Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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V

Als die italienische Staatsleitung, die sich durch den Vertrag von Racconigi und das 1900 heimlich abgeschlossene Mittelmeerabkommen die Zustimmung Russlands und Frankreichs gesichert hatte, den Zug nach Tripolis vorbereitete, schrieb der Botschafter von Jagow nach Berlin, dass man in Rom erwarte, Italien werde sich bei diesem Unternehmen geringer Sympathie in Deutschland gegenübersehen. Wilhelm II., ganz Sankt Georg, setzte auf den Rand die energische Verheissung: »Scharfe Gegenwehr!« Aber nachdem Italien am 5. Oktober 1911 mit der Eroberung der Stadt Tripolis den Krieg begonnen hatte, zog sich der Kaiser auf das Gebiet fachmännischer Kriegskritik zurück und schrieb schon am 7. Oktober: »Man muss die Lawine hinabtoben lassen und sich mit dem Faktum als Elementarereignis abfinden«, und nahm so die Dinge als Philosoph. Nichts mehr von »scharfer Gegenwehr« und Sankt Georg. Dieser Uebergang von hitzigem Auffahren zur Selbstbeschränkung war gewiss nichts, was Tadel verdiente, denn wie hätte die scharfe Gegenwehr aussehen sollen? Die kaiserlichen Schwüre beim Barte des Propheten, mit denen einst Konstantinopel erfreut worden war, hatten nichts anderes sein können, als Dankeskomplimente eines vom guten Empfang begeisterten Gastes, niemand in Deutschland wollte der tripolitanischen Angelegenheit wegen das ganze Schlangennest aufrühren, und es war nur betrübend und unnötig, dass der Rückzug sich in wenig würdigen Formen vollzog.

Am 24. März 1912 kam Wilhelm II. nach Venedig, wo von jeher die bestrickende Liebenswürdigkeit schöner Gräfinnen und der Empfang in den Palazzi seinen Geist freundlich angeregt hatten, und am nächsten Tage traf er dort mit König Viktor Emanuel zusammen. Schon am 5. November 1911 hatte Italien durch ein Dekret die noch nicht vollzogene Eroberung von Tripolis verkündet, aber Viktor Emanuel erklärte dem Kaiser, man habe nicht die Annexion ausgesprochen, »sondern nur die Souveränität«. Nun aber müsse Italien sich, um den Krieg schnell zu beenden, durch einen entschlossenen Coup den Eingang in die Dardanellen erzwingen. Dagegen und gegen das Annexionsdekret habe aber leider Oesterreich-Ungarn protestiert. Der König bat den kaiserlichen Vetter, in Wien für die Sache Italiens zu wirken, und flocht in seine fesselnden Darlegungen geschickt einige abfällige Bemerkungen über das nervöse und brutale Frankreich ein. Wenn Oesterreich seinen Widerstand aufgebe, werde das die Erneuerung des Dreibundes in Italien »geradezu populär machen« und die gesamte Nation werde dann mit dem Herzen bei ihren Bundesgenossen sein. Wilhelm II. äusserte sich in einem Telegramm an Bethmann entzückt über die Reize Venedigs und den Verlauf der Unterredung: »Der Markusturm ist 100 fertig, es ist wieder La bella Venezia« . . . »Es wurden altitalienische Regimentslieder gesungen, auch Heil dir im Siegerkranz auf italienisch« . . . und der König erzählte, mit den alten Liedern hätten die Regimenter schon gegen die Franzosen gekämpft. Wilhelm II. war von soviel venezianischer Anmut, soviel Liedern und soviel Bundesfreundschaft bezwungen. Er meldete das Versprechen, das er dem König gab, nach Berlin mit den kurzen Worten: »Ich sagte zu.« Bald darauf wies Herr von Kiderlen-Wächter den deutschen Botschafter in Wien, Herrn von Tschirschky, an, den österreichisch-ungarischen Aussenminister, den Grafen Berchtold, auf den richtigen, den italienischen Weg zu bringen. Das Telegramm des Herrn von Kiderlen empfiehlt einige Argumente, die man nur mit Verwunderung liest. »Nach der ganzen derzeitigen Lage am Balkan dürfte auch ein Schlag gegen die Dardanellen einen Krieg kaum entfesseln«, erklärte der Staatssekretär, der bei der Betrachtung der Lage auf dem Balkan keinerlei Besorgnisse empfand. Ebenso wie Oesterreich-Ungarn »wäre Russland bereit, sein möglichstes zur Hintanhaltung einer Konflagration zu tun«. Am 15. April schrieb Kiderlen in einem Briefe an den König Carol von Rumänien: »Die eifrigen Friedensbemühungen Russlands, so sehr wir sie mit Freude begrüssen, dürften doch vielleicht auf einer Ueberschätzung des Einflusses beruhen, den der Stand des italienisch-türkischen Zwistes auf die Ruhe im Balkan hat.« Diese optimistische Ansicht äussert er in einer Stunde, wo ihm, wie gerade aus dem Schreiben an den Rumänenkönig hervorgeht, der unter Russlands Protektorat erfolgte Abschluss eines geheimen bulgarisch-serbischen Bündnisvertrages bereits bekanntgeworden war. Man hat Kiderlen-Wächter sehr oft, zur Entschuldigung anderswo begangener Irrtümer, einen Balkandiplomaten, einen Balkanspezialisten genannt. Hier irrte sich in der Beurteilung des Balkans der Balkandiplomat.

Natürlich ersuchte Kiderlen Herrn von Tschirschky auch, dem Grafen Berchtold von der Erneuerung des Dreibundes zu sprechen, an die, wenn der österreichische Widerstand andauere, nicht zu denken sei. Da Wilhelm II. und seine Diplomaten das Abschwenken Italiens vom Dreibunde so sehr fürchteten, und die klugen Italiener daraus ihren Gewinn zogen, ergibt sich die Frage, ob ihnen damals der Weg zu andern Allianzen offen stand. Im Frühling 1912 waren die Beziehungen Italiens zu Frankreich sehr getrübt. Die Verstimmung, die der – von Delcassé im Mittelmeer-Vertrag genehmigte – Tripolis-Feldzug verursacht hatte, verschärfte sich noch, als die Italiener französische Schiffe beschlagnahmten, die angeblich dazu bestimmt waren, Kriegsmaterial für die kämpfenden Türken nach Tunis zu bringen. Aber auch wenn nicht der Geist der Rivalität eine engere Verbindung zwischen den beiden Mittelmeer-Mächten zu einer problematischen Angelegenheit gemacht hätte – Frankreich und Russland sahen keinen Vorteil darin, Italien völlig vom Dreibund loszulösen und jetzt schon offen, vor aller 101 Welt, als Alliierten zu empfangen. Das ist eine Tatsache, die man, falls man sie nicht schon ahnte, klar und einwandfrei aus den Telegrammen und Briefen Iswolskis und Sasonows entnehmen kann. Am 30. Mai 1912 schrieb Sasonow an Iswolski: »Wie Eurer Hohen Exzellenz gut bekannt ist, erachten wir es nicht für vorteilhaft für uns, den formellen Austritt Italiens aus dem Dreibund anzustreben, halten es aber für sehr wünschenswert, dass bei äusserer Aufrechterhaltung des jetzigen Standes der Dinge die Beziehungen des Königreichs zu uns und Frankreich gepflegt werden.« Am 6. Juni Iswolski, nach einer Unterredung mit Poincaré an Sasonow: »Was die Frage eines formellen Austritts Italiens aus dem Dreibund betrifft, so ist Poincaré der gleichen Ansicht wie Sie, dass nämlich kein Grund vorliegt, darauf hinzustreben, da dies nur zu gefährlichen Komplikationen führen könnte. Das beste sei, an der augenblicklichen Situation festzuhalten, denn Italien sei im Dreibund das hemmende Element.« Ein Freund in der feindlichen Festung war in der Tat nützlicher als ein neuer Verbündeter, der nicht unterlassen hätte, auf Einlösung der Dankesschuld zu drängen.

Eine Bemerkung König Viktor Emanuels hatte den schon empfänglichen Geist Wilhelms II. besonders angeregt. »Der König«, telegraphierte Wilhelm aus Venedig dem Reichskanzler, »erwähnte noch, die Stimmung in Paris sei sehr nervös und gefalle ihm nicht, und schon deswegen wünsche er den Krieg schnell zu beendigen, um seine Armee bald wieder aus Afrika herausziehen zu können, mit Ausnahme der nötigen Garnisonen, und seine gesamte Heeresmacht auf europäischem Boden seiner Bündnispflicht uns gegenüber verwenden zu können.« Ersichtlich hatte der Kaiser sich keine Zeit gelassen, den Stil eines Telegramms zu feilen, das eine so wichtige Nachricht in die Heimat trug. Und Viktor Emanuel hatte »mit überraschender Offenheit« gesprochen, »seinem Herzen mal Luft« gemacht . . . Aber neun Monate später, im Dezember 1912, als der Dreibund-Vertrag erneuert wurde, stellte sich die Ueberraschung ein. Der italienische Generalstab liess nach Berlin und Wien die Mitteilung gelangen, Italien, das nach den früheren Abmachungen beim Ausbruch eines europäischen Krieges fünf Armeekorps an den Rhein schicken sollte, würde »wegen der Bindung des starken Expeditionskorps in Libyen nicht in der Lage sein, Truppen nach Deutschland zu entsenden, und sich daher darauf beschränken müssen, im Alpengebiet gegen Frankreich vorzugehen«. Kiderlen schrieb an Jagow, damit sei »der Plan, unter Anlehnung an unsern Aufmarsch mit italienischen Truppen im Rhonetal zu operieren, fallen gelassen worden«, und das könne »nur den Eindruck erhöhen, dass Italien bei eventuellem Ausbruch eines Krieges unter den Grossmächten zunächst eine abwartende Neutralität wird beobachten wollen«. Der Generalstabschef von Moltke konstatierte, nachdem ihm der Chef des italienischen Generalstabes offiziell »das Nichteintreffen der italienischen Armee« angekündigt hatte, in einer Denkschrift: »Damit fallen für 102 Deutschland fünf Armeekorps und zwei Kavallerie-Divisionen gegen Frankreich aus.« Herr von Jagow versuchte, die Italiener zu entschuldigen – er wolle, schrieb er, in der Erklärung des italienischen Generalstabes »weniger die versteckte Absicht einer abwartenden Haltung als vielmehr das offene Geständnis erblicken«, dass Italien zur Entsendung eines Armeeteiles gegen Frankreich nicht stark genug sei. Und auch die deutschen Militärs blieben im Grunde Optimisten, der Oberquartiermeister Graf von Waldersee setzte in Wien dem ungläubigen Conrad von Hötzendorff auseinander, dass »die Italiener ganz ehrlich und loyal auf seiten des Dreibundes« ständen, am 12. Mobilisierungstage mit sechzehn Divisionen Frankreich angreifen, gegen Lyon vorstossen und gleichzeitig eine Landung in Südfrankreich versuchen würden, und der Generalstabschef von Moltke – der nur einen Augenblick gezweifelt hatte und dann noch im Juli 1914 auf diesen Bundesgenossen rechnete – meldete am 30. Januar 1913 dem Auswärtigen Amte froh und zufrieden, nach seinem heutigen Vortrag sei »Seine Majestät von der loyalen Haltung Italiens nunmehr ganz überzeugt«. Selbstverständlich blieb die Mitteilung, dass bedauerlicherweise, der Bindung in Tripolis wegen, die italienischen Armeekorps für einen Krieg gegen Frankreich nicht verfügbar seien, der französischen Regierung und dem französischen Generalstab nicht vierundzwanzig Stunden lang unbekannt. Man konnte in Paris sagen : »Es ist wieder La bella Venezia

Es wurden, besonders von Petersburg aus, Vermittlungsaktionen unternommen, um den Frieden wieder herzustellen. Aber der russische Friedensengel forderte sein Trinkgeld, der Wohltäter seinen Wucherzins. Die Frage der Meerengen wurde wieder hervorgeholt. Die russischen Kriegsschiffe sollten endlich das Recht zur freien Durchfahrt bekommen. Wilhelm II. und die deutsche Regierung gaben ihre Zustimmung, aber der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Freiherr von Marschall, drohte mit dem Rücktritt und fand, ein solches Nachgeben bedeute einen Zusammenbruch zwanzig Jahre langer deutscher Arbeit, »einen politischen Zusammenbruch, wie ihn kaum jemals eine Macht ohne vorherigen unglücklichen Krieg erlitten hat«. Der Kaiser bemerkte dazu: »Er hat eben unsere Politik nie erfasst.« Dann trat das, was in solchen Fällen regelmässig zu geschehen pflegte, pünktlich ein. Herr von Bethmann-Hollweg wich zurück, erklärte, dass Deutschland sich nicht vorzeitig die Hände binden dürfe, und die eben noch so bestimmt ausgesprochene Ansicht Wilhelms II. verwandelte sich in ihr Gegenteil. »Meine durch zwanzig Jahre bewährte, durch Marschall vorzüglich vertretene Orientpolitik bleibt absolut aufrechterhalten«, schrieb er jetzt. Die Türkei sei »im Anfangsstadium der allmählichen Erstarkung« und das gönne man ihr nicht. Italiener, Russen, Engländer und Franzosen – in Wahrheit war England, gefolgt von Frankreich, immer gegen den russischen Vorstoss – hätten es auf die deutsche 103 Stellung abgesehen. Er werde diese Stellung »mit dem Schwerte verteidigen, in Gemeinsamkeit mit den Türken«, versicherte er – wie damals, bei der Verheissung »scharfer Gegenwehr«.

