Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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XII

Am Nachmittag des 20. Juli fuhr der Panzerkreuzer »France«, auf dessen Deck der Präsident der Republik, Herr Poincaré – im Frack, die Brust umspannt vom blauen Band des Andreas-Ordens – und der Ministerpräsident Viviani standen, in den Hafen von Kronstadt ein. Das französische Begleitschiff »Jean Bart« grüsste mit einundzwanzig Kanonenschüssen und Poincaré bemerkte unzufrieden, dass dem Schiff, auf dem er, der Präsident der Republik, sich befand, die Marineetikette so geräuschvolle Manifestationen verbot. Während der Reise hatte er, wie er erzählt, den in der auswärtigen Politik noch etwas unerfahrenen Viviani in die Geschichte der französisch-russischen Allianz, in die Geheimnisse der Militärkonvention und in die nächsten Aufgaben eingeweiht. Unter anderem wollte man versuchen, eine Annäherung Schwedens an Russland zustande zu bringen. Viviani hatte dem Lehrmeister im allgemeinen aufmerksam, aber bisweilen ein wenig zerstreut zugehört. Seine Gedanken waren noch zu dem gewohnten Kampfterrain der Deputiertenkammer zurückgeglitten, oder zu dem Justizpalast, in dem jetzt wohl gerade Frau Caillaux den Pariser Geschworenen erklärte, wie es zur Erschiessung Gaston Calmettes gekommen war. Nachrichten, aus denen die hohen Reisenden hätten entnehmen können, dass Oesterreich-Ungarn den Serben ein Ultimatum schicken wolle, gelangten anscheinend nicht auf das Schiff. Die blaue Blume der Romantiker konnte nicht verborgener blühen, als das Geheimnis des Grafen Berchtold, der französische Botschafter in Wien, Herr Dumaine, wusste noch nichts Genaueres, der drahtlose Telegraph teilte den Passagieren der »France« nichts Besorgniserregendes mit. Gewiegt von den leichten, gleichmässigen Wellen, gab sich die sonst immer argwöhnische Seele Poincarés – wie er wenigstens versichert – völlig der »Illusion des Friedens« hin. »Ein dichter Nebel fällt auf die Fluten, als wollte er die Ufer Europas unsern Blicken entziehen.«

Von Peterhof aus waren auf der Zarenyacht »Alexandra« Nikolaus II., Sasonow, Iswolski, Graf Fredericksz, andere russische Würdenträger und der französische Botschafter Maurice Paléologue nach Kronstadt unterwegs. Man frühstückte, und Paléologue, der neben dem Zaren sass, benutzte die Gelegenheit, um ein wenig Gift in das Mahl zu streuen. »Man hat mir«, fragte Nikolaus, »berichtet, dass Sie beunruhigt über die Absichten Deutschlands sind?« Ja, Paléologue war beunruhigt, denn der Kaiser Wilhelm und seine Regierung brauchten angesichts der Stimmung in Deutschland einen Erfolg, und um ihn zu erreichen, würden sie irgendein Abenteuer beginnen. Nicky blieb ungläubig – er kenne doch Wilhelm genau. »Wenn Sie wüssten, wieviel in seinem Auftreten nur Scharlatanismus ist!« Dann kam die »France« in Sicht, 380 Salven, Hurra, die Marseillaise und die russische Hymne, der Präsident der Republik wurde zur Zarenyacht hinübergerudert, Nikolaus II. und Poincaré sassen auf Deck im Gespräch beieinander – »besser gesagt, in einer Konferenz«, meint Paléologue, um die Bedeutung des Ereignisses zu unterstreichen – und »Poincaré leitet die Unterhaltung, sehr bald spricht er allein«. Poincaré erzählt nur, der Zar habe sich nach der ihm etwas zu radikalen neuen Deputiertenkammer erkundigt und besonders gefragt, ob sie im Punkte der dreijährigen Dienstzeit ganz zuverlässig sei. Aber die Behauptung Paléologues, dass Poincaré allein sprach, ist wohl nicht allzusehr von der Wahrheit entfernt. Das ewige Schicksal dieses Zaren – bald mit Wilhelm II., bald mit Poincaré.

 

Abends Galadiner in Peterhof. Paléologue beobachtete die Zarin, die neben dem französischen Ehrengaste sass, und bemerkte, dass sie mitten in der Konversation einen ihrer hysterischen Angstanfälle erlitt. Nikolaus II. sprach den üblichen Freundschaftstoast. Poincaré antwortete auch nur mit diplomatisch stilisierten Banalitäten, aber Paléologue, bei der Niederschrift seiner Erinnerungen immer eifrig bemüht, dem Chef seine Bewunderung zu vermelden, versichert, die papierenen Gemeinplätze hätten in diesem Munde eine höhere Kraft gewonnen. »So müsste ein Autokrat sprechen«, hätten nach Tisch die Hofleute erklärt. Für einen Präsidenten der Republik ein etwas seltsames Kompliment. Am Nachmittag des nächsten Tages Diplomatenvorstellung im Winterpalais. Die Botschafter der Grossmächte wurden einzeln in den Salon geführt, in dem Poincaré sie empfing. Mit dem Deutschen, dem Grafen Pourtalès, der als Doyen zuerst eintrat, sprach er nur über die französische Verwandtschaft der gräflichen Familie, politische Fragen wurden nicht berührt. Mit Motono, dem Japaner, war das Gespräch von praktischer Bedeutung: »Mit einigen Worten wurde das Prinzip vom Beitritt Japans zur Triple-Entente formuliert.« Dann, mit dem Eintreten des englischen Botschafters Sir George Buchanan, verlor der Diplomatenaufmarsch ganz den Charakter einer harmlosen Formalität. Diesmal erfährt man das Genaueste nicht von Paléologue, hier bieten die Aufzeichnungen Poincarés und Buchanans weit mehr. Im Vorzimmer hatte der serbische Gesandte, Herr Spalaikovitch, Buchanan gepackt. Sehr erregt hatte der Gesandte gesagt, die Haltung Oesterreich-Ungarns sei im höchsten Grade bedrohlich, Serbien stehe vor einer furchtbaren Gefahr. Buchanan teilte dem Präsidenten der Republik die Befürchtungen des Gesandten mit und »schien sogar die Ueberreichung einer heftigen österreichischen Note in Belgrad vorherzusehen«. So vorbereitet, empfing Poincaré den Nächsten in der Reihe, den Botschafter Oesterreich-Ungarns, Graf Szapary, und seine Gefühle äusserten sich diesem stolzen Magyaren gegenüber mit einer autoritären Promptheit, die entschieden den Stil einer Galakur durchbrach. Er ging direkt auf das Ziel los, sprach von dem Attentat in Serajewo, und auf die Entgegnung des Botschafters, 381 dass Oesterreich Serbien für verantwortlich halte und die Untersuchung weitergehe, sagte er, in längerer Ermahnung, Serbien habe in Russland Freunde, die über ein schroffes Vorgehen erstaunt sein würden, und die Freunde Russlands würden auf dem gleichen Standpunkt stehen. Dann, Paléologue zufolge – Poincaré verschweigt dieses kleine Detail, das auch Szapary und Pourtalès berichten –: »Die Ergebnisse dieser Untersuchung beunruhigen mich, Herr Botschafter, denn ich erinnere mich an zwei frühere Untersuchungen, die Ihre Beziehungen zu Serbien nicht verbessert haben, – die Affäre Friedjung und die Affäre Prochaska dürften Ihnen, Herr Botschafter, noch gegenwärtig sein . . .?« Man begreift, dass Poincaré in seinen Memoiren diese von dem indiskreten Reporterdiplomaten notierte Bemerkung über die innern Angelegenheiten eines andern Landes unerwähnt lässt, und übrigens sind in allen Berichten über das Gespräch die Reden und Gegenreden so wiedergegeben, wie es jeder der Verfasser für vorteilhaft hielt. Der Abschied des Grafen Szapary von dem Präsidenten war kühl. Der Magyar sagte draussen zu Pourtalès: »Ich glaube, dass Herr Poincaré zu einem Konflikt gegen den Dreibund hetzt.« Poincaré sagte zu Paléologue: »Oesterreich bereitet uns einen Theatercoup vor, Sasonow muss festbleiben, und wir müssen ihm unsere Unterstützung leihen.« Die Botschafter Italiens und Spaniens wurden noch empfangen, die Masse der Gesandten wurde flüchtig im Nebensaal begrüsst, »ihre Enttäuschung liest sich in ihren Mienen, sie hofften alle, von ihm ein paar Worte aufzufangen, aus denen sie einen langen Bericht für ihre Regierungen hätten machen können«, sagt mit neckischem Spott der diplomatische Chronist. Herr Spalaikovitch, der Serbe, hatte noch die Möglichkeit, zu flüstern, dass die Nachrichten aus Belgrad sehr schlecht seien, und wurde durch eine kurze Versicherung freundschaftlicher Sympathie erquickt.

Die Truppenrevue auf der Ebene von Krasnoje Selo war das selbstverständliche Glanzstück im Festprogramm. Poincaré und Viviani fuhren im kaiserlichen Sonderzug hinaus, mit dem Zaren, der Zarin, dem Zarewitsch und den vier Töchtern – ihnen allen hatte der Gast am Vormittag schöne Pariser Geschenke überbracht. Viviani, leberleidend und nervös gestimmt durch Nachrichten über die Aussagen im Caillaux-Prozess, hasste die lästigen Pflichten und Anstrengungen der Repräsentation und verfiel in eine düstere Melancholie. Poincaré, ausdauernder im gewohnten Geschäft des Festefeierns, konnte seine Gedanken auch nicht immer auf die nächste Umwelt konzentrieren, denn aus Paris und anderswoher waren pessimistische Telegramme eingegangen, und die Gerüchte, dass ein österreichisches Ultimatum bevorstehe, verdichteten sich. Nach dem stimmungsvollen Abendgebet der Truppen auf dem Paradefeld gab in einem Zelt der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch zu Ehren der Gäste ein Bankett. Die beiden Montenegrinerinnen, die Grossfürstinnen Anastasia und Militza, stürzten sich auf Paléologue und ihre Begeisterung strömte und sprudelte wie ein unversiegbarer 382 Quell. »Wissen Sie, dass die Tage, die wir erleben, historische Tage, heilige Tage sind? Morgen, bei der Revue, werden die Musikkorps nichts anderes spielen als die »Marche Lorraine« und »Sambre-et-Meuse«. Ich erhielt heute ein Telegramm von meinem Vater in verabredeter Geheimsprache, – vor Ende des Monats, kündigt er mir an, haben wir den Krieg. Was für ein Held, mein Vater, wie aus der Ilias, nicht wahr?« Bei Tisch fuhr die Grossfürstin fort, Paléologue, ihren Nachbar, mit den Aeusserungen eines Glückes zu bombardieren, das zu gross für ihr Herz war und wie der Champagner im Glase überfloss. »Der Krieg wird ausbrechen – nichts wird von Oesterreich übrigbleiben – ihr werdet Elsass-Lothringen wieder nehmen – unsere Armeen werden sich in Berlin treffen – Deutschland wird zerstört.« Auch Poincaré wurde von den Schwestern bestürmt. Wie der Waldvogel dem jungen Siegfried die Geheimnisse der Zukunft offenbart, zwitscherten die beiden Balkannachtigallen die liebliche Kriegsmelodie.

Am Abend des 23. Abschied auf der »France«. Die ganze Zarenfamilie war an Bord. Beim Diner sprach Poincaré einen letzten Toast und besonders der Schlussatz: »Die beiden Länder haben das gleiche Ideal des Friedens in der Kraft, in der Würde« – die Worte wurden »hinausgesandt wie ein Trompetenstoss«, sagt Paléologue – befriedigte die kampffrohen Personen in der Tafelrunde sehr. Die Montenegrinerinnen waren freudig erregt. Ein solcher Erfolg konnte den Präsidenten der Republik über die Fehler der Bedienung und die Unzulänglichkeit seines Küchenchefs trösten, die er in seinen Memoiren beklagt. Nach Aufhebung der Tafel unterhielt sich der Zar noch ein paar Minuten lang mit dem Alliierten, und Paléologue bemühte sich, durch eine Causerie über die Schönheit des Meeres die Zarin aufzurichten, die wieder einen ihrer krankhaften Zustände hatte und »mit leerem und starrem Blicke« neben ihm sass. Nachts, auf der Rückfahrt nach Peterhof, fragte Nikolaus II. den Botschafter, ob er noch immer beunruhigt sei. Paléologue sagte: »Deutschland und Oesterreich bereiten uns einen Donnerschlag vor.« Nikolaus wehrte sich gegen eine solche Idee. Was könnten sie wollen . . ., der Kaiser Wilhelm sei, auch wenn er anders erscheine, zu vorsichtig, um sich auf ein wahnsinniges Abenteuer einzulassen, und der alte Franz Joseph wünsche nur noch, in Frieden aus dem Leben zu gehen.

 

Die Erzählungen des Tagebuchverfassers Paléologue zeigen den Erzähler und den Geist einer Diplomatie, deren höchst talentvoller Vertreter er war. Kann jemand, der schon diesen ersten Teil der Aufzeichnungen liest, den Eindruck empfangen, Herr Paléologue habe eine sehr grosse, sehr ernste Scheu vor dem Ausbruch des Krieges gehabt? In irgendeinem Augenblick habe er bei dem Gedanken an etwas so Furchtbares ein Entsetzen verspürt? In schlaflosen Nächten habe nicht nur die Nachwirkung der zahlreichen Diners, sondern die Erscheinung der blutenden Menschheit ihn gequält? Er habe mit der ganzen Kraft seiner Seele um 383 die Erhaltung des Friedens gerungen? In allen Kammern seiner Intelligenz habe er nach rettenden Auswegen gesucht? Man findet von solchen geistigen Anstrengungen und von aufrichtigem Abscheu eigentlich nicht viel. Er behandelt die Völkerkatastrophe im Tone einer graziösen Tändelei. Seine drei Bände haben auch in Deutschland Bewunderer gefunden, und der mit allen Kulturreizen vertraute Schilderer hat Anspruch auf literarischen Ruhm. In Frankreich hat der konservative Politiker Denys Cochin, Mitglied der Akademie, den Mut gehabt, im Januar 1921 im »Figaro« zu schreiben, dass ihn das Buch des Herrn Paléologue betrübt habe: »Welch ein Kontrast zwischen der lebhaften, beschwingten, amüsanten Erzählung des Botschafters und dem Ereignis, das dann eingetreten ist!« Sicherlich hat den feinfühligen Akademiker nicht nur der leichte Stil überrascht. Er, und er nicht allein, begriff, dass Herr Paléologue in seiner Erzählung nicht nur zu leicht, sondern auch zuviel geplaudert hat. Ein kluger Diplomat, gewiss. Aber auch ein Literat, der glänzen, fesseln und unterhalten will. So gewinnt man den Eindruck, dass er sich nicht sehr bemühte, den Krieg zu verhindern, – eher sah er mit Gelassenheit die Ereignisse kommen. Den Zügel gebrauchte er weniger als den Sporn. Oesterreich-Ungarn und Deutschland hatten die tolle Dummheit begangen. Wenn die Leute in Wien und Berlin den Rückweg nicht suchten oder nicht fanden, und wenn man dann auch in Petersburg fest blieb, dann kam eben der grosse Entscheidungstag.

»Die kühle Aufnahme, die Präsident Poincaré bei seinem hiesigen Besuch gefunden hat, fällt ungemein auf.« So berichtete Graf Pourtalès, und in Berlin wurde es gern geglaubt. Der Botschafter erläuterte, teilweise sei diese allgemeine Indifferenz wohl auf den Arbeiterstreik zurückzuführen, der in Petersburg gerade an Ausdehnung gewann. Zu der Mitteilung, dass einige Zeitungen wegen des Buchdruckerstreiks nicht erschienen seien, äusserte Wilhelm II. ein schriftliches »Bravo« und zu dem Schlussatz des Berichtes, diese Arbeitseinstellungen könnten »im Falle äusserer Verwicklung immerhin für Regierung schwierige Lage schaffen«, fügte er ein frohes »Ja«. Man wusste in Berlin nun nicht nur, dass die russische Armee keine Munition und keine Kanonen habe, und darum keinen Krieg unternehmen könne, sondern entnahm aus der optimistischen Darstellung des Grafen Pourtalès auch die Ueberzeugung, dass angesichts einer so bedrohlichen inneren Lage der russischen Regierung die Hände gebunden seien. Wieder täuschte ein abgegriffenes Klischeewort, Russland war »der Koloss mit den tönernen Füssen«, übermässige Sorge schien unnötig, nichts konnte geschehen, nur Gepolter und Geschrei. In Wien dachte man befriedigt daran, dass nun Herr Poincaré auf seiner »France« herumschwamm, während in Belgrad das Ultimatum überreicht wurde und die entscheidenden historischen Ereignisse vor sich gingen. Er war – mindestens vier Tage lang – abgeschnitten von seinem Lande, von seinen Ministern, von den 384 Bundesgenossen, und man rieb sich die Hände, wenn man sich vorstellte, wie er über den Streich, den man ihm gespielt hatte, in ohnmächtige Wut geriet. Teilnehmend hatte auch ein Sekretär der deutschen Botschaft in Petersburg – denn ein österreichischer wäre verdächtig gewesen – in der französischen Botschaft noch einmal nach den letzten Reisedispositionen des Präsidenten, nach der genauen Abfahrtszeit geforscht. Die Technik war tadellos.

Am Abend nach der Abreise des französischen Gastes fuhr Sasonow aufs Land, nach Zarskoje Selo, wo er im Sommer wohnte, und in der Nacht vom 23. zum 24. Juli erhielt er dort die Meldung, dass in Belgrad ein österreichisches Ultimatum überreicht worden sei. Er kehrte morgens nach Petersburg zurück, telephonierte mit Paléologue, der die grosse Nachricht schon kannte, und dann mit Buchanan, der noch nichts wusste und dem er sagte: »Bitte, treffen Sie sich in einer Stunde mit mir in der französischen Botschaft, damit wir die Sache besprechen können.« Buchanan sah, wie er erzählt, die qualvolle Frage voraus, ob England im Falle eines Krieges mit Russland und Frankreich gehen werde, und bereitete seine Antwort vor. Sein Geist wäre hell und heiter, sein Schritt beflügelt gewesen, wenn er den beiden anderen das ersehnte Versprechen hätte bringen dürfen, aber da waren das vor dem Kriegsgedanken zurückschreckende London, der niemals sich entscheidende Grey, das liberale Kabinett mit seinen pazifistischen Mitgliedern – nein, Sir George Buchanan durfte das Wort, das er gern gesagt hätte, nicht über die Lippen lassen, er musste über die furchtbar peinliche Situation mit diplomatischer Dialektik hinüberkommen. Mehrere Stunden lang, vor und nach dem Lunch, wurde er von den beiden bedrängt. In diesem Kreuzfeuer verteidigte er mit gemässigter Leidenschaft den englischen Standpunkt, bezeichnete diplomatische Unterstützung als wahrscheinlich, aber, da in einem Konflikt wegen Serbiens die Interessen Englands nicht berührt würden, Solidaritätserklärung und bewaffneten Beistand als zweifelhaft. Paléologue, der freilich die geschilderten Szenen gern durch schmückende Details zu bereichern pflegt, will zu Buchanan gesagt haben, wenn England neutral bleibe, würde es Selbstmord begehen. »Das ist auch meine Ueberzeugung«, habe mit trauriger Stimme Sir George Buchanan erklärt.

Nach der Zusammenkunft in der französischen Botschaft begab sich Sasonow zu einem schnell einberufenen Ministerrat. In dieser Beratung wurde bereits die Idee einer Teilmobilisierung, die sich nur gegen Oesterreich-Ungarn richten solle, angenommen. Abends erschien Graf Pourtalès bei Sasonow, der nach dem Bericht des deutschen Botschafters »sehr erregt war und sich in masslosen Anklagen gegen Oesterreich-Ungarn erging«. Sasonow sagte, dass ihm die Untersuchung über das Attentat von Serajewo das grösste Misstrauen einflösse, und dass man die Akten den europäischen Kabinetten vorlegen müsse, was Pourtalès, da Oesterreich als Grossmacht sich keinem Schiedsgericht unterwerfen könne, in 385 treuer Befolgung seiner Instruktionen unerschütterlich bestritt. Der Minister erklärte, die Frage sei eine europäische, Europa werde nicht gestatten, dass das kleine Serbien der Habgier Oesterreichs geopfert werde, und Russland lasse die These, dass Oesterreich und Serbien den Streit allein austragen müssten, nicht zu. Zu dem begierig im Vorzimmer harrenden Paléologue sagte Sasonow – »noch ganz durchzittert« von dem Wortstreit –, die Unterredung sei in einem sehr heftigen Ton zu Ende gegangen. »Ah, in einem sehr heftigen Ton!« – und mit ernster Sorgenmiene seufzte der friedliche Ratgeber: »Das alles, mein lieber Minister, ist schlimm.« Und da er die Dinge auf dem besten Wege sah, bat er den lieben Minister dringend, seine Ruhe zu bewahren, kein Mittel zur Verständigung unbenutzt zu lassen und so, durch Mässigung, die öffentliche Meinung in Frankreich und England auf seine Seite zu bringen. Graf Pourtalès aber schloss seinen unmittelbar nach der Unterredung verfassten telegraphischen Bericht an das Auswärtige Amt mit der Bemerkung, dieses oder jenes »scheine darauf hinzuweisen, dass ein sofortiges Einschreiten von Russland nicht zu erwarten ist«, und Wilhelm II. fügte ein »Richtig« hinzu. Auch dieser Bericht des Grafen war wohl nur geeignet, in Berlin diejenigen, die nicht die Augen öffnen wollten, noch weiter einzulullen.

