Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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Vorwort

Zwanzig Jahre
sind seit dem Ausbruch des Krieges vergangen

 

Alle Völker können sagen, dass sie diesen Krieg nicht gewollt haben, und von den Staatsmännern hat, welcher Art ihre Rolle auch gewesen ist, keiner die ungeheure Häufung der Opfer vorhergesehen. Fünfzehn Millionen Menschenleben vernichtet, auf den Schlachtfeldern oder hinter den kämpfenden Heeren, und dazu die unheilbaren Siechen und Verletzten, nein, so weit hat vor zwanzig Jahren auch die robusteste Vorstellungskraft nicht gereicht. Und keine Statistik spricht von dem getöteten Geist.

Das Buch »Der Krieg des Pontius Pilatus«, das diese Zeit vor zwanzig Jahren schildern soll – und dabei vielleicht nicht nur, wie man zu sagen pflegt, offene Türen einrennt, sondern auch einige verschlossene öffnet – entstand, bevor in Deutschland der nationalsozialistische Eroberer alle Funktionen der Staatsgewalt an sich riss. Die Sieger beherrschten nun auch die Druckmaschinen, die nicht immer zum Heil der Menschheit gearbeitet, aber gerade durch die Vielartigkeit ihrer Produktion das geistige Leben davor behütet hatten, in Leblosigkeit zu erstarren oder wie ein Strom zu versickern, der durch keine Nebenflüsse bereichert wird. Diejenigen, die immer gemeint hatten, einige in den überwundenen Aufklärungsperioden geprägte Grundsätze und besonders auch gewisse ungeschriebene Gesetze und Rechte seien jeder Kultur so unentbehrlich wie das Herz dem menschlichen Organismus, stehen dem neuen Staat mit Gedanken und Gefühlen gegenüber, die so selbstverständlich sind, dass es der wortreichen Erklärungen und Erläuterungen nicht erst bedarf. Auch wenn wir nicht eine Kraft des Handelns verkennen, die sich so sehr von der müden Unentschlossenheit der Vorgänger unterscheidet, und nicht alles nur vom Standpunkt verdrängter Minderheiten aus betrachten, gibt es für unsere Mentalität keinen Zugang zu dem Geist, der über der Schöpfung schwebt.

8 Einem Buche, das früher erschien, den Titel »Das Vorspiel« hatte und vom Deutschland der Aera Bülow handelte, habe ich ein anderes Bekenntnis vorangestellt. Es war das eine Erklärung gegen jene sogenannte Versailler Schuldthese, die Deutschland vorwarf, es habe den Krieg allein gewollt und verursacht, ihn absichtlich und planmässig herbeigeführt. Auch in der französischen Ausgabe blieb dieses Geleitwort unversehrt. Man hat erzählt, in Deutschland seien bei dem bekannten Autodafé das Buch und die Erklärung umgekommen. Ich weiss nicht, ob das zutrifft, aber auch wenn dieses Buch und nicht ein anderes meiner Bücher dem reinigenden Feuer überliefert worden sein sollte, würde mich das nicht zu einer Meinungsäusserung, zu irgendeiner Korrektur der damals bekundeten Meinung veranlassen können. Der Gedanke überlebt die vergängliche Materie, und mitunter eine Ueberzeugung das Papier, auf dem sie gedruckt worden ist. Aber manche Leute werden sagen, erst von dem richtigen Aussichtspunkte aus könne man die Einzelheiten des zurückgelegten Weges erkennen, und bei einem solchen Punkte seien wir jetzt angekommen. Also soll man sein Urteil über eine historische Vergangenheit nach den Eindrücken der Gegenwart revidieren, denn erst in dieser Beleuchtung trete Verborgenes mit scharfen Umrissen hervor. Vor kurzem haben Umformer aller Werte das zu vorteilhafte Bild Karls des Grossen übermalen wollen, das bisher ein Schmuck der Schulbücher war. Es liegt in der Tat nichts näher als das. Aber soll man Athen anders beurteilen, wenn Sparta Mode wird? Soll die Beurteilung Napoleons, Cäsars, der Gracchen, der deutschen Bauernkriege davon abhängen, ob man unter einer monarchischen Regierung lebt, oder unter der Diktatur, oder in einer Republik? Natürlich wird es von denen, die im Gegenwärtigen Aufschlüsse für das Verständnis des historisch Gewordenen suchen, so auch gar nicht gemeint. Sie denken nur an nahe beieinanderliegende Epochen, finden in der vorangegangenen die Keime der folgenden und in all diesem Geschehen den psychologischen Zusammenhang. Sicherlich bildet sich in der Natur der Völker nichts plötzlich, unterirdische Quellen müssen vorhanden sein. Eine Mutter sagt sich bisweilen, dass ihr erwachsener Sohn schon in den Tagen der Kindheit die Eigenschaften besass, die der Dreissigjährige zeigt. Wenn man aber solche Fäden spinnt, gerät man leicht in die Gefahr, in eine geschichtliche Darstellung die Stimmung der Gegenwart hineinzutragen und sich obenein in einen mystischen Nebel zu verirren, in dem nur eine neue 9 Soziologie mit ihrem geheimnisvollen Wissen und ihren seltsamen Sprachzeichen sich heimisch fühlt. Ich jedenfalls mochte das Bild nicht übermalen und wollte Menschen und Dinge so zeigen, wie sie mir damals, als sie unmittelbar vor mir standen, erschienen sind.