Glücklicherweise wurden durch den Widerspruch, den Sir Edward Grey dem russischen Verlangen entgegenstellte, Wilhelm II. und sein Reichskanzler aus der Verlegenheit befreit und der Freiherr von Marschall, dem man in Berlin ja schon nachgegeben hatte, zog sein Demissionsgesuch zurück. Es dürfte nur manchem fraglich erscheinen, ob die Ansicht, die der Botschafter vertrat und der die Majestät sich beugte, wirklich so ungeheuer staatsmännisch war. Der Freiherr von Marschall fühlte sich als Schöpfer einer Politik, und diese Politik war ihm nicht ein Mittel zum Zweck, das je nach den Umständen und dem Wechsel der Interessen und Zeiten verschiedenartig verwendet werden konnte, sondern sie war für ihn endgültig und unveränderlich. Er war wie jene Orthodoxen, die einer rituellen Vorschrift auch dann treu bleiben, wenn sie nur in andern klimatischen und kulturellen Verhältnissen einen Sinn gehabt hat und seither bedeutungslos geworden ist. Er bemerkte nicht, dass die Türkei, vor die er sich stellte, deren Privilegien er nicht antasten lassen wollte, trotz seinen Bemühungen zerbrach. Er meinte, wie der Kaiser, die Türkei sei »im Anfangsstadium der Erstarkung«, während man in London, sehr viel scharfsichtiger, den Zerfall kommen sah. Die Position, die Deutschland sich in Konstantinopel geschaffen hatte, konnte im geeigneten Augenblick ein Handelsobjekt sein. Dieser Augenblick war jetzt vielleicht da, oder man war ihm doch nahe, aber Marschall glaubte zu sehr an Ewigkeitswerte und die Göttin der Gelegenheit eilte vorbei. Die Frage an Russland musste lauten: »Welchen Preis wollt ihr zahlen, welche Friedensbürgschaft für die Zukunft wollt ihr uns geben, wenn wir euch bei eurem Streben nach der Dardanellendurchfahrt mit unserem ganzen diplomatischen Einfluss zur Seite stehen?« Aber niemand, auch Bethmann nicht, der zuerst auf dem richtigen Wege war und nur eingeschüchtert umkehrte, sprach diese Frage aus. Marschall handelte gegen die Bismarcksche Maxime: »Die internationale Politik ist ein flüssiges Element.« Die Luft des Orients, immer von einem Opium-Parfüm durchzogen und manchem verführerisch, hatte nicht ganz erfolglos den Breitschultrigen umfächelt, und wie mancher andere, zu solchem Selbstbewusstsein weniger berechtigte Botschafter, betrachtete Marschall die Dinge von der Peripherie statt vom Zentrum aus und sagte: »Da, wo ich stehe, ist die Welt.«

Während der Krieg zwischen Italien und der Türkei weiterging – er wurde erst am 18. Oktober durch den Friedensschluss von Lausanne beendet –, kamen, am 5. Juli, Wilhelm II. und der Zar in den Finnischen Schären vor Baltischport zusammen. Kokovzow, der Ministerpräsident, hatte dem Botschafter Pourtalès gesagt, nach dem Potsdamer Besuch des Zaren würde eine Gegenvisite Wilhelms angenehm sein, und in 104 Berlin hörte man das gern. Kokovzow und Sasonow begleiteten Nikolaus und Wilhelm brachte Herrn von Bethmann-Hollweg mit. Zur Teilnahme an der Fahrt nicht aufgefordert, missvergnügt, seinem Monarchen und seinem Reichskanzler jede Ungeschicklichkeit zutrauend und zu abfälliger Kritik aufgelegt, blieb Kiderlen in der Heimat zurück. Es gab in Baltischport, nach den Monarchenküssen, nur die üblichen Versicherungen, dass erfreulicherweise »die feste und dauernde Freundschaft zwischen Deutschland und Russland« weiter bestehe, die Politik beider Reiche in gleichem Masse von »friedlichen Grundrichtungen« bestimmt werde, aber wenn Wilhelm II. auf See Begegnungen hatte, war es selten völlig uninteressant. Irgend etwas Ueberraschendes veranstaltete er doch immer, um den fremden Zuhörern tiefere Eindrücke zu hinterlassen, und so hatte er sich auch für Baltischport etwas Besonderes erdacht.

Das Buch Sasonows »Les Années fatales« ist mittelmässig und subaltern. Es ist unter all den Verteidigungsschriften eine der schlechtesten, man könnte glauben, ein verunglückter, grollender kleiner Beamter musiziere auf verstimmter Flöte, aber die dürre und langweilige Darstellung gewinnt einmal ein wenig Farbe und Leben, nämlich dort, wo Herr Sasonow von seiner Unterhaltung mit Wilhelm erzählt. Der deutsche Kaiser führte nach dem Frühstück auf der Zaren-Yacht, bei dem er viel gescherzt hatte, den russischen Aussenminister abseits und sprach eine Stunde lang mit ihm. Er sprach »mit einer Aufrichtigkeit, die« – berichtet Sasonow – »auf mich einen ziemlich peinlichen Eindruck machte«, von seinem Vater Friedrich III., der ihn niemals geliebt habe, und von seiner Mutter, die als Engländerin fühlte und dachte und in jedem Augenblick ihre Verachtung für Deutschland erkennen liess. »Unsere gegenseitige Entfremdung«, klagte der deutsche Kaiser dem russischen Minister, den er zum ersten Male sah, »wuchs von Jahr zu Jahr und erst kurze Zeit vor ihrem Tode haben wir uns versöhnt.« Sasonow, plötzlich zum Beichtvater erkoren, war, wie er schreibt – und man kann ihm das nachfühlen –, über das kaiserliche Mitteilungsbedürfnis »perplex«. Endlich wandte sich Wilhelm II. von seinen trüben Jugendeindrücken und Familientragödien ab. Er erinnerte Sasonow an die Freundlichkeiten, die er Russland während des Krieges mit Japan erwiesen habe, und sagte, er habe vergeblich die europäischen Mächte vor der gelben Gefahr gewarnt. Man habe seine Warnungen für die Phantasien eines Verrückten genommen. Jetzt sei die gelbe Gefahr bedrohlicher als je zuvor. Russland, dem gelben Unheil am nächsten, müsse China militärisch organisieren und mit diesem chinesischen Wall dem vordringenden Japan den Weg verbauen. Der kaiserliche Ratgeber unterliess auch nicht, den Engländern, die sich mit Japan verbündet hatten, die gerechte Bestrafung und den Verlust Indiens zu prophezeien. Sasonow war kein Genie. Aber es war nicht schwer, den Sinn des chinesischen Geschenkes zu erraten, das Wilhelm II. 105 ihm darreichte, und hinter der kaiserlichen Freigebigkeit die Absicht zu erkennen. »Aus dieser Unterhaltung«, schreibt er, »zog ich die Lehre, dass der Kaiser Wilhelm und seine Regierung sich nicht leicht mit der Gesundung abfanden, zu der die russische Politik nach unsern unglücklichen Abenteuern im äussersten Orient, die Berlin immer ermutigt hatte, wieder gekommen war. Soweit man den Worten des Kaisers Wichtigkeit beimessen konnte, sollten sie offenbar Russland zu einer Politik zurückführen, die es zwänge, ohne wirkliche Notwendigkeit einen neuen langen und kostspieligen Krieg im äussersten Orient zu unternehmen und sich so für viele Jahre um jede Bedeutung in Europa zu bringen.« Und Sasonow erzählt weiter, er habe sofort nach seiner Rückkehr nach Petersburg dem japanischen Botschafter, dem Vicomte Motono, »die ausserordentliche Unterredung, mit der mich der Kaiser Wilhelm beehrt hatte«, mitgeteilt. Motono, der bald darauf Minister des Aeussern wurde, habe den Bericht schleunigst, man kann sich das denken, nach Tokio geschickt. Immer meinte der kaiserliche Seefahrer, Odysseus zu sein. Aber immer, wenn er eine List einfädelte, trugen die andern die Beute heim.

Sonderbar berührt es, dass Herr von Bethmann-Hollweg nach der Entrevue so, als sei ihm nun die ganze Sorgenlast abgenommen, von dem »Charakter der Offenheit und des Zutrauens« sprach. Man könnte glauben, er habe in der Feststimmung völlig ein grosses Geheimnis vergessen, das doch seit mehr als drei Monaten in einem Schrank des Auswärtigen Amtes lag. Am 13. März 1912 war, unter kräftiger Mitwirkung Russlands und unter russischem Protektorat, der gegen die Türkei gerichtete Vertrag zwischen Bulgarien und Serbien zustande gekommen. Herr B. von Siebert, Sekretär der kaiserlichen russischen Botschaft in London, Lieferant, oder wenn man es unhöflicher ausdrücken will, geheimer Agent der deutschen Diplomatie, hatte eine Abschrift des Telegramms, in dem am 17. März Sasonow den Botschafter informierte und zu einer Mitteilung an Grey ermächtigte, prompt nach Berlin expediert, und dank seiner beständigen, regelmässigen Hilfeleistung hatte man im Auswärtigen Amt auch schon vorher die russische Korrespondenz über die Bündnisverhandlungen kennengelernt und einen durchaus genügenden Ueberblick über das ganze Gewebe gewonnen. In dem Telegramm Sasonows, das gleichzeitig und in gleicher Form an Iswolski ging, hiess es: »Zwischen Serbien und Bulgarien ist mit unserem Wissen ein Bündnis abgeschlossen worden zu gegenseitiger Verteidigung und zum Schutze der gemeinsamen Interessen für den Fall der Veränderung des Status quo auf dem Balkan oder des Angriffes einer dritten Macht auf eine der vertragschliessenden Parteien.« Die Botschafter sollten bei der Ueberbringung der Mitteilung an Grey und Poincaré hinzufügen, eine besondere Geheimklausel verpflichte beide Seiten, »die Ansicht Russlands einzuholen, ehe sie zu aktiven Massnahmen schreiten«, und die russische Regierung habe somit »ein Mittel, 106 auf beide Staaten einzuwirken«, in der Hand. Am 15. April meldete Kiderlen, mit der Bitte um strengste Diskretion – sie war aus Rücksicht »auf unsere absolut sichere, aber ebenso geheim zu haltende Quelle« nötig –, König Carol von Rumänien den Vertragsabschluss, der durch »mündliche« Information dem Auswärtigen Amte bekannt geworden sei. In den amtlichen deutschen Dokumenten dagegen wird das Ereignis mit keinem Worte erwähnt, Mitteilungen und Weisungen an die deutschen Botschafter sind aus diesem Anlass offenbar nicht ergangen, kein Brief, kein Telegramm, keine Aufzeichnung, keine kaiserliche Randbemerkung spricht von dem Vertrage und dem russischen Ehestifter, und die Kopien, die Herr von Siebert fleissig geliefert hatte, schienen weniger Beachtung zu verdienen als irgendein ferner Hafenstreit. Anscheinend sprach man der neuen Tatsache nur eine geringe Bedeutung zu. Ueber allen Wipfeln war Ruh'.