In Krasnoje Selo fanden nach der Abreise Poincarés die Lagerübungen wie alljährlich statt. Der Zar war im Lager, der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch hatte den Oberbefehl über die versammelten Truppen, hier war Nikolaus ganz unter dem Einfluss der Verwandtschaft, hier verloren tadelnde und warnende Reden seiner Frau – und Rasputin lag fern in einem Spital – viel von ihrer Wirkung, hier waren die Tradition, Ehre und Ruhm der Dynastie wie mahnende Denksäulen aufgerichtet, hier hatte das Blut der Romanow die volle magische Kraft. Hier, im Sommerhause des Grossfürsten Nikolai, im Esszimmer der ziemlich einfachen Villa, wurde am Morgen des 25. ein Kronrat abgehalten, der Zar sass, freundlich lächelnd, scheinbar unberührt von der Schwere der Ereignisse und in so harmonischer Gemütsverfassung wie immer, zwischen dem Greis Goremykine und seinem Onkel, dem Hausherrn, und Sasonow, ihm gegenüber, hielt einen langen Vortrag über die österreichische Herausforderung und schlug Massregeln für eine Teilmobilmachung vor. Nachdem Nikolaus II. mit einigen Worten zugestimmt und dabei erwähnt hatte, dass die Teilmobilmachung keine feindselige Handlung gegen Deutschland bedeute, wurde der Vorschlag einstimmig angenommen. Man bemerkte, dass der Grossfürst, Gatte der lebhaften Montenegrinerin Anastasia, viele Zigaretten rauchte und während der ganzen Sitzung schwieg. Suchomlinow, der seine eigene Rolle »eine recht bescheidene« nennt und »als Soldat zu gehorchen hatte«, versichert, der Onkel habe den Neffen am Tage zuvor in einem langen Gespräche so, wie er ihn haben wollte, dressiert. Im Lager erfuhr man, Graf Berchtold habe ein telegraphisches Gesuch Sasonows, die 386 Ultimatumsfrist zu verlängern, abgelehnt. »Bis dahin«, meldete nach Berlin der deutsche Militärbevollmächtigte, Herr von Chelius, der sich in Krasnoje befand, »war die Stimmung im Hauptquartier ernst und unruhig, nach dem Frühstück schlug sie in tiefgehendste Empörung um.« Am Nachmittag wurden die Uebungen abgebrochen, die Truppen erhielten Befehl zum Abmarsch in ihre Garnisonen, die Zöglinge der Kriegsschule empfingen vorzeitig, mit einer Ansprache des Zaren, ihr Offizierspatent. Beim Diner sagte der Oberstallmeister von Grünwald, eine Hofcharge aus der deutschen Adelsschicht, zu dem neben ihm sitzenden Chelius, er dürfe ihm nicht verraten, was man beschlossen habe, aber die Lage sei sehr ernst. Hinterher gab es in Krasnoje noch eine Theatervorstellung, der Zar wurde, als er in seine Loge trat, von den militärischen, höfischen und diplomatischen Gästen mit einer brausenden Ovation begrüsst. Der Grossfürst Nikolai war ein umsichtiger maître de plaisir.

Am Abend des Tages, des 25. Juli, an dem in der Villa zu Krasnoje der Kronrat stattgefunden hatte, sagte Paléologue auf dem Bahnsteig vor dem Pariser Zuge dem Freunde Iswolski Lebewohl. Iswolski, der den Präsidenten der Republik auf der Herfahrt begleitet hatte, kehrte nun, reich an Erlebnissen und Hoffnungen, nach Paris zurück. In der Bahnhofshalle waren schon die Vorbereitungen für die Mobilmachung bemerkbar, die Züge waren mit Offizieren und Soldaten, die vom Lager in Krasnoje zu ihren Garnisonen fuhren, überfüllt. »Wir tauschten«, schreibt Paléologue, »schnell unsere Eindrücke aus und kamen zu der gleichen Schlussfolgerung: diesmal ist es der Krieg.« Die beiden hatten nicht nötig, einander wie die Auguren anzulächeln, und konnten sich ohne die Mimik des Augenzwinkerns verstehen. Aber in ihrem letzten Händedruck lag wohl auch nicht die Rührung einer Kondolation am Grabe, und mit welcher Nuance aus dem Schatz der Töne die Abschiedsworte »diesmal ist es der Krieg« gesagt wurden, ahnt man ungefähr.

 

Obgleich Sasonow zu der Entscheidung von Krasnoje selbst am meisten beigetragen hatte, war er an den nächsten beiden Tagen nicht sehr kriegerisch. Alle, die mit ihm in Berührung kamen, fanden ihn gedämpfter und weicher, er ist, telegraphierte Pourtalès am 26., »viel ruhiger und versöhnlicher«, und auch Graf Szapary nahm aus einer Unterredung einen »befriedigenden Eindruck« mit. Am 27. sagte Sasonow zu Pourtalès, er sei bereit, in seinem Entgegenkommen gegen Oesterreich bis zur äussersten Grenze zu gehen. Er hoffe aber auch, man werde von Oesterreich eine Milderung der schlimmsten Forderungen erreichen können. Der Botschafter, der mit stiller Genugtuung diese Hinneigung zur Versöhnlichkeit beobachtete und ermutigende Schlüsse daraus zog, trug seine Lektion mit um so grösserer Sicherheit vor. Eigentlich hatte sich an dem Standpunkt Sasonows nichts geändert, nur die Sprache war in diesen Tagen weniger rauh und schroff. Die 387 heftige Gemütsbewegung, in die er durch das österreichische Ultimatum versetzt worden war, hatte durch den Mobilmachungsbeschluss ihre Befriedigung erhalten, war durch dieses Ventil ausgeströmt. Momentan beruhigte ihn das Bewusstsein der vollbrachten energischen Tat, und die seelische Reaktion wurde durch die Enttäuschung verstärkt, die ihn nach jeder Begegnung mit Sir George Buchanan befiel. Immer wieder versuchte er, zwischen den Gesprächen mit dem Deutschen und dem Oesterreicher, den unglücklichen Buchanan davon zu überzeugen, dass es die Pflicht Englands sei, sich sogleich und ohne Zögern öffentlich auf die Seite Russlands und Frankreichs zu stellen. Da Buchanan, der es gern gewollt hätte, ihm keine Zusage geben konnte, geriet Sasonow in die Hamletstimmung, und die Zweifel und Aengste, die ihn umklammerten, bewirkten, dass seine Beredsamkeit die Schärfe verlor und mitunter fast wie ein herzliches Bitten klang. Aber wenn er Szapary oder Pourtalès empfangen hatte, stand im Vorzimmer Paléologue und hielt den aufrichtenden Zuspruch bereit. »Ganz unter uns«, fragte ihn Sasonow, indem er »mit der Hand über die Augen fuhr, als ob eine entsetzliche Vision seinen Geist durchzuckte« –, »glauben Sie, dass wir den Frieden noch retten können?« Dann antwortete Paléologue, wie er erzählt: »Wenn wir nur mit Oesterreich zu tun hätten, würde ich noch Hoffnung haben, aber Deutschland ist dabei. Es hat seinem Verbündeten einen grossen Prestige-Erfolg versprochen, es ist überzeugt, dass wir nicht wagen werden, ihm bis zum Ende standzuhalten, und dass die Triple-Entente zurückweichen wird, wie sie immer zurückgewichen ist. Diesmal können wir nicht zurückweichen, denn sonst existieren wir nicht mehr. Nein, wir werden dem Kriege nicht entgehen.«

 

Schon am nächsten Tage bedurfte Sasonow nicht mehr dieser Mutspritze, nicht mehr der Massage im Boxerring. An diesem Tage beantwortete Graf Berchtold Sasonows Aufforderung zu direkten österreichisch-russischen Verhandlungen mit einer stolzen Weigerung, und um elf Uhr vormittags ging von Wien die Kriegserklärung an Serbien ab. »Bei Sasonow ist die Stimmung plötzlich wieder umgeschlagen«, bemerkt Graf Pourtalès ein wenig naiv. »Ich fand ihn nachmittags in heftiger Erregung, und es kam zwischen uns zu einem heftigen Auftritt«, der russische Minister sprach von hinterlistiger Politik, von einem zwischen Berlin und dem Wiener Kabinett »abgekarteten Spiel«. Pourtalès erwiderte, »durch die Ausfälle des Ministers ebenfalls gereizt«, die deutsche Regierung betrachte, wie er stets erklärt habe, den austro-serbischen Konflikt als eine Angelegenheit, die nur die beiden beteiligten Staaten angehe, und habe weder von der an Serbien gerichteten Note noch von den weitern Plänen Oesterreich-Ungarns Kenntnis gehabt. Als Sasonow an eine solche Fahrlässigkeit nicht glauben wollte, verbat sich Graf Pourtalès »auf das entschiedenste« den Verdacht, dass seine Regierung sich rechtzeitig informiert haben könnte, und verliess entrüstet 388 das Ministerkabinett. Hinterher kam ihm anscheinend der Gedanke, dass in so ernster Stunde Empfindlichkeit besser unterdrückt werden müsse, und er begab sich unter einem Vorwand zu Neratow, dem Ministergehilfen, der die Dinge einrenkte und ohne Mühe erreichte, dass Sasonow den erzürnten Botschafter telephonisch wieder zu sich bat. Diesmal fiel Sasonow dem zurückgeholten Pourtalès »um den Hals«. Aber die Wirkung dieser rührsamen Szene war schnell wieder verwischt. Der Streit tobte mit noch stärkerer Heftigkeit. Paléologue, standhafte Schildwache, immer an der Tür oder am Schlüsselloch, wenn Sasonow Besucher hatte, empfing den herauseilenden Pourtalès im Wartesalon. Er genoss mit ironischer Freude die gallige Aufregung des andern und stichelte ihn wie ein Piccador. Ob die deutsche Regierung sich endlich entschlossen habe, ihren Verbündeten zur Vernunft zu bringen? Die Gefahr müsse sich doch noch beschwören lassen, »da Deutschland selbst sich friedlich nennt«. Pourtalès brach los, rief Gott zum Zeugen an, ja, Deutschland wolle den Frieden, es habe dreiundvierzig Jahre hindurch seine Macht nicht missbraucht, die Geschichte werde Richter sein. »Sind wir schon so weit«, reizte ihn Paléologue, »dass man an die Geschichte appellieren muss?«

 

Aber gerade an diesem 28. Juli, an dem zur Ueberraschung des Grafen Pourtalès »bei Sasonow die Stimmung plötzlich wieder ganz umgeschlagen« war, schlug auch in Berlin ganz plötzlich die Stimmung um. Sie schlug um in eine Stimmung des Einlenkens, der Abwendung von Wien, der Hinwendung zur Vernunft. An diesem Tage las Wilhelm II. die serbische Antwortnote und schrieb unter das Dokument: »Damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen!« An diesem Tage verfasste der Kaiser eigenhändig das Schreiben an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, in dem er sagte, die paar von Serbien zu einzelnen Punkten gemachten Reserven könnten durch Verhandlungen geklärt werden, im grossen und ganzen seien die österreichischen Wünsche erfüllt, jeder Grund zum Kriege falle fort und die Antwortnote sei eine demütige Kapitulation. An diesem Tage besann sich, durch die Worte des kaiserlichen Gebieters jäh belehrt, das Auswärtige Amt. An diesem Tage fand man endlich, der Konflikt sei nicht nur eine von Oesterreich zu entscheidende Angelegenheit. Herr von Moltke hatte noch nicht dem Kameraden in Wien telegraphiert: »Deutschland wird mobilisieren«, und die Zivilmacht, gestützt durch den kaiserlichen Friedenswunsch, existierte noch. Von dieser späten, infolge der hinterhältigen Taktik der Berchtold und Genossen – die erst in der Stunde der Kriegserklärung die serbische Antwort herausgaben – unselig verspäteten Wandlung erfuhr Sasonow nichts und auch dem Grafen Pourtalès war nichts davon bekannt. Sasonow sah nur die österreichische Kriegserklärung und die deutsche Arglist und Pourtalès wickelte auch an diesem 28. nur das eingeübte Pensum ab.

389 Allerdings, der neue Vermittlungsvorschlag, gleichzeitig Vorschlag Sir Edward Greys und Wilhelms II., kam auch nach Petersburg. Aber die Idee, dass die Oesterreicher Belgrad und andere Orte in Serbien besetzen und als »Faustpfand« behalten sollten, erregte keine Befriedigung. »Russland«, schreibt Sasonow, »protestierte gegen diesen neuen Vorschlag nicht, obgleich er alles übertraf, was sich von ihm, von Russland erwarten liess.« Nein, Russland protestierte nicht, denn es wollte um keinen Preis Sir Edward Grey verstimmen. Man könnte sich fragen, ob nicht gerade dieser von Grey unternommene, vom deutschen Kaiser gebilligte oder selbständig vorgeschlagene Vermittlungsversuch, der den Frieden retten sollte, dann eines der Motive für die Ueberstürzung der entscheidenden russischen Kriegsmassnahmen war. Diese Mutmassung lässt sich durch keinen Beweis stützen, auch durch keinen Indizienbeweis, und nur die Logik und die Psychologie sprechen für ihre Richtigkeit. Wenn jetzt schon England die Initiative zu einem solchen für Russlands Prestige-Interessen verletzenden Vorschlag ergriff, dann war es empfehlenswert, Schluss zu machen, dann musste man vollendete Tatsachen schaffen und eine Situation herbeiführen, in der es keine Möglichkeit zu diplomatischem Gedankenaustausch mehr gab. Nur so entging man dem Zwang, entweder die Okkupation Belgrads und »anderer Punkte« gutzuheissen, oder eine Friedensaktion zurückzuweisen, deren Urheber Grey und deren Ursprungsort England war. Der englische Kompromissvorschlag verursachte bei den Diplomaten ein grosses Unbehagen und begünstigte die Pläne der russischen Militärs. Es war ein Zweig der Friedenspalme, aber man konnte ihn auch wie eine antreibende Gerte schwingen.

Eine »Kriegsvorbereitungs-Periode«, die ein paar Tage währte, ging voran, und eifrig, immer eifriger, wurde die Einleitung der Teilmobilmachung fortgesetzt. Nach dem Kronrat von Krasnoje Selo hatte man im Generalstab zwei Mobilmachungsbefehle ausgefertigt, den für die Teilmobilmachung und, bereit sein ist alles, auch gleich den für eine Mobilisierung der gesamten Armee. Am 28. unterschrieb sie der Zar, dann wurden sie in eine Mappe gelegt, die der Generalstabschef in Verwahrung nahm, und die Mappe zu öffnen, das Signal zu der einen oder andern Mobilmachung zu geben, stand dem Zaren und dem Aussenminister zu. Wenn auf ihr Geheiss die Dynamitmappe geöffnet wurde, flog Europa in die Luft.

Am 29. war Graf Pourtalès fortwährend zwischen dem deutschen Botschaftspalais und dem russischen Aussenministerium unterwegs. Um sieben Uhr abends suchte er den Minister zum drittenmal an diesem Tage auf. Diesmal las er ein inzwischen eingetroffenes Telegramm Bethmanns vor, das ihn beauftragte, »Herrn Sasonow sehr ernst darauf hinzuweisen, dass weiteres Fortschreiten russischer Mobilisierungsmassnahmen uns zur Mobilmachung zwingen würde, und dass dann europäischer Krieg kaum noch aufzuhalten« sei. Graf Pourtalès bat den 390 Minister, »in dieser Mitteilung keine Drohung, sondern eine freundschaftliche Warnung« zu sehen. Aber Sasonow überhörte das Freundschaftliche und entgegnete nur, er werde die Mitteilung seinem kaiserlichen Herrn überbringen. Buchanan schreibt, dass die Sprache des Grafen Pourtalès »fast wie ein Ultimatum klang«. Paléologue erzählt: »Um elf Uhr abends kommt Nikolai Alexandrowitsch Basilij, Vizedirektor der Kanzlei im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, in die Botschaft und teilt mir mit, dass der Befehlston des deutschen Botschafters die russische Regierung zu dem Entschluss veranlasst habe, erstens noch in dieser Nacht dreizehn Armeekorps gegen Oesterreich-Ungarn zu mobilisieren, zweitens heimlich die allgemeine Mobilmachung zu beginnen.« Sasonow, nachdem er noch einmal die österreichisch-ungarische Mobilisierung und den Verzicht Russlands auf militärische Vorkehrungen gegen Deutschland erwähnt hat: »Das verhinderte Berlin nicht, uns als Antwort auf unsere als Vorsichtsmassregel gedachte Mobilmachung gegen Oesterreich mit der Mobilisierung der deutschen Armee zu drohen und uns anzukündigen, eine solche Massnahme bedeute den Krieg. Was blieb Russland anderes übrig, als sich auch auf eine allgemeine Mobilmachung vorzubereiten, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein?« Danach war also die freundschaftliche Warnung des Herrn von Bethmann-Hollweg die Ursache dafür, dass Sasonow sich für die allgemeine Mobilmachung entschied? Um es genauer zu sagen: sie war kaum mehr als eine der letzten äussern Einwirkungen, durch die eine schon gelockerte, absturzbereite Schneemasse losgelöst und zur Lawine wird. Notwendig war Englands und Frankreichs wegen die »Heimlichkeit«. In aller Heimlichkeit, aber hocherfreut nahm der Generalstabschef Januschkewitsch aus seiner Mappe den vom Zaren unterzeichneten Befehl zur allgemeinen Mobilmachung, das Schriftstück Nummer zwei.

Neben der – von dem deutschen Militärbevollmächtigten von Chelius konstatierten – Furcht, von der militärischen Macht der andern überrumpelt zu werden, stand bei Sasonow die Sorge um das Prestige und um die Kernstellung der russischen Politik. Sasonow, Englands nicht ganz sicher, hätte vielleicht, trotz all seiner Erbitterung über Oesterreich, gern noch einmal, wie während der Balkanaffären, den Entschluss vertagt und ging, äusserlich kühl, aber sicherlich mit starken Beklemmungen, in das ungewisse Abenteuer hinein. Aber noch einmal der Welt das Schauspiel eines furchtsam zurückschreckenden Russland bieten und tatenlos dabeistehen, nur papierene Proteste hinausschleudern, während die österreichische Armee in Serbien einrückte und Belgrad beschoss? Wenn er selber auch diesmal wieder seinen Zorn gebändigt hätte – der Grossfürst Nikolai und die nationalistischen Generale erlaubten es nicht. Was wurde aus Russlands Autorität auf dem Balkan, brach dort nicht seine ganze Stellung zusammen, wurden nicht alle Resultate seiner Politik weggelöscht? Hingegeben an Oesterreich, das 391 dann alle Tribute und Trophäen empfangen würde – die Macht, bei deren Drohung Russland ins Mauseloch kroch. Vielleicht hatte auch Fürst Bülow recht, als er später sagte, irgendein Generaladjutant hätte als Sprecher Russlands mit drohender Geste in das Zimmer des Zaren treten können und die russischen Patrioten hätten Nikolaus abgewürgt. Wenn man die Traditionen der russischen Politik preisgegeben hätte, wäre möglicherweise die andere Tradition, die der Offiziersverschwörungen und Zarenmorde, wieder zur Erfüllung gelangt.

 

Um die Mitternachtsstunde, in dieser Nacht vom 29. zum 30., während auch Sasonow und Pourtalès abermals miteinander stritten, spielte sich in Peterhof, im Arbeitszimmer des Zaren, am Telephon, ein besonderer Akt der Tragödie ab. Gegen elf hatte man dem Zaren ein neues Telegramm Wilhelms II. überbracht. Es war das Telegramm, in dem Wilhelm betonte, dass Oesterreich-Ungam sich durch sein Vorgehen nur Garantien für die Einhaltung der serbischen Versprechungen beschaffen wolle, und dass es »für Russland durchaus möglich sei, dem österreichisch-serbischen Konflikt gegenüber in der Rolle des Zuschauers zu verharren, ohne Europa in den schrecklichsten Krieg hineinzuziehen«. Die deutsche Regierung, sagte der Kaiser, bemühe sich mit allen Mitteln, eine direkte Verständigung zwischen Wien und Petersburg zu fördern, aber militärische Massnahmen Russlands, die in Oesterreich-Ungarn als Drohung aufgefasst werden könnten, würden das Unglück beschleunigen und die Vermittlung beenden, zu der er, Wilhelm, auf des Zaren Wunsch bereit gewesen sei. Nikolaus las beim Schein der Schreibtischlampe, und die Gefühle der Reue und des Zweifels, mit denen er seit mehreren Stunden, oder auch schon seit der Unterzeichnung der beiden Mobilmachungsbefehle, rang, überwältigten ihn. Er hatte äusserlich ruhig, aber mit innerem Widerstreben seinen Namen unter diese Dokumente gesetzt, er hatte sich jetzt von Nikolai Nikolajewitsch und dem Generalstabschef, die im Einverständnis mit Sasonow handelten, die Erlaubnis zu der »heimlichen« allgemeinen Mobilmachung abschwatzen lassen, er war nicht ganz einverstanden mit diesen Ratgebern, nicht einverstanden mit sich selbst, zweifelte und hätte sich gern von der Verpflichtung befreit. Als er gelesen hatte, liess er sich telephonisch mit Suchomlinow, dem Kriegsminister, verbinden, der in Petersburg war. Suchomlinow hat versichert, ihm habe man am 29. die Anordnung der allgemeinen Mobilmachung verschwiegen, er habe nur an die Teilmobilmachung geglaubt, die ganze Aenderung der Dispositionen habe sich hinter seinem Rücken vollzogen, was übrigens um so seltsamer ist, da er selber konstatiert, aus technischen Gründen hätten »die militärischen Stellen«, also doch auch er selber, von Anfang an gegen eine Teilmobilmachung, die Verwirrung hervorrufen und eine spätere Gesamtmobilisierung gefährden könnte, starke Bedenken gehabt. Suchomlinow meldete sich am Telephon und sein Herr las ihm das Telegramm Wilhelms vor. Der Zar fragte: »Ist 392 es nicht möglich, die Mobilmachung abzustoppen?« – seine Entschlussfähigkeit ging, nach der Darstellung Suchomlinows, auch jetzt nicht bis zu dem Befehl: Es wird abgestoppt! Der Kriegsminister machte Einwendungen, eine Mobilmachung sei kein Mechanismus, den man wie einen Wagen nach Belieben anhalten und dann wieder in Bewegung setzen kann. Er empfehle Seiner Majestät – womit er selber die Verantwortung von sich abschob –, den Generalstabschef anzurufen und von ihm eine entscheidende Auskunft zu verlangen. Nach Hilfe herumsuchend, telephonierte Nikolaus nun mit Januschkewitsch, aber der Generalstabschef, über die nächtliche Störung seiner Pläne erschrocken, bat noch dringlicher als der Kriegsminister, nicht soviel Unordnung entstehen zu lassen, und benachrichtigte, als er die Stimme des Zaren nicht mehr vernahm, gleichfalls auf dem telephonischen Wege Suchomlinow: sie beide, die Militärs, seien Gott sei Dank ganz einig und er habe dem Zaren die Dinge ganz so wie der Kamerad am andern Ende der Leitung dargestellt. Trotzdem wurde in dieser Nacht auf die allgemeine Mobilmachung formell noch einmal verzichtet und vorläufig die Parole ausgegeben, die militärische Aktion bleibe auf die Teilmobilmachung beschränkt. Um ein Viertel vor ein Uhr nachts bat man Paléologue, seinen ersten Botschaftssekretär Chambrun in das Ministerium des Aeussern zu entsenden, und der französische Militärattaché, General de Laguiche, wurde ersucht, zum Generalstabschef zu kommen. Beiden wurde mitgeteilt, der Zar habe, gegen den Rat und die Meinung der Generale, befohlen, es bei der Teilmobilmachung zu belassen, und habe die Erlaubnis zu weitergehenden Massnahmen zurückgenommen. »Ich melde also«, erzählt Paléologue, »nach Paris nur die Mobilmachung der dreizehn russischen Korps, die eventuell zu den Operationen gegen Oesterreich ausersehen sind.« Es ist ziemlich unverständlich, mindestens überraschend, dass der sonst gar nicht schweigsame, sein Wissen nicht verbergende Paléologue seiner Regierung die wertvollen Informationen über die versuchte Gesamtmobilisierung vollständig und restlos verschwieg.

Am Morgen des 30. Juli erfuhr Petersburg, dass seit dem Abend vorher die österreichisch-ungarische Artillerie Belgrad beschoss. Pourtalès meldete sich gegen Mittag bei Sasonow an. Paléologue gibt eine höchst pittoreske Schilderung von dieser Begegnung, Pourtalès, mit verstörtem Blick, stotternder Rede und schlotterndem Gang, habe den Eindruck eines zusammengebrochenen Mannes gemacht. Auch Buchanan versichert: »Als er gewahr wurde, dass der Krieg jetzt nicht mehr zu verhindern sei, brach er zusammen.« Vielleicht enthalten diese Erzählungen einige zu krasse Züge, und im übrigen könnte es ja fraglich erscheinen, ob die elegante »Kaltblütigkeit«, mit der andere dem Sterben von Millionen Menschen entgegensahen, sympathischer war als ein kleiner Nervenchoc. Graf Pourtalès selbst berichtet, er habe »mit bewegten Worten« dem Minister die Furchtbarkeit des Krieges dargestellt und ihn gebeten, kein 393 Mittel zur Abwendung dieser Katastrophe unversucht zu lassen, ein Kompromiss zu finden, eine rettende Formel zu ersinnen. Darauf nahm Sasonow ein Stück Papier und schrieb die folgende Formel nieder: »Wenn Oesterreich anerkennt, dass sein Streit mit Serbien den Charakter einer Frage von europäischem Interesse angenommen hat, und sich bereit erklärt, aus seinem Ultimatum die Gründe auszuscheiden, die die Souveränitätsrechte Serbiens antasten, so verpflichtet sich Russland, alle militärischen Massnahmen einzustellen.« Pourtalès nahm das Blatt, las die Niederschrift und sagte, dass Oesterreich-Ungarn wohl leider diese Formel nicht annehmen werde, da darin der russische Standpunkt »in vollem Umfange« aufrechterhalten sei. Er werde sie aber sofort nach Berlin telegraphieren, was auch ohne Verzögerung geschah. In seinem Telegramm an das Auswärtige Amt bemerkte er, »wenn auch diese Forderungen kaum annehmbar sein dürften«, so enthalte Sasonows Aufzeichnung doch »kein Wort von dem Verlangen sofortiger Einstellung österreichischer Strafexpedition«. Das Telegramm traf am 30. Juli, um halb vier Uhr, im Auswärtigen Amte ein, und auf dem in der deutschen Aktensammlung veröffentlichten Dokument befinden sich zwei Randnotizen von etwas widerspruchsvoller Art. Der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg hat den Randvermerk gemacht: »Welche Punkte des österreichischen Ultimatums hat Serbien überhaupt abgelehnt? – meines Wissens doch nur die Teilnahme österreichischer Beamter an den Gerichtsverhandlungen«, und: »Oesterreich könnte auf diese Teilnahme verzichten unter der Bedingung, dass es bis zur Beendigung der Verhandlungen Teile Serbiens mit seinen Truppen besetzt.« Der Unterstaatssekretär Zimmermann aber notierte darunter: »Durch mündlichen Vortrag erledigt«, was soviel bedeutet, wie eine Beerdigung ohne Sang und Klang, oder wie die Verwerfung eines Berufungsantrages durch die höhere Instanz. »Nach kurzer Beratung lehnte das Gericht den Antrag der Verteidigung ab.«

 

Es ist nicht recht einzusehen, warum man in Berlin die Formel Sasonows »durch mündlichen Vortrag erledigt« hat, und warum von den Absichten, die der Reichskanzler in seiner Randnotiz bekundete, nichts übriggeblieben ist. Einigermassen beachtenswert konnte es sein, dass Sasonow seine Formel aufgeschrieben hatte, obgleich die österreichisch-ungarische Armee bereits auf serbischem Boden stand. Aber auf die Formel Sasonows erfolgte wahrscheinlich nur deshalb nichts mehr, weil um diese Zeit die Diplomaten nur noch lebende Leichname oder automatisch agierende Puppen waren und mit gelähmter Willenskraft und gefesselter Bewegungsfreiheit nichts mehr vollbrachten als die Geste einer bedeutungslos gewordenen Tätigkeit. Das »Fatum« hatte gegen den Frieden entschieden, jetzt hatten die Generale die Sache in die Hand genommen. Auch Sasonow glaubte an seine Formel nicht, als er sie niederschrieb und dabei sogar – so wenig glaubte er an sie – Belgrad 394 vergass. Vor einer solchen papierenen Barriere hätten der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch und der Generalstabschef Januschkewitsch nicht mehr haltgemacht.

Gegen zwei Uhr nachmittags, an diesem 30. Juli, bittet der Generalstabschef Januschkewitsch telephonisch den Minister des Aeussern, zu ihm in sein Generalstabsbüro zu kommen. Auch der Kriegsminister befinde sich dort. Sasonow geht zu dem Generalstabsgebäude, das fünf Minuten von seinem Ministerium entfernt ist, und wird in dem Arbeitszimmer des Generalstabschefs von den beiden Strategen sogleich mit der Erklärung empfangen, dass die – in der Nacht leider verhinderte – allgemeine Mobilmachung unentbehrlich zur Rettung Russlands sei. Januschkewitsch sagt, nach seinen zuverlässigen Nachrichten seien die deutschen Vorbereitungen schon sehr weit gediehen, die russische Armee brauche mehr Zeit für Mobilisierung und Aufmarsch, die Gefahr sei enorm. Leider habe der Zar die Genehmigung der allgemeinen Mobilmachung, obgleich sie doch durchaus noch nicht die Eröffnung des Krieges bedeute, bisher eigensinnig abgelehnt. Nur mit grosser Mühe habe man ihm den Befehl zur Teilmobilisierung entreissen können. Die beiden Generale bitten den Minister des Aeussern, dem unerträglich zaudernden Herrscher die Situation klarzumachen und ihm zu sagen, längeres Abwarten müsse fürchterliche Folgen haben, auf diese Weise liefere man Russland der Invasion, der Niederlage, dem Verderben aus. Niemand, auch der Zar nicht, würde sich mit einer so ungeheuren Verantwortung belasten wollen. Sasonow spricht in seinem Buche von den widerstreitenden Gefühlen, mit denen er die Mission übernahm. Er ist, wie er betont, mit den Generalen nicht befreundet gewesen, aber sie hätten nicht zu den kriegslustigen und deutschfeindlichen Gruppen im Offizierskorps gehört. »Ich war«, sagt er, »völlig auf das vorbereitet, was sie mir mitteilten, ihre Informationen stimmten genau mit den meinigen überein.« Natürlich war er vorbereitet, da er ja schon selber am Abend vorher durch Nikolai Alexandrowitsch Basilij den französischen Botschafter hatte wissen lassen, »in aller Heimlichkeit« werde die allgemeine Mobilmachung beginnen. Nachdem er den beiden Generalen seinen Beistand versprochen hat, ersucht er um eine telephonische Verbindung mit dem Palais in Peterhof. Während neben ihm die beiden den Vorgang beobachten, wird der Anschluss hergestellt. »Einige Minuten peinvoller Erwartung verflossen, ehe ich die mir zunächst unkenntliche Stimme eines Mannes vernahm, der offenbar wenig an das Telephonieren gewöhnt war und zu wissen wünschte, mit wem er verbunden sei. Ich antwortete dem Kaiser, ich sei im Büro des Generalstabschefs. »Was wollen Sie, Sergei Dimitriewitsch?« fragte er mich. Ich bat ihn, mich vor dem Diner zu einem ausserordentlichen Vortrag zu empfangen. Diesmal blieb die Antwort länger aus, endlich kam die Stimme wieder und der Kaiser sagte mir: »Ich empfange Sie um drei.« Die Generale atmeten erleichtert auf, ich kehrte eilig in meine 395 Wohnung zurück, um mich anzukleiden, und traf zur angegebenen Stunde in Peterhof ein.«

 

Sasonow erzählt weiter: »Der Zar war allein, ich wurde sogleich in sein Arbeitszimmer geführt. Auf den ersten Blick bemerkte ich, dass er müde und sorgenvoll war. Er fragte, ob ich etwas dagegen hätte, dass der General Tatischtcheff – der am Abend nach Berlin reisen sollte, wo er seit mehreren Jahren dem Kaiser Wilhelm attachiert war – bei meinem Vortrag anwesend sei. Ich antwortete, ich wäre darüber sehr erfreut, aber bezweifelte, dass Tatischtcheff würde nach Berlin zurückkehren können. »Sie glauben, es ist schon zu spät?« fragte der Zar. Ich bejahte das.« Der General Tatischtcheff, der später der Zarenfamilie im Unglück treu blieb, sie nach Jekaterinenburg begleitete und dort mit ihr ermordet wurde, wird hereingerufen und Sasonow hält, von dreieinviertel bis vier Uhr, seinen Vortrag, in dem er ausführt, dass er die Ansicht der Generale Suchomlinow und Januschkewitsch über die Gefahr weiteren Zögerns und über die stillen deutschen Vorbereitungen teile und keine Möglichkeit mehr sehe, dem Kriege zu entgehen. Nikolaus II. hört schweigend zu und zeigt, als der Vortrag beendet ist, dem Minister ein neues Telegramm Wilhelms, das ihm in Ton und Inhalt verletzend erscheint. Es ist, Sasonow zufolge – die Zeitangaben in den »Deutschen Dokumenten« lassen sich mit dieser Mitteilung nicht in Einklang bringen – das Telegramm, in dem Wilhelm die Vermittlerrolle, mit der ihn Nicky gütigst betraut habe, für gefährdet erklärte und am Schlusse sagte, die Verantwortung für Krieg oder Frieden ruhe jetzt auf den Schultern des Zaren allein. Der Zar zu Sasonow: »Er verlangt Unmögliches von mir. Anscheinend vergisst er oder will nicht zugeben, dass Oesterreich vor uns mobilgemacht hat. Wie Sie wissen, habe ich unsere Vorbereitungen schon aufgehalten und nur der Teilmobilmachung zugestimmt. Wenn ich jetzt die Forderungen Deutschlands annehmen wollte, wären wir Oesterreich gegenüber unbewaffnet, es würde der reine Wahnwitz sein.« Der Minister beseitigt durch gütigen Zuspruch den letzten Zweifel, das Gewissen des Zaren sei rein, er trage keine Schuld an dem Blutbad, in das Europa hineingehe, und könne vor Gott und den künftigen russischen Generationen bestehen. »Ich hatte nichts mehr hinzuzufügen, verharrte ihm gegenüber in Schweigen und beobachtete aufmerksam den Ausdruck seines Gesichtes, auf dem sich der qualvolle innere Kampf verfolgen liess.« Endlich kommen aus dem Munde des unglückseligen Nikolaus, mühsam und langsam sich hervorringend, die Worte: »Sie haben recht, es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen uns auf einen Angriff vorbereiten, übermitteln Sie dem Generalstabschef meinen Mobilmachungsbefehl!« Sasonow verabschiedet sich, geht in das Erdgeschoss des Schlosses hinunter und telephoniert von dort dem General Januschkewitsch, dass nun alles in Ordnung sei.

 

396 Gerade in diesen Tagen ist der Zarewitsch wieder krank. Und wie immer, wenn bei »Baby« ein Rückfall in diesen Zustand sich zeigt, weicht die Zarin nur wenig aus dem Krankenzimmer und ist ganz unter dem Druck ihrer durch die Hysterie gesteigerten mütterlichen Angst. Diesmal ist sie noch mehr als sonst verzweifelt, da Rasputin nicht bei ihr ist. Der von der Bäuerin angeschossene, im Spitalbett zu Pokrowskoie ungeduldig schimpfende Heilige kann nicht, wie sonst, durch die Berührung seiner wundertätigen Hände und durch seine Befehle und Sprüche die Heilung bringen. Am 30. Juli sagt der in Paris spazierengehende Witte zu seinen Bekannten: »Es gibt keinen Krieg, Rasputin will ihn nicht.« Aber was vermag ein fernweilender Rasputin? Alexandra Feodorowna, die Deutschland und den deutschen Kaiser nicht liebt, aber den Krieg fürchtet, hat jetzt weder Zeit noch Kraft, an den Staatsgeschäften teilzunehmen, ihre Worte dringen schwach zu ihrem »kleinen Gatten«, ihrem Schatz, ihrem Engel, und ihr Einfluss, im Kampf mit der Familie Romanow niemals völlig unfehlbar, ist gelähmt. Der Grossfürst Nikolai, die Generale und die Zivilisten Sasonow und Maklakow – der Innenminister – beherrschen das Terrain. Die Figur des Generalstabschefs Januschkewitsch verdient besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sasonow behauptet, dieser Militär sei kein Kriegstreiber gewesen, und wenn Suchomlinow ihn als einen vorsichtigen, nicht sehr selbständigen Mann und als gehorsamen Vollstrecker des grossfürstlichen Willens schildert, so scheinen das irrige Auffassungen zu sein. Die Tatsachen lassen darauf schliessen, und Personen, die in der Nähe des Generalstabschefs lebten, haben es mir bestätigt, dass Januschkewitsch eine Hauptperson war, Regisseur in der Tragödie, oder zum mindesten Souffleur. Dieser geschickte Pole dirigierte den grobpolternden Grossfürsten und verbarg sein Spiel hinter der bescheidenen Miene eines Offiziers, der nur ein schlichtes Werkzeug sein will und seinen Ehrgeiz befriedigt fühlt, wenn es ihm vergönnt ist, mit den Worten »Zu Befehl, kaiserliche Hoheit«, strammzustehen.

Von einem letzten Versuch der Zarin, den Gatten vom entscheidenden Entschluss zurückzuhalten, hat die russische Gräfin Kleinmichel in ihren »Bildern aus einer versunkenen Zeit« Mitteilung gemacht. Sie war immer vorzüglich informiert, in ihren politischen Salon brachten ihre hohen Freunde die neuesten Nachrichten und das, was sie über die Bittszene in extremis berichtet, hat ihr Graf Fredericksz gesagt. Nachdem Pourtalès ihn mit tränenden Augen um seine Vermittlung angefleht hatte, ging der alte Fredericksz zur Kaiserin. Sie gab dem treuen Diener recht, man müsse unter allen Umständen das furchtbare Unglück vermeiden, aber der deutsche Botschafter irre sich, die russische Mobilmachung sei nur gegen Oesterreich, nicht gegen Deutschland gerichtet, der Zar habe es ihr wiederholt und mit grosser Bestimmtheit erklärt. Alexandra Feodorowna und der Graf traten in das Arbeitszimmer des Zaren, wo sich gerade auch Sasonow befand. Fredericksz sprach warm 397 und bewegt für die Sache des Friedens, die Zarin ebenso: »Give the orders about the demobilisation, Nicky, do it!« und Nikolaus schien erweicht. Darauf Sasonow, zu Fredericksz gewendet: »Und ich habe den Mut, die Verantwortung für diesen Krieg auf mich zu nehmen, der unvermeidlich ist. Sie, der Minister des kaiserlichen Hauses, der die Interessen des Kaisers wahren sollte, Sie wollen, dass er sein Todesurteil unterschreibt, denn niemals würde ihm Russland diese Demütigung verzeihen.« Jetzt schwankte Nikolaus nicht mehr, das Wort »Demütigung« hatte ihn getroffen, er brach das Gespräch ab und wünschte, Suchomlinow und den Onkel Nikolai zu sehen. In ihm entschied nun endgültig das Geschlecht der Romanow, und er war auch, wie Orest, »von Tantalus Geschlecht«.

In den frühen Morgenstunden des 30. Juli – »des l'aube« sagt Paléologue – werden Plakate mit der Mobilmachungsorder für die ganze russische Armee und für die Flotte an die Häuserwände geklebt. Der Major von Eggeling liest unterwegs die Bekanntmachung und eilt mit der Neuigkeit zu Pourtalès. Nachdem Pourtalès eine kurze Depesche für Berlin aufgesetzt hat, fährt er zu dem Ministergehilfen Neratow. Er hat drei Telegramme bei sich, von denen das erste die Abschrift des kaiserlichen Telegramms war, das in Peterhof nicht günstig gewirkt hatte, und das zweite, von Jagow unterzeichnet, eine falsche Meldung über die Mobilmachung der deutschen Flotte betraf. Das dritte Telegramm besagte, infolge der deutschen Anregung habe Graf Berchtold den Botschafter Szapary beauftragt, die Konversation mit Sasonow zu beginnen. Jetzt endlich – »jetzt erst!« hatte auch Wilhelm II. an den Rand der Wiener Meldung geschrieben – jetzt, wo diese Mitteilung so rechtzeitig kommt, wie eine reiche Erbschaft einem glücklichen Erben zufällt, der leider gerade verhungert ist. Pourtalès legt das entwertete Wertobjekt auf den Tisch des Herrn Neratow und sagt, die russische Mobilmachung komme gerade in dem Augenblick, wo die deutschen Bemühungen in Wien zum Erfolg geführt hätten, und nun sei jede Hoffnung ausgelöscht. Die Nachricht werde in Deutschland wie ein Blitz einschlagen, sie werde einen Orkan entfesseln, nun werde wahrscheinlich nichts mehr den Krieg verhindern können. Dann kehrt Pourtalès in die Botschaft zurück, telephoniert mit Sasonow, der sich in Peterhof befindet, und hält ihm die furchtbaren Wirkungen der Mobilmachung vor. Sasonow bedauert und man sieht das Achselzucken, mit dem er seine knappen Antworten gibt. Der Botschafter erbittet telephonisch eine Audienz beim Zaren und wird eingeladen, mit dem nächsten Zuge zu kommen. Nikolaus II., nett und freundlich, spricht im Ton unberührter Harmlosigkeit, und Graf Pourtalès hat den Eindruck, dieser Selbstherrscher besitze entweder in hohem Masse die Kunst der Selbstbeherrschung oder begreife noch gar nicht – aber die Vorgänge der Nacht widerlegen diese Auffassung – den Ernst der Situation. Auf die Beschwörung des Botschafters, durch Zurückziehung der 398 Mobilmachungsorder den Krieg zu verhindern, erwidert der Zar, dass eine Zurücknahme aus technischen Gründen nicht möglich sei. Schliesslich sagt er: »Dann kann nur noch einer helfen«, wobei er mit dem Finger nach oben zeigt.

Am Abend, einige Minuten nach elf Uhr, erhält der deutsche Botschafter aus Berlin das Ultimatumstelegramm. Der Reichskanzler ersucht ihn, Sasonow mitzuteilen, dass mobilisiert werden müsse, falls Russland nicht die bindende Erklärung abgebe, dass es bereit sei, binnen zwölf Stunden jede Kriegsmassnahme gegen Deutschland und Oesterreich-Ungarn einzustellen. Um Mitternacht – die tragischen Ereignisse hier vollziehen sich, wie es scheint, nach einer gewissen geheimnisvollen Ordnung in der Gespensterstunde – tritt Pourtalès bei Sasonow ein. Er richtet den empfangenen Auftrag aus und erklärt in heftiger Erregung, dass die Zurücknahme des Mobilmachungsbefehls das einzige und letzte Mittel zur Vermeidung des Krieges sei. Sasonow sagt, der Zar habe feierlich versprochen, dass die Truppen jede feindselige Haltung unterlassen und keine herausfordernde Haltung einnehmen würden, solange die diplomatischen Verhandlungen noch fortdauerten, und mehr könne man nicht tun. Der Botschafter entgegnet, dass ein solches Versprechen nicht genüge, denn bei einem Scheitern der Verhandlungen würde die inzwischen mobilisierte russische Armee schlagfertig und einfallsbereit einer noch schwachen deutschen Verteidigung gegenüberstehen. Er fügt hinzu, dass sich die Aussichten auf eine Verständigung gerade jetzt erheblich gebessert hätten, wobei er auf das Telegramm über die Zusage Berchtolds verweist. Abermals resultatloses Wortgefecht, ganz andere Gefechte stehen schon unmittelbar bevor, eine Stunde lang reden die beiden aneinander vorbei.

Der 1. August. In Berlin wartet man, ohne eigentlich etwas zu erwarten, auf die Antwort aus Petersburg. Graf Pourtalès, wie ein im Schiffbruch die letzten Rettungsrufe aussendender Radiotelegraphist, müht sich noch ab. Einer seiner Attachés muss im Auto nach Peterhof rasen und dem Grafen Fredericksz einen Brief überbringen, in dem der Botschafter noch einmal das höchste Friedensargument anwendet: »Ein Krieg wäre eine enorme Gefahr für alle Monarchien.« Der Botschaftsrat v. Mutius wird zum Ackerbauminister Kriwoschien, einem der Gegner der Kriegspolitik, geschickt. Um fünf Uhr fünfundvierzig wird dem Botschafter das Telegramm des Herrn von Jagow gebracht, das die Weisung, die Kriegserklärung zu übergeben, enthält. Es endet mit den Worten: »Seine Majestät, der Kaiser, mein erhabener Herrscher, nimmt im Namen des Reiches die Herausforderung an und betrachtet sich im Kriegszustand mit Russland« – in dem französischen Originaltext: »Sa Majesté l'Empereur, mon Auguste Souverain, au nom de l'Empire relève le défi et se considère en état de guerre avec la Russie.« Pourtalès begibt sich um sieben Uhr abends zu Sasonow, fragt ihn noch einmal, ob die russische Regierung zur Einstellung ihrer militärischen Massnahmen bereit sei, 399 und nimmt, als die Frage verneint wird, ein Papier mit der Abschrift des Telegramms aus der Tasche und liest den Wortlaut vor. In dem Telegramm finden sich zwei eingeklammerte Sätze – es ist dem Botschafter überlassen, je nach Umständen zu sagen: »Da Russland es nicht für nötig erachtet hat, eine Antwort auf diese Forderung zu erteilen«, oder: »Da Russland sich geweigert hat, dieser Forderung nachzukommen.« Natürlich hätte man in der Botschaft also die Kopie in zwei Exemplaren, für den einen und für den anderen Fall, anfertigen müssen, aber Graf Pourtalès hat später die Unterlassung mit der Bemerkung entschuldigt, die Zeit habe zu sehr gedrängt. Nach der Verlesung übergibt der Botschafter das Papier, auf das er seinen Namen setzt, dem Minister, und Sasonow erzählt hinterher spöttisch, man habe ihm nicht einmal eine korrekte Kriegserklärung, sondern eine mit Varianten zugestellt. Die beiden Herren unterhalten sich noch eine Weile lang miteinander, es ist eine Konversation voll von Vorwürfen und Anklagen, sie schieben einander die Schuld zu, bald sind sie entrüstet und bald gerührt. Ein pathetischer Abschied, aus dessen gänzlich verschiedenartigen Schilderungen man nur entnehmen kann, dass jeder den andern niedergeschmettert hat und bis zuletzt der überlegene Geist gewesen ist. Sasonow: »Nach der Ueberreichung der Note verlor der Botschafter, dem die Ausführung seines Auftrages ersichtlich schwer geworden war, jede Herrschaft über sich und brach, gegen das Fenster gelehnt, in Tränen aus . . . Trotz meiner eigenen Bewegung, die ich gut zu bemeistern vermochte, empfand ich aufrichtiges Mitleid mit ihm und wir umarmten uns, bevor er mit unsicheren Schritten mein Arbeitszimmer verliess.« Pourtalès dagegen erzählt, er habe an seine Bemühungen, den Frieden zu erhalten, erinnert, und in diesem Augenblick sei ihm Herr Sasonow mit den Worten: »Glauben Sie mir, wir werden Sie wiedersehen« gerührt um den Hals gefallen. »Um diesem zwecklosen Gespräch ein Ende zu machen«, habe er schliesslich seine Pässe verlangt. Sasonow über Pourtalès: »Er verlor jede Herrschaft über sich.« Pourtalès über Sasonow: »Herr Sasonow machte mir bei dieser letzten Unterredung einen geradezu hilflosen Eindruck, der mich in der Auffassung bestärkte, dass er in der letzten Phase der Krise sich ganz vom Strome treiben liess.«

Bisher war nach allen Berichten, die bekanntgeworden sind, im russischen Volk von einer Kriegsstimmung nicht viel zu bemerken und an Kriegsbegeisterung fehlte es ganz. Am 27. Juli liess, vorübergehend, sogar die Börsenpanik nach. Die Arbeiterstreiks und die Unruhen und Schiessereien in und bei Petersburg bereiteten die sogenannte nationale Erhebung der Geister nicht in der richtigen Weise vor. Die Aufmerksamkeit des Bürgertums war durch diese revolutionären Symptome in Anspruch genommen. Es war aber ein Irrtum, wenn Wilhelm II., Herr von Bethmann und Graf Pourtalès in der Auflehnungsneigung des russischen Proletariats und der Petersburger Studenten ein Hindernis 400 für kriegerische Entschlüsse der Machthaber sahen. Der Minister des Innern Maklakow, der Grossfürst Nikolai und andere Ratgeber des Zaren handelten nach dem Rezept Heinrichs IV.: »Besänftige stets die schwindligen Gemüter mit fremdem Zwist« und hielten, nach andern bekannten Mustern, einen tüchtigen Krieg für das richtige Genesungsbad. Jetzt, als in dröhnenden Aufrufen verkündet wird, dass der deutsche Kaiser dem russischen Volke den Krieg erklärt habe, und dass die ruchlosen Horden die heilige russische Erde mit Mord, Brand und Schändung überfluten wollen, gibt es plötzlich keine revolutionären Krawallmacher mehr. Der Arbeiter, der Bauer und der Student marschieren, wie überall, sie marschieren willig oder unwillig, leichtherzig oder mindestens betäubt, unter schwerem seelischem Druck, ohne noch ihr Schicksal ganz begreifen zu können. »Kein Streik, keine Unordnung«, sagt zu Herrn Paléologue einer seiner russischen Agenten, »sind in diesem Augenblick zu erwarten, der nationale Elan ist zu stark. Die Führer der sozialistischen Partei haben denn auch in allen Fabriken die Unterwerfung unter die Militärpflicht gepredigt – sie sind übrigens überzeugt, dass dieser Krieg mit dem Triumph des Proletariates enden wird.« Auch das ist einer der Gründe, aus denen sich der russische Ausmarsch in den Krieg, nicht nur der Ausmarsch der nationalgesinnten Bürger und der Landbevölkerung, sondern ganz ebenso der des organisierten sozialistischen Arbeiters, ruhig und ordentlich vollzieht. Der noch nicht erwachte Mujik stapft in stummer Pein und anerzogenem Herdentrieb durch den Nebel, der schon »intellektuelle« Hasser des Regimes und der Gesellschaftsordnung hat die Empfindung, dass er seiner Zukunft entgegenmarschiert.

Während der Gesandte Oesterreich-Ungarns, Graf Szapary, noch bis zum 6. August ausharrt, verlässt Graf Pourtalès am Morgen des 2. August Petersburg. Um 4 Uhr früh hat ihn noch einmal Sasonow telephonisch angerufen und gefragt, wie ein soeben beim Zaren eingetroffenes Telegramm Wilhelms II., das am Schluss das »ernstliche Ersuchen« an Nikolaus enthält, unter allen Umständen die russischen Truppen von der geringsten Verletzung der deutschen Grenzen zurückzuhalten, mit der Kriegserklärung in Einklang zu bringen sei. Graf Pourtalès, wahrscheinlich sehr müde, versteht das komplizierte und widerspruchsvolle telegraphische Durcheinander nicht mehr und beschränkt sich auf die Erklärung, er »bedaure, darüber keine Auskunft geben zu können.« Uebrigens: »In vier Stunden reisen wir ab.« Sie sprechen sich zum letztenmal. Abreise und Fahrt werden durch keinen peinlichen Zwischenfall gestört. Ein Beamter bringt auf dem Finnländischen Bahnhof Sasonows Abschiedskompliment. In Berlin und in Wien haben seit einer Woche manifestierende Haufen vor dem russischen Botschaftshotel ihr »Nieder!« geschrien und Unfug verübt. Der deutschen Botschaft in Petersburg war bisher nichts ähnlich Widerwärtiges geschehen. Aber am 4. August zieht eine Bande zu dem 401 verlassenen Palais, schlägt die Türen ein, stürmt durch die Räume, die Treppe hinauf, zertrümmert und zerfetzt Möbel, Kunstschätze, Bilder, lässt von der berühmten Porzellansammlung des Grafen nur einen Scherbenhaufen übrig und wirft vom Dach eine dort aufgestellte bronzene Reiterfigur auf das Pflaster hinab. Die bewährte polizeiliche Führung ist bei dem Unternehmen kaum zu verkennen, Schnaps allein kann es nicht machen, die rechte Kriegslust wird erst durch das Schauspiel vandalischer Zerstörung angefacht. Am Fenster eines Lebeweltrestaurants, dem Palais gegenüber, steht der Graf Massoloff, General à la Suite und Gehilfe des Hofministers, schwingt sein Champagnerglas und applaudiert. Der kriegsfrohe Boudoirgeneral und seine Freunde ahnen nicht, dass eines Tages, am Schluss des mit Champagner eingeweihten Festes, Petersburger Volk, nicht mehr polizeilich angeleitet, noch viele andere Palasttüren einschlagen wird . . .

Die »France«, die Poincaré und sein Glück trug, hatte den Hafen von Kronstadt am Abend des 23. Juli verlassen, das Meer war ruhiger als der Kontinent, russische Torpedoboote gaben das Ehrengeleit, eines von ihnen, das den russischen Lotsen abholen wollte, puffte gegen das französische Kriegsschiff und richtete einigen Schaden an. Als Poincaré in seiner Kabine einschlief, wusste er nicht, dass ein paar Stunden vorher in Belgrad das österreichische Ultimatum abgegeben worden war. Am nächsten Tage wurden an Bord Radiotelegramme aufgenommen, aus denen man das Ereignis erfuhr. Poincaré, Viviani und der Direktor der politischen Angelegenheiten, Herr de Margérie, der zum Stabe gehörte, besprachen die Lage der Dinge, und Viviani schickte telegraphische Ratschläge – vor allem den Rat, statt der österreichisch-serbischen Untersuchung eine internationale zu fordern – nach Paris und Petersburg. Am Morgen des 25. kam eine schwedische Flotte zur Begrüssung, man näherte sich der Küste und fuhr in die Stockholmer Schären ein. Die »France«, unbrauchbar für dieses schwierige Gewässer, musste zurückbleiben, das weniger imposante Begleitschiff »Lavoisier« wurde bestiegen, bald darauf erschien, in einer historischen Schaluppe, der König Gustav V., der vorgeschriebene Austausch von Höflichkeiten fand statt, auf dem Kai hielt der Bürgermeister eine Ansprache, Truppen bildeten bis zum Schlosse Spalier, und die weissen Tücher, die bei solchen Gelegenheiten aus nützlichen Mitteln der Hygiene zu politischen Symbolen werden, leuchteten, von den hübschen Stockholmerinnen geschwenkt, im Sonnenschein. Umgeben von solchen Liebenswürdigkeiten, der Ritterlichkeit des Königs, der Anmut der Frauen und der Schönheit der nordischen Stadt, waren die festlich bewirteten Franzosen wie der melodramatische Bühnenheld, der im Applaus der Galerie an sein krankes Eheweib denkt. Aber es ist nun einmal so, dass zu den Pflichten der Repräsentation das Lächeln gehört.

Zwischen den Festlichkeiten lasen Poincaré und seine Begleiter die Pariser Depeschen, die ihnen der französische Gesandte in Stockholm 402 übergab. Ihr Justizminister Bienvenu-Martin, dieser fleissige und von der Verantwortung, die ihm zugefallen war, bedrängte Stellvertreter des reisenden Ministerpräsidenten, schickte in dem Bestreben, nichts zu vergessen und zu unterlassen, unablässig telegraphische Informationen nach Stockholm. Am Abend, vor dem Abschied, erfuhren Poincaré und Viviani, dass der österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad abgereist sei. Der König Gustav V. überbrachte ihnen diese letzte Neuigkeit. Aus dem französischen Gelbbuch erfuhr man nichts von den Antworten, Ratschlägen und Instruktionen, die doch vermutlich Viviani als Ergebnis seiner fortwährenden Besprechungen mit Poincaré zu Lande und zu Wasser nach Paris blitzen liess. Es fand sich dort als einziges Lebenszeichen der Reisenden, seit ihrer Abfahrt von Russland, ein erst am 28. Juli an Bord der »France« aufgegebenes Telegramm Vivianis, mit nochmaliger Zustimmung zu der von Grey angeregten Intervention. Sicherlich war es für Poincaré und Viviani nicht ganz leicht, die Dinge richtig zu stilisieren – manches in Petersburg gesprochene Wort liess sich nicht so schnell vergessen oder auswischen und war ein in den Händen der Alliierten zurückgebliebenes Pfand. Poincaré kann gewiss mit Recht versichern, dass man in Petersburg keine neuen Abmachungen getroffen und dass Sasonow keinerlei Andeutungen über militärische Vorbereitungen gemacht habe, aber hatte man die Russen nicht zur »Festigkeit« ermahnt? Konnte man sie jetzt zu Kompromissen – und zu welchen Kompromissen – drängen? Man hatte ihnen doch nur das andere Wort eingeprägt.

Um Mitternacht brachte der »Lavoisier« den Präsidenten und seine Begleiter wieder zu der »France« und die Weiterfahrt nach Kopenhagen begann. Der Besuch dort war angekündigt, die Häuser wurden schon geflaggt, die Galafräcke abgestäubt, die dänischen Schüsseln hergerichtet, aber in diesen Tagen durch ein neues Festprogramm geschleppt zu werden – welch ein Dornengang! Nachts ein Telegramm Abel Ferrys, der dringend um rasche Heimkehr bat, denn die lange Besuchsfahrt zu den fremden Höfen wurde vom Publikum und der Presse schon abfällig kritisiert. An Bord der »France« wurde beschlossen, der Aufforderung zu folgen, und ein Entschuldigungstelegramm wurde an den Dänenkönig, eine erklärende Note ebenfalls telegraphisch an die Agence Havas geschickt. Noch zwei Tage der Isolierung und zwei schlaflose Nächte, nervöses Umherirren auf Deck. Eine Ewigkeit.

An dem Sonntag, der dem Beschluss zur Heimkehr voranging, war in Paris Herr von Schoen, der deutsche Botschafter, im Auftrage des Auswärtigen Amtes bei Herrn Bienvenu-Martin. Er sollte der französischen Regierung, »mit der wir uns in dem Wunsche nach Erhaltung des europäischen Friedens eins wissen«, nahelegen, in Petersburg auf weise Mässigung zu dringen. Herr Bienvenu-Martin, dankbar für die Idee friedlicher Zusammenarbeit, fragte, ob Deutschland bereit wäre, mit Frankreich und den andern Mächten dem Wunsch nach Mässigung – 403 da obenein Serbien ja fast alle österreichischen Ultimatumsforderungen angenommen habe – auch in Wien Ausdruck zu verleihen. Herr von Schoen »verfehlte nicht« – nach seiner eigenen Darstellung – »dem Minister entgegenzuhalten, dass sein Gedanke einer gemeinschaftlichen Einwirkung der Mächte in Wien mit unserer von vornherein betonten Auffassung nicht vereinbar erscheine, dass Oesterreich-Ungarn und Serbien allein zu lassen seien«. In Paris stritten in diesen Tagen Herr von Schoen und die Leute des Quai d'Orsay fast mit den gleichen Worten, wie in Petersburg Graf Pourtalès und Sasonow, in Berlin Jagow und Jules Cambon, in London der nur widerwillig mitmachende Lichnowsky und Grey. Es ist nicht nötig, immer wieder die gleichen Dinge zu wiederholen, und die paar Varianten sind schnell aufgezählt. Der Botschafter von Schoen hatte für die in Berlin betriebene Politik keine uneingeschränkte Sympathie. Sogar Poincaré hat ihm bezeugt, er habe »sich aufrichtig um die Erhaltung des Friedens bemüht«. Herr von Schoen war über die Absichten seiner Regierung, über die Bindung an Oesterreich, über die Vorbereitung des österreichischen Ultimatums nicht informiert worden, und man hatte ihn nicht um seine Meinung gefragt. »Auch mir persönlich«, schreibt er, »kam das Ereignis« – die Ueberreichung des Ultimatums – »insofern völlig überraschend, als ich in keiner Weise über das, was sich inzwischen zugetragen hatte, unterrichtet war.« Er billigte es nicht, dass seine Regierung sofort erklären liess, sie halte die österreichischen Forderungen für berechtigt und jedes Dazwischentreten einer andern Macht wäre folgenschwer. Aber wenn er sich die Selbständigkeit des Urteils wahrte, so hatte er doch weder die Kraft noch die Möglichkeit zu selbständigem Handeln, und über kleine Versuche, die Schärfen abzustumpfen, kam er nicht hinaus.

 

Von den Mitgliedern und Beamten der französischen Regierung, mit denen Herr von Schoen in der ersten Periode der Krise, bis zum 28. Juli, zu verhandeln hatte, kannte nur der Direktor am Quai d'Orsay, Berthelot, aus längerer Erfahrung die aussenpolitischen Verzweigungen und Zusammenhänge und das Personenverzeichnis der europäischen Diplomatie. Die andern waren junge Ankömmlinge am Quai d'Orsay oder alte Parteipolitiker des Palais Bourbon. Der Justizminister Bienvenu-Martin war 67 Jahre alt, als er Viviani vertreten musste und, ohne dergleichen jemals geahnt oder erstrebt zu haben, in die Wirbel der grossen Politik hineingeriet. Er hatte schon eine ehrenvolle Karriere hinter sich, war jetzt zum zweiten Male Minister, ein ehrlicher Republikaner, geachtetes und verdienstvolles Mitglied der demokratischen Linken, immer an der Front gegen den klerikalen Nationalismus, gesinnungstreu, ohne glühendes Temperament, anständig und ein bisschen philiströs. Viviani hat später die feste und kluge Haltung Bienvenu-Martins dankbar gerühmt. Ganz gewiss entledigte sich der treffliche Demokrat seiner Mission so gut wie irgend möglich, aber er konnte sich nur als Lückenbüsser 404 fühlen, und was wäre selbst ein Richelieu, der nur für zweimal achtundvierzig Stunden Richelieu sein darf und nicht einmal in dieser knappen Zeit frei in seinen Erwägungen und Entschliessungen ist?

 

Endlich, am 29. Juli, um acht Uhr morgens, fuhr die »France« in den Hafen von Dunkerque ein. Ein kleiner Dampfer brachte Poincaré und seine Begleiter zum Uferkai, auf dem eine von allerlei Empfindungen und Gedanken bewegte Menge sie mit Hochrufen empfing. Poincaré berichtet, er sei blass gewesen und habe nur mit Mühe seine Aufregung zurückgedrängt. Er sprach mit dem Maire der Stadt und den Senatoren und Deputierten des Departements, und den stärksten Eindruck machte es ihm, dass hier jeder mit dem Kriege schon wie mit einer feststehenden Tatsache zu rechnen schien. Man hat behauptet, er habe in Dunkerque gesagt: »Es wäre ein Unglück, wenn der Krieg vermieden würde, denn wir werden nie wieder unter so günstigen Umständen einen Krieg führen können wie jetzt.« Er bestreitet, irgendeine ähnliche Aeusserung getan zu haben, und die Zeugen haben auf seinen Wunsch die Richtigkeit des Dementis bescheinigt und die böse Fabel widerlegt. Als Vertreter des Kabinetts waren der Arbeitsminister René Renoult und der Unterstaatssekretär Abel Ferry nach Dunkerque gekommen. Auf der Fahrt nach Paris schilderten sie dem Präsidenten der Republik und dem Ministerpräsidenten die Vorgänge der letzten Tage, und Abel Ferry teilte mit, was an militärischen Massnahmen zur Sicherung des Landes verfügt worden war. Ueber diese Vorbereitungen erfährt man Näheres aus einem »Interview« mit dem damaligen Kriegsminister Messimy. Raymond Recouly, eleganter und kenntnisreicher Publizist, hat Messimy befragt und die Unterredung in seinem Buche »Les heures tragiques d'avant guerre« veröffentlicht. Beachtet muss werden, dass der Zivilist Messimy, ein noch jugendfrischer Linksrepublikaner, Parteigänger des Klosterstürmers Combes, nach den ersten französischen Niederlagen von Klerikalen und Nationalisten beschuldigt wurde, er habe bei der Zurüstung der Verteidigung Wesentliches versäumt. Es kam ihm vor allem darauf an, in dem Gespräch mit Recouly zu beweisen, wie vorausschauend und energisch er gewesen sei.

 

Gleich beim Beginn der Krise, nach der Bekanntgabe des österreichischen Ultimatums, forderte der General Joffre, der Chef des Generalstabes, militärische Aktivität zum Schutz der Grenzen, während die Minister und die Diplomaten am Quai d'Orsay den Eindruck vermeiden wollten, Frankreich verschärfe durch unvorsichtige Gesten die Kriegsgefahr. Einige der Kabinettsmitglieder, pazifistische Naturen, betrachteten jedes militärische Drängen mit instinktivem Argwohn, ausschlaggebend aber war auch hier, und besonders im Aussenministerium, die Furcht, durch provokatorisch erscheinende Schritte das unentschlossene England zu verstimmen. Man verfügte über ausgezeichnete informatorische Quellen, 405 denn die französisch gesinnten Elsässer meldeten nach Paris eifrig und durch sichere Boten alles, was im deutschen Grenzgebiet, in den Garnisonen, den Festungen, den Bahnhöfen sich begab. »Die Elsässer leisteten uns unschätzbare Dienste«, sagte Messimy, und sobald eine deutsche Massregel bekannt wurde – angeblich niemals vorher – ordnete man in Paris das gleiche an. Am 25. Juli mussten diejenigen Korpskommandanten, die nicht bei ihren Truppen weilten, auf ihre Posten zurückkehren, am 26. beschloss der Ministerrat eine Reihe geheimer Vorkehrungen, die beurlaubten Offiziere wurden zusammengerufen, Joffre verlangte auch schon die Rückberufung der Soldaten, aber das wurde an diesem Tage abgelehnt. Am 27. verfügte man die militärische Besetzung der Bahnlinien und befahl nun auch den Soldaten, »individuell«, die Rückkehr zu ihrem Regiment. In Marokko standen 100,000 Mann. Im Einverständnis mit dem General Lyautey, der dort kommandierte, beschloss man, sie nach Frankreich zu transportieren, ebenso wie die algerischen Truppen, und die marokkanische Division wurde dann eine sehr notwendige und vielleicht entscheidende Hilfskraft in der Marneschlacht.

 

In dem Bericht, den in Berlin der Grosse Generalstab am 28. Juli dem Auswärtigen Amt zustellte, hiess es über Frankreich: »Paris vollkommen ruhig, Presse auffallend gemässigt, von Mobilmachung nichts zu spüren, höhere Offiziere vom Urlaub zurückberufen, Kommandanten auf ihren Plätzen, Truppen auf Uebungsplätze zurückgezogen« – und noch einige Beobachtungen über Vorkehrungen an der Grenze wurden mitgeteilt. In dem Generalstabsbericht vom folgenden Tage: »Kriegsbegeisterung im Lande nicht vorhanden, französische Presse ergeht sich teilweise in Schmähungen über Deutschland«, im übrigen erhöhte militärische Tätigkeit. Tatsächlich wollten in diesen Tagen die Pariser noch nicht an den Krieg glauben, und das Volk, das, nach veralteter Schlagwortweisheit, erregbarer als alle andern sein sollte, wurde vielleicht am spätesten nervös. An der Börse verprügelte man einen aus Oesterreich gebürtigen Grosspekulanten, der französische Rente verkaufte – eine solche Baisse widersprach dem patriotischen Empfinden der Agents de change und der Coulissiers. Der Prozess der Frau Caillaux war den Blicken näher als der österreichisch-ungarische Konflikt. Hinter den dramatischen Neuigkeiten aus dem überhitzten Saal im Justizpalast traten die Nachrichten aus Wien, Berlin und Petersburg wie schemenhafte blasse Einbildungen zurück. Das alles würden die Diplomaten einrenken, sie hatten schon Schlimmeres eingerenkt. Aber die Geschworenen – würden sie Frau Caillaux freisprechen, oder würden sie mit einem »Schuldig!« aus ihrem Beratungszimmer kommen? Am Abend des 27. Juli stürmten die Camelots mit den Extrablättern, die den Freispruch verkündeten, über die Boulevards. Ueberall hatte dichtgedrängt, in fieberhafter Spannung, das Publikum gewartet – es war einer der sensationellsten Justizfälle 406 seit der Erschiessung des Journalisten Victor Noir durch den Prinzen Pierre Bonaparte, die am 10. Januar 1870 einem andern Kriege vorangegangen war.

 

In der düsteren Halle der Gare du Nord empfingen am Vormittag des 29. alle Mitglieder der Regierung den heimkehrenden Präsidenten der Republik. Als man zum Ausgang schritt, sagte Messimy zu Poincaré: »Sie werden Paris sehen, es ist wundervoll!« Der Platz vor dem Bahnhof war von Menschenmassen überschwemmt. Auch die Deputierten, Senatoren, Stadträte warteten dort und, was nicht fehlen konnte, eine Abordnung der Patriotenliga unter Führung von Maurice Barrès. Poincaré, sehr bleich, stand in dem offenen Wagen – kein Auto – mit dem Zylinderhut die Menge grüssend, die »Hoch Frankreich«, »Hoch der Präsident« und ähnliches schrie. Auf dem ganzen Wege war es so, offenbar war die nationale Begeisterung nun erwacht, da sie – und Frau Caillaux war freigesprochen – einen Mittelpunkt hatte und, mochte der Mann sein, wie er wollte, ein körperlich sichtbares Ziel. Von fünf bis sieben Uhr grosser Ministerrat unter Poincarés Vorsitz im Elysée. Nachdem die Minister ihre Freude über die Rückkehr des Präsidenten ausgesprochen hatten, begann die Beratung, mehrere Kabinettsmitglieder, auch der als »Pazifist« verdächtige Minister des Innern Malvy, forderten eine Steigerung der Rüstungen, strengere Ueberwachung zweifelhafter Elemente im Lande, ein beschleunigtes Tempo, und schliesslich wurden die letzten Depeschen vorgelegt. Dann blieb Poincaré allein in seinem Arbeitszimmer, las die Kommentare der Presse und die Berichte der Diplomaten, und ohne Zweifel schweiften seine Gedanken bisweilen über all dieses Papier hinweg nach London hin. Nichts Bestimmtes, keine Antwort auf die Frage, wie England sich entscheiden wird? Spät in der Nacht wurde ihm ein Telegramm seines Botschafters Paul Cambon gebracht. Sir Edward Grey hatte dem Botschafter gesagt, England habe bei einem Balkankonflikt nicht die gleichen Verpflichtungen und Interessen wie in der Marokko-Affäre, in der es durch einen Vertrag an Frankreich gebunden war. Wenn der Konflikt auf Oesterreich, Serbien oder Russland beschränkt bleibe, liege für England kein Grund zum Eingreifen vor. Falls Deutschland an die Seite Oesterreichs trete und Frankreich eventuell in den Krieg hineingezogen würde, »wäre das eine Frage, die das europäische Gleichgewicht berührte, und England müsste prüfen, ob es intervenieren soll«. Eine halbe Zusicherung, eine halbe Hoffnung, und für den, der die Uneinigkeit im britischen Kabinett kannte, noch keineswegs eine Garantie, nur eine unter Vorbehalt hingereichte Hand. »Und England müsste prüfen« – aber das Resultat der Prüfung hing auch von den Morley, John Burns und den andern Unverbesserlichen ab.

 

Mit soviel Zweifeln ringend, ging Poincaré zu Bett. Sehr bald wurde seine Nachtruhe wieder gestört. Um zwei Uhr morgens klopfte Viviani 407 an. Er hatte die Abschrift eines von Sasonow an Iswolski geschickten Telegrammes bei sich, die soeben durch einen russischen Botschaftsbeamten am Quai d'Orsay abgegeben worden war. Sasonow telegraphierte, der deutsche Botschafter, Graf Pourtalès, habe ihm den Beschluss der deutschen Regierung überbracht, zu mobilisieren, falls Russland nicht einwillige, seine militärischen Vorbereitungen einzustellen. »Da wir dem Wunsche Deutschlands nicht entsprechen können, bleibt uns nur übrig, unsere Rüstungen zu beschleunigen und den bevorstehenden Ausbruch des Krieges in Betracht zu ziehen. Benachrichtigen Sie davon die französische Regierung und übermitteln Sie ihr meinen aufrichtigen Dank für die mir offiziell in ihrem Namen durch den französischen Botschafter ausgesprochene Versicherung, dass wir auf die Bundeshilfe Frankreichs zählen können. Unter den gegenwärtigen Umständen hat diese Erklärung für uns einen besondern Wert.« Poincaré, aus dem Schlafe geweckt, und Viviani mögen diese Depesche mit etwas gemischten Gefühlen studiert haben – tatsächlich stellt Poincaré in seinen Memoiren ihre Gefühle so dar. Mit keiner Silbe habe er, er betont das immer wieder, ebensowenig wie Viviani in den Petersburger Unterredungen Herrn Sasonow oder dem Zaren irgend etwas versprochen, irgendeine Verpflichtung übernommen. Paléologue sei, von Bord der »France« aus, am 27. Juli nur beauftragt worden, Herrn Sasonow zu sagen, dass Frankreich, ebenso wie Russland, »überzeugt von der hohen Wichtigkeit, die für beide Länder die Bekräftigung ihrer vollen Einigkeit gegenüber den andern Mächten und ihres Willens hat, keine Bemühung zur Lösung des Konfliktes zu unterlassen, bereit ist, im Interesse des allgemeinen Friedens der kaiserlichen Regierung voll und ganz seinen Beistand zu leihen«. Diese Erklärung – ein stilistisches Labyrinth, in dem man sich nicht so leicht zurechtfindet – sei etwas Unteilbares gewesen und Sasonow habe sie »in etwas weitem Sinne« ausgelegt. Viviani brachte den Entwurf einer telegraphischen Antwort mit, die Poincaré billigte und die man um sieben Uhr morgens chiffriert nach Petersburg abgehen liess. Man betonte darin, dass die französische Regierung jeden Versuch zur friedlichen Lösung des Konfliktes unternehmen wolle und dass »Frankreich anderseits entschlossen« sei, »alle Allianzverpflichtungen zu erfüllen«. »Aber im Interesse des allgemeinen Friedens und angesichts der Tatsache, dass Besprechungen zwischen den weniger interessierten Mächten im Gange sind, glaube ich, dass es opportun wäre, wenn Russland bei den Vorsichts- und Verteidigungsmassnahmen, zu denen es greifen zu müssen meint, nicht sofort irgendwelche Dispositionen für eine totale oder teilweise Mobilisierung seiner Streitkräfte trifft.« Man schickte eine Kopie dieses Telegrammes auch nach London, wo Grey und die Liberalen daraus sehen konnten, dass die französische Regierung aufrichtig bestrebt sei, den englischen Vermittlungsvorschlägen jede Störung fernzuhalten und den russischen Verbündeten von vorschnellen militärischen Wagnissen abzubringen.

408 Es ist selbstverständlich, dass niemand die französische Bündnistreue tadeln, niemand deswegen einen Vorwurf gegen Frankreich erheben kann. Der deutsche Kaiser und seine Berater hatten ja schon, als das Stück begann, und gewissermassen mit verbundenen Augen, den Oesterreichern die Nibelungentreue zugesagt. Umstritten ist nur, ob Frankreich auf dem Wege, an dessen Ende man nun so ziemlich angelangt war, die Russen rechtzeitig vor voreiligen militärischen Beschlüssen gewarnt hat, und da liegt nicht viel mehr vor als kleine Bemerkungen, die Paléologue einstreute, wenn er gesagt hatte, dass der Krieg unvermeidlich sei. Da die französische Regierung es am Morgen des 30. Juli richtig und nötig fand, in Petersburg die Teilmobilmachung, ebenso wie die Totalmobilisierung, als inopportun zu bezeichnen – hätte sie das nicht schon vier Tage früher ebenso aussprechen können? Die französische Regierung war über die Petersburger Entschliessungen mangelhaft informiert? Poincaré konstatiert den Mangel an Informationen, wobei er gleichzeitig so tut, als seien in Russland nennenswerte militärische Vorbereitungen vor dem 29. Juli ja auch gar nicht erfolgt. Poincaré begeht bisweilen den Fehler, das er zu viel beweisen will. Durch eine zu minutiöse Methode der Widerlegung komplizieren manche Advokaten ihre Position. In dem Kronrat, der am 25. Juli in Krasnoje Selo, in der Villa des Grossfürsten Nikolai stattfand, wurde für den folgenden Tag der Beginn einer Kriegs-»Vorbereitungsperiode« befohlen und der »prinzipielle« Beschluss zur Teilmobilmachung gefasst. Paléologue notierte die Tatsache noch am selben 25. in sein Tagebuch, und wenn er sie, was unbegreiflich wäre, nicht sofort selber nach Paris gemeldet haben sollte, so ist doch als absolut sicher anzunehmen, dass der französische Militärattaché ohne Verzögerung das französische Aussenministerium und den Generalstab benachrichtigt hat.

Am Morgen des 30., nach der unruhigen Nacht, wieder Ministerrat. Diesmal handelte es sich zunächst um finanzielle Massnahmen, die nötig erschienen, weil das Publikum begonnen hatte, sein Geld aus den Banken und den Sparkassen zurückzuziehen. Messimy trug Joffres dringliche Forderung vor. Der Generalstabschef hielt es für absolut nötig, die für den Grenzschutz bestimmten Divisionen zu mobilisieren und zu den vorgesehenen Standorten zu bringen. Die Minister gewannen aus den alarmierenden Depeschen der französischen Konsuln den Eindruck, dass die militärischen Vorbereitungen in Deutschland schon weit fortgeschritten seien. Sie wollten gern Joffre alles geben, was er verlangte, aber sie wollten auch von der Taktik, auf die englische Empfindlichkeit Rücksicht zu nehmen, nicht ablassen, und versuchten, beide Teile zufriedenzustellen. Die Truppen der entfernteren Garnisonen sollten sich bereit halten, die in den Grenzbezirken erhielten Marschbefehl. »Indessen, aus diplomatischen Gründen, ist es unerlässlich, dass kein Zwischenfall durch unser Verschulden entsteht.« Die Truppen sollten zehn Kilometer vor der Grenze bleiben, auf einer Linie, die durch Angabe 409 der Ortschaften bezeichnet war. Auch die Patrouillen sollten diese Linie nicht überschreiten, noch ihr nahe kommen. Ob dieser Befehl überall respektiert wurde, ist auch eine der Streitfragen, mit deren Untersuchung die Wissenschaft noch heute viel Zeit verliert. Viviani beauftragte sofort Paul Cambon in London, den Beschluss über die zehn Kilometer Sir Edward Grey mitzuteilen, und damit war dann ein Hauptzweck erfüllt.

 

31. Juli, Donnerstag. Der Tag, an dem der Bestie der Maulkorb gelockert wird, und der Mord, bevor er Millionen Opfer wahllos häuft, den Friedlichsten überfällt. In den Morgenstunden und am Vormittag beschäftigte vor allem die Sorge um Englands Entscheidung Poincaré, Viviani und die Leute am Quai d'Orsay. Von Paul Cambon waren Telegramme eingetroffen, aus denen hervorging, dass die uneinige britische Regierung sich nicht entschliessen wollte, von ihrem Zaudern abzugehen. In einer Depesche hiess es, aus der City her wirkten starke deutsche Einflüsse auf Presse und Parlament. Aber am Abend eine andere Meldung Paul Cambons, die aufhorchen liess. Im britischen Ministerrat war über die Neutralität Belgiens gesprochen worden, und man hatte die Botschaften in Berlin und Paris angewiesen, sichernde Aufklärungen zu verlangen. Wenn, wie es wahrscheinlich war, und wie man hoffen durfte, Deutschland die belgische Neutralität nicht respektieren wollte, dann konnte England nicht länger ausweichen, dann musste es vorbei sein mit diesem erhabenen insularen Pazifismus, dann mussten die pazifistischen Ideologen verstummen . . . Am Abschluss eines überaus ereignisreichen und dramatischen Tages brachte diese Nachricht den überanstrengten Nerven wenigstens einige Beruhigung.

Denn es war an diesem Tage Entscheidendes geschehen. Im Laufe des Nachmittags war der Regierung, den Redaktionen und vielen Finanzleuten die Nachricht zugegangen, in Petersburg habe der Zar die allgemeine Mobilmachung verfügt. Die Telegramme, die das meldeten, kamen nicht aus Petersburg, sondern aus Berlin und anderswoher. Man muss Poincaré und Viviani, den französischen Aktenverwaltern und Historikern glauben, wenn sie erklären, dass das Telegramm Paléologues mit der kurzen Mitteilung: »Die allgemeine Mobilmachung der russischen Armee ist befohlen« erst um halb neun Uhr abends in Paris eingetroffen sei. Poincaré wehrt sich heftig gegen die Behauptung der deutschen Kriegsschuldforscher, das französische Kabinett habe die Nachricht möglichst lange verheimlicht – tatsächlich war sie, auf dem indirekten Wege hin gelangt, vielen in Paris bekanntgeworden, aber die direkte und offizielle Bestätigung kam erst hinterher. Paléologue hatte, nach den französischen Feststellungen, sein Telegramm vormittags um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten abgeschickt. Es hatte bis zur Ankunft in Paris fast zehn Stunden gebraucht. Graf Pourtalès hatte um zehn Uhr zwanzig Minuten telegraphiert. Seine Meldung war nach einer Stunde und zwanzig Minuten in Berlin. Poincaré nennt 410 die Verspätung, mit der das Telegramm Paléologues eintraf, »unerklärlich« und fragt: »Hat Russland es zurückgehalten, um die französische Regierung an neuen Vorstellungen zu verhindern, auf die es meinte, nicht eingehen zu können?« Es ist ausserordentlich wahrscheinlich, dass die russische Regierung Meldungen über ihre Mobilmachung, die für ihre Vertreter oder für die französische Regierung bestimmt waren, zurückgehalten hat, aber vielleicht nicht, weil sie einen französischen Protest fürchtete, sondern eher, weil sie meinte, dass man in Berlin die Ankunft der offiziellen russischen Mitteilung abwarten werde, und weil sie in der Verzögerung einen militärischen Vorteil sah. In Berlin wartete man indessen nicht, bis endlich auch Herr Swerbejew unterrichtet sein würde, und fand die Mitteilung des Grafen Pourtalès hinreichend glaubwürdig und klar. Infolgedessen musste um sieben Uhr abends Herr von Schoen bei Viviani vorsprechen, ihm verkünden, dass der deutsche Kaiser den Kriegsgefahrzustand proklamiert habe, und eine bestimmte Erklärung über die Absichten Frankreichs verlangen. Herr von Schoen sagte dem Ministerpräsidenten, die deutsche Mobilmachung werde unmittelbar folgen, wenn die russische Regierung nicht innerhalb zwölf Stunden nach Ueberreichung des Ultimatums versprechen werde, ihre Kriegsmassnahmen einzustellen. Was gedenke Frankreich zu tun, werde man in einem deutsch-russischen Kriege auf seine Neutralität rechnen können? Viviani entgegnete, ihm sei von der angeblichen russischen Allgemeinmobilisierung nichts bekannt. Eine halbe Wahrheit, da ein Zweifel an der Richtigkeit der inoffiziellen oder privaten Meldungen, die ihm vorlagen, nicht möglich war. Auf die Frage nach Frankreichs Absichten: »Lassen Sie mir Zeit zur Ueberlegung, ich hoffe noch, dass man um die äussersten Entschliessungen herumkommen wird.« Herr von Schoen: »Ich bitte Sie, mich morgen nachmittag um ein Uhr zur Entgegennahme Ihrer Antwort zu empfangen.« Er bat Viviani dann noch, dem Präsidenten der Republik seine Abschiedsgrüsse zu übermitteln, und wünschte die Pässe für sich und das Botschaftspersonal. Den französischen Erzählern zufolge lehnte Viviani es ab, den Grussauftrag anzunehmen, und sagte, mit dem konventionellen Bedauern eines Hausherrn, wenn die Gäste aufbrechen: »Warum wollen Sie uns verlassen, warum das Signal zur Abreise geben, Graf Pourtalès ist noch in Petersburg und der österreichische Botschafter ist ja auch noch da?«

 

Die Instruktion des Herrn von Bethmann für Herrn von Schoen hatte noch einen zweiten Teil. Mit dem besondern Vermerk: »Geheim.« Wenn, »wie wir nicht annehmen«, die französische Regierung sich für die Neutralität entscheiden sollte, würde ihr der Botschafter zu erklären haben, Deutschland fordere »als Pfand für Neutralität Ueberlassung der Festungen von Toul und Verdun. Deutschland würde diese Festungen besetzen und sie zurückgeben, sobald der Krieg mit Russland beendet sei«. Da die französische Antwort dann ablehnend lautete, war Herr von 411 Schoen nicht gezwungen, Herrn Viviani diese Bedingung mitzuteilen, und er war froh, sie in der Tasche behalten zu können. Er hatte von ihr mit dem Widerwillen Kenntnis genommen, den jeder vernünftig denkende Mensch nachempfindet, und hat in seinem Buche dort, wo er von dieser Mission spricht, sein Urteil nur ein wenig gedämpft. »Es liegt«, schreibt er, »auf der Hand, dass der Gedanke kein glücklicher war. Vom militärischen Standpunkt aus mag die Forderung von Bürgschaft für neutrales Verhalten richtig sein, vom politischen aus war sie verfehlt.« »Die Neutralität Frankreichs«, fährt er fort, »wäre für uns von so hohem Nutzen gewesen, dass wir eher Anlass gehabt hätten, etwas für sie zu bieten, als etwas zu verlangen. Wenn die Franzosen nur irgendwie zur Neutralität bereit gewesen wären, so hätte doch die Forderung nach Preisgabe ihrer wichtigsten Festungen jede Verständigung im Keime erstickt.« Das Telegramm des Herrn von Bethmann-Hollweg war natürlich chiffriert und der geheime Nachsatz noch in besonders schwierigen Hieroglyphen abgefasst. Das Auswärtige Amt und der deutsche Generalstab wussten leider nicht, dass man in Paris ihren Chiffreschlüssel kannte und dass es für die Schriftgelehrten im französischen Spionagebüro ewige Mysterien nicht gab. Während des Krieges wurde auch das Endstück der aufgefangenen und aufbewahrten Depesche enträtselt und das enthüllte Geheimnis als Beweis dafür, dass Deutschland das französische Volk, was auch immer es für die Erhaltung des Friedens getan hätte, an die Schlachtbank habe zerren wollen, in die Welt hinausgeschickt. »Das wäre unser Lohn oder das Lösegeld für unsere Neutralität gewesen, wenn wir eingewilligt hätten, mit unserem Alliierten zu brechen«, kann Poincaré konstatieren – »und zweifellos hätten wir nach diesem Anfang andere Demütigungen kennengelernt.« Herr von Bethmann-Hollweg erwähnt in seinen »Betrachtungen zum Weltkrieg« nur mit ein paar Worten in einer Fussnote diese Angelegenheit und behilft sich mit der wenig männlichen, dann von andern aufgelesenen Entschuldigung, die Pfandfrage sei ja Viviani gegenüber gar nicht erwähnt worden, habe also einen Einfluss auf die Geschehnisse nicht ausgeübt. Herr von Schoen antwortet richtig, »die Schuld an dem Fehlgriff« werde »nicht dadurch gemindert, dass für sein Begehen die Voraussetzungen nicht eintraten«, und fügt hinzu: »Wäre ich in die Lage gekommen, jenes Verlangen, wie mir aufgetragen, zu stellen, so wäre das der grösste Fehler gewesen, den ich, wenn auch nicht durch eigene Schuld, hätte begehen können.« Bethmann schiebt die Verantwortung auf die Erfinder der Idee, die Anstifter, die militärischen Autoritäten ab. Bismarck hat sogar nach dem Abschluss eines siegreichen Krieges der »militärischen Ressortpolitik« einen Einfluss auf die Staatspolitik nicht eingeräumt. Während des Krieges hat Herr von Bethmann, mit gutem Grunde, bitter über den »miles gloriosus« geklagt. Vorher unterwarf er sich leider dem miles, der in diesem Augenblick noch nicht durch die Glorie geweiht, noch nicht hoch entrückt und unnahbar war.

 

412 Am Abend tötete der Jämmerling Raoul Villain, Sohn eines Gerichtsschreibers in Reims, Jean Jaurès. Im Café Croissant, wo Jaurès mit einigen Freunden die tragische Volksverstrickung besprach. Zwei Kugeln schlugen durch das starke Haupt in die Werkstatt des reinsten, idealsten, tapfersten Denkens ein. Der Griff eines Elenden, ein doppeltes Knacken am Revolver, der harte Ton des Schusses, und dieses wundervolle Herz stand still. Der Polizeipräfekt befürchtete Kundgebungen der sozialistischen Arbeiterschaft, zwei Kavallerieregimenter, die gerade an die Grenze geschickt werden sollten, wurden zum Schutze der Ordnung zurückgehalten, Patrouillen ritten über die Boulevards. Aber nur in der Gegend der Place de la République und des Faubourg Montmartre mussten unbedeutende Züge von Manifestanten zerstreut werden, und die Rufe »Nieder mit den Mördern! Nieder mit dem Krieg!« wurden von der Last der ungeheuren Sorge, die auf Paris lag, erstickt. Obgleich auch Jaurès den Krieg nicht hätte verhindern können, stieg, als die Mordnachricht durch die Stadt drang, wahrscheinlich in den meisten die schreckhafte Gewissheit auf, dies sei das furchtbare Signal. Die Nacht, die begann, war dunkler als jede andere Nacht.

 

Das russische Botschaftspalais in der Rue de Grenelle, auf dem linken Ufer, besteht aus einem zurückliegenden Haupthaus und zwei Flügelbauten, zwischen denen der Vorhof liegt. In dem Hauptgebäude residierte Iswolski, in einem der Flügel befand sich die Kanzlei, in dem andern war die russische Geheimpolizei einquartiert. Jaurès hatte in mehreren Reden dagegen protestiert, dass dieser anrüchigen Ochrana gestattet werde, so mitten in Paris ihren trüben Geschäften nachzugehen. Sie überwachte die in Paris lebenden russischen Revolutionäre, aber man wusste nicht, ob sie eifriger in der Verhinderung oder in der Anstiftung von Verbrechen sei. An diesem Abend, sofort nach der Mordtat, wurde der Teil der Rue de Grenelle, in dem sich die Botschaft befindet, von Truppen besetzt und gesperrt. Fürchtete man, die Volksrache könnte sich hierher verirren? Der Mörder Villain war, hiess es, geistesschwach. Sicherlich war er das, und diese Feststellung der fachkundigen Psychiater schliesst nur nicht aus, dass man ihm den Mordgedanken in das blöde Hirn eingeblasen und die Hand geleitet haben kann. Es wäre unpassend, einen Verdacht auch nur anzudeuten, der in der gewiss sehr gründlichen Untersuchung anscheinend niemals aufgetaucht ist. Aber der Hüter der Ordnung, der an dem Abend des 31. Juli 1914 zunächst einmal an die Sicherheit der russischen Botschaft dachte, gehorchte vielleicht einem feinen Instinkt.

 

Der 1. August. Morgens um neun Uhr führte der Kriegsminister Messimy den General Joffre in den Salon, in dem schon der Ministerrat versammelt war. Joffre hatte vorher schriftlich auseinandergesetzt, nun, nach der Erklärung des Kriegszustandes in Deutschland, müsse er 413 auf die sofortige Anordnung der Mobilmachung dringen. Dem Ministerrat zählte er die militärisch-technischen Gründe auf. Nach kurzem Verweilen bei den Einzelheiten stimmte man ihm zu. Die Bekanntgabe der Mobilmachungsorder sollte um vier Uhr nachmittags geschehen. Erst hinterher, gegen Mittag, erhielt man die Nachricht, Deutschland habe ein Ultimatum an Russland gerichtet und die deutsche Mobilmachung stehe bevor. Während der Ministerrat noch beisammen war, wurde dem Ministerpräsidenten mitgeteilt, Herr von Schoen warte bereits im Ministerium des Aeussern am Quai d'Orsay. Im Ministerium, wo Viviani bald darauf eintraf, verlief die Unterhaltung programmgemäss. Der Botschafter wiederholte die Frage: »Was wird Frankreich tun?« Viviani gab die vorbereitete Antwort, es würde sich von seinen Interessen leiten lassen, und Herr von Schoen verlangte keine nähere Erläuterung. Die beiden plauderten noch eine kleine Weile lang, Viviani beklagte das deutsche Ultimatum, jetzt gerade schienen Russland und Oesterreich zu einer versöhnlichen Aussprache bereit. Herr von Schoen, aus Berlin nicht unterrichtet, konnte nicht einmal entgegnen, dass diese erste Annäherung immerhin durch die deutschen Mahnungen in Wien veranlasst worden sei. Es scheint Viviani überrascht zu haben, dass der Botschafter nicht wieder von seinen Pässen sprach, und anscheinend kehrte er dieser Kleinigkeit wegen optimistischer in den Ministerrat zurück. Aber die Mobilmachungsorder wurde schon gedruckt und er entwarf einen Aufruf an das Volk, in dem der Friedenswille Frankreichs unterstrichen und erklärt wurde, die Mobilmachung sei »das beste Mittel, den Frieden in Ehren zu sichern«, und bedeute noch nicht den Krieg. Man befahl den Truppen noch einmal, zehn Kilometer hinter der Grenze zu verharren. Man beauftragte den Botschafter in London, die Engländer über den Sinn der Mobilmachung zu beruhigen, und dachte bei alledem mit steigender Bitterkeit an dieses Inselvolk, an Grey, der den ringenden Paul Cambon mit Orakelsprüchen hinhielt und das, was er mit der einen Hand gegeben hatte, mit der andern wieder nahm.

 

Nachmittags, um halb sechs Uhr, kam Herr von Schoen wieder zu Viviani, diesmal nur, um ihm mitzuteilen, die deutsche Regierung bewillige eine Verlängerung der Antwortfrist um zwei Stunden, also bis um drei Uhr. Der Besuch war gutgemeint, aber überflüssig, das Berliner Telegramm war verspätet eingetroffen, drei Uhr war längst vorbei. Und seit anderthalb Stunden war die Mobilmachungsorder angeschlagen, die Camelots schrien die Extrablätter aus, dichte Menschenmassen wanderten in tiefer Erregung ziellos herum. Wie in den andern am Glück des Krieges beteiligten Städten Europas, äusserten Züge von Manifestanten mit Hochrufen und patriotischen Gesängen ihre unermüdliche Begeisterung. In dem Aufruf der Regierung las man: »Die Mobilmachung ist nicht der Krieg.« Niemand glaubte das, keinen täuschten die letzten, unaufrichtigen Trostworte am Bett der Agonie.

414 Am Abend erbat der englische Botschafter, Sir Francis Bertin, eine Audienz beim Präsidenten der Republik. Aber statt der erwarteten Ankündigung, dass England am Kriege teilnehmen werde, brachte er nur die Abschrift eines langen Telegrammes mit, in dem der König Georg den Zaren Nikolaus beschwor, die Türen zu Verhandlungen nicht zu schliessen und »keine Möglichkeit zur Verhinderung des furchtbaren Unheils ungenützt zu lassen, das jetzt die ganze Welt bedroht«. Das waren sehr schöne Worte des aufrichtig friedfertigen, den Krieg verabscheuenden Königs, aber ein britischer Soldat, zur Hilfe über den Kanal geschickt, hätte mehr praktischen Wert gehabt. Poincaré warf sich, wie er erzählt, mit angstbeschwertem Herzen auf sein Bett – seine Nächte waren wirklich seit einiger Zeit so ruhelos, und nur auf weniger angenehme Weise, wie die des Sultans Scheherban in »Tausendundeiner Nacht«. Auch diesmal wurde er bald gestört. Um halb zwölf Uhr liess sich Iswolski anmelden und dringlich um eine Unterredung bitten, und Poincaré musste, um ihn zu empfangen, wieder heraus aus den Kissen und hinunter in sein Arbeitskabinett. Iswolski meldete, »mit düsterer Miene und verstörtem Gesicht«, Deutschland habe Russland den Krieg erklärt. »In einer so tragischen Stunde habe ich geglaubt, Herr Präsident, mich an das Oberhaupt des alliierten Staates mit der Frage wenden zu sollen: Was wird Frankreich tun?« Seine Stimme zitterte vor Erregung, berichtet Poincaré. Sehr wahrscheinlich, denn Iswolski gehörte im Grunde zu den Leuten, die den Teufel herbeirufen und erschrocken sind, wenn er vor ihnen steht. Poincaré sagte, die Entscheidung liege bei der Regierung, so wolle es die Verfassung, und rief sofort die Minister zusammen. Sie eilten herbei, Iswolski wartete, während sie berieten, in einem andern Salon, und nach einer Weile kam Viviani zu ihm mit der Erklärung, dass Frankreich seine Bündnispflichten erfüllen werde, und dass man es nur für ratsam halte, von einer sofortigen Bekanntmachung dieses Beschlusses abzusehen. Man wünschte, natürlich wieder mit Rücksicht auf England, die Dinge noch einige Tage lang in der Schwebe zu lassen und hinzuziehen. Vor der misslichen Notwendigkeit, mit der Veröffentlichung der Entscheidung voranzugehen, wurde man durch die Ungeschicklichkeit des Herrn von Bethmann und seiner Mitarbeiter bewahrt, die den eigentümlichen Ehrgeiz hatten, als erste ihre Kriegserklärungen hinauszusenden und, gegen den Widerstand des Herrn von Tirpitz und den Rat anderer, den Ritter zu spielen, der den Handschuh wirft.

Der Sonntag, der auf diese Nacht folgte, glich auch in Paris keinem andern Sonntag, genau wie in Berlin. Die Mobilmachung war im Gange, in den Kasernen wurden die Wehrpflichtigen eingekleidet, die plötzlich in Krieger verwandelten Familienväter und jungen Männer marschierten, auch hier begleitet von Frauen und Kindern, zu den Bahnhöfen, vor dem vergitterten Tor der Gare du Nord mussten die Angehörigen Abschied nehmen, Musik und Tränen, entschlossene Haltung 415 und unterdrückte Herzensangst, mehr oder minder erkünstelter Jubel, fröhlicher Leichtsinn, tapfere Worte und verkrampfte Mienen, ganz wie anderswo, überall dasselbe Bild. Auch über der unvergleichlichen Stadt lag strahlend, jede ihrer Schönheiten umleuchtend, der Sonnenschein. Auch durch die Champs Elysées, über die Place de la Concorde, über die Seinebrücken, durch alle Avenuen rasten die Offiziersautos, auch die Lieblingsplätze der Sonntagsausflügler im Bois, in Meudon, in Bougival, in Saint Cloud waren verödet, auch hier schien bereits der Schweiss aufgewühlter Menschheit, heranziehender Kampfleidenschaft in der silbrigen Luft spürbar zu sein.

Während Paris, an Sensationsschauspiele gewöhnt, von einer Sensation ohne Beispiel ergriffen war, hielten die Minister in der Unnahbarkeit des Beratungszimmers eine Sitzung nach der andern ab. Eine nicht unerwartete, aber sehr erfreuliche Nachricht wurde ihnen gebracht. Der Botschafter in Rom, Barrère, meldete, Italien habe seine Neutralität erklärt. Was Rumänien betraf, hatte man schon längst die Gewissheit in der Tasche, auch von dem alten König Carol, dem Hohenzollern, befürchtete man nichts mehr. England? . . . Ungeduldig wurden in jedem Ministerrat die Depeschen aus London geprüft. Aber es war immer die gleiche langsame Melodie.

Der 3. August. Nach sechs Uhr abends rief der amerikanische Botschafter Myron T. Herrick telephonisch Viviani an. Schoen hatte ihm mitgeteilt, die Vereinigten Staaten hätten den Schutz der deutschen Interessen in Frankreich übernommen. Viviani hörte, er hat es erzählt, das Schluchzen des Amerikaners, der mit seinem Herzen ganz bei Frankreich war. Einige Minuten später wurde Herr von Schoen gemeldet, den Viviani in Anwesenheit des Herrn de Margerie empfing. Es bestand kein Zweifel daran, dass er diesmal als Ueberbringer der Kriegserklärung kam. Auf der kurzen Fahrt von der Botschaft zum Quai d'Orsay, noch in der Rue de Lille, waren zwei Männer auf das Trittbrett seines Autos gesprungen, hatten sich mit wütenden Beschimpfungen an ihn herangedrängt. Er hatte die Polizisten, die an der Strassenecke standen, angerufen, und drei andere Männer, die sich höflich als Geheimpolizisten legitimierten, hatten sich als Schutzgarde zu ihm in den Wagen gesetzt. Dieses Erlebnis, dessen beleidigenden Charakter er scharf betonte, berichtete er zunächst, und Viviani sprach sein Bedauern aus. Dann nahm der Botschafter die Kriegserklärung aus der Tasche und las sie vor. Es war ein Brief an den Ministerpräsidenten, von Herrn von Schoen nach der um zwei Uhr in Berlin aufgegebenen Anweisung des Reichskanzlers verfasst. Das Telegramm des Herrn von Bethmann-Hollweg war verstümmelt eingetroffen, besonders der erste Teil war nicht zu entziffern, offenbar wurden darin französische Grenzverletzungen konstatiert. Es stand da ein krauses Zeug, wie zum Beispiel: »Dagegen haben trotz körperlich 10 Ihnen Zone Franzose aneinander schon Elena bei alt mü Ansehen erol und Hypothek Gebirg Strasse Uebereinkunft 416 iu ge sen ante Howard ultramontan und angesichts noch auf relativ Gebiet.« Dann folgte der klare Satz: »Gestern warf französischer Flieger Bombe auf Bahn bei Karlsruhe und Nürnberg.« Dahinter: »Frankreich hat Krieg sonach Saragossa Kriegszustand versetzt.« Der Schluss, der dem Botschafter befahl, seine Pässe zu fordern und abzureisen, war völlig klar. Herr von Schoen und seine Beamten hatten sogar die Rätsel merkwürdig hellseherisch gelöst, manche Hieroglyphen entziffert und aus alledem ein Schreiben, das Verletzungen der belgischen Neutralität durch französische Militärflieger und die Fliegerbomben bei Karlsruhe und Nürnberg feststellte, zustande gebracht. Viviani hörte schweigend zu, dann erklärte er, die Fliegerangriffe hätten nicht stattgefunden, und nicht Frankreich, sondern Deutschland habe die Grenze verletzt. Er war sehr kühl, Herr von Schoen, wie er gern zugibt – und das Geständnis gereicht ihm keineswegs zur Unehre – eher bewegt.

 

Hinterher erfuhr Herr von Schoen, dass die französischen Fliegerangriffe, mit denen er auf Geheiss des Kanzlers die Kriegserklärung begründet hatte, nichts gewesen waren als »Erzeugnisse hocherregter Phantasien«. Er war entsetzt und empört darüber, dass man ihn irregeführt und genötigt hatte, in solchem Augenblick diese Erfindungen als Kriegsursache vorzubringen. Grenzüberschreitungen französischer Truppenteile, die am unlesbaren Anfang der Bethmannschen Anweisung auch erwähnt wurden, seien – die Anschuldigungen auf beiden Seiten stehen einander gegenüber und Schoen gibt auch die »auf unserer Seite vorgekommenen Unbesonnenheiten einzelner Heissporne« zu – ohne Zweifel geschehen. Unerfindlich sei, wie man den falschen Meldungen über die Fliegerbomben »bei unsern leitenden Stellen das Gewicht von Tatsachen, und zwar von so bedeutungsvollen Tatsachen« zumessen konnte, dass man das für geeignet zur Begründung einer Kriegserklärung hielt. Es sei eine »höchst beklagenswerte Verirrung« gewesen, dass er »in die Zwangslage gebracht wurde, die Kriegserklärung an Frankreich mit Angaben über Luftangriffe zu begründen, deren Haltlosigkeit von französischer Seite gleich zu erkennen war« . . . »Mögen militärische Gründe es noch so sehr erwünscht haben scheinen lassen, den Augenblick zu nutzen und die Franzosen mit der Eröffnung der Feindseligkeiten zu belasten«, so hätte doch der folgenschwere Schritt eine sorgfältige Prüfung der Unterlagen verlangt. Die verantwortlichen deutschen Stellen hätten den Gegnern Deutschlands »ein überaus wirksames Mittel zu ihrer Hasspropaganda und zur Anklage eines ruchlosen Ueberfalles« in die Hände gespielt. Es sei die peinlichste Erinnerung aus seinem dienstlichen Leben, dass sein Name mit diesem schweren Irrtum, der den Anschein der Unwahrhaftigkeit erwecke, verknüpft worden ist. In der Tat, die Gegner nützten den Vorstoss gegen die Wahrheit vortrefflich aus, aber auch in Deutschland wurde der Fehlgriff bald erkannt und später, jetzt konnte man sich diese Aufrichtigkeit nicht leisten, 417 durch Zeugenaussagen von Privatpersonen öffentlich festgestellt. Diejenigen, die, wie in das übrige, unüberlegt in die Unwahrheit hineingeschliddert waren, nahmen die Aufdeckung ihrer Fahrlässigkeit schweigend hin. Eine Möglichkeit, den Fleck aus dem historischen Dokument wegzuradieren, gab es nicht.

 

Die ziemlich ruhige Stimmung, in der bis zum Tage der Mobilmachung Paris den Ereignissen zugesehen hatte, war vor allem dadurch zu erklären, dass den allermeisten der Krieg als etwas Unglaubhaftes, Undenkbares, gewissermassen Unwirkliches erschien. So oft hatten die Nationalisten geschrien, der Wolf breche in die Herde ein, dass die Pariser den Ruf nicht mehr ganz ernst nehmen wollten, als die Gefahr dicht vor ihnen stand. Der deutsche Bankier Boeker, der in Paris Teilhaber des angesehenen Bankhauses Alfred Gans war und nicht lange nachher in Berlin gestorben ist, ein blonder Germane, sehr beliebt, mit grossen gesellschaftlichen Beziehungen, obgleich nicht naturalisiert wie sein Associé, hat mir erzählt: niemand glaubte noch in den letzten Tagen an einen Krieg, am Morgen des Tages, der die deutsche Mobilmachung brachte, meinte auch Schoen, das Gewitter werde schliesslich doch vorüberziehen. Herr von Schoen habe es für überflüssig gehalten, dass Boeker Paris verlassen wollte, ihm aber am Abend doch telephoniert, dass die Abreise ratsam geworden sei. Im Kriegsministerium habe dann Boeker durch Vermittlung seiner Freunde einen permis de séjour erhalten können, aber man habe ihm erklärt, das sei doch unnötig, es werde nicht zum Kriege kommen. Als in Berlin der Kriegsgefahrzustand proklamiert worden war, habe man ihn überall gefragt: »Was ist das, der Kriegsgefahrzustand . . . das ist nicht der Krieg?« und er habe die Frager beruhigt, nein, Kriegsgefahr und Krieg sei noch lange nicht dasselbe, dazwischen liege noch manche Möglichkeit. Herr von Schoen hat in seinen Aufzeichnungen geschildert, wie schwer es für ihn war, die in Frankreich lebenden Deutschen zu warnen, zu rechtzeitiger Heimreise zu veranlassen und ihnen fortzuhelfen, ohne bei den Franzosen die Meinung aufkommen zu lassen, er halte den Krieg für unvermeidlich und Deutschland treibe absichtlich auf die Katastrophe hin. Man konnte auch Bedenken hegen, Menschen, die sich in Frankreich ein geschäftliches Unternehmen aufgebaut oder sonstwie guten Erwerb geschaffen hatten, aus einer arbeitsam errungenen Existenz herauszureissen, solange noch irgendeine Hoffnung auf Erhaltung des Friedens blieb. In Paris wohnten ungefähr 80,000 Deutsche, in ganz Frankreich 150,000, die nur vorübergehend anwesenden Besucher nicht mitgezählt. Viele konnten rechtzeitig flüchten, andere, optimistisch und leichtsinnig, zögerten zu lange, standen am Abend des 2. August vor gesperrten Bahnhofstüren und wurden zunächst als Gefangene behandelt, den Schmähungen der Aufgeregten preisgegeben und unter eine überstrenge Bewachung gestellt. Als die deutsche Kriegserklärung übergeben worden war, 418 raste der Hass aus allen Winkeln hervor. Deutsche Läden wurden erstürmt, als wären sie Bastillen des Imperialismus, und auch in schweizerischen Milchgeschäften, die in der Hitze des Kampfes und in geographischer Unkenntnis für teutonische Giftbuden gehalten wurden, zerbrachen die Gefässe der Volksernährung unter den Schlägen der entfesselten Wut. Wie in den Tagen der grossen Revolution wurden durch den Schrei »wir sind überfallen« mit den anständigen nationalen Leidenschaften die brutalen Instinkte aufgeweckt. Der Rachestrahl traf das unschuldigste Objekt.

Nach der Ueberreichung der Kriegserklärung, am Abend des 3. August, verliess Herr von Schoen mit dem Personal der Botschaft Paris. Wie schon gesagt wurde: der Botschafter Oesterreich-Ungarns, Graf Széczen, wollte sich von der Stätte seiner diplomatischen und mondänen Wirksamkeit nicht trennen. Er gehörte zu jenen scharmanten Mitgliedern der österreichischen Hofdiplomatie, deren Eleganz ebenso unbestreitbar wie ihr Mangel an politischem Geist war – Puppen aus einem habsburgischen Panoptikum. An diesem 3. August bat er in einem herzlichen Brief Herrn Récouly, im »Figaro« die Nachricht zu dementieren, die österreichischen Truppen hätten bei der Beschiessung von Belgrad angefangen. Die serbischen Gewehre, erklärte er, hätten zuerst geknallt. Er fuhr gemütsruhig fort, in seinem vornehmen Klub, dem Cercle de l'Union, zu dinieren, bis man dort deutlich wurde und den Wunsch aussprach, ihn nicht wiederzusehen. »Er betrachtete«, meint Récouly, »den Krieg mit den Augen eines Zeitgenossen, eines Höflings der Maria Theresia«, aber gewiss nicht allen Höflingen dieser vorangegangenen Epoche hat in Fragen des Taktes der regulierende Esprit gefehlt.

 

Die Truppen marschierten, die Geschütze rollten der Grenze entgegen, die Waggons waren vollgepfropft, aber es war nicht wie in dem Zuge, der in Zolas »Débâcle« zum Kriegsschauplatz ratterte, mit betrunkenen, aufsässigen, mutlosen, auf die Offiziere schimpfenden Soldaten, mit Spottreden auf »Badinguet«, den Kaiser, mit wüster Zügellosigkeit. Die Armee der französischen Republik war eine andere als die von 1870, die Disziplin war gut, die Verteidigung des Heimatbodens wurde als eine gerechte Sache der Nation empfunden, Sorge und Trauer mussten in die Herzen zurückgepresst werden, jede Regung dreister Insubordination war unmöglich gemacht. Während die Väter und Söhne, Bürger und Bauern, alle, die den Krieg nicht gewollt, ihn gefürchtet und verabscheut hatten, so zu den Schlachtfeldern gebracht wurden, sassen in dem russischen Botschaftspalais in Paris am Frühstückstisch zwei Hauptakteure der Tragödie, Iswolski und Delcassé. Regelmässig in diesen Tagen dejeunierten sie zusammen in dem Salon, der zu ebener Erde an der Vorderfront des Gebäudes liegt. Immer wurden ihnen während des Frühstücks von den Botschaftssekretären die eingetroffenen Depeschen hereingebracht. Jedesmal fragten sie: »Ist etwas aus England 419 da?« Sollten sie vergeblich auf England gezählt haben, wie Macbeth auf den Thron von Fife? Sie mussten lange warten, aber dann wurde ihr Hoffen Wirklichkeit.

Die Telegramme des Botschafters Paul Cambon geben eine Vorstellung davon, wie dieser alte Diplomat um die englische Seele rang. Er hatte seit vielen Jahren jede Gelegenheit ausgenützt, immer wieder, scheinbar ganz harmlos, einen neuen Knoten geknüpft, die Charaktere seiner Umgebung studiert und seine Worte ihnen angepasst, mit Geschmeidigkeit, bestrickender Wärme und starken Energietönen diese schwerflüssige englische Mentalität in Bewegung zu bringen versucht, und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Der Weg, auf den in diesem Sommer 1914 Paul Cambon zurückblicken konnte, war, wie eine Triumphstrasse römischer Kaiser mit Ehrensäulen, mit einer langen Reihe ungewöhnlicher Erfolge geschmückt. Aber was waren all diese Erfolge, all diese gewonnenen diplomatischen Spielpartien gewesen, wenn die geduldig geschlungenen Fäden rissen, England beim Ausbruch des ungeheuren Brandes Frankreich im Stiche liess, die grosse, entscheidende Spielpartie verloren ging?

Am 29. Juli befahl Churchill, Erster Lord der Admiralität, der Flotte, sich kriegsbereit zu halten, und am 30. konnte Cambon ein anderes günstiges Symptom melden, die irische Debatte war abgebrochen und vertagt worden, die Regierung schien den Ernst der Situation zu begreifen, aber sie verpflichtete sich zu nichts und fasste keinen Entschluss. Am Abend dieses 31. erhielt Cambon eine noch inhaltsreichere Mitteilung – und man kann sich denken, mit welcher Freude –: Grey hatte zu Lichnowsky gesagt, England würde in einem allgemeinen Konflikt nicht neutral bleiben können und gleichfalls in ihn verstrickt werden, wenn er sich auf Frankreich erstrecke, aber die Freude war abermals kurz, denn gleich hinterher kam die Nachricht, die Majorität im Kabinett wolle noch nicht vom Parlament die Ermächtigung zur Intervention verlangen. Cambon versuchte, Nicolson dieselbe Erklärung, die Grey dem Fürsten Lichnowsky gegeben hatte, abzuringen. Aber Nicolson, der so gern mehr gegeben hätte, musste antworten, es sei nur eine Warnung gewesen, die den Deutschen ihre Illusion nehmen sollte, und darin liege für Frankreich noch keine Garantie. Am 2. August erklärte Grey dem Botschafter, die englische Flotte werde die französische Küste gegen einen deutschen Angriff schützen – logische Folge des Abkommens, durch das die französischen Kriegsschiffe die Wache im Mittelmeer übernommen hatten –, aber die Mehrheit im Kabinett sei gegen eine militärische Beteiligung auf dem Kontinent. »Die Begegnungen mit Cambon waren für uns beide qualvoll, für ihn müssen sie es jedoch noch mehr gewesen sein als für mich«, schrieb Sir Edward Grey.

Grey hat in seinem Buch sehr ausführlich geschildert, warum er Paul Cambon so lange hinhalten musste, und seinen eigenen »qualvollen« 420 Seelenzustand analysiert. Es ist ein Beitrag zur Bekenntnisliteratur, eine interessante psychologische Untersuchung, am eigenen Leibe demonstriert. Grey sagt, eine entsetzliche Gefahr habe er vor sich gesehen: Frankreich und Russland könnten im Vertrauen auf die englische Unterstützung einen Krieg mit Deutschland auf sich nehmen, die Unterstützung könnte aber ausbleiben, und die Verlassenen könnten dann glauben und sagen, England habe sie in einen für sie verhängnisvollen Krieg gelockt. Darum habe er jedes Wort darauf berechnen müssen, dieser Gefahr vorzubeugen: »Es war mir klar, dass man Frankreich und Russland keine Bürgschaft geben und keine Hoffnung erwecken durfte, deren Erfüllung durch England zweifelhaft sei« . . . »Die Gefahr von der Möglichkeit einer Blutschuld schwebte mir vor.« Er war, wie hier schon gezeigt wurde, ganz beherrscht von der Furcht vor jenem üblen, seit langem die britische Ehre befleckenden Worte, und von dem Wunsche, dieses Wort aus dem Vokabularium der Völker und der Geschichte auszutilgen – das Wort »perfides Albion«.

 

Als die Konferenz, die er vorgeschlagen hatte, von Berlin aus vereitelt wurde, war er »erbittert und deprimiert«. Nicht nur durch die Ablehnung, sondern vielleicht mehr noch durch die unglückliche formalistische und verdachterweckende Begründung, die er aus Berlin erhielt. Er glaubte nicht, dass Bethmann und Jagow den Krieg wünschten, und war nur erbittert über ihre »Sorglosigkeit und passive Obstruktion«. Er hatte die Empfindung, neben ihnen regierten in Deutschland noch andere Mächte, die Mächte des Militarismus, und wenn man mit Herrn von Bethmann spreche, an den allein man sich doch wenden konnte, so spreche man »nicht mit der Hauptperson«. Der amerikanische Oberst House, der vor kurzem in London gewesen war, hatte aus Berlin schlechte Eindrücke mitgebracht. Mussten der bisher friedlich gesinnte Kaiser und das Auswärtige Amt nicht Unnachgiebigkeit zeigen, weil die Popularität des einen, das Ansehen des andern auf dem Spiele stand? Dann kam, am 30. Juli, das Telegramm des Botschafters Goschen über die Unterredung, in der Herr von Bethmann-Hollweg England als Preis für seine Neutralität ein »Angebot« gemacht hatte: Zurückgabe Belgiens nach etwaiger Besetzung, keine Annexion französischen Territoriums, aber freie Hand gegenüber dem französischen Kolonialbesitz. Grey las die Depesche mit einem »Gefühl der Verzweiflung«, er glaubte, daraus zu entnehmen, dass der deutsche Reichskanzler den Krieg für unvermeidlich halte, und er sah in dem Angebot einen »Bestechungsversuch« – dieses von ihm gebrauchte Wort passte nicht zum Inhalt des zweifellos ungeschickten und aussichtslosen Vorschlages –, eine unmoralische und beleidigende Zumutung, eine Kränkung für das britische Ehrgefühl.

 

Viele Franzosen behaupteten, eine rechtzeitige Erklärung Greys, dass England treu vereint mit Frankreich und Russland auf die Schlachtfelder gehen werde, hätte Deutschland abgeschreckt und den Frieden 421 gerettet, und viele Deutsche sagten, Grey hätte durch eine Ankündigung der englischen Neutralität Frankreich und Russland zurückhalten und den Krieg verhindern können. Aber man muss zugeben, dass Grey sich wirklich in einem fatalen Dilemma befand. Konnte er erklären, dass England unter allen Umständen, und was auch kam, neutral bleiben werde, und welche Folgen hätte ein solches Wort gehabt? Zunächst diejenige Folge, die er so sehr befürchtete: die Welt hätte wieder gehöhnt, das falsche Albion verlasse seine Ententegenossen in der Stunde der Gefahr – und wäre nicht sogar über das würdige Antlitz des Herrn von Bethmann ein triumphierendes Lächeln, das Lächeln des bessern Menschen, gehuscht? Und wenn dann doch, trotz der englischen Neutralitätserklärung, der Krieg auf dem Kontinent ausgebrochen wäre, was keineswegs unmöglich erschien? Russland und Frankreich mobilisierten ja schon, waren ja bereits entschlossen, den Krieg auf sich zu nehmen, als Grey noch jede klare, entscheidende Aeusserung vermied. Aber vielleicht – vielleicht – hätte Russland nicht so schnell mobilgemacht, wenn rechtzeitig, schon in einem frühern Stadium der Krise, Grey gesagt hätte, in gar keinem Falle werde auf England zu rechnen sein? Dann hätte sehr wahrscheinlich Oesterreich geglaubt, auf ein von England im Stich gelassenes Russland noch weniger Rücksicht nehmen zu brauchen, es hätte auch seine nur unwillig unterdrückten Wünsche nach einer Zerstückelung Serbiens verwirklichen wollen, und die Russen hätten, vor der Welt unerträglich gedemütigt, doch intervenieren müssen, auf jedes Risiko hin. In diesem Kriege wären Russland und Frankreich geschlagen worden, das ist kaum zweifelhaft. Wäre nicht sofort nach den ersten französischen Niederlagen, ganz abgesehen von der Erstürmung der belgischen Festungen, in England leidenschaftliche Teilnahme für die Unterlegenen, Hass gegen den deutschen Sieger, Furcht vor der Zukunft und Zorn über das Neutralitätsversprechen erwacht? Vor allem Furcht vor der Zukunft – die deutsche Hegemonie in Europa wäre nach der Niederwerfung Frankreichs und Russlands unzerstörbar aufgerichtet, der britische Einfluss völlig ausgeschaltet gewesen, ein neues Römerreich war Beherrscher und Schiedsrichter der Welt, Karthago war verurteilt, sich zu unterwerfen oder unterzugehen. Und wenn das britische Volk im Schrecken über die ersten deutschen Siege seine eigene Lage erkannt hätte, dann hätte die Volksstimmung sich, das ist kaum zweifelhaft, sehr schnell gegen den Minister und seine Neutralitätspolitik gewendet, und auch der Citykaufmann, der zum Pazifisten geworden war, weil er seinen Handel, seinen Wohlstand durch den Krieg bedroht sah, hätte im Traum und im Wachen den Untergang der britischen Herrlichkeit vor sich gesehen und die von ihm selbst geforderte Friedenspolitik verdammt.

 

Grey konnte aber auch den Franzosen und den Russen nicht so schnell, wie er es selber gewünscht hätte, das Treuegelöbnis senden: wir kommen 422 mit. Er hatte nichts getan, um ihre nationalen Leidenschaften abzukühlen – wenn er ihnen jetzt, öffentlich und feierlich, von der ersten Stunde an, die englische Waffenhilfe zugesichert hätte, dann wären sie zu Verhandlungen kaum noch bereit gewesen, dann hätten sich die Chancen einer Verständigung noch mehr vermindert und dann hätte man ihm vorwerfen können und müssen, er habe durch ein so unvorsichtiges Versprechen den Kriegsgeist von allen Fesseln und Hemmungen befreit und den Krieg geradezu provoziert. Aber vor allem sein Freundschaftsgefühl zwang ihn, wie er selber gesteht, Paul Cambon mit delphischen Sprüchen hinzuhalten, denn wirklich, er konnte den Schwur nicht leisten, vielleicht würden das Kabinet und das Parlament gegen ihn entscheiden, und dann hätte er durch sein voreiliges Wort diejenigen, die sich auf ihn verlassen hatten, in die Falle gelockt. Allerdings, in den ersten Augusttagen, nach der deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich, brauchte er diese Bedenken nicht mehr zu haben, das Delikt der Verführung konnte ihm nicht mehr vorgeworfen werden, aber auch jetzt musste er noch zögern, denn rund um ihn herum dauerten der Zwist, das Ziehen und Zerren, das Aufeinanderprallen der Meinungen fort. Dieser lange Kampf um die Entscheidung war sehr peinlich für Grey. Aber gerade in diesem Zusammenstoss der Ideen, in dieser Austragung der Gegensätze bewährte sich die gute englische Tradition. England war das einzige Land, in dem es im Juli und Anfang August 1914 eine wirkliche Diskussion über die ungeheure Frage »Krieg oder Frieden« gab. Das englische Parlament war das einzige Parlament, das über das Schicksal der Nation bestimmen konnte – und auch die von Cambon und Grey früher geknüpften diplomatischen und militärischen Fäden hätten gegenüber einem Schlag des Unterhauses doch nicht mehr Festigkeit als ein Spinngewebe gehabt. Seit ein englisches Parlament existierte, hatten jedesmal, wenn die Kriegsfrage an die Nation herantrat, die öffentlichen, heftigen und rücksichtslosen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Opposition stattgefunden, und das Volk hatte an der erregten Debatte teilgenommen. So hatte der alte Pitt dagestanden, so hatte die Kriegspartei den zürnenden Walpole besiegt, so hatte der jüngere Pitt sich gegen diejenigen gewehrt, die nach dem Ausbruch der grossen Revolution in Frankreich intervenieren wollten, so hatte Disraeli mit Witz, scharfsinnigen Argumenten und geistreichem Humor erst gegen die Beteiligung am Krimkrieg und später gegen die Nicht-Interventionisten gekämpft. Aus diesen Diskussionen in einem dem Parlament verantwortlichen Kabinett und aus diesem Mitreden der Volksvertretung mochten nachteilige Hemmungen, mochten Fehler entstehen. Aber das Land wurde unterrichtet, über Leben und Tod wurde nicht nur von ein paar Mittelmässigkeiten in muffiger Verborgenheit entschieden, ein grosses Volk wurde nicht im dunklen Wald der geheimen Politik überrascht.

423 Wenn man die zwei Weltanschauungen und zwei Welten, die im Kabinett um Krieg und Frieden stritten, vor Augen haben will, muss man die Erzählung Churchills lesen und die Aufzeichnungen, die Lord Morley hinterlassen hat. Dann treten diese zwei Geistesregionen, verkörpert in zwei Persönlichkeiten, wundervoll lebendig vor den Betrachter hin. Winston Churchill, Erster Lord der Admiralität, Nachkomme der Herzöge von Marlborough, überquellender Tatenmensch, fröhliches, mutiges Kampftier, unruhiger und unabhängiger, nie in eine enge Gemeinschaft sich vorbehaltlos einfügender Draufgänger, witziger Ironiker, nicht ohne gutmütige Schonung für die Schwächern, dickhäutiger Verächter der Massen und der Massenstimmung, Abenteurer, dem man immer jungenhafte Streiche zutrauen mochte, Aristokrat mit der saftigen Behäbigkeit John Bulls, Politiker von Fall zu Fall, ohne doktrinäre Enge, aber auch ohne grosse Ideen. Und auf der andern Seite der feingeistige Morley, Lordpresident of the Council, bester Typ des liberalen Ideologen, nicht aus altem Adelsgeschlecht, aber Aristokrat durch Kultur, Bildung und Charakter, ein gelehrter Humanist, dessen Denken untrennbar war vom Begriff der Humanität.

Churchill war glücklich, als die Nachricht vom österreichischen Ultimatum kam. Kaum hatte Grey sie, am Ende einer Kabinettssitzung, vorgelesen, als der Erste Lord der Admiralität, in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, schon die Massregeln zur Kriegsvorbereitung überdachte und aufnotierte und Pläne für die Seestrategie entwarf. Die Flotte hatte gerade die Periode der Probemobilmachung beendet, er befahl, dass sie vereinigt bliebe, und hielt die Reservisten zurück. Am 27. Juli ordnete er an, dass alle Marinebefehlshaber sich zur Ueberwachung feindlicher Kriegsschiffe bereit halten sollten, und an den folgenden beiden Tagen liess er eine lange Reihe von Anweisungen los, über die Minensucher, das Chinageschwader, die Sicherung der Magazine, die Rückberufung der Urlauber, die Flieger, die Beschleunigung der Reparaturen, die deutschen Hafenspione, die längst der britischen Admiralität bekannt und absichtlich nicht gestört worden waren – nur ihre Briefe wurden regelmässig geöffnet – und die nun einem traurigen Schicksal entgegengingen. Er war feurig, rastlos tätig, man sieht, wie seine robuste Persönlichkeit gleich einer Blume unter der warmen Sonne sich ausbreitete, und dazwischen grub er vergnügt mit seinen Kindern auf dem Strand kleine Kanäle und dinierte mit dem nach London geschickten Albert Ballin. Zu Ballin sagte er, Deutschland müsse nicht zu sehr auf die englische Neutralität vertrauen. Die wichtigste Massnahme, die er am 28. Juli, ohne das unzuverlässige Kabinett zu befragen und nur mit Zustimmung Asquiths, beschloss, war die heimliche Entsendung der in Portland weilenden Flotte nach Norden, nach der Kriegsstation von Scapa Flow. »Irgendwo in der ungeheuren Wasserwüste im Norden unseres Inselreiches konnte sie bald hier, bald dort kreuzen«, schrieb er, begeistert über die gelungene, vom Nebel gedeckte Fahrt. »Die Schiffe Seiner Majestät waren 424 in See.« Aber um noch Grösseres zu tun, brauchte er leider die Einwilligung seiner Kollegen in der Regierung und da begann die Schwierigkeit. Es galt nun vor allem, diesen schwachen Seelen, die dem Flug des Adlers nicht zu folgen vermochten, klarzumachen, dass aus der englisch-französischen Marineabmachung von 1912, die der französischen Flotte das Mittelmeer und der britischen den Schutz der Nord- und Westküste Frankreichs, die Wache im Kanal, zuerteilt hatte, eine »Ehrenverpflichtung« – wie später Lloyd George sagte – entstanden sei. Natürlich lag eine solche Ehrenverpflichtung, wenn auch keine bestimmt formulierte, vor. Aber es brauchte nicht sofort zu Feindseligkeiten zwischen den Flotten Deutschlands und Englands zu kommen. In der Voraussetzung, dass England neutral bleibe, versprach die deutsche Regierung, von einem Angriff auf die französischen Küsten abzusehen. Churchill hatte dieses Zugeständnis geahnt und befürchtet – ein Zugeständnis, das so lange gültig bleiben werde, »bis die ersten Schlachten an Land ohne uns geschlagen wären« – und darum richtete er, wie er sagt, vom ersten Augenblick an sein Augenmerk auf Belgien, setzte er all seine Hoffnungen auf den deutschen Einbruch, den er für sicher hielt. Wenn die Deutschen – aber die Götter, die den Sinn der Trojaner verwirrten, würden das gewiss nicht zulassen – doch noch auf den Einmarsch in Belgien verzichteten, war die Sache vorläufig hoffnungslos. Denn noch war die Mehrheit im Kabinett und im Parlament gegen die Intervention.

 

Churchill erzählt, die Friedensliebe des Kabinetts sei »überwältigend« gewesen und drei Viertel der Mitglieder hätten die Teilnahme Englands am Kriege abgelehnt. Morley erwähnt eine Berechnung, wonach es im Kabinett acht oder neun Kriegsgegner gegeben hat. Auch Lloyd George habe sich dazu gezählt, aber Morley traute seinem schwankenden Charakter nicht. Sogar zahlreiche Unionisten im Unterhause teilten nicht die Ansicht ihres Führers Bonar Law, der täglich Grey aufsuchte, immer auf die Stärkung des ministeriellen Rückgrates bedacht. Freilich, die Kriegspartei war nicht weniger aktiv. Sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung – und der General Wilson noch mehr die Hölle als den Himmel –, um an ihr Ziel zu gelangen. Nach dem Ultimatum Deutschlands an Russland erreichte die Folterung Paul Cambons ihren Höhepunkt. Nach Schluss einer Kabinettssitzung liess Grey ihn rufen und sagte ihm: »Frankreich muss in diesem Augenblick selbst seine Entschlüsse fassen, ohne auf unsere Unterstützung zu rechnen, die wir ihm jetzt nicht versprechen können.« Der Botschafter erwiderte, dass er sich weigere, diese Erklärung an seine Regierung weiterzugeben, und taumelte dann, wie Harold Nicolson erzählt, blass und wortlos in das Zimmer Arthur Nicolsons, wo er in einen Sessel sank. »Sie werden uns im Stich lassen« – mehr brachte er nicht hervor. Nicolson begab sich zu Grey, der auf und ab ging, sich nervös auf die Unterlippe biss und eine verzweifelte Gebärde machte, als sein Mitarbeiter ihn fragte, ob 425 England sich wirklich weigere, Frankreich in dieser höchsten Not beizustehen. »Sie bedecken«, sagte Nicolson heftig, »vor allen Völkern unsern Namen mit Schmach.« Dann verliess er seinen Minister und stieg wütend die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinab. Paul Cambon, wieder fähig zur Ueberlegung, erklärte dem zurückkehrenden Freund, Frankreich habe im Vertrauen auf Englands Hilfe seine Küsten entblösst, und er werde nun genötigt sein, das Abkommen von 1912 hervorzuziehen. Nicolson riet ihm von dieser Veröffentlichung ab und ersuchte Grey brieflich, dem Kabinett die Abmachung in Erinnerung zu bringen. Grey antwortete, er werde das am nächsten Tage tun. Nach diesen Auftritten sagte Paul Cambon zu dem Auslandsredakteur der »Times«, der ihn fragte, was er mache: »Ich warte darauf, zu erfahren, ob das Wort Ehre aus dem englischen Wörterbuch gestrichen werden muss.« Grey hatte auch diesmal dem Botschafter nur die fürchterliche ausweichende Antwort geben können. Eben hatte er in der Kabinettssitzung, aus der er kam, eine sehr kräftige Rede des Arbeitsministers John Burns gegen Englands maritime Abmachungen mit Frankreich mit angehört. Die Gefahr, dass das Kabinett auseinandergesprengt werde, näherte sich immer mehr. Dann würden die Anhänger der Nichteinmischung das Terrain behaupten, Grey und die andern Interventionisten würden abtreten müssen, Frankreich würde rettungslos der zermalmenden Niederlage entgegengehen. Immerhin ermächtigte am Sonntag, dem 2. August, das Kabinett Grey zu der Erklärung an Paul Cambon, »sobald die deutsche Flotte in den Kanal oder durch die Nordsee komme, um feindliche Handlungen gegen die französische Küste oder Schiffahrt zu unternehmen, werde die britische Flotte ihr« – der französischen Küste oder Schiffahrt – »jeden Schutz angedeihen lassen, der in ihren Kräften steht.« Man verklausulierte das Zugeständnis noch ein wenig durch den Zusatz, eine »bindende Aktion« sei nicht beabsichtigt, »bevor nicht der eben genannte Fall eines Vorgehens der deutschen Flotte eintritt«, und vor dem Parlament machte man noch eine Verbeugung, indem man die Formel wiederholte, ohne seine Zustimmung werde nichts geschehen. Die stilistischen Vorbehalte und Einschränkungen waren gekünstelt und änderten an der wirklichen Sachlage nichts. Man konnte doch kaum mit Sicherheit wissen, ob ein im Kanal oder in der Nordsee auftauchendes Schiff der deutschen Marine die Absicht habe, »feindliche Handlungen zu unternehmen« – vermutlich würde doch die Flotte der Churchill und Fisher, um solchen Handlungen vorzubeugen, möglichst frühzeitig mit der Beschiessung beginnen? Aber die Kabinettsmitglieder waren, mit Ausnahme von John Burns, für den Antrag Greys, und auch Lord Morley war diesmal der Meinung, dass es unmöglich wäre, die Ehrenpflichten gegenüber Frankreich nicht zu erfüllen. John Burns, der ehemalige Maschinenarbeiter, war durch nichts zu bekehren und teilte seinen Rücktritt mit. Den Nachmittag über sass Lord Morley grübelnd in seinem Club. Am Abend, nach einer neuen 426 Kabinettssitzung, verkündete auch er dem Premierminister seinen Rücktrittsentschluss. Asquith bat ihn: »Ueberschlafen Sie es sich!« Lord Morley überschlief es sich und schickte am nächsten Morgen, am Morgen des 3. August, dem Premier seinen Abschiedsbrief.

Seinen Aufzeichnungen zufolge hatte in den Kabinettsberatungen die Frage der belgischen Neutralität bis dahin nicht die Hauptrolle gespielt, Asquith und Grey hatten sie immer erst an zweiter Stelle erwähnt. Nachdem die deutschen Truppen Luxemburg besetzt hatten und das Berliner Auswärtige Amt sich geweigert hatte, dem Botschafter Goschen eine eindeutige Erklärung über Belgien zu geben, wurde die belgische Sache die grosse entscheidende Karte der Kriegspartei. Churchill, Wilson und die andern hatten von Anfang an darauf gerechnet, mit ihr im Endspiel die Friedensfreunde schlagen zu können. Grey hatte gleichfalls, schweigsam fädelnd, in ihr das Mittel zur Ueberwindung der Opposition und zur Gewinnung der öffentlichen Meinung gesehen. An diesem 3. August, an dem Lord Morley sein Rücktrittsgesuch entwarf, unterrichtete, um drei Uhr nachmittags, Grey das Unterhaus in einer grossen Rede über die Situation. Vorher hatte er noch den Fürsten Lichnowsky empfangen, der ihn angefleht hatte, aus einem ja möglichen Durchmarsch der Deutschen durch Belgien keinen Kriegsgrund zu machen, und Bonar Law hatte ihm mitgeteilt, die Konservative Partei sei jetzt einstimmig für die militärische Intervention. Grey begann im Unterhaus mit einer Erörterung der Frage, ob England durch frühere Verhandlungen gebunden sei. Er gab eine lange historische Darstellung des Verhältnisses zwischen England und Frankreich und verlas seinen Briefwechsel mit Paul Cambon. Aus alledem zog er den Schluss, eine andere Verpflichtung als die zu diplomatischem Beistand bestehe für England nicht. »Jeder einzelne mag sein Herz und sein Empfinden befragen, wie weit diese Freundschaft eine Verpflichtung mit sich bringt.« Diese Freundschaft habe Frankreich ein Gefühl der Sicherheit gegeben, es habe seine Küsten ungeschützt gelassen und seine Flotte im Mittelmeer konzentriert. Die deutsche Regierung habe versichert, dass ihre Flotte, wenn sich England zur Neutralität entschliesse, die Nordküste Frankreichs nicht angreifen werde, aber »es ist ein viel zu eng umschriebenes Versprechen für uns«. Und »ein Umstand, der von Stunde zu Stunde schwerwiegender wird«, sei die Frage der belgischen Neutralität. Die britische Regierung habe der französischen und der deutschen die Frage vorgelegt, ob sie die Neutralität Belgiens respektieren wollten, und während aus Paris eine bejahende Antwort gekommen sei, habe der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in Berlin eine Aeusserung abgelehnt. Soeben habe der König der Belgier in einem letzten Appell den König Georg um seinen Schutz ersucht. »Ich bitte das Haus, vom Gesichtspunkt britischer Interessen aus zu beurteilen, was da auf dem Spiele steht« – denn selbst, wenn die Integrität Belgiens gewahrt bleiben sollte, seine Unabhängigkeit wäre dahin. »Man könnte 427 vielleicht sagen, wir sollten beiseitestehen, unsere Kräfte sparen und erst am Ende des Krieges, was immer auch sein Verlauf brächte, wirkungsvoll eingreifen, um die Dinge in Ordnung zu bringen und nach unserem Ermessen richtigzustellen.« Aber »glauben Sie nicht, dass eine Grossmacht am Ende dieses Krieges noch imstande sein wird, ihre Uebermacht geltend zu machen, ob sie nun am Kriege teilnimmt oder nicht . . . Wir haben auch zu bedenken, dass Belgien uns die Erklärung einer unbedingten Neutralität unmöglich macht . . . Wenn wir den Standpunkt einnähmen, dass wir unter keiner Bedingung etwas mit der Sache zu tun haben wollen, dass uns die aus dem belgischen Vertrag entspringenden Pflichten, dass uns die Möglichkeit einer für die englischen Interessen schädlichen Gestaltung der Mittelmeerlage, dass uns ein durch das Ausbleiben unserer Hilfe verschuldetes Schicksal Frankreichs, dass uns alles das nichts anginge und wir beiseite ständen, dann würden wir die Achtung, die wir geniessen, unsern guten Namen und unser Ansehen vor aller Welt opfern und doch nicht den ernstesten und schwersten wirtschaftlichen Nachteilen entgehen . . .« Nachdem Grey seine Rede beendet hatte und noch einige Parteiführer, Bonar Law und Redmond für den Krieg und Ramsey MacDonald dagegen, gesprochen hatten, wurde dem Aussenminister die Mitteilung überbracht, dass die deutsche Regierung ein Ultimatum an Belgien gerichtet und Belgien geantwortet habe, es würde einem deutschen Angriff mit allen Mitteln Widerstand leisten, denn die Annahme der Forderung wäre gleichbedeutend mit dem Ehrverluste einer Nation. Grey las die Nachricht, mit der kurzen Bemerkung, die Regierung werde sie »zum Gegenstand ernsthaftester Erwägungen machen«, dem Unterhause vor.

 

Es bedurfte dieser letzten stimulierenden Tatsache nicht mehr. Schon die Rede Greys, halb improvisiert und beim Lunch hastig hingeworfen, hatte das Parlament gewonnen und auch fast alle bisher schwankenden Liberalen bekehrt. Als Grey das Haus verliess, trat Churchill an ihn heran. »Was«, fragte er, »wird nun weiter geschehen?« – »Jetzt«, erwiderte Grey, »werden wir ihnen ein Ultimatum schicken und sie auffordern, den Einmarsch in Belgien innerhalb vierundzwanzig Stunden einzustellen.« Draussen wurden die Minister von der harrenden Volksmenge mit stürmischen Beifallsrufen begrüsst. Immer dasselbe – in London die gleichen Ovationen wie in Wien, in Berlin und in Paris. Der beglückte Churchill eilte zum Gebäude der Admiralität. Alle britischen Schiffe wurden benachrichtigt, um Mitternacht werde das Kriegstelegramm abgesandt werden und die Feindseligkeiten gegen Deutschland könnten dann beginnen. Fiebernd vor Aufregung, sass der kleine, von Krankheit gebeugte Arthur Nicolson in seinem Arbeitszimmer im Foreign Office und wartete das Ergebnis der Unterhausdebatte ab. Er fürchtete noch, dass die Kriegsgegner die Mehrheit behalten könnten, und sagte das zu dem Publizisten Wickham Steed, der 428 bei ihm war. Da trat ein Sekretär ins Zimmer: »Sie haben ihm zugejubelt, Sir!« Mit einem »Gott sei Dank« atmete Arthur Nicolson auf. Folgendes erzählt Harold, sein Sohn: Sir Arthur ging zu Grey hinauf, der in das Foreign Office zurückgekehrt war, und gratulierte ihm, aber Grey »gab keine Antwort, lehnte in trüber Stimmung am Fenster, trat dann in die Mitte des Zimmers und hob die geballten Fäuste über den Kopf. Dann schlug er dröhnend mit ihnen auf den Tisch. Ich hasse den Krieg, stöhnte er, ich hasse den Krieg.«

Unter der Wirkung des Erfolges, den Grey und die Kriegspartei im Unterhause davongetragen hatten, gaben mit Ausnahme von Burns und Morley die letzten Friedensminister den Widerstand auf. Vor der Parlamentssitzung hatte im Kabinett Asquith noch mitgeteilt, vier Mitglieder der Regierung, nämlich auch Simon und Beauchamp, hätten am Morgen ihre Aemter in seine Hände zurückgelegt. Simon hatte »kurz, aber mit grosser Bewegung, bebenden Lippen und Tränen in den Augen« sehr fest seine Rücktrittsgründe auseinandergesetzt. Lloyd George, mit schon verändertem Ton, hatte den Ausscheidenden Vorwürfe gemacht, und Grey hatte mit unterdrückter Erregung erklärt, es mache ihn unglücklich, sich von so guten Freunden zu trennen. Am Abend kam John Burns zu Morley mit der Neuigkeit, es sei Asquith gelungen, Simon und Beauchamp umzustimmen. Um Mitternacht schrieb Asquith an Morley einen schmerzvollen Brief, Morley antwortete: »Ihr Brief erschüttert mich furchtbar«, aber er änderte seinen Willen nicht.

 

Es ist hier nicht verschwiegen worden, dass vom Standpunkt des realpolitischen Rechners aus die Motive, die Grey und Asquith zum kriegerischen Entschluss bewogen, verständlich sind. Die von Grey begangenen Fehler sind unverkennbar, er hatte tatsächlich für England die halb geleugnete, halb zugegebene »Ehrverpflichtung« schaffen lassen, die Nation war, wenn das Parlament nicht in der letzten Stunde energisch den Schein zerriss, zum Eintreten für Frankreich – vorläufig zur See – gezwungen und hatte das Nessushemd auf dem Leib. Greys Verhalten gegenüber der russischen Mobilmachung war ziemlich lau und lahm. Aber die britischen Regierungen hatten ja so oft erklärt, dass sie in einem Kriege Frankreich beistehen würden, und wenn man alles ausschaltet, was in Grey an Abneigung gegen den deutschen Militarismus und an Vorliebe für Frankreich mitsprach – es konnte gefährlich scheinen, den französischen Ententegenossen zerschmettern zu lassen, und die Theorie vom Gleichgewicht auf dem Kontinent hatte infolge der deutschen Flottenbauten für das Inselreich eine sehr praktische Bedeutung erlangt. Doch gibt es für den, der die Verwüstungen, die Millionen von Toten nicht vergessen hat, noch etwas, was gleichfalls schwer wiegt, ohne dass es zu den staatspolitischen Gedanken gehört. Die Menschheitsidee des Lord Morley und des zähen John Burns. In dem kleinen Band, den Morleys Neffe herausgab, findet man auch zwei 429 Briefe, die während des Krieges Lord Morley an seinen Freund, den ehemaligen Arbeiter Burns, gerichtet hat. Jeder Brief ist nach einem Besuch John Burns' bei der Familie Morley geschrieben, und man sieht die beiden philosophisch ruhigen Idealisten, die über die »hässliche Vision dieses abscheulichen Krieges« sprechen, und das Herz des Lesers wird, wie sein Verstand auch entscheiden möge, von einer freundlichen Wärme erfüllt.

 

Der deutsche Einmarsch in Belgien gab Grey, Asquith, Churchill, den Generalen und den kriegsbereiten Parteiführern die Möglichkeit, die Zaudernden im Kabinett, das Parlament, die widerstrebende City und das an seinem friedlichen Dasein hängende Volk mitzureissen – aber die Sorge vor der Zerstörung des »Gleichgewichtes«, vor der Ausschaltung eines niedergeworfenen, ausgebluteten Frankreich und vor den Bedrohungen einer deutschen Hegemonie war der einzige wahre Grund. Grey, der in seiner Unterhausrede besonders mit Belgien operierte, gibt es ohne Zögern zu. Am 4. August, um zwei Uhr nachmittags, ging nach Berlin das Telegramm ab, in dem Goschen beauftragt wurde, der deutschen Regierung das britische Ultimatum zuzustellen. Wenn die deutsche Regierung nicht bis um zwölf Uhr nachts eine befriedigende Antwort gebe, »sind Sie angewiesen, Ihre Pässe zu fordern und zu erklären, dass Seiner Majestät Regierung sich verpflichtet fühlt, alle in ihrer Macht stehenden Schritte zur Aufrechterhaltung der Neutralität Belgiens und zur Innehaltung eines Vertrages zu tun, an den Deutschland ebensosehr gebunden ist wie wir selbst«. Sir Edward Goschen glaubte nach der Rede des Reichskanzlers im Reichstag nicht mehr bis Mitternacht warten zu brauchen und trug schon um sieben Uhr die Kriegserklärung in das Auswärtige Amt. In London wollte man korrekt sein und das Signal erst geben, wenn die Uhr elf schlug – zwölf nach deutscher Zeit. Churchill ging sturmbewegt im Beratungszimmer der Admiralität auf und ab. Begleitet vom Ersten Seelord, traten französische Admirale ein, sie waren zur Besprechung mit den Engländern herübergekommen. Man sprach von Malta, aus dem die französische Flotte gern einen Stützpunkt machen wollte, und Churchill sagte mit der Geste unbegrenzter Freigebigkeit: »Verfügen Sie über Malta, als wäre es Toulon!« Elf Uhr, England war, eigentlich schon seit fünf Stunden, im Kriege mit Deutschland, und auch dieses Volk, das solange sein Inselleben gelebt hatte, trat den Gang zur Schlachtbank an.

 

Der Umschwung in der englischen Volksstimmung war nach dem deutschen Einmarsch in Belgien und nach der Beschiessung und Einnahme von Lüttich – 7. August – so vollständig, dass er selbst die Erwartungen der Kriegsfreunde beinahe übertraf. Eigentlich war es nicht die Redekunst Greys gewesen, die das schwankende Korps der liberalen Minister und Parlamentarier bekehrt hatte, sondern die schnell aufeinanderfolgenden Nachrichten vom kontinentalen Kriegsschauplatz hatten die 430 Stellung der Opposition erschüttert, ihr den Boden unter den Füssen weggezogen, sie ins unaufhaltsame Mitgleiten hineingerissen, und ganz ebenso, und nur noch weit heftiger, wirkten nun die Meldungen von Sturmangriffen, vom gewaltsamen Vordringen in ein dem Kriege widerstrebendes Land, von Zerstörungen und deutschem Siegesjubel auch auf die bisher friedlichsten Kreise des Publikums. Die Kriegspsychose war in England nicht weniger verwüstend als anderswo. Die Harmsworth-Presse sorgte dafür mit all ihren Schauermären, mit der genialen Taktik, der vor nichts zurückschreckenden, unaufhörlich aufpeitschenden Propaganda und den unerschöpflichen Mitteln ihres napoleonisch machtwilligen, rücksichtslosen und ruhelosen Besitzers, den eine dankbare Staatsleitung zum Lord Northcliffe erhob. Hatte die City nicht eben noch gegen die Beteiligung am Kriege protestiert? Hatten der Stock Exchange und der Handel nicht der Regierung sagen lassen, man müsse neutral bleiben, und es wäre unsinnig, für Frankreich in den Krieg zu ziehen? Jetzt herrschten auch in der City Kriegsbegeisterung, Liebe für Frankreich, Wut auf Deutschland und Missachtung für jeden, dessen Akzent verriet, dass er von deutscher Abstammung war. Die vor langer Zeit aus Deutschland eingewanderten Bankiers, die gemeint hatten, schon echte Engländer zu sein, mussten ihre Loyalität hundertfach beweisen, oder wurden aus den Börsenräumen verbannt. Das deutsche Vermögen wurde für beschlagnahmt erklärt. Denjenigen, die noch an eine gewisse Ritterlichkeit im Kriege geglaubt hatten, schien es unfassbar, dass der Privatbesitz allgemein als bequem zu ergreifende Beute behandelt wurde, und wie mancher von uns erschrocken war, als deutsche Kriegsteilnehmer in Bürgerwohnungen eroberte Gegenstände nach Hause schafften, so sahen wir mit Empörung, dass in den zivilisierten Ländern der Raub am privaten Eigentum sich in den sogenannten gesetzlichen Formen vollzog. »Wir wollen«, sagt Shakespeares Britenkönig Heinrich V., »alle solchen Verbrechen ausgerottet wissen, und wir erteilen ausdrücklich Befehl, dass auf unsern Märschen durch das Land nichts von den Dörfern erzwungen werde, nichts genommen, ohne zu bezahlen . . . denn wenn Milde und Grausamkeit um ein Königreich spielen, wird der gelindeste Spieler am ersten gewinnen.« Jetzt hatte auch in England eine andere Auffassung vom Eigentumsrecht sich durchgesetzt – man nahm, sogar fern vom Kriegsschauplatz, und bezahlte nicht.

 

Besonders deutlich lässt sich die Wirkung der Kriegspsychose in England am Fall eines hervorragenden Mannes erkennen. An dem Schicksal, das dem Lord Haldane widerfuhr. Haldane hatte seit seinen politischen Anfängen gemeinsam mit Grey der Gruppe der imperialistischen Liberalen angehört. Für Morley und die liberalen Pazifisten, in denen er Vertreter einer veralteten doktrinären Schule und unpraktische Querköpfe sah, hatte er niemals eine besondere Sympathie gehabt. Er kam, als er sich der aktiven Politik zuwandte, aus der juristischen Karriere, 431 übernahm das Kriegsamt, das keinen andern zu locken schien, und dieser Zivilist wurde der Reformator der englischen Armee. Seine Verdienste sind unbestritten, am 19. November 1918 schrieb ihm der Feldmarschall Earl Haig, der Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte: »Damals haben Sie die Grundlage für das ungeheure Kriegsinstrument geschaffen, das die berühmte deutsche Armee geschlagen und einen siegreichen Frieden erzwungen hat.« Er war eng befreundet mit Grey, der oft bei ihm wohnte, wenn er von seinem Landsitz nach London kam, und auch gerade in den Tagen vor dem Ausbruch des Krieges in diesem gleichen Quartier lebte, und obgleich er absolut kein Deutschenfeind war, stimmte er mit Grey in der Ansicht, dass England am Kriege teilnehmen müsse, bedingungslos überein. Denn »wenn wir uns hinaushielten, und den Deutschen gestatteten, sich selbst nur zeitweilig an der Nordseeküste Frankreichs festzusetzen, so würden wir der nächste Gegner sein«.

Aber den englischen Chauvinisten galt er als ein verdächtiger und unsicherer Zeitgenosse, denn er hatte seine Vorliebe für die deutsche Philosophie und die deutsche Literatur nie verborgen, hatte in Göttingen studiert und Schopenhauer übersetzt. Er selbst schreibt, er habe eine grosse Bewunderung für das systematische Denken der Deutschen empfunden, freilich auch die Schwächen der deutschen Veranlagung erkannt. Kurz und gut, Haldane, der jetzt Lord-Grosskanzler war, wurde, als der Krieg ausbrach, misstrauisch angeblickt. Die Harmsworth-Presse führte die Kampagne gegen ihn und entfaltete einen leidenschaftlichen Kampfeifer, um ihn zur Strecke zu bringen. Was hatte er im Februar 1912, als er mit Wilhelm II. und Bethmann verhandelte, in Berlin gemacht? War er nicht in seiner Liebe für die hinterlistigen Deutschen über seine Vollmachten hinausgegangen? Schliesslich fand man, nicht ohne bezahlte Helfer, eine wundervolle Spur. Albert Ballin hatte am 1. August, nach seiner Rückkehr von London, aus Hamburg einen Brief an Haldane geschickt. Es war ein ziemlich harmloser Brief, Ballin fragte, ob England wirklich am Kriege teilnehmen wolle, und nahm den Kaiser und Herrn von Bethmann-Hollweg gegen die Anschuldigung, dass sie einen Präventivkrieg gewollt hätten, in Schutz. Da Ballin auch Grey erwähnt hatte, wollte Haldane sich nicht durch eine Veröffentlichung des Briefes rechtfertigen, und so konnte man der leichtgläubigen Menge einreden, er habe mit den Deutschen gegen Frankreich und England konspiriert. Ausserdem war er ein unehelicher Bruder Wilhelms II., er war in die deutschen Kriegspläne eingeweiht und hatte sie dem Kabinett verheimlicht, er hatte die Mobilmachung zu sabotieren versucht. Seine treuen Freunde in der Regierung, Asquith und Grey, wollten die phantastischen Beschuldigungen nicht öffentlich zurückweisen – vermutlich forderte die Rücksicht auf die Kriegsstimmung eine so staatsmännische Zurückhaltung. Ein Artikel der Harmsworth-Blätter hatte den Erfolg, dass an einem einzigen Tage im Oberhaus 432 zweitausendsechshundert Briefe einliefen, deren Absender in allen Tonarten erklärten, der Verräter müsse aus der Gemeinschaft der anständigen Menschen verjagt werden, und hinaus aus Kabinett und Parlament. Nachdem Haldane diese patriotischen Episteln und auch viele anonyme Zuschriften der gleichen Art verbrannt hatte und auf der Strasse geschmäht und bedroht worden war, sehnte er sich nach Ruhe, und der Premierminister und die andern Kollegen erleichterten ihm die Rücktrittsformalität. Wirklich, man kann nicht behaupten, dass damals England von der geistigen Epidemie und der Verseuchung der Moral verschont geblieben sei. Dort, wie überall, hatte – um ein Wort aus Voltaires »Pucelle« zu zitieren – die Dummheit mehr Kinder, als Kybele, die fruchtbare Göttin, erzeugt.

 

In diesen ersten Augusttagen wurden drei Kriegserklärungen überreicht. Deutschland liess in Petersburg und in Paris den Krieg ankündigen, England trat in den Krieg gegen Deutschland ein. Jede dieser drei Kriegserklärungen enthielt Irrtümer, Entgleisungen, war fehlerhaft formuliert. Graf Pourtalès übergab in Petersburg ein Dokument mit zwei Textvarianten, die man aus Versehen beide hatte stehen lassen – auch diejenige, die sich auf eine gar nicht erfolgte ablehnende Antwort bezog. Herr von Schoen musste in Paris den militärischen Entschluss mit Fliegerangriffen begründen, die nicht stattgefunden hatten, wie sich sehr bald ergab. Das Foreign Office schickte dem Fürsten Lichnowsky eine Note, die hinterher, um Mitternacht, zurückgeholt werden musste, weil sie mit der vorbereiteten, aber gänzlich unzutreffenden Wendung, »da das Deutsche Reich Grossbritannien den Krieg erklärt hat«, begann. Sogar in den sonst so sorgfältig arbeitenden Büros funktionierte die Gehirntätigkeit nicht mehr. Es schien, als habe der Wind des Wahnsinns selbst dieses Wunder der Zuverlässigkeit, die grosse Maschine der Amtsbürokratie, zerstört. 433

 


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