Wahrscheinlich wird in allen Ländern, die am Kriege beteiligt waren, dieses Buch manchen durchaus ehrlich strebenden Menschen missfallen. Ich glaube, dass das so sein muss, und eine allgemeine Zustimmung, die jeder Autor für einen Roman oder ein Theaterstück erhofft, kann nicht von dem begehrt werden, der den Ausbruch des grossen Krieges zu schildern versucht. Als ich die Fehler der deutschen Politik, in den Marokko-Affären, bei der Annexion Bosniens, bei der Ablehnung einer Verständigung mit England und bei andern Gelegenheiten, kritisierte und während des Krieges annexionistische Programme und ähnliche Erzeugnisse des überhitzten Geistes bekämpfte, galt eine solche Opposition, an der hinterher fast jeder teilgenommen haben wollte, für wenig national, und als ich für die Ablehnung des Versailler Vertrages eintrat, war ich, wie es schien, ein Nationalist. Wenn man immer jeden den Völkerzwist vertiefenden und verewigenden Nationalismus für verwerflich hält und im Wechsel der Situationen nicht die Haut zu wechseln vermag, dann wird heute die eine und morgen die andere Seite das nicht verstehen, und der Berauschte meint ja gewöhnlich, der Nüchterne wackele und verliere das Gleichgewicht.

Wohl möglich auch, dass dieses Buch nicht nur durch die Ansichten, die es wiedergibt, bald bei den einen und bald bei den andern Anstoss erregen wird – gelehrte Historiker werden vielleicht in der Lage sein, hier und da einen sachlichen Irrtum, einen falsch gesetzten Buchstaben oder Schlimmeres festzustellen. Wie schon erwähnt wurde, ist es in der Zeit vor dem Umsturz in Deutschland geschrieben worden, und wer damals dort auf dem Kampfplatz stand, erfreute sich nicht ganz jener Ruhe, die in sorgfältig geschützten Studierzimmern die Forscherarbeit angenehm umgibt. Es mag sein, dass ich auch in Grösserem geirrt habe, und ich bilde mir nicht ein, alles, was das Buch enthält, sei nun »das letzte Wort«. Irgendwo beginnt nach dem hellen Tag immer das Zwielicht, und den felsenfesten Glauben an eine alleinige und definitive historische Wahrheit haben nur noch jene, die neben ihrem eigenen Ortsheiligen keine Nachbarkonkurrenz dulden wollen. Nicht einmal darin liegt eine Bürgschaft, dass man sagen kann, man habe mit eigenen 10 Augen gesehen. Auch der schärfste, ungetrübteste und unbetrügbarste Blick dringt nicht bis ins letzte und schliesslich bleibt die Untersuchung in zahlreichen Fällen auf eine Wahrscheinlichkeitsrechnung beschränkt. Dennoch kann ich, wenn ich jetzt, zwanzig Jahre nach den Ereignissen, der schon reichen Literatur über diese Zeit noch ein Buch hinzufüge, die Berechtigung am ehesten aus der Tatsache entnehmen, dass ich, begünstigt durch vorteilhafte Umstände, manches gesehen habe, was andern verborgen war. Ich bin nicht Richter, auch nicht Anwalt, sondern ein Zeuge, der seine Aussage macht.