Ganz anders nahm in Paris Poincaré die Kunde auf. Es lässt sich nicht leugnen, dass er weniger Vertrauen zu dem Vorgehen seines Alliierten zeigte als die Berliner Regierung, und die Gefahr, die dem Frieden drohte, schneller begriff. Es lässt sich auch, will man Licht und Schatten gerecht verteilen, nicht bestreiten, dass er, während in Berlin nichts sich regte, allerlei zur Erforschung der russischen Absichten unternahm. Als am 1. April Iswolski, »das Monokel im Auge, mit zusammengezogenen Augenbrauen und feierlicher Miene«, ihm die Nachricht von dem Vertragsabschluss überbrachte, fragte er sofort, ob nicht noch eine geheime Verpflichtung für den Fall, dass der Status quo auf dem Balkan verletzt werde, bestehe, und er ersuchte auch telegraphisch den französischen Gesandten in Belgrad und den Botschafter Louis in Petersburg, Aufklärung über diesen Punkt zu erlangen. Er betonte das Recht Frankreichs, von seinem Alliierten über Abmachungen mit andern Ländern rechtzeitig und vor der Entscheidung informiert zu werden, und hatte Bedenken über Sinn und Zweck einer so weit getriebenen Geheimniskrämerei. In diesem Bedenken wurde er bestärkt durch Herrn von Saint-Aulaire, den französischen Botschafter in Wien, der ihm telegraphierte: »Wenn die Abmachungen nur so aussähen, wie man sagt, müssten sie veröffentlicht werden, aber das Mysterium, das sie umgibt, wird ihnen den Charakter einer finstern Machination gegen das Wiener Kabinett verleihen.« Aber Louis vermochte in Petersburg nichts Näheres über den Inhalt des Vertrages zu erfahren und empfing nur wohlwollende Redensarten und die Versicherung, Russland arbeite für den Frieden und beschirme den Status quo. Poincaré konnte sich mit einiger Berechtigung sagen, dass Frankreich von seinem Alliierten schlecht behandelt werde, und ein diplomatisches Werk verdächtig finden, das man sogar den Freundesblicken so beharrlich und sorgfältig entzog. Da er und seine Kollegen im Kabinett den Eindruck hatten, dass in der Allianz etwas »fêlé« sei, und da ohnehin der Pariser Besuch Sasonows erwidert werden musste, fuhr er Anfang August auf dem 107 Kriegsschiff »Condé« nach Petersburg. Er hatte mehrere Unterredungen mit Kokovzow und Sasonow, wurde vom Zaren in Peterhof empfangen, genoss das Schauspiel einer Truppenrevue in Krasnoje Selo, erfreute sich auch sonst grosser Ehrungen und notierte, wie es seine Gewohnheit war, vor dem Einschlummern alles Erlebte in sein Tagebuch. Schliesslich – wie aus dem Buche Poincarés hervorzugehen scheint, bei der fünften Zusammenkunft – las Sasonow dem Besucher den Text des serbisch-bulgarischen Vertrages vor. Als Sasonow die Vorlesung beendet hatte, erklärte ihm Poincaré, dieser Vertrag ermutige die Serben und Bulgaren, ihren Appetit zu befriedigen, und sei in Wahrheit ein Kriegsvertrag, »une convention de guerre«. In das Tagebuch schrieb Poincaré, der Vertrag enthalte »nicht nur den Keim eines Krieges gegen die Türkei, sondern auch eines Krieges gegen Oesterreich«, und ferner richte er »die Hegemonie Russlands über die zwei slawischen Königreiche auf«. Sasonow versuchte ihn mit der Erklärung zu beruhigen, dass Russland durch sein Veto eine Mobilmachung der beiden Staaten verhindern könne und dieses Vetorecht ausüben werde, und Poincaré verzichtete, wie er selbst konstatiert, auf weitere Einwendungen: »Ich war in der Tat genötigt, mich mit dem Balkanabkommen abzufinden, da es ohne unser Wissen unterzeichnet worden war und nun einmal bestand.« In seinem Bericht an den Zaren meldete der russische Aussenminister noch: »Herr Poincaré hält es für seine Pflicht, zu betonen, dass die öffentliche Meinung Frankreichs der Regierung der Republik nicht erlauben würde, sich für reine Balkanfragen zu einer militärischen Aktion zu entschliessen, wenn Deutschland nicht teilnimmt und nicht, aus eigener Initiative, die Anwendung des Casus foederis provoziert. In diesem letztem Falle könnten wir sicherlich darauf rechnen, dass Frankreich seine Verpflichtungen uns gegenüber voll und ganz erfüllen wird.« Der für Nikolaus bestimmte Bericht Sasonows schloss mit den Zeilen: »Ich war sehr glücklich, die Bekanntschaft des Herrn Poincaré machen und mit ihm persönliche Beziehungen anknüpfen zu können, und das um so mehr, da unser Meinungsaustausch mir den Eindruck hinterlassen hat, dass in seiner Person Russland einen sichern und treuen Freund gewinnt, begabt mit einem einzigartigen politischen Sinn und unbeugsamem Willen. Für den Fall einer internationalen Krise wäre es sehr wünschenswert, dass an der Spitze des Landes wenn nicht Herr Poincaré selber, so doch wenigstens eine Persönlichkeit stände, die ebenso entschlossen und ohne Furcht vor Verantwortung wäre, wie der gegenwärtige französische Ministerpräsident es ist.« In der Tat hatte die Freundschaft Poincarés eine schwere Probe bestanden und sie schien Herrn Sasonow jetzt, wie die Zuverlässigkeit einer teuren Uhr, für lange Zeit garantiert. Poincaré wollte vergessen, dass der Alliierte hinter seinem Rücken gehandelt hatte, und er fand sich, wenn auch widerwillig, mit der russischen Politik ab, obwohl er ihren Sinn begriff und das Spiel für ungeheuer gefährlich hielt.

108 Ende August schickten aus den Balkanhauptstädten die Gesandten der europäischen Mächte immer bedrohlicher klingende Meldungen an ihre Minister, und da der Ausbruch des Brandes täglich wahrscheinlicher wurde, wollte jeder sich als tapferer Feuerwehrmann zeigen und es begann eine grosse diplomatische Geschäftigkeit. Man braucht diese Bemühungen wohl nicht mehr zu schildern, denn sie blieben bekanntlich wirkungslos. Als endlich, am 7. Oktober, die Einigung über einen gemeinsamen Schritt, der den Frieden sichern sollte, erreicht war, erklärte, am 8. Oktober, Nikita, der König von Montenegro, seinen Verbündeten die Fackel voraustragend, der Türkei den Krieg. Bulgarien und Serbien machten mobil, die Griechen entfalteten gleichfalls die Fahne, am 17. Oktober 1912 wurde der Abbruch der Beziehungen allerseits offiziell verkündet, überall begann der siegreiche Vormarsch der Balkanheere, überall wichen die türkischen Truppen zurück. Wo war, wo blieb das russische »Vetorecht«? Sasonow hatte dem gastlich empfangenen Poincaré in Petersburg gesagt, das Vetorecht sei der Hauptteil des Vertrages und werde bestimmt ausgeübt werden, aber jetzt sprach von diesem Rechte niemand mehr.

Die Serben nahmen Kumanowa, besetzten Uesküb, die Bulgaren siegten bei Lule Burgas, drangen gegen Adrianopel vor. Die Griechen machten sich zur Eroberung von Saloniki auf, jeder Tag brachte den Türken eine neue Katastrophe, den Balkanheeren einen neuen Erfolg. Europa war verblüfft, niemand hatte diesen schnellen, totalen türkischen Zusammenbruch erwartet, alle, die Regierungen und die Völker, Militärs und Zivilisten, hatten an die türkische Armee, an die Tüchtigkeit der türkischen Soldaten, an die Organisation des Marschalls von der Goltz geglaubt und die Kampfkraft der Balkanvölker unterschätzt. Weil man nicht im entferntesten mit einem so stürmischen und umwälzenden Verlauf der Dinge gerechnet hatte, war man überzeugt gewesen, man würde den Balkanstaaten selbst nach einem Siege Verzicht und Bescheidenheit gebieten können. Besonders eigentümlich war es, dass in Berlin das alles so falsch beurteilt worden war, eine so völlige Unkenntnis bestand. Die preussischen Militärattachés in Sofia und Belgrad haben vielleicht nur ebenso wie die französischen und englischen sich vor übereiltem Urteil hüten wollen, aber in Konstantinopel gab es die Schule des Marschalls von der Goltz, die intim mit dem türkischen Heerwesen vertrauten deutschen Instruktionsoffiziere, all die Erzieher und Beobachter, die doch gewiss – hätte man meinen müssen – über die Mängel, die Schwäche, die ganze innere Zermürbtheit dieser Armee Bescheid wussten und hinter die letzten Geheimnisse drangen? Trotzdem hatte Wilhelm II. eben noch gemeint, dass die Türkei Abdul Hamids in »allmählicher Erstarkung« begriffen sei. Der Freiherr von Marschall hatte sein Schiff an diesen wurmstichigen Pfahl gebunden, als wäre das ein gar nicht wegzuschwemmender Pfeiler, ein Halt für die Ewigkeit. Die Beobachter hatten also offenbar nicht gewarnt, waren, zu sehr befriedigt 109 von den Ergebnissen ihrer erzieherischen Arbeit, an der Wahrheit vorbeigegangen. Ganz ebenso hatten sie, wie man annehmen muss, vor dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges die militärische Situation verkannt, und ganz ebenso täuschten sich der Generalstabschef von Moltke, der Oberquartiermeister Graf von Waldersee und wohl auch andere über Italiens Zuverlässigkeit. Als am 1. Oktober Herr von Bethmann dem Kaiser nach Rominten telegraphierte, neue amtliche Nachrichten über Mobilmachung lägen nicht vor, bemerkte dazu Wilhelm II. randschriftlich : »Schlafen meine Vertreter alle? !! Die Kerls sollen sofort melden! Telegraphieren! . . . Zivilisten können das nicht, das ist Sache der Militärs.« Aber die Militärs hatten das Richtige so wenig gemeldet wie die andern Kerls.

»Deutschland«, berichtete Herr Jules Cambon aus Berlin, »wird sich auf die Seite des Siegers stellen.« Das tat besonders schnell Wilhelm II., aber das tat man auch in Frankreich und in England, und von dem »Status quo«, den sie alle eben noch wie ein Palladium hochgehalten, mit so viel Formeln umgittert hatten, war nicht die Rede mehr. In England vollzog sich unter dem Eindruck der Balkansiege ein ähnlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung, wie er während des Krimkrieges, während des langen Kampfes um Plewna, unter dem Eindruck des tapfern türkischen Widerstandes, dort eingetreten war. Damals war das zuerst türkenfeindliche englische Volk türkophil geworden, hatte sich wieder zu Beaconsfield zurückgefunden und dem Propheten der Geistesschlacht gegen die Ungläubigen, Gladstone, eine Katzenmusik dargebracht. Jetzt ging England, das anfangs den Türken alles Gute gewünscht hatte, in Bewunderung für die Erfolge der Balkanvölker mit seinen Sympathien zu den Bulgaren und Serben, und der französische Botschafter in London, Paul Cambon, meldete: »Die öffentliche Meinung in England spricht sich allmählich immer mehr zugunsten der Balkanstaaten aus. Die für die Engländer unerwarteten Erfolge der bulgarischen, serbischen und griechischen Armeen haben ihren Einfluss auf den Geist einer Nation ausgeübt, die immer die Kraft respektiert.« Wilhelm II. hatte nicht erst so lange gewartet, sondern schon vorher sein Wohlwollen für die Sache des Balkanbundes dem etwas peinlich berührten Auswärtigen Amte zur Kenntnis gebracht. Als der Reichskanzler ihm nach Rominten schrieb, dass ein Grund zur Beunruhigung für uns nicht vorliege, antwortete er: »Ein Krieg beunruhigt mich niemals!« – was natürlich, wie man zu seiner Entlastung bemerken muss, nur dann zutraf, wenn das Gewitter anscheinend noch weitab, über fernen Gegenden stand.

Wilhelm II. war gegen alle Vermittlungsaktionen, die den Krieg verhindern sollten, und erklärte, die Politik Bethmanns und Kiderlens missbilligend: »Ich bin gegen das Dreinreden jetzt.« Am 2. Oktober berichtete der Gesandte von Jenisch aus Rominten an Bethmann, der Kaiser gehe so weit, den Ausbruch des Krieges »durchaus als kein 110 grosses Unglück hinzustellen« . . . »Ich versuche fortgesetzt, Seiner Majestät klarzumachen, dass eine Erhaltung und Festigung des türkischen Staates in Europa durchaus in unserem Interesse liegt.« Aber dem Reichskanzler sei wohlbekannt, dass Seine Majestät seit einiger Zeit »überhaupt nichts mehr von der Türkei wissen wolle«. Am 4. Oktober 1912 verfasste Wilhelm in Rominten eigenhändig ein Memorandum, in dem er, jede Vermittlung ablehnend, äusserte: Und wofür diese Geschäftigkeit? Für die Wahrung »der recht problematischen Existenz der Türkei«! Nach der Schlacht von Kumanowa triumphierte er: »Sie« – die Türken – »haben sich als absolut unfähig erwiesen, das Land zu halten, und müssen hinaus.« Die Situation nach den Regeln des studentischen Komment betrachtend, fügte er hinzu: »Die Balkanstaaten haben ihre Burschenmensur gepaukt.« Am 4. November erliess er, indem er die Auffassung des deutschen Botschafters in Konstantinopel, des Freiherrn von Wangenheim, scharf zurückwies, folgende »Randverfügung« : »Die Sieger diktieren die Bedingungen, Eingriff, sie aufzuhalten, lehnt S. M. ab.« Und er verbot, »selbst auf die Gefahr hin, mehrere Mächte des Konzerts zu verschnupfen«, jede Beteiligung an einer Aktion, die irgendwie von seiten der vier Balkanstaaten als Absicht ausgelegt werden könnte, ihnen in den Arm zu fallen. Genau ein Jahr vorher hatte er, Marschall zustimmend, die deutsche Stellung in der Türkei, »in Gemeinsamkeit mit den Türken«, mit dem Schwerte verteidigen wollen und, wie hundertmal vorher, die freilich dann und wann stückweise preisgegebene Integrität der Türkei so kampffreudig verkündet, wie ein Held Walter Scotts sich für seine Dame verbürgt. Obgleich in der kaiserlichen Gedankenwelt nichts so dauernd war wie der Wechsel, konnte die jähe Schwenkung doch überraschen, und so wie Wilhelm II. das zur Friedensvermittlung geneigte Europa fragte, muss man f ragen: wofür?

Die Lösung des Rätsels ist nicht allzu schwer. Der Balkankrieg und die Siege der Balkanstaaten waren zwar keine Glücksereignisse für Deutschland, aber Mitglieder der Familie Hohenzollern hatten ihren Vorteil davon. In den amtlichen Akten findet man die Gründe für die plötzliche Türkenverachtung und den Befreierenthusiasmus Wilhelm II. nicht. Man würde sie ganz sicherlich finden, wenn es möglich wäre, die kaiserliche Privatkorrespondenz ans Licht zu ziehen. Im Schlosse zu Athen erhofften die Schwester Wilhelms und ihr Gatte, der König Konstantin, Kriegsbeute und Ruhm. Könige waren in Griechenland vorübergehende Erscheinungen, Umsturz war Tradition, immer drohte den Palastbewohnern die Kündigung. Jetzt war die Gelegenheit da, für etwas längere Dauer die Liebe des Volkes zu gewinnen. Dazu brauchte man Kreta, Saloniki, Kawala, und manchmal gingen die Wünsche des Ehepaars zu noch andern Herrlichkeiten hin. Natürlich wurde der grosse Bruder und Schwager in Berlin um seinen Beistand gebeten, ewige Treue wurde ihm versprochen, Protektor des neuen 111 Balkans sollte er werden, alles würde vor ihm knien, der Schlüssel zur neuen Schatzkammer wurde ihm überreicht. Wilhelm II., bestrebt, für seine Verwandten, seine Familie zu sorgen, und in der Meinung, dass diese dynastische Politik auch für Deutschland Früchte tragen werde, feierte die Balkansiege, als hätte er selber den Feldzugsplan entworfen und die Kavallerieattacken kommandiert. Ganz ebenso unterstützte er während dieser Kriegszeit alle Wünsche Rumäniens, weil der Hohenzoller Carol, gebeugter Vertreter einer sterbenden Epoche, auf dem Throne sass. In dieser allgemeinen Verwirrung, während die Gedanken und Empfindungen durcheinandergingen, leitete ihn das dynastische Verwandtschaftsgefühl, das er im deutschen Interesse nutzbar zu machen glaubte, wie die Kindesliebe der Antigone den blinden Oedipus führt. Um ihn herum und überall in der Welt sah man in der Umwälzung auf dem Balkan einen Zusammenbruch der deutschen Orientpolitik. In Frankreich, in England spottete man über die militärischen Misserfolge der preussischen Türkenlehrer, wurden die Niederlagen der türkischen Heere giftig als Niederlagen des preussischen Offizierskorps, des deutschen Kriegsmaterials, des deutschen Militärsystems bezeichnet, stieg unter solchen Eindrücken in gefährlichem Masse das Selbstbewusstsein, erschien der Koloss nicht mehr so fürchterlich. Wilhelm II. blickte nach Athen und hing bei jedem Siege des Balkanbundes alle Fahnen heraus. »Die Balkanstaaten haben ihre Burschenmensur gepaukt.«

Weniger begeistert über die gewaltigen Kriegstaten des Bundes, der – Wilhelm II. schien auch dieses Detail zu vergessen – vor dem Ausmarsch den russischen Segen empfangen hatte, war man in Wien. Dort war man durch die Schlachtberichte, die einen erheblichen Machtzuwachs Serbiens ahnen liessen, zunächst in jene Gemütsverfassung versetzt worden, die gewöhnlich als Panik bezeichnet wird. Am letzten Oktobertage trat dann der unermüdlich formulierende Poincaré mit einer neuen, schon von Russland und England gebilligten Idee hervor. In der Erkenntnis, dass die Stunde der Friedensvermittlung nahe, sollten die Mächte sich bereit erklären, an das gemeinsame Werk »im Geiste absoluten Desinteressements« heranzugehen. In Wien wurde der Desinteressement-Vorschlag sofort für unannehmbar erklärt. Die Berliner Regierung, »im Schlepptau ihres Verbündeten«, wie Poincaré meint, fand ihn auch nicht empfehlenswert. Nun entwarf Graf Berchtold selber ein Programm. Am 3. November wurde es durch den österreichischen Botschafter in Berlin Herrn von Kiderlen überbracht. Berchtold erklärte darin, dass Oesterreich-Ungarn einem Nachbarstaate nur dann einen Zuwachs an Macht und Gebiet bewilligen könne, wenn eine der Doppelmonarchie feindliche Politik dieses Staates in Zukunft ausgeschlossen sei. »Besonders wurden«, berichtete Kiderlen, »Bürgschaften dafür verlangt, dass Serbien nicht in die Reihe der Gegner Oesterreich-Ungarns tritt«. Damit solcher Gefahr vorgebeugt werde, sei »ein enger wirtschaftlicher Anschluss Serbiens und Montenegros an 112 Oesterreich-Ungarn« erforderlich. Auch dann aber, unter allen Umständen, werde »das Begehren Serbiens nach einer Gebietserweiterung bis an die Adria a limine abgelehnt«. Oesterreich-Ungarn könne in jenen Gegenden der Adria keine andere Grossmacht dulden, seine Politik gehe auf die freie Entwicklung eines lebensfähigen Albaniens aus. Saloniki müsse Freihafen werden und Oesterreich das Recht erhalten, eine Bahn dorthin zu bauen. Das siegreiche Serbien sollte also entweder auf jeglichen Gewinn, selbst auf jeden Zuwachs fern von der Adria, verzichten, oder, wirtschaftlich gefesselt und ohne Adriahafen, Vasallenstaat Oesterreich-Ungarns werden, sollte dem russischen Protektor, dem slawischen Bruder die Freundschaft kündigen, um, für so schmalen Lohn, in das Lager des verhassten Verfolgers überzugehen. In Wien wurde anscheinend geglaubt, Russland, Schirmherr des Balkanbundes, werde Beschlüsse, die seinen Erfolg in eine Katastrophe umwandelten, still hinnehmen, und das »Vae victis« wurde in ein »Wehe dem Sieger!« verdreht.

Anfang September hatte Herr von Kiderlen-Wächter geschrieben, Wien dürfe Deutschland nicht über Nacht in ein Balkanabenteuer verwickeln können. Und an Bethmann: »Nach unsern Verträgen und unsern Abmachungen mit Oesterreich-Ungarn sind wir nicht verpflichtet, Oesterreich-Ungarn in seinen orientalischen Plänen, geschweige dessen Abenteuern, zu unterstützen«, und: »Wir sind es um so weniger, als Oesterreich-Ungarn uns auch nicht seine Unterstützung gegen Frankreich zugesagt hat . . .« »Den österreichischen Satelliten im Orient wollen wir nicht machen«, erklärte er mit einer Bestimmtheit, die jeden Zweifel an seinen Absichten auszuschliessen schien. Im Oktober beklagte er sich über Berchtold, der absolut nicht wisse, was er wolle, und eben nicht mehr sei als ein »Kovalier« . . . »Wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass die Leitung der Politik von Berlin nach Wien übergeht, wie es Aehrenthal gegenüber Bülow leider gelungen war. Das könnte uns eines Tages viel kosten!« hiess es in einem andern Oktober-Briefe Kiderlens, den man, leider nur in einem Bruchstück, in dem Buche Ernst Jäckhs finden kann. Wie klug, wie richtig war das alles, und mit wie ausgezeichneten Argumenten hatte Kiderlen schon früher die Haltung Bülows bei der Annexion Bosniens kritisiert! Man hatte damals den »Kovalieren« gezeigt, dass Deutschland, weil es seine völlige Isolierung fürchte, unter jeder Bedingung immer wieder ihre Freundschaft erkaufen wolle, dass es, wie in der Wiener Denkschrift vom 20. Oktober 1908 stand, »jetzt auf Oesterreich-Ungarn allein angewiesen sei«, und sie hatten wacker von ihrer Unentbehrlichkeit profitiert. Siegfried, der im Bett Brunhildens dem schwächern König Gunther half, blieb verborgen, durch seine Tarnkappe unsichtbar gemacht. Wilhelm II. und seine Umgebung rühmten sich nach der bosnischen Affäre laut der Tat, und boten sich, weil sie ihr Verdienst nicht verschweigen wollten, selber dem Zorn und der Rachsucht der russischen Brunhilde dar.

113 Kiderlen und Bethmann, die eine Annäherung an Russland wünschten und auch den Dardanellenpreis nicht zu hoch gefunden hätten, waren also im Oktober 1912 den orientalischen Plänen, den Abenteuern, mit denen die Wiener Herren dilettantisch sich beschäftigten, herzlich abgeneigt. Sie sahen, dass man da immer mehr auf einen glitschigen und abschüssigen Weg gerate, und in ihrer Erinnerung tauchte das Bismarckwort von den Knochen des pommerschen Grenadiers auf, die für solche Balkanunternehmungen zu schade seien. Aber am 3. November begleitete derselbe Kiderlen in dem Bericht an den Kaiser die Mitteilung über die österreichischen Forderungen mit den Worten: »Diese versöhnliche Stellungnahme gegenüber der in der Entwicklung begriffenen Neuordnung der territorialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Verhältnisse im Orient befindet sich in bemerkenswertem Gegensatz zu derjenigen der russischen Regierung, die neuern Nachrichten zufolge auf einer starren Erhaltung des Status quo bestehen zu wollen scheint.« Ganz abgesehen davon, dass er eine falsche Auffassung von den russischen Ideen hatte, wie konnte er meinen, das österreichische Bestreben, Serbien vom Meere abzuschliessen und ihm selbst geringen Vorteil nur unter unerfüllbaren Bedingungen zu gewähren, sei der Gipfel der Versöhnlichkeit? Er empfahl die Zustimmung zu diesem »massvollen und sehr verständigen Programm«. Und am 28. November erklärte er vor dem Bundesratsausschuss: »Wir werden in unser allereigenstem Interesse unsere ganze Macht zur Erfüllung unserer Bundespflichten einsetzen müssen«, falls Oesterreich »von Russland bei der Geltendmachung seiner vitalen Interessen angegriffen werden sollte, auf die es ohne Minderung seiner Grossmachtstellung slawischen Anmassungen gegenüber nicht verzichten kann«. Er ging noch weiter: »Muss also Oesterreich, gleichgültig aus welchem Grunde, um seine Grossmachtstellung fechten, so müssen wir an seine Seite treten, damit wir nicht nachher neben einem geschwächten Oesterreich allein fechten müssen . . .« Wir dürften unserem Bundesgenossen keine Demütigung zumuten, und erweise sich die Vermeidung des Krieges als unmöglich, so müssten wir »ihm ruhig und fest ins Auge sehen«. Unterscheidet sich diese Erklärung auch nur durch eine Nuance von dem Standpunkt, den der so scharf kritisierte Bülow in der bosnischen Krise vertrat? Was waren die »vitalen Interessen« Oesterreichs, was »slawische Anmassungen«, was »Demütigung«, und konnte man in Wien, nachdem man so den Freibrief in der Tasche hatte, nicht bei der ersten Gelegenheit das Abenteuer wagen und, friedlichen Kompromissen ausweichend, die Erfüllung des deutschen Gelübdes verlangen? Immer wieder die gleiche Furcht vor einem Abschwenken des österreichischen Bundesbruders, statt einer Politik, die den Berchtold und Genossen gezeigt hätte, dass Deutschland ihnen nicht auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, nicht bedingungslos auf sie angewiesen sei. Immer gefährlicher wurde das Sicherheitsgefühl der Wiener Sport-Aristokratie gestärkt, immer enger wurde die 114 Verstrickung, und dieselben, die eben noch in kühler Ueberlegung für die »orientalischen Pläne« Oesterreichs nur ein Achselzucken gehabt hatten, traten jetzt in schimmernder Wehrrede für seine »vitalen Interessen« ein. Allerdings hielt Herr von Kiderlen-Wächter es am 27. November selber für nötig, einen »kalten Wasserstrahl« durch die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« nach Wien spritzen zu lassen, aber die offiziöse Notiz dementierte nur einige Alarmnachrichten, besagte dann weiter, dass alle Mächte übereingekommen seien, »sich in keiner einzelnen Frage aus dem Balkanproblem zum voraus festzulegen«, und der Strahl war ziemlich dünn. Trotzdem wurde man in Wien bereits nervös und Kiderlen musste die Unzufriedenen beruhigen, indem er auf Deutschlands »klare, unzweideutige Stellungnahme an seiten unseres Verbündeten« hinweisen liess. In Berlin mochte man sich einreden, die politische Leitung sei nicht auf Wien übergegangen. Wenn das Pferd auch mit dem Wagen davon lief, ohne sich um den Kutscher zu kümmern – den Zügel hatte man fest in der Hand.

Die Serben drangen in Albanien vor, besetzten Durazzo, forderten den Weg zur Küste, richteten ihre Blicke auf den Hafen San Giovanni di Medua. Oesterreich erklärte: »Nimmermehr!« In Russland begannen die Vorbereitungen für den möglich erscheinenden Krieg, der ausgediente Jahrgang wurde nicht entlassen, die Truppen an der galizischen Grenze wurden verstärkt. »Um mit Moltke«, dem deutschen Generalstabschef, »Rücksprache über die eventuellen Kriegsoperationen zu nehmen«, kam der österreichische General Schemua am 12. Dezember nach Berlin. Fünf Tage vorher war Conrad von Hötzendorff, der hartnäckigste aller Kriegstreiber, wieder zum Chef des Generalstabes gemacht worden, und abermals entfaltete dieser alte Adler hoffnungsfreudig, den Aufgang der blutigen Sonne erwartend, seine Schwingen. Am 2. Dezember warf Herr von Bethmann-Hollweg in die durch soviel Waffenklirren schon aufgeregte Welt eine gleichfalls klirrende Reichstagsrede hinein. »Wenn unsere Verbündeten«, sagte er, »in dem Augenblick, wo sie ihre Rechte geltend machen, gegen alle Erwartung von einer dritten Seite angegriffen werden und sich so in ihrer Existenz bedroht sehen sollten, müssten wir uns, getreu unserer Pflicht, mit fester Entschlossenheit an ihre Seite stellen . . .« »Wir müssten dann kämpfen, um unsere eigene Situation in Europa zu wahren und unsere Zukunft und unsere Sicherheit zu schützen« (hier sind im Bericht Bravorufe vermerkt). Und Herr von Bethmann äusserte die Ueberzeugung, er werde dabei die ganze Nation hinter sich sehen. So schwungvoll hatte auch Fürst Bülow während der bosnischen Krise nicht verkündet, das deutsche Volk würde sein Blut, Ströme seines Blutes vergiessen, um den »Rechten« Oesterreichs Achtung zu erzwingen. Diesmal hiess das »Recht« Oesterreichs der Einspruch gegen einen serbischen Hafen, morgen konnten die Herren in Wien ein anderes »Recht« erfinden, wir standen, mit dem Schicksal von fünfundsechzig Millionen deutscher Menschen, 115 zur Verfügung, Oesterreichs Regierung wollte uns zwar bei jedem Konflikt mit Frankreich im Stiche lassen, aber die deutsche Treue wankte nicht. Allerdings, das deutsche Volk sollte nicht nur aus Bruderliebe, sondern auch seiner eigenen Erhaltung wegen für Oesterreich kämpfen, denn »unsere eigene Situation in Europa, unsere Zukunft und unsere Sicherheit« würden ohne Oesterreich verloren sein. Deutschland, sagte man den Oesterreichern, hat ohne euch keine eigene Situation in Europa, und ihr seid »unsere Zukunft und unsere Sicherheit«.

Man könnte fragen: Billigte der Kaiser diese Politik des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes und machte er sie mit? Er hatte doch am 4. November die Randverfügung erlassen: »Die Sieger diktieren die Bedingungen; Eingriff, sie aufzuhalten, lehnt S. M. ab« – und hatte, »auf die Gefahr hin, mehrere Mächte des Konzerts zu verschnupfen«, jede Beteiligung an Schritten gegen den Balkanbund untersagt? Nachdem er sich von der Türkei abgewendet und bei den Siegen der Balkanvölker applaudiert hatte, sollte er den Leuten in Wien helfen, das serbische Volk um die Früchte des Sieges zu bringen? Zuerst hielt er es, tausend Meilen weit entfernt vom Wesen der Dinge, für möglich, Serbien in dem Augenblick für die Anlehnung an Oesterreich und den Dreibund zu gewinnen, wo man es vom Meere abschloss, seiner nationalen Sehnsucht mit militärischer Drohung in den Weg trat, an dem Grimm der Enttäuschten achselzuckend vorüberging. Gegen die österreichischen Forderungen, die jede Verständigung mit Serbien vereiteln mussten, hatte er im ersten Augenblick offenbar nichts einzuwenden – ein Zeichen der Missbilligung fehlt. Immerhin schrieb er am nächsten Tage, ohne sich direkt zu diesen Forderungen zu äussern: »Ich verweigere jede Teilnahme an jeder Aktion, die die Bulgaren – Serben – Griechen – in ihrem berechtigten Siegeslaufe hemmt«, und untersagte sehr verständig die Unterstützung einer Politik, die den siegreichen Mächten »Bedingungen, die ihnen nicht genehm sind, vorschreibt oder auferlegt«. In diesem Zeitpunkt der Krise wurde er auch wieder hellhörig und wach, wie jedesmal, wenn eine Kriegsdrohung näher kam. Er witterte die heranziehende Gefahr. Solange irgendwo in der Ferne gekämpft wurde, entwarf er Pläne und war der Chorführer, der dem Gang der Tragödie mit kraftvollen Versen folgt. Hagelschläge, die weit vom Zentrum Europas niedergingen, konnten ihm nützlich erscheinen, und gern rechnete er sich, stets geneigt zu angenehmen Trugschlüssen, einen hohen Gewinn heraus. Aber dieser spekulative Geist wurde nüchtern, wenn ihn ein inneres Warnungssignal aufmerken liess. Mitten in naiven Visionen und theatralischem Paradieren, und unmittelbar nach einem unüberlegten Jawort, nach übereilten Gelöbnissen, erkannte er die Gefährlichkeit der Fahrt. Gewiss, seine Ratgeber hatten oft seine in der Hitze losgeschmetterten Wünsche und Befehle, die explosiv wirken konnten, unschädlich gemacht und seine Entgleisungen zugedeckt. Aber er selbst hatte in manchen entscheidenden Momenten 116 instinktiv richtiger als seine Ratgeber geurteilt und, während sie gemütsruhig ihren Faden weiterspannen, das Gespenst der Gefahr gesehen. Auch diesmal wieder sah Wilhelm II. das Gespenst mit dem Blutstreifen an der Stirn. Er wollte sich von Bethmann, Kiderlen und Berchtold nicht auf die Sumpfwiese locken lassen, hielt es für Wahnsinn, das furchtbarste Kriegsrisiko auf sich zu nehmen, nur weil die hochmütigen Herren in Wien den siegreichen Serben einen Hafen missgönnten und vielleicht wirklich glaubten, von der Lösung dieser Frage hänge das Schicksal Oesterreichs ab.

Aber Herr von Bethmann-Hollweg und Herr von Kiderlen-Wächter, trotz gelegentlicher Verstimmung über Berchtolds Zerfahrenheit und Vormachtgelüste, ganz in die Idee verrannt, dass das deutsche Volk sich immer für den österreichischen Standpunkt einsetzen müsse, und den »einzigen Freund« nicht verlieren dürfe, verzweifelten noch nicht. Der Reichskanzler fuhr nach Letzlingen, um seinen Souverän, der dort Hirsche jagte, zur Raison zu bringen. Wenn man eine Depesche liest, die Wilhelm II. am 9. November an das Auswärtige Amt richtete: »Habe mit Reichskanzler eingehend im Sinne meiner Instruktionen an Sie gesprochen und bestimmt erklärt, dass wegen Albanien und Durazzo Ich unter keinen Umständen gegen Paris und Moskau marschieren werde«, könnte man meinen, dass der Versuch Bethmanns misslungen sei. Dieser Eindruck wird auch durch den ersten Teil einer kaiserlichen Aufzeichnung vom 11. November erweckt. Oesterreich, schrieb Wilhelm II., habe unvorsichtigerweise den serbischen Ansprüchen gegenüber sich schroff und diktatorisch benommen. Ein Krieg zwischen Oesterreich und Russland könne daraus entstehen und die Bündnispflicht würde auch Frankreich, das auf England zählen könne, und Deutschland zum Losschlagen zwingen. »Es muss also Deutschland in einen Existenzkampf mit drei Grossmächten eintreten, bei dem alles aufs Spiel gesetzt werden muss und eventuell es untergehen kann. Das erfolgt alles, weil Oesterreich die Serben nicht in Albanien oder Durazzo haben will.« Mit dieser Parole könne man die deutsche Nation nicht für einen Krieg entflammen. Niemand könne es vor Gott und seinem Volke vertreten, aus solchem Grunde die Existenz Deutschlands in Gefahr zu bringen. »Es ginge über den Rahmen eines Vertrages weit hinaus, ja selbst des Casus foederis, der in keiner Weise und niemals dahin ausgelegt werden darf, dass das deutsche Heer und Volk den Launen der auswärtigen Politik eines andern Staates direkt dienstbar gemacht und quasi dafür zur Verfügung gehalten werden muss.« Der Casus foederis trete nur bei einem russischen Angriff auf Oesterreich ein, nicht aber wenn Oesterreich Russland zum Kriege provoziere, und »hier nun könnte eine solche Lage Serbien gegenüber entstehen«. Soweit ist alles vortrefflich, und wenn man es liest, glaubt man an den Sieg der Vernunft. Dann aber sieht man, dass Wilhelm II. diese ausgezeichneten, unwiderlegbar richtigen Grundsätze nur niederschrieb, 117 um sich über die Preisgabe seiner bessern Ueberzeugung hinwegzutäuschen, zu der er im Wortgefecht von Bethmann verleitet worden war. Denn nun liess er in seiner Aufzeichnung die schlüpfrige Weisheit folgen, Oesterreich solle »Vermittlungsvorschläge anhören oder machen«, die Russen sollten dadurch gegenüber Wien ins Unrecht gesetzt werden, als Störenfriede dastehen »und, wenn es losgeht, als Provozierende, welche Wien nicht in Ruhe lassen wollen«. So werde unsere Regierung »eine gute Parole für die Mobilmachung« bekommen. Die »gute Parole« erschien als das Notwendige, die Sache selbst, der Existenzkampf Deutschlands für die Launen einer fremden Politik, »den vor Gott und dem Volke niemand vertreten könne«, hatte im Kreise der Bedenken nicht mehr den ersten Platz. Abermals, wie bei Tanger, bei Agadir, bei Bosnien, hatte Wilhelm II. sich überreden lassen, hatte er in dem Wahn, dass er nicht die ganze Hand gebe, dem Teufel den kleinen Finger gereicht. Entzückt telegraphierte Herr von Bethmann-Hollweg aus Letzlingen an Kiderlen: »Richtige Basis heute wiedergefunden!« und Kiderlen schrieb in frohem Triumph nach einer Audienz bei dem Kaiser: »Wenn ich nicht allein von mir aus wüsste, wie ich mit den Majestäten jetzt stehe, brauchte ich nur den untersten Lakai und die oberste Hofdame anzusehen: beide knicken vor mir wie ein Taschenmesser zusammen.« Dieser Satz aus einem Briefe von Ende November 1912 ist die letzte schriftliche Aeusserung Kiderlens, die wir kennen, denn Herr von Kiderlen-Wächter starb – während Herr von Bethmann die weitern Folgen dieser mit Oesterreich getriebenen Politik noch sehen konnte – am 30. Dezember, vor Beendigung der Balkankriege, in Stuttgart an einem Schlaganfall.

Die in Letzlingen zwischen zwei Pirschgängen verfasste kaiserliche Aufzeichnung endete mit den Versen:

»Wir übten nach der Götter Lehre
Jahrelang uns im Verzeih'n,
Doch endlich drückt des Joches Schwere
Und abgeschüttelt muss es sein.«

Es war eine den Geist bedrückende Anstrengung gewesen, den Uebergang vom Nein zum Ja, von der Ablehnung bis zur Annahme der österreichischen Politik schriftlich zu vollziehen. Anscheinend drängte die Gemütsstimmung, in der Wilhelm II. sich am Schlusse der Arbeit befand, zur Befreiung durch die Poesie. Diese dichterische Form der Selbstberuhigung wirkt indessen nüchtern, wenn man sie mit gewissen andern Aeusserungen des Kaisers aus dieser Zeit vergleicht. Am 29. November meldete Wangenheim das Gerücht, Bulgarien habe der Türkei ein Bündnisangebot gemacht. Sofort telegraphierte Wilhelm, diesmal aus Donaueschingen, dem Auswärtigen Amte, Ferdinands Angebot habe ihn »nicht überrascht«. Es sei »ein genialer, gross angelegter Gedanke«, Oesterreich müsse mit Turko-Bulgarien ein Militärbündnis schliessen, 118 Deutschland mache mit. »Griechenland und sogar Serbien werden durch dieses Mächtegewicht rettungslos an Oesterreich herangetrieben«, England gerate in Gefahr, sich von Alexandrien abgeschnitten zu sehen. »Russland ist dann am Balkan erledigt und in Odessa bedroht. Dann sind die Dreibundmächte die Präponderenten im Mittelmeer, haben die Hand auf dem Kalifen, damit auf die ganze mohammedanische Welt.« In Klammern dahinter: »Indien!« – so weit ging sein Gedankenflug, wenn erst einmal die Wirklichkeit tief unter ihm lag. Er musste den Flug unterbrechen, da die Geschichte vom bulgarischen Angebot nur ein orientalisches Märchen war.

Besonders über den letzten Wochen des November und den ersten des Monats Dezember lag schwüle Gewitterluft. Conrad von Hötzendorff und seine Parteigänger wollten durchaus ihren Krieg haben, Tschirschky berichtete am 29. November, das ganze geschäftliche Leben in Wien stocke, man wollte die ungeheuren Kosten der Mobilmachung nicht wieder nutzlos vergeudet haben, überall würden Serben verprügelt, in allen Cafés »Prinz Eugen« und »Gott erhalte« gesungen. Allerdings, bei einem Besuch, den der Erzherzog Franz Ferdinand seinem Vetter Wilhelm II. im Jagdschloss Springe abstattete, hielt der Kaiser mit Ermutigungen zurück. Er erklärte dem Erzherzog, der im Grunde seines Herzens selber dem Konflikt abgeneigt war, man könne sich des serbischen Hafens wegen nicht schlagen, und riet, wie der belgische Gesandte, Baron Beyens, berichtete, noch beim Abschiednehmen von »Dummheiten« ab. Indessen, ungefähr im gleichen Augenblick, am 21., telegraphierte er an Kiderlen, er sei bereit, »den Casus foederis in vollstem Masse mit allen Konsequenzen durchzuführen«, und befahl, tief pessimistisch, den Botschaftern in Paris und London, festzustellen, ob Frankreich und England entschlossen seien, »unbedingt sogleich mit Russland« zu gehen. Seine Stimmung wechselte schneller, als sich das Rad einer Expresslokomotive dreht. Ein Bericht des Grafen Pourtalès in Petersburg, wonach an höchster russischer Stelle ein Umschwung in kriegerischem Sinne erfolgt sei, schuf neuen Alarm. Aber diese Information war irrtümlich, die russische Regierung, von London aus gewarnt, ermahnte ganz im stillen die Serben, den Konflikt jetzt nicht auf die Spitze zu treiben und lieber der Zukunft zu vertrauen. Dieser Krisenakt wurde überwunden, die Sonne brach für eine Weile lang durch. Die Sorge der Friedlichen und die Hoffnungen Conrads hatten vorläufig wieder ein Ende, als die Regierung des Zaren für Serbien nur noch eine Eisenbahn zu einem neutralen albanischen Hafen forderte und in Belgrad Wasser in heisse Weine goss.

Allmählich wurden die Dinge reif für eine Konferenz der Grossmächte, die Idee war so wenig originell, dass sie wie Butterblumen gleichzeitig überall hervorspriessen musste, und nötig schien auch, das Prestige der grossen Götter, um das die tatkräftigen Kleinen sich wenig gekümmert hatten, durch die feierliche Veranstaltung eines höchsten 119 Schiedsgerichtes wieder herzustellen. Nachdem man noch eine Weile lang über den Konferenzort gestritten hatte, traten am 17. März in London, unter dem Vorsitz Greys, die Botschafter zusammen. Die Diplomaten der Türkei und der Balkanmächte blieben vor der Tür, suchten einander beiseitezudrängen, und die Sieger stritten bereits um jeden Kilometer Land. Sie zankten und balgten sich wie jene andern Kreuzritter, die ehemals im Namen der christlichen Zivilisation gegen die Ungläubigen ausgezogen waren und einander in die Haare gerieten, als der erste Topf mit Goldmünzen zur Verteilung kam. Die Konferenz schuf, oder beschloss doch, das selbständige Albanien, dieses in Wien mit Zirkel und Lineal konstruierte, in Berlin gebilligte Kunstprodukt, aber alles schien zu zerbrechen, als man die Türkei auch noch zur Abtretung Adrianopels nötigen wollte, Enver Bei die nachgiebige Regierung stürzte, der Krieg von neuem ausbrach, dann die Montenegriner Skutari belagerten und, am 23. April 1913, einnahmen und Nikita heroisch sich weigerte, aus der eroberten Stadt wieder herauszugehen. Grey schien bereit, das bedrohte Konferenzwerk mit starken Mitteln zu verteidigen, und Conrad von Hötzendorff und seine Leute sahen nach diesem Winter des Missvergnügens doch noch einen glorreichen Sommer kommen.

In den Wochen, die der Belagerung von Skutari vorangingen, hatte der unablässig zum Kriege drängende österreichisch-ungarische Generalstabschef wenig Erfreuliches erlebt. Zu dem deutschen Militärattaché, dem Grafen Kageneck, hatte er im Januar gesagt: »Die Sache verflacht.« Franz Joseph und Franz Ferdinand wurden immer weniger geneigt, ihm zu folgen, und die Wiener Generale setzten ihre Hoffnung nur noch auf einen Konflikt bei der albanischen Grenzziehung und auf die serbische Unnachgiebigkeit. »Weder mein Schwager« – Franz Ferdinand – »noch Berchtold«, schrieb der Herzog Albrecht von Württemberg Anfang Februar aus Wien an den Fürsten Egon von Fürstenberg, »denken an einen Krieg, im Gegenteil.« Der deutsche Generalstabschef von Moltke, dem das Auswärtige Amt die Aeusserungen des Herzogs Albrecht mitteilte, fand es mit Recht erstaunlich, dass der friedliebende Franz Ferdinand den schon aus dem Machtbereich entfernten Conrad von Hötzendorff zurückberufen, seine abermalige Ernennung herbeigeführt habe, und unerfindlich, warum Oesterreich, wenn man den Krieg nicht wolle, »seit Monaten seine halbe Armee mobilisiert hält und sich finanziell ruiniert«. In seinem Schreiben an das Auswärtige Amt nannte es Herr von Moltke eine Hauptaufgabe der deutschen Diplomatie, »nach Möglichkeit österreichische Torheiten zu verhüten«, beklagte die Abhängigkeit von Wien, in die wir durch die Notwendigkeit, Oesterreich zu erhalten, gekommen seien, und war, in dieser Krise, wohl auch sonst vorsichtig und kühl. Am 18. Februar drängte Wilhelm II.: »Oesterreich soll nun endlich anfangen, seine Reserven einzuziehen.« Er ermahnte auch Franz Ferdinand brieflich, 120 die Entlassung der mobilisierten Truppen zu erwirken, und musste es nicht Nacht, sternenlose Nacht um Conrad von Hötzendorff werden, wenn seine Soldaten nach Hause gingen?

Da führte der Fürst Nikita seine Montenegriner gegen Skutari und alles sah nun plötzlich wieder anders aus. Grey, als Vorsitzender der Botschafterkonferenz streng gewillt, Autorität und Ordnung zu behüten, wollte zwei englische Kreuzer nach Antivari senden und forderte die andern Grossmächte zur Mitwirkung auf. Russland hatte keine Lust, Frankreich zögerte, Wilhelm II. glaubte schon an den Zerfall der Triple-Entente und schrieb entzückt: »England an der Spitze des Dreibundes im Mittelmeer gegen Slawentum demonstrieren! O Triple Entente!!!? Wir kommen!« Als dann Frankreich sich doch entschloss, Oesterreich aber statt einer Demonstration eine effektive Blockade der montenegrinischen Küste vorschlug, weil Serbien offenbar Albanien nicht räumen wollte, fiel der Kaiser aus der optimistischen Stimmung in die pessimistische, bemerkte: »Serbien soll doch in drei Deibels Namen drinnen bleiben«, und: »Um es zu delogieren, wäre ein Feldzug der ganzen österreichischen Armee während mehrerer Monate nötig, und damit der Casus belli für Russland gegeben und der Weltkrieg da!« Diese zwar schwarzseherische, aber vernünftige Ansicht hielt wiederum nicht vor, denn fast im gleichen Augenblick, wo er schrieb, dass Serbien in drei Deibels Namen in Albanien bleiben solle, weil sonst der Weltkrieg ausbrechen werde, setzte er unter einen Bericht des Wiener Militärattachés die Bemerkung, ein Nachgeben Oesterreichs wäre das beste gewesen, jetzt aber sei es aus Prestigegründen dafür zu spät. Jetzt könne nur eine gemeinsame austro-italienische Exekutive gegen Serbien noch helfen und er »stehe selbstverständlich hinter dieser Aktion«. Als dann England nicht, wie er gehofft hatte, die Führung dieser österreichisch-italienischen »Bundesexekutive« übernehmen, sich also nicht ganz von Russland und Frankreich trennen, nicht ins Dreibundlager übergehen wollte, und die Triple-Entente nicht gesprengt wurde, erklärte er, dass Grey und die Botschafterkonferenz »auf die Einnahme von Skutari hin, die eine direkte Ohrfeige für die Mächte ist, nichts Energisches als Phrasen« unternommen hätten, und dass das eine »jammervolle Schlappheit« sei. Er schrieb auch: »Armes England, so heruntergekommen, was würde Nelson dazu sagen!« und behauptete, man könne mit einem Manne wie Grey keine Politik mehr machen, er sei »im höchsten Grade illoyal«. In London mahnte König Georg den österreichisch-ungarischen Botschafter, den Grafen Mensdorff, zur Geduld. Man werde schon etwas finden, um König Nikita aus Skutari herauszubringen. »Blech!« bemerkte Wilhelm dazu. »Grosse Worte machen, gerne, aber seine Ehre und seinen Standpunkt mit der Waffe verteidigen, nein! Da könnte es knallen! S. M. sind kein Militär!« Die Engländer sahen, obgleich König Georg »kein Militär« war, richtiger, sie handelten weise, denn sie lockten, ohne ihre »Ehre« Skutaris wegen 121 mit der Waffe zu verteidigen, wie Wilhelm II., sonderbar besorgt um das englische Prestige, es gewünscht hatte, Nikita und die Montenegriner aus der eroberten Stadt heraus. Nicht mit »Blech«, wahrscheinlich mit Gold. Die Nachricht von der Uebergabe Skutaris machte auf Hötzendorff, wie der deutsche Militärattaché in Wien meldete, einen niederschmetternden Eindruck, und diesmal war es richtig aus. Russland hatte auch dem Onkel Nikita, wie vorher dem slawischen Bruder in Belgrad, zum Nachgeben geraten, die Friedenstaube, unwillkommener Vogel, spazierte vor den Fenstern der österreichischen Kriegspartei.

Fürst Lichnowsky war seit drei Monaten deutscher Botschafter in London, als dort die Botschafterkonferenz zusammentrat. Er hatte in den letzten Jahren fern vom Amte auf seinen Gütern gelebt, nahm aber die Berufung mit grosser Freude an, denn er sehnte sich in die Aktivität zurück und glaubte sogar, mit sehr viel Selbstvertrauen, eines Tages Reichskanzler werden zu können, obgleich ihm gerade die Eigenschaften mangelten, die selbst bei ganz unbürokratischer Auffassung für eine regelmässige Geschäftsleitung unentbehrlich sind. Es ist allerlei darüber gefabelt worden, wie man bei der Suche nach dem geeigneten Botschafter gerade auf ihn, den Fernweilenden, kam. Er selbst sagt, dass man eigentlich wieder einen »Greis« hinsenden wollte, als dessen Erbe der jetzt noch zu junge Geheimrat Wilhelm von Stumm, der Kandidat des Amtes, in Bereitschaft stand. Mit dem Fürsten Hatzfeldt, dem Fürsten Hohenlohe-Oehringen und andern gehörte Lichnowsky zu jener Gruppe liberalisierender Grandseigneurs, die gebildeter, kulturfeiner, aufgeklärter, freidenkender als die Mehrheit des untern Adels, der ostelbischen Junker war. Alle Denkschriften und Aufzeichnungen Lichnowskys haben den Reiz eines sehr persönlichen Stils, der oft heftig aggressiv, aber in seiner, den ganzen Menschen mit Vorzügen und Schwächen offenbarenden Lebendigkeit reizvoller ist als die pudelhafte Wohlerzogenheit. Nur wenige seiner diplomatischen Kollegen waren so geschichtskundig wie er.

Lichnowsky besass mehr eigenwilliges Temperament als ruhige Festigkeit. Sein Betätigungseifer, der im allgemeinen der Anspannung durch besondere Aufgaben bedurfte, hatte etwas Sprunghaftes und Hastiges, und viel von den gemischten Bestandteilen seiner Persönlichkeit war schon in der äusseren Erscheinung ausgeprägt, in dem interessanten, sehr grossen Kopf, in Zügen und Merkmalen, wie sie im Laufe der Uebertragung bei alten polnischen Geschlechtern sich herausbilden, in einer aristokratischen und künstlerischen Lässigkeit. Als er nach London kam, tastete er nicht erst lange das Terrain ab, sondern ging auf das Ziel, das er sich gesetzt hatte, mit jugendlichem Eifer los. Er fühlte sich glücklich in seiner Stellung, glücklich in England, wo sein liberales Aristokratentum, sein Regierungsideal und seine ganze Weltanschauung Boden und Tradition hatten, und er glaubte, berufen und fähig zu sein, zwischen diesem Lande und seinem eigenen die 122 Freundschaftsbrücke zu bauen. Optimismus, Sympathie und der dringende Wunsch, das Werk zu vollbringen, verleiteten ihn nicht gerade zu falschen, aber doch zu lückenhaften Urteilen über die englischen Staatsmänner, verhinderten ihn mitunter, hinter dem wohlmeinenden, ehrenhaften Gentlemantum die Bewegungen des politischen Mechanismus zu erkennen. Niemals aber war er so blind, wie manche Leute in Berlin, die in dem Wahn lebten, sich wenigstens zeitweilig in den Wahn hineinredeten, es würde möglich sein, bei einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich die Neutralität Englands zu erlangen. Mit anerkennenswerter Hartnäckigkeit versuchte er dem Auswärtigen Amte den Leitsatz einzuprägen: Niemals wird England einem solchen Kriege ruhig zusehen, niemals abwarten, bis Frankreich besiegt, völlig geschwächt, als Machtfaktor ausscheidet, das Gleichgewicht, die »Balance of Power«, zusammenbricht und die deutsche Hegemonie, nunmehr fast unangreifbar und auch die englische Küste bedrohend, sich auf dem Kontinent erhebt.

In der Hoffnung, dass eine solche Entscheidungsstunde nicht kommen werde, war er bemüht, gutgesinnte Menschen um sich zu versammeln, und glücklich über jeden, den er fand. Er hielt viel von der Wirkung gesellschaftlicher Beziehungen, verkehrte mit den Ministern, den Lords und den Gemeinen, den grossen Finanzleuten und den einflussreichen Journalisten, wurde Ehrendoktor von Oxford und hatte als wertvolle Mitarbeiterin neben sich die schöne, geistig bedeutende, in den Privatgemächern ihres Wesens urkräftig fühlende und unabhängig denkende und im offiziellen Salon majestätisch repräsentierende Frau. Mit seidenen Freundschaftsfäden und mit jenem Kolonialvertrag, dem schon die Vorgänger Lichnowskys einen erheblichen Teil ihrer Zeit gewidmet hatten und an dem auch der Botschaftsrat von Kühlmann arbeitete, sollte die Kluft übersponnen werden, die zwischen den beiden Ländern lag. Aber im Grunde war, so stolz Lichnowsky auf seine Erfolge auch sein mochte, das, was sich so erzielen liess, doch nur ein bescheidenes Resultat. Was bedeutete selbst im besten Falle eine Annäherung, von der jeder Einsichtige, auch Lichnowsky, wusste, es werde im kritischen Augenblick nichts mehr von ihr übrig sein? Wenn keine Verständigung in der Flottenfrage erreicht wurde, war das nur wie ein heiteres Sommerkleidchen statt des wetterfesten Mantels, während oben die Gewitterwolken hingen.

Trotz aller Sympathie, die er in London sich erwarb, und trotz allen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, rechneten die leitenden Männer in London keineswegs so sehr, wie er das glaubte, mit ihm und seinem vermittelnden Einfluss, sondern sahen in ihm weit eher einen ehrlichen Idealisten, hinter dem nur leider nicht viel stand. Asquith, über dessen Freundschaft Lichnowsky so erfreut war, hat in seinem »Ursprung des Krieges« ihn einen aufrichtigen Freund des Friedens genannt, der »ängstlich und voll Eifer um die Beilegung aller zwischen Deutschland 123 und Grossbritannien schwebenden Fragen besorgt« gewesen sei, dessen ehrliche Bemühungen und gute Absichten aber hätten scheitern müssen, weil »er niemals Vertrauter und Mitwisser der tatsächlichen Pläne der deutschen politischen Führung war«. Lichnowsky sei »optimistisch bis zum Ende« gewesen, weil er sich offenbar nie seiner Isolierung bewusst geworden sei. Der Freiherr von Marschall hätte – Asquith schreibt, er sei fest davon überzeugt – den Weltkrieg verhindert: der einzige deutsche Staatsmann, »dessen Persönlichkeit und Autorität es gelang, das Ungestüm und die Launen des Kaisers zu beherrschen« und sogar die Pläne der »militärischen Junta in Berlin« zu Fall zu bringen. Ganz Aehnliches hat mir Lloyd George im Gespräch über Lichnowsky und Marschall gesagt. Tatsächlich war Lichnowsky »isoliert«, von Bethmann, der ihn für den Londoner Posten vorgeschlagen hatte, nur lauwarm verteidigt, von Kiderlen und seinem Nachfolger Jagow sehr unfreundlich beurteilt, von den andern Dirigenten im Auswärtigen Amt abfällig wie ein etwas wirrer Dilettant behandelt und schon deshalb unbeliebt, weil er, die Chancen der Karriere verderbend, als »Outsider« in der schönsten Botschaft sass. Dass es nicht ganz einfach war, mit diesem eigensinnigen, reizbaren und immer seine Meinung überlegen aussprechenden Botschafter geschäftlich zu verkehren, bedarf des Beweises nicht. Vor allem aber war ein nützliches Zusammenwirken schon darum nicht möglich, weil er in der Kernfrage, in der Frage der deutschen Politik gegenüber Oesterreich, so absolut andere Meinungen hatte als die Zentralleitung in Berlin.

Von jeher hatte er den »unzweideutigen Verzicht auf jede Unterstützung der Wiener Orientpolitik« für die Grundbedingung einer vernünftigen deutschen Staatskunst erklärt. Er wollte, wie die Verständigung mit London, die Verständigung mit Petersburg, auch auf Kosten Oesterreichs, wenn es nicht anders ging. Nun sollte er, gerade er, auf der Botschafterkonferenz eine Politik vertreten und durchsetzen, die alle österreichischen Forderungen wie deutsche Lebensfragen behandelte und sich bereit gezeigt hatte, die Niederhaltung Serbiens, die Ausschaltung des russischen Einflusses, die Bildung eines möglichst umfangreichen Fürstentums Albanien – eines von Oesterreich und Italien kommandierten Vorpostens gegen die slawische, die russisch-serbische Macht – sogar mit dem bekannten Zücken des deutschen Schwertes zu erzwingen. Eine Politik, die er – da sie, selbst wenn jetzt die Katastrophe vermieden wurde, uns österreichischer Wünsche wegen immer mehr den russischen Hass zuziehen musste und sich am Rande des Abgrundes bewegte – für sinnlos und verderblich hielt. Während Grey auf der Konferenz gern eine Vermittlerrolle spielte, am liebsten Kompromissformeln suchte, musste Lichnowsky, wie er in der Denkschrift »Meine Londoner Mission« konstatiert, in jeder Phase der Diskussion den Standpunkt vertreten, der von Wien aus vorgeschrieben war. Der österreichisch-ungarische Botschafter in Berlin, Graf Szögyényi, behauptete jedesmal, wenn eine Forderung zu scheitern drohte, für Deutschland werde dann eben der Casus foederis eintreten. »Und als ich« – erzählt Lichnowsky – »die Richtigkeit dieses Schlusses einmal anzuzweifeln wagte, wurde ich wegen ›Austrophobie‹ verwarnt«. Gegenüber denjenigen, die bestreiten, dass Lichnowsky in dieser Weise angewiesen worden sei, in den Konferenzverhandlungen den Anwalt Oesterreichs zu spielen, braucht man nur eine Randbemerkung Kiderlens zu einem Bericht des Fürsten vom 20. Dezember 1912 zu zitieren, in der es heisst, der Botschafter habe »Oesterreich zu unterstützen«, er kenne offenbar seine Instruktionen nicht. Ebenso ein Telegramm des neuen Staatssekretärs von Jagow, in dem Lichnowsky vorgeworfen wurde, dass er »in Wien verstimmt« habe, und in dem die eigentümliche Lehre erteilt wurde, wir könnten Oesterreich nicht die Unterordnung seiner Interessen unter Russlands Wünsche zumuten, »denen« – nicht den österreichischen – »eine auf Sentimentalität zurückführende Prestigepolitik zugrunde liegt«. In den Berliner Amtsstuben wurde unentwegt österreichische Politik gemacht. Und hinterher behauptet, Lichnowsky habe »am meisten versagt«.

Die Botschafterkonferenz beendete am 30. Mai 1913 ihre Tätigkeit. Aber dem Friedenswerk drohte, schon ehe die Maurer die Arbeitsstätte verliessen, der Einsturz, denn die Balkansieger hatten nicht einen Augenblick lang aufgehört, sich zu streiten, und während oben die grossen Weltrichter thronten, tobten unten die Begierden und die Eifersucht. Jeder der drei, Bulgarien, Serbien und Griechenland, spielte den Achill, der das meiste getan hat und die Prachtstücke für sich verlangt. Rumänien, das vorsichtig seine Kräfte geschont hatte, meldete immer energischer seine Kompensationsforderungen an. Herr Danew, der geschäftige und etwas prahlerische Leiter der bulgarischen Politik, verlachte alle Drohungen und Warnungen, und am 30. Juli griff die bulgarische Armee, an siegreiche Offensive gewöhnt, die Serben an. Man hatte in Sofia gemeint, schnell mit Serbien und Griechenland abrechnen zu können, aber diesmal beteiligte sich Rumänien, die günstige Konjunktur erfassend, am Kriege, die Türken marschierten gleichfalls vor und nahmen wieder Adrianopel. Bulgarien, geschwächt und von allen Seiten umstellt, musste um Frieden bitten, König Ferdinand winkte König Carol mit der weissen Fahne, und Ende Juli traten die Balkanminister in Bukarest zu Verhandlungen zusammen. Der Hafen Kawalla, den Bulgarien vergeblich zu behalten versuchte, musste an Griechenland gegeben werden, Rumänien erhielt ein grosses Stück der Dobrudscha, fast ganz Mazedonien wurde an Griechen und Serben verteilt, auch Adrianopel war diesmal verloren und blieb bei der Türkei. In diesem heftigen diplomatischen Endkampf, der in Bukarest stattfand, hatte jeder der Balkanrivalen Protektoren und Advokaten im Lager der Grossmächte, und auch dadurch, dass vom hohen Olymp herab die Götter ihre Lieblinge schützten und leiteten, erinnerte das alles sehr an den homerischen Heldenstreit.

125 In diesem Akt des Balkanstückes, in dem die Ansprüche Griechenlands und Rumäniens mit den Interessen Bulgariens stritten, setzte die deutsche politische Leitung zum erstenmal den Ansichten der Wiener Regierung ein entschiedenes Nein entgegen, hielt man zum ersten und einzigen Male hartköpfig, unbekümmert um österreichische Verstimmungen, am eigenen Willen fest. Woher diese so unerschütterliche, leider nur einmalige Energie? Der deutsche Kaiser bestand darauf, dass seinen Verwandten in Athen und in Bukarest die von ihnen begehrten Territorien zugesprochen würden – dort und hier handelte er, natürlich immer im Glauben, damit auch seinem Lande zu nützen, als Familienchef. Sein Schwager Konstantin, genannt »Tino«, nun, seit der Ermordung des Königs Georg, Throninhaber in Griechenland, und seine Schwester, die Königin Sophie, die ihn telegraphisch auch um seine Fürsprache bei dem Rumänenkönig bat, mussten den wichtigen Hafen Kawalla erhalten, nach dem ganz Bulgarien sich heiser schrie, und ebenso wurde den Rumänen, deren König ein Hohenzoller war, bei ihrem Bemühen, den Bulgaren möglichst viel Land abzunehmen, jeder erdenkbare Beistand gewährt. In Wien trat man für Bulgarien ein, denn man hoffte, dieses zwar jetzt besiegte, aber doch nur vorübergehend entkräftete, militärisch sehr fähige und gegen Serbien von Rachegedanken erfüllte Volk für den Anschluss an den Dreibund zu gewinnen. Das ganze Ministerium des Aeussern in Wien war, wie Tschirschky meldete, von diesem Gedanken beherrscht und Berchtold sah in der Heranziehung Bulgariens die Entschädigung für alles, was ihm sonst entgangen war, und das »oberste Ziel«. Aber das Auswärtige Amt in Berlin machte die Hohenzollernpolitik eifrig mit. Herr von Bethmann-Hollweg nannte im Gespräch mit dem österreichisch-ungarischen Botschafter, dem Grafen Szögyényi, die bulgarische Freundschaft eine Chimäre, und Herr von Jagow schickte Herrn von Tschirschky energische Instruktionen und lehnte die österreichische These ab. Sie waren nicht so unnachgiebig gegenüber Wien gewesen, als es sich um den serbischen Hafen gehandelt hatte, und auch der Kaiser hatte die grossen, entscheidenden Fehler der österreichischen Politik – die er, von Zeit zu Zeit wenigstens, besser als seine Ratgeber erkannte – nie mit der Standhaftigkeit bekämpft, mit der er jetzt die erste und einzige vernünftige Idee der Wiener Staatslenker verwarf.

Von Rumänien sagte Herr von Bethmann-Hollweg in jener Unterredung mit dem Grafen Szögyényi, es sei »die Ostmark westeuropäischer Kultur und Zivilisation«. Wo an sachlichen Gründen Mangel ist, hilft ein pathetischer Gemeinplatz aus. König Carol von Rumänien, Sohn des Fürsten Anton von Hohenzollern, war 74 Jahre alt, sehr kränklich, und von einer ungeduldigen, an der Schlafzimmertür auf das Erlöschen seiner Atemzüge wartenden Politikergruppe umringt. Er ganz allein hütete die Freundschaft mit Deutschland – Herr von Bethmann-Hollweg bemerkte etwas spät, in seinem Buche, dass der »bereits unter 126 Altersgebrechen leidende Carol wohl nur noch in seiner Person« die Fortdauer des Bündnisverhältnisses garantiert habe – der Thronfolger Ferdinand, sein Neffe, hatte weder Sympathien noch Antipathien, die schöne, ehrgeizige Kronprinzessin liess sich von stärkerer Männlichkeit, verkörpert in der Person des ganz französisch denkenden Prinzen Stirbey, leiten, die Bratianu und Take Jonescu waren frei von Sentimentalitäten, die Salonsprache, die Mode und die Parfums kamen aus Paris. Auch die russische Diplomatie arbeitete in Bukarest sehr geschickt, sehr freigebig und mit Erfolg. Im August 1913 nannte es Iswolski schmeichlerisch ein politisches Meisterstück, dass es Sasonow gelungen sei, Rumänien von Oesterreich zu trennen. Take Jonescu hat – zuerst 1915 in der »Roumanie« – geschildert, wie er am 31. Dezember 1912 auf der Fahrt nach London, wo er mit der Türkei und den Balkanstaaten verhandeln wollte, in Paris Halt machte und wie ihn am nächsten Tage um achteinhalb Uhr morgens Poincaré empfing. Er war damals Minister des Aeussern und bat Poincaré, sich in dem Streit mit Bulgarien auf die Seite Rumäniens zu stellen. Poincaré versicherte ihn seiner wärmsten Gefühle, aber machte ihm klar, dass er sich leider Zurückhaltung auferlegen müsse, denn »infolge eurer Militärkonvention mit Oesterreich-Deutschland würdet ihr, wenn jemals der Krieg ausbrechen sollte, im Lager unserer Feinde sein«. Dann folgte die präzise Frage, ob er, Poincaré, hoffen dürfe, im Falle eines Krieges die rumänische Armee nicht gegen Frankreich und seine Alliierten marschieren zu sehen. Take Jonescu glaubte schon seit langen Jahren nicht, dass »die Dorobantz sich jemals an der Seite der Honveds schlagen könnten«, aber er musste sich mit allgemeinen Beteuerungen begnügen und konnte den französischen Ministerpräsidenten nur bitten, auf die Zukunft zu vertrauen. »Die Ereignisse des Jahres 1913«, hat er weiter erzählt, »bestärkten mich in meiner Auffassung und ich sah völlig klar, dass der Gedanke, das rumänische Blut zum Ruhme des Magyarentums vergiessen zu lassen, zu absurd war, als dass irgend jemand in der Welt imstande wäre, ihn zur Ausführung zu bringen.« . . . »Am 9. Dezember 1913« – er war noch immer Minister – »besuchte ich Herrn Poincaré, der nun Präsident der Republik geworden war. Nachdem mich Poincaré zu den Erfolgen Rumäniens beglückwünscht hatte, ergriff ich die Gelegenheit, um ihm zu erklären: »Sie haben am 1. Januar eine Frage an mich gerichtet, die ich damals nicht beantworten konnte, aber heute antworte ich darauf. Wenn der Krieg ausbrechen sollte, würden Sie die rumänische Armee nicht im Lager Ihrer Feinde sehen.« – »Haben Sie den Allianzvertrag gekündigt?« fragte er mich. – »Ich weiss nichts von irgendwelchen Verträgen, aber was ich weiss, ist, dass die rumänische Armee sich nicht im Lager Ihrer Feinde befinden wird, und dessen bin ich absolut gewiss . . .«

Am 9. September 1913 also gelobte Take Jonescu, der rumänische Aussenminister, beim Ausbruch eines Krieges werde Rumänien den 127 Vertrag zerreissen, der es an Deutschland und Oesterreich band. Genau einen Monat vorher erhielt Rumänien, dank der deutschen Hilfe, Silistria und ein grosses Gebiet, und Wilhelm und Carol feierten in einem schwungvollen Telegrammwechsel das Ereignis und brachten einander die innigsten Segenssprüche dar. Carol dankte Wilhelm für die treue Freundschaft und die warme Sympathie. Wilhelm rühmte Carols »weise und wahrhaft staatsmännische Politik«. Beglückt, weil er Rumänien beglückt hatte, wollte der Kaiser, dass alle Welt von seiner tatkräftigen Mitwirkung erfahre und die Dankesworte des Königs kennen lerne, und ordnete, obgleich Herr von Bethmann-Hollweg, mit Rücksicht auf das unterlegene und gekränkte Oesterreich, davon abriet, die sofortige Veröffentlichung der Depeschen an. In Wien war der Aerger so gewaltig, dass Erzherzog Ferdinand nicht zu den schlesischen Manövern kam. Das war kein grosses Unglück und nur die Notwendigkeit ergab sich für alle Nibelungen, bei der ersten Gelegenheit Oesterreich wieder zu versöhnen und durch verdoppelte Beweise der Bundestreue den Schatten zu verscheuchen, der auf der Stirn des Freundes lag. Warum hätte man sich in Berlin über die staatsmännische Leistung, die man beim Friedensschluss von Bukarest vollbracht hatte, nicht herzhaft freuen sollen, da man doch von der ewigen Dankbarkeit der Rumänen überzeugt war und nicht ahnte, dass Take Jonescu, der rumänische Aussenminister, mit dem frisch gedruckten Telegramm des Königs Carol in der Tasche, sich zur Audienz bei Poincaré begab?

 

Als hier von der Beendigung der Skutari-Affäre gesprochen wurde, schloss die Darstellung mit der Bemerkung, dass nun für die österreichische Kriegspartei alles aus gewesen sei. Dieser Satz war immerhin nur mit Einschränkung richtig, es war für diesmal aus mit allen Möglichkeiten, den Traum zu verwirklichen, aber der Traum selber verschwand nicht und von Zeit zu Zeit bewegte der angeblich unschädlich gemachte Lindwurm immer wieder den Schwanz. Unmittelbar nach dem Ausbruch des zweiten Balkankrieges, am 4. Juli – Rumänien mobilisierte schon, die bulgarische Niederlage liess sich bereits vorhersehen – meldete Herr von Tschirschky aus Wien, Graf Berchtold habe ihn zu sich gebeten und ihn auf »den Ernst der Lage« aufmerksam gemacht. Wieder, wie nun schon häufig, setzte der Graf auseinander, eine über das von Oesterreich gestattete Mass hinausgehende Vergrösserung Serbiens wäre für die Doppelmonarchie eine furchtbare Gefahr. »Auf meine Frage«, berichtete Tschirschky, »wann und wie er sich das Eingreifen denke, bemerkte der Minister, der psychologische Moment werde wohl gefunden werden können.« Man könne mit einer diplomatischen Konversation in Belgrad beginnen, »die, falls ohne Resultat, militärischen Nachdruck erhalten müsste«, aber »die Monarchie werde eben handeln müssen«, wenn nicht gerade die Bulgaren dafür sorgen sollten, dass nur noch »ein kleines, von dem Feinde geschlagenes Serbien 128 vorhanden sei«. Diese Lösung der Frage wäre »einer eventuellen Besetzung der Monarchie« bei weitem vorzuziehen. Herr von Bethmann-Hollweg, dem der österreichisch-ungarische Botschafter die gleichen Ideen vortragen musste, riet zur Mässigung und sagte, selbst nach einem serbischen Siege hätte es »mit einem Gross-Serbien noch gute Wege« und »einige Landstriche mehr oder weniger machen den Kohl nicht fett«. Bemühungen, Serbien aus neu eroberten Territorien durch diplomatische Mittel herauszujagen, wären aussichtslos. »Sollte Oesterreich aber versuchen, das mit Waffengewalt zu tun, so würde das einen europäischen Krieg bedeuten« und die Lebensinteressen Deutschlands würden dadurch auf das ernsteste berührt. Graf Berchtold müsse, bevor er etwa derartige Entschlüsse fasse, die deutsche Regierung in Kenntnis setzen, aber hoffentlich lasse man sich in Wien »durch den cauchemar eines Gross-Serbiens« nicht aus der Ruhe bringen.

»Total verrückt!« bemerkte auch Wilhelm II., als er aus Tschirschkys Berichten die abermalige Kriegsneigung der Wiener Herren ersah. Indessen, dem letzten Akt folgte immer noch ein allerletzter Akt. Und der letzten Meinung Wilhelms und der deutschen Regierung folgte sehr oft noch eine allerletzte Meinung, ihrem letzten Wort immer noch ein allerletztes Wort. Es ist eine beinahe atemraubende Beschäftigung, all ihren Zickzackgängen, Drehungen, Sprüngen nach vorwärts und rückwärts nachzujagen, und wenn man glaubt, dass sie nun auf einer Stelle verweilen werden, sind sie bereits wieder anderswo. Als die serbischen Truppen sich etwas lange in dem neuen Staat Albanien aufhielten, liess die Wiener Regierung, am 18. Oktober 1913, in Belgrad durch eine ultimative Note, unter Androhung der »ihr geeignet erscheinenden Massregeln«, die Räumung binnen acht Tagen verlangen. Darauf schickte der Rat im kaiserlichen Gefolge, Graf Wedel, aus Bonn neue Weisungen an das Auswärtige Amt. »Seine Majestät haben die Mitteilung, dass Oesterreich diesmal fest entschlossen sei, Serbien nicht nachzugeben, mit grosser Befriedigung begrüsst«, und man solle dem österreichischen Geschäftsträger sagen, Oesterreich-Ungarn könne »unserer Unterstützung durchaus sicher sein«. Sogleich telegraphierte der Unterstaatssekretär Zimmermann dem Geschäftsträger von Mutius in Petersburg, wir könnten, da ein Ultimatum vorliege, Oesterreich nicht zur Nachgiebigkeit raten und ständen »selbstverständlich hinter ihm«. Immerhin versprach man diesmal den Herren in Wien vorsichtshalber nur eine »moralische Unterstützung«, und daneben war man bemüht, Sir Edward Grey für eine Beteiligung an den Warnungsschritten in Belgrad zu gewinnen. Grey tadelte, ebenso wie die italienische Regierung, das schroffe Vorgehen der Oesterreicher und das Ultimatum, das man losgelassen hatte, ohne vorher die andern Mächte zu unterrichten, empfahl aber der serbischen Regierung, ihre Truppen aus Albanien zurückzuziehen. In Petersburg war man empört, riet aber gleichfalls zur Nachgiebigkeit, und am 20. Oktober beendete eine Erklärung des serbischen 129 Ministerpräsidenten Paschitsch, dass Albanien schleunigst geräumt werden solle, auch diesen Konflikt. Man kann nicht verschweigen, dass die deutsche Regierung und, trotz zahlreichen Bekundungen besserer Erkenntnis und trotz unzweifelhafter Abneigung gegen eine Katastrophenpolitik, Wilhelm II. sich ein halbes dutzendmal oder öfter in jene Situation hinein begaben, aus denen, wenn die Gegner mit voller Entschlossenheit zugreifen, ein Zurück schwierig ist. Die Gegner griffen nicht zu, England erlaubte es in diesem Augenblick noch nicht, Russland wollte die Früchte noch reifen lassen, »es musste gebremst werden«, sagt in seinen »Betrachtungen« Herr von Bethmann-Hollweg, aber es ist kein unanfechtbares Verdienst, wenn man nur deshalb, weil die andern bremsen mussten, nicht in den Abgrund fiel.

 

Wer so, wie es der Wahrheit entspricht, konstatiert, dass die deutsche Politik während der Balkankriege mehrmals, und immer im Interesse höchst zweifelhafter österreichischer Ansprüche, die Gefahr eines allgemeinen Zusammenstosses nicht sofort abschwächte, ist berechtigt, dem Geschichtsschreiber Poincaré zu antworten, der nur die Rolle Deutschlands dunkel erscheinen lassen will und ihr die eigene gegenüberstellt. