, leicht gegen des Oberverwalters Arm gelehnt, im Grase saß.

»O nein – lassen Sie das ja bleiben,« entschied die Komteß lebhaft. »Sie würden ja zu Hause denken, ich hätte Arme und Beine gebrochen. Wollen Sie, bitte, Obotrit für mich satteln lassen, Herr Reusche.«

»Aber gnädigste Komteß« . . . wagte Norwig einzuwenden. Sie schnitt ihm jedoch kurz das Wort ab, indem sie Anstalten zum Aufstehen machte und seine Beihilfe erbat. Es ging auch rasch genug damit, doch sah man ihr wohl an, wie sie einen heftigen Schmerz zu verbeißen suchte.

»Komteß haben sich am Ende einen einwendigen Schaden gethan!« sagte der Inspektor, ihr seine Unterstützung anbietend.

107 »Ach bewahre – es ist nur die Hüfte! Wenn ich erst im Sattel sitze, so kann es nicht mehr sehr weh thun.«

»Komteß wollten wirklich . . .«

»Aber gewiß!« rief sie, mit dem Versuch, Herrn von Norwig auszulachen.

»Mama würde mir ja nie wieder erlauben, einen Gaul zu besteigen, wenn Sie mich so als halbe Leiche angeschleppt brächten! Sie haben sich ja nun doch einmal als barmherziger Samariter bewährt, Herr von Norwig; vielleicht thun Sie noch ein übriges und begleiten mich zu Fuß nach Hause, damit Obotrit hübsch im Schritt bleibt.«

Da kein Dreinreden half, so machten sich die beiden Herren selbst daran, dem Braunen den Damensattel aufzulegen, während Potrimpos mit dem andern Sattel heimgeführt wurde.

Die Arbeiter standen inzwischen immer noch stumm und neugierig dreinschauend um die junge Gräfin herum. Da näherte der alte Hinrich seinen zahnlosen Mund dem Ohre seiner Gebieterin und raunte ihr zu: »Ick wull man seggen, dat, mit Respekt to mellen, gnä' Kunteß ehren Rock verlieren.«

Erschreckt und verlegen griff sie nach dem Bunde des bleibeschwerten Reitkleides und rief dann einigermaßen unwirsch den Gaffern zu: »Na, Lüd, wat is dor noch to kieken? Makt ji man 'n bäten fix, dat ji to jug Arbeit kümmt!«

Die Männer machten sich langsam davon, und der Inspektor führte ihr alsbald auch den gesattelten Braunen vor und bot ihr seine Hilfe beim Aufsitzen an.

»Ich danke Ihnen sehr, lieber Reusche, ich möchte doch noch einen Augenblick warten – mir ist noch etwas schwindlig. Bitte, lassen Sie sich aber nicht abhalten, Sie werden beim Pflügen nötig sein.«

Er merkte, daß er entlassen sei und empfahl sich kurz und einigermaßen gekränkt. Er war eifersüchtig auf seinen 108 neuen Vorgesetzten, der, kaum zwei Tage auf dem Gute, bereits mit einer Vertraulichkeit ausgezeichnet wurde, die ihm nie zu teil geworden war, obwohl er doch schon Jahr und Tag in Diensten des Grafen stand. »Ja, da sieht man's recht,« brummte er im Abziehen vor sich hin: »Nun sie den Adligen hat, ist unsereins nicht mehr gut genug, ihr aufs Pferd zu helfen! Und da heißt es noch, unsre Komteß wär' nicht so, wie die andern Gnädigen – hehe! Hat sich was. – Und der Herr Von da spielt sich auf, als wenn er mindestens ein Prinz inkognito wär'! Wenn er so viel mehr verstünde als andre Leute, wär' er wohl nicht mit seinem eignen Gut verkracht – hehe! Wird auch wohl so einer sein, der seinen Acker mit schönen Redensarten düngt und die Einkünfte durch die Gurgel jagt, bis ihn der Jude beim Kragen hat!« – –

Als der brave Reusche außer Sicht gekommen war, wandte sich der so scharf kritisierte »Herr Von da« an die ratlos mit ihrem Rocke hantierende Komteß und sagte mit kavaliermäßiger Sicherheit: »Komteß müssen mir schon gestatten, Ihnen noch einmal meine Dienste als Kammerjungfer anzubieten.«

Und sie wurde sehr rot und sagte mit einem komisch-verzweifelten Seufzen: »Mein Gott! welch eine lächerliche, gräßliche genante Situation das ist! Helfen Sie mir nur – ich kann ja nicht anders.«

»Ja es ist höchst shocking!« scherzte Norwig, indem er mit großer Geschwindigkeit Schnüre, Haken und Knöpfe wieder in Ordnung brachte.

»Nun – Sie sind wenigstens ein vernünftiger und sehr geschickter Herr. Ich danke Ihnen vielmals!« Sie hatte niemals in ihrem Leben irgendwelche Koketterie geübt; und dennoch kam in diesem Lächeln, mit dem sie ihm, verschämt zur Seite gewendet, die Rechte hinstreckte, die Evasart zum Durchbruch. Aber sie stand ihr nun einmal nicht zu Gesichte. Das Erröten machte sie noch unschöner.

109 Norwig behielt ihre große, aber schlanke und vornehme Hand ein Weilchen in der seinen und sagte: »Ja, ja, Gnädigste, die Schicklichkeit und Unschicklichkeit! Wunderbare Begriffe! Wären wir uns auf einem Hofballe zuerst begegnet, so hätten Sie mir und aller Welt ohne Erröten Reize preisgeben müssen, die einen armen Sterblichen blind machen könnten; aber um Sie vor dem Ersticken zu retten . . .«

»Ach, bitte – nun halten Sie aber gefälligst ein!« fiel sie ihm in ihrer echten geraden Art ins Wort. »Ich danke Ihnen schön und damit holla! Dat anner is doch all dumm Tüg – nich wohr, Hinrich!«

»Jawoll, gnä' Kunteß – ick verstah' da woll nich so väl vun; öwerst dat wihr ok min' Meinung. Un denn sün' jo ok gnä' Kunteß, mit Respekt to mellen, so gaud as een richtigen Mannskierl!«

Die tolle Komteß lachte laut auf und rief: »Vielen Dank für die gute Meinung, Hinrich.« Und zu Herrn von Norwig gewandt fügte sie französisch hinzu: »C'est ce qu'on appelle mettre quelqu'un à son aise - n'est-ce pas?«

»Ah oui - par exemple!« lachte Norwig. Und damit war allerseits die Unbefangenheit und gute Laune wiederhergestellt. –

Nun handelte es sich darum, die Amazone wieder in Sattel zu bringen. Bei dem ersten Versuche stellte es sich heraus, daß der Schmerz in der Hüfte doch so stark war, daß sie den Fuß nicht bis zur Höhe des Steigbügels zu erheben vermochte. Da sich aber auch kein Stein oder Erdhaufen in der Nähe befand, der zum Aufsteigen hätte dienen können, so erfand Norwig ein seltsames aber praktisches Auskunftsmittel. Er ließ den alten Hinrich das Pferd halten, warf sich selbst auf die Kniee und Hände an dessen linker Seite zur Erde und ließ die Komteß erst auf seine Schultern und von da aus in den Bügel treten, worauf er aufsprang und ihr vollends in den Sitz half. Auf diese Weise brachten sie das 110 Kunststück zu stande, obwohl die arme Komteß mehrmals vor Schmerz laut aufstöhnte. Als sie aber glücklich im Sattel saß, behauptete sie, daß sie sich da oben sicher und erträglich befinde.

Sie versuchte auch, um sich ihre Schmerzen nicht merken zu lassen, einen leichten scherzhaften Ton anzuschlagen.

»Ich finde doch, Mama hat recht,« begann sie die Unterhaltung, während die beiden Männer neben dem Wallach herschritten, sorgfältig darauf achtend, daß er nicht aus seinem gleichmäßigen Schritt falle. »Frauenzimmer gehören nicht aufs Pferd. Lieber Himmel, heute bin ich mir meiner holden Weiblichkeit recht jämmerlich bewußt geworden.«

»O, Komteß, wie können Sie so sprechen!« beschwichtigte Norwig. »Wenn Ihnen einmal so viel kühne Wagelust im Blute liegt, warum sollten Sie da Ihrer Natur nicht folgen dürfen? Nur darum nicht, weil hie und da Ihre Eigenschaft als Dame Sie mit thörichten Schicklichkeitsforderungen in Konflikt bringen könnte? Soll denn allein die Frau nicht nach ihrer Façon selig werden dürfen – selbst nicht, wenn ihre Mittel es ihr erlauben?«

»Und doch sind es die Männer, die immer nach ›Weiblichkeit‹ verlangen und von einer Emanzipierten am wenigsten wissen wollen.«

»O Pardon, Gnädigste, das ist eine ästhetische Frage. Die Anziehung, die die Frauen auf uns ausüben, wird doch nun einmal fast ausschließlich von Sinneseindrücken bestimmt. Auch eine Emanzipierte ist reizend, wenn es ihr eben gut steht, das kecke, eigenwillige Wesen.«

»Und was gehört wohl dazu?«

»Ei nun – will sie geistig emanzipiert erscheinen, so gehört eben ein überlegener Geist dazu, der nicht nur aus Eitelkeit und Laune, sondern aus eigner Vollkraft mit den Männern in die Schranken tritt. Will sie aber körperlich emanzipiert sein, dann gehört vor allem ein kerngesunder 111 Körper dazu, ein gewisses männliches Gleichgewicht der Formen und Kräfte, damit sie nicht in jeder heftigen Bewegung unschön oder gar lächerlich erscheine. Etwas Geist gehört aber auch hierzu – wie zu allem Ungewöhnlichen! Schon um die unvermeidlichen kleinen Reibereien mit den Satzungen der guten Gesellschaft mit Humor zu ertragen!«

»Das war für mich. Ich danke Ihnen,« sagte lächelnd die Komteß und dann versank sie in ein längeres Schweigen. Erst als sie die Hügelkette überstiegen hatten und das Grafenschloß vor sich liegen sahen, nahm sie den Faden der Unterhaltung wieder auf. Norwig hatte unterdessen nur einige wirtschaftliche Fragen an den alten Kutscher gerichtet. Er fürchtete, seiner Schutzbefohlenen durch vieles Sprechen lästig zu fallen.

»Sie sind heute ganz besonders liebenswürdiger Stimmung, scheint mir,« begann die Reiterin. »Ich dachte eben an unser gestriges Waldgespräch. Danach schienen Sie nicht eben geneigt, uns Frauen sehr viel des Guten nachzusagen, besonders nach den Andeutungen über die traurigen Erfahrungen Ihrer Ehe.«

Norwig zögerte einen Augenblick, ehe er ihr antwortete. »Die eignen guten oder bösen Erfahrungen sollten niemals ein allgemeines Urteil bestimmen. Freilich geschieht es ja doch meistens – weil es eben menschlich ist! Welches Recht sollte eignes eheliches Unglück mir geben, über die Frauen abzuurteilen? Ich bin ja selbst schuld an dem Schicksal, das mich betroffen hat, denn ich sündigte gegen ein soziales Grundgesetz.«

»Ah, wie das?« frug sie aufhorchend.

»Ich heiratete im Rausch und unter meinem Stande.«

»Was?« rief die Komteß höchst erstaunt. »Solch ein altes Vorurteil nennen Sie ein soziales Grundgesetz? Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet! Darüber sind ja doch selbst meine Eltern längst hinaus, trotzdem sie ihren alten 112 Adel sehr in Ehren halten. Sie würden uns Mädchen nie verbieten einen Bürgerlichen zu heiraten, wenn er nur sonst ein anständiger Mann ist.«

»Bravo, Komteß, Sie haben das richtige Wort gesprochen! Ein anständiger Mensch ist jeder ehrenhafte, achtbare Charakter, nicht wahr? Und doch zieht unbewußt jeder Stand die engere Grenze des »anständigen Menschen« im gesellschaftlichen Sinne ganz wo anders. Ich frage den Teufel nach dem Almanach de Gotha, aber das Blut muß gleichwertig und die Bildungssphäre dieselbe sein bei Mann und Frau, sonst ist eine glückliche Ehe innerhalb der modernen Gesellschaft kaum denkbar. Sehen Sie, Komteß – da ich doch einmal angefangen habe, Ihnen zu beichten« – er ging jetzt dicht an ihrer Seite und sprach französisch, um den alten Heinrich nicht zum Mitwisser seiner Geheimnisse zu haben. »Ich unterhielt ein Liebesverhältnis mit einer unbedeutenden, aber sehr hübschen und auch geistig pikanten Schauspielerin. Ich war so blind verliebt und rasend eifersüchtig, daß ich sie heiratete, um sie für mich allein zu besitzen und auf meinem kleinen Gute vor der Welt zu verbergen wie einen kostbaren Schatz. Ich nahm meinen Abschied von den Ulanen, brouillierte mich mit meiner Familie und sah mich dennoch sehr bald genötigt, wenn ich mir nicht mein Haus zur Hölle machen wollte, dem Verlangen meiner Frau nach lärmender Geselligkeit, Reisen, Putz, Aufwand aller Art nachzugeben. Nach fünfjähriger Ehe war ich ruiniert. Ich floh vor meinem Weibe über den Ozean und nahm meinen Sohn, unser einziges Kind, mit mir, weil ich es nicht mehr mit ansehen konnte, wie dies Weib ihre Mutterpflicht vernachlässigte.«

»Ah, Sie haben einen Sohn? Was ist aus ihm geworden?« warf die Komteß lebhaft ein.

»Ich habe ihn drüben lassen müssen. Er ist in einer amerikanischen Familie in Pennsylvanien untergebracht. O, ich fürchte, Bill Norwich wird seinen Papa wie ein fossiles 113 Ungeheuer anstaunen, wenn er ihn einmal wiedersehen sollte. Er scheint mir seiner raschen und gründlichen Yankysierung nicht den geringsten Widerstand entgegenzusetzen, während ich – trotz meiner Vorurteilslosigkeit und Abenteuerlust – doch bald genug von unwiderstehlichem Heimweh nach dem ›alten Lande‹ erfaßt wurde. Sie glauben nicht, wie das blaue Blut gegen Amerika revoltierte! Daheim wurde ich, in meinem Regiment wie in meiner Verwandtschaft, als Freigeist mißtrauisch angesehen und sogar ›der Rote‹ genannt. Und drüben? Nach vier Wochen war ich bereits Mitglied des deutschen Adelsklubs von Long-Island – haha! Tagüber arbeiteten unsre Grafen und Barone in den Fabriken, in den Kontoren der City, als Kellner in Restaurants und Gott weiß wo noch. Dann aber wurde der Kavalier mit dem Feierkleide, das wie ein edles Pferd gehätschelt und gepflegt wurde, aus dem Spinde geholt, und der Schritt nach unserm bescheidenen Vereinslokal gelenkt. ›Das Kasino der Entgleisten‹ nannten es die Spötter. Wunderlich genug war die Gesellschaft, die sich da zusammenfand. Bankrotte Landwirte gleich mir, um die Ecke gegangene Offiziere, Korpsstudenten, denen das Leeren des väterlichen Geldbeutels leichter als die Examina gelungen war – lauter gutes, christlich-germanisches, blaues Blut. Die meisten hatte die Not zahm und die Arbeit vernünftig gemacht. Prächtige Kameraden waren sie alle – die letzten Heller wie die letzten Cigarren wurden brüderlich geteilt, der Zusammenhang mit dem Mutterlande mit rührender Treue aufrecht erhalten und ängstlich über die Formen der guten Gesellschaft gewacht. Die geistigen Genüsse der Unterhaltung waren mager und bescheiden wie die leiblichen der Kasinoküche; aber ein Gespräch über Hunde, Pferde und Frauenzimmer ist eine wahre Erquickung, wenn man sonst nur von Geschäft und wieder Geschäft reden hört, und einen gesitteten Europäer mit Anstand einen Hering mit Kartoffeln speisen oder eine Cigarre ohne Gekau und Gespei 114 rauchen zu sehen, kann unter Umständen zu einem ästhetischen Genuß werden. – Meinem Kinde soll die Tragikomödie des armen Adligen erspart bleiben. Hier wird sein Name ihm nur hinderlich sein, drüben als Bill Norwich wird es ihm wohl leichter werden, sich empor zu arbeiten. Er ist ja auch Halbblut, das gedeiht dort am besten.«

Die Komteß erwiderte längere Zeit nichts auf diese lange Rede. Endlich fragte sie, mit wahrer Anteilnahme ihres Begleiters Auge suchend: »Und seine Mutter – starb?«

»Für mich ist sie tot – ich beantragte die Scheidung, als ich durch den Brief eines deutschen Freundes die Gewißheit erlangte, daß sie mir die eheliche Treue nicht gewahrt hatte. Lassen Sie mich die leidigen Erinnerungen nicht wieder erwecken, Komteß.« Er sah mit bittendem Blicke zu ihr auf.

Und ihre Augen begegneten den seinen mit einem Ausdruck, der Dank für sein Vertrauen und die Versicherung ihres warmen Mitgefühls zugleich enthielt. Er mußte an den so traumverlorenen, glückseligen und doch sehnsüchtig fragenden Blick zurückdenken, mit dem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Sein Herz klopfte rascher und ihm ward so eigen beklommen zu Mute. Wie kam er nur dazu, nach so kurzer Bekanntschaft dieser jungen Dame Eröffnungen zu machen, wie man sie sonst kaum einem vertrauten Freunde macht? Wenn sie schwatzhaft war nach Frauenart, so konnte ihm in seiner abhängigen Stellung allerlei Unbequemlichkeit daraus erwachsen. Klatschfreudige Landedeldamen konnten aus dem geschiedenen Gatten einer leichtfertigen Theaterprinzessin und amerikanischen Abenteurer mit Leichtigkeit eine in guter Gesellschaft unmögliche Persönlichkeit gestalten. Aber der alte Hinrich hatte ja gesagt, sie sei so gut »as een Mannskierl«. Warum sollte sie ihm da nicht auch im besten Sinne ein guter Freund werden können? Es war wohl eine glückliche 115 Ahnung gewesen, die ihn gleich unbewußt bestimmt hatte, um ihre Freundschaft zu werben.

Es ist freilich im allgemeinen eine heikle Sache um die sogenannte Freundschaft zwischen Mann und Weib. Wenn aber das Weib so zweifellos garstig ist, dann sollte ihr doch wohl die Freundschaft mindestens so leicht werden wie die Tugend!

Als sie die Rampe zum Schlosse hinaufritten, sagte die Komteß: »Sie gaben sich als Witwer aus. Ich glaube zu verstehen warum, und werde Sie nicht verraten, so lange Sie es nicht wünschen.« Sie war also seinen heimlichen Gedanken auch ihrerseits gefolgt. Er verneigte sich dankbar und ehrerbietig.

Sie hielten nun vor dem Hauptportal. Niemand erschien zu ihrem Empfange. Die beiden Männer halfen ihr mit großer Behutsamkeit aus dem Sattel. Sie konnte aus dem Bügel bequem auf die steinerne Treppenwange treten, aber das Ausschreiten verursachte ihr große Schmerzen und sie mußte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Norwig stützen, um nur die Hausthür zu erreichen. Auf einen Korbstuhl, der dort stand, sank sie leise aufstöhnend nieder. Norwig rief laut nach Friedrich, dem Diener, aber niemand hörte ihn. Er eilte dann selbst fort, um den Grafen oder seine Gemahlin zu benachrichtigen. Aber die Zimmer des Grafen wie der Gräfin waren leer. Das ganze Haus war wie ausgestorben. Endlich, zu einem Hoffenster hinausschauend, sah er den Diener mit dem Hausmädchen schäkern und rief ihn zu seiner Hilfe herbei. Er teilte dem Bestürzten mit, was vorgefallen, und dann trugen die beiden Männer die arme junge Herrin auf dem Stuhle sitzend die Treppe hinauf. Es war das keine kleine Anstrengung, und als sie auf der ersten Rast ausruhten, erkundigte sich Norwig, wo denn die Herrschaften zu finden seien.

»Der Herr Graf müssen wohl nicht recht wohl sein,« 116 erklärte Friedrich: »Die Frau Gräfin sind schon seit einer Stunde bei ihm im Schlafzimmer, die Köchin hat Fliederthee aufgekocht und ich habe ihn eben hineingetragen. Frau Gräfin haben auch das zweite Frühstück abbestellt. Komteß Viktoria sind mit dem neuen Fräulein hinaufgegangen. Das Fräulein hatte ganz verweinte Augen und hustete sehr. Die Luise hat ihr eben Brustthee hinauftragen müssen.«

Die tolle Komteß lächelte mühsam. »Da ist ja das ganze Haus auf einmal in ein Lazarett verwandelt. Was werdet ihr mir nun für einen Thee kochen?«

Sie waren vor dem Schlafzimmer der jungen Gräfinnen angekommen. Der Diener klopfte an, und da kein Herein! laut wurde, öffnete er und half den Stuhl ins Zimmer tragen. Da erst that sich die Nebenthür auf, welche in das Wohnzimmer der Töchter führte und auf deren Schwelle erschienen Arm in Arm Komteß Vicki und Fräulein Bandemer.

»Aber Ma! Um Gotteswillen – was ist das?« rief das junge Mädchen, indem es mit großen, erschrockenen Augen die Schwester anstarrte, welche soeben den rechten Arm um Herrn von Norwigs Schultern legte und von diesem und Friedrich unterstützt, sich mühsam erhob.

»Ach, Vickichen,« stöhnte die Arme. »Fürs erste habe ich ausgetollt, ich bin gestürzt – aber Gott sei Dank! Die Knochen sind alle heil! Hilf mir nur schnell zu Bett.«

»Ich eile, die Frau Gräfin zu rufen,« sagte Fräulein Sophie und schwebte diensteifrig und geräuschlos zum Zimmer hinaus.

Friedrich folgte ihrem Beispiel.

Vicki schlang zärtlich ihre Arme um die Schwester und half dem Herrn Verwalter sie nach dem Bette zu geleiten.

»Ach, liebe, süße Ma – du siehst ja leichenblaß aus! Wie war es denn nur, Herr von Norwig? – Hast du große Schmerzen?« So schwätzte das große Kind in mitleidigster 117 Aufregung, und die dicken Thränen traten ihr dabei in die Augen. »Ach, lieber Gott, wie du stöhnst! Du hast dir gewiß alles mögliche gebrochen – du sagst es nur nicht. Sie ist immer so gräßlich heroisch, Herr von Norwig.«

Der also Belehrte konnte sich des Lächelns nicht erwehren, als er erwiderte: »Heute hat sich die Komteß wirklich wie eine Heldin benommen.« Und er berichtete in wenigen Worten den Hergang, der zu dem Unglücksfalle geführt hatte.

»Ich wäre vielleicht aus meiner Ohnmacht nicht wieder erwacht, wenn nicht Herr von Norwig . . .«

»O, meine gnädige Komteß – ich war ja der Nächste dazu.«

»Es kann doch sein, daß Sie mir das Leben gerettet haben – nochmals tausend Dank!« Sie ergriff mit warmem Drucke seine Rechte.

Und Komteß Vicki fiel lebhaft ein: »Sie haben ihr das Leben gerettet? Ach, wie lieb von Ihnen! Ohne Ma könnte ich es auch nicht mehr in der Welt aushalten. Ich danke Ihnen auch tausend, tausend . . .« Und dabei erhaschte das überschwengliche, fast schon schluchzende Mädchen seine Linke, küßte sie mehrmals trotz seines Widerstrebens und ließ ihre heißen Thränen darauf fallen.

Und der Herr Oberverwalter stammelte etwas von seinen besten Wünschen für recht baldige Besserung und verließ schier fassungslos das Zimmer.

Auf der Treppe begegnete ihm das Fräulein Bandemer. Sie sah um zehn Jahr älter aus als heute früh beim Traubenpflücken, wie sie, an ihm vorbeistreifend, leise und höhnisch auflachte.

»Du willst wohl wieder einmal – dein Glück machen? Hüte dich – ich wache!«

Er biß sich auf die Lippen und würdigte sie keiner Antwort. 118

 


 


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