Vor allem möchte ich nicht den Eindruck entstehen lassen, als wollte ich dünkelhaft predigen : »Lernet, Ihr seid gewarnt!« Die neuen Generationen würden gewiss eine solche Belehrung ablehnen, denn sie wissen es besser, und mit Recht könnten sie erwidern: »Eure angebliche Weisheit hat euch nicht davor beschützt, die geprügelten Narren der deutschen Politik zu sein, und wie dürft ihr andern raten, da ihr euch selber so schlecht geraten habt?« Es ist aber auch sehr zweifelhaft, ob man in dem Studium der Geschichte die Vorbilder und Rezepte für ein späteres Handeln suchen soll. Wenn man Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, um solche Auskunft bittet, erkennt man ihre Aehnlichkeit mit jenen Priesterinnen in Delphi, durch deren Sprüche so viele Könige und Feldherren irregeführt worden sind. Gewiss gibt es Regeln allgemeiner Natur, die in jeder Epoche gültig bleiben, und gewiss kann es nur nützlich sein, sich immer wieder daran zu erinnern, wieviel Unglück sich aus ihrer Verletzung ergeben hat. Es sind zum Beispiel unsterbliche Wahrheiten, dass man das Ende vorausbedenken, dass man den rechten Augenblick nicht versäumen soll, dass manchmal das Sprichwort: »Zeit gewonnen, alles gewonnen«, richtig ist und manchmal ein »Zeit verloren, alles verloren«, noch besser passt. Es sollte auch nachgerade jeder begreifen, dass die Methoden und Gesinnungen einer Diplomatie, die ihre Aufgabe in der Ertüftelung leerer Formeln suchte oder es für die höchste Vollendung ihrer Kunst hielt, die andern mit Grazie zu täuschen und geheimnisvoll zu lächeln, nur noch auf der Filmleinwand Erfolg haben können. Und ebenso müsste auch eine pazifistische Ideologie für abgetan gelten, die edelmütig, unpraktisch und unrealistisch den Frieden durch gebrechliche und im ersten Wind zusammenbrechende Gitter schützen möchte und nicht eingestehen will, dass eine Garantie nur in der fortwährenden Wachsamkeit des klugen und energischen Schäferhundes liegt.

11 Aber derartige Erkenntnisse braucht man nicht erst aus dem Quell der historischen Ueberlieferungen zu schöpfen und das nützlichste Resultat dieser Studien ist die Wahrnehmung, dass die Welt sich ewig erneuert, die Staaten sich umbilden, die Situationen sich verschieben und ebenso ungleich diejenigen Erscheinungen des nationalen Lebens aufeinander folgen, nach denen, oft zu hurtig und aus Bequemlichkeit, das Bild einer Volksseele, einer Volksgesamtheit gedeutet wird. Die wirtschaftlichen Probleme der Zeit vor dem Kriege waren, verglichen mit den heutigen, nur das kleine Einmaleins, und die Einteilung Europas war – auf der Landkarte – einfach und gradlinig, bevor Deutschland den Tag von Versailles erlitt, die Macht des Zaren auf Lenin überging und Habsburg fiel. Der Nationalsozialismus und seine Gegner sind sich einig darüber, dass das gegenwärtige Deutsche Reich in all seinen sichtbaren Wesenszügen und auffälligen Kundgebungen grundverschieden ist von dem Reich der Demokratie und von dem der Hohenzollern, und total verschieden von dem Deutschland der Epochen, in denen eine liberale Gesellschaftsschicht eine stolze Freude darin fand, sich in dem Licht Goethes, Lessings und Humboldts zu sonnen. Und wenn auch im russischen Volke die geheimen Flüsse des slawischen Gefühles weiterströmen mögen – keines von den Mitteln, mit denen früher die politische Rechenkunst Russland gegenüber ausgerüstet war, ist heute noch anwendbar. Darum sind die Portraits berühmter Staatsmänner, die in den Ministerien der europäischen Staaten die Wände schmücken, nur noch, wie die Bilder der antiken Götter und Helden, Symbole nachahmenswerter Eigenschaften, der Klugheit und der Kraft, der Voraussicht und der Tapferkeit. Die Geschichte kann schon nach zwanzig Jahren ein Pompeji sein, das der lebendig schaffende Baumeister mit angespanntem Interesse, aber nicht mit dem Nutzen des Lernenden durchstreift.

Theodor Wolff

 


 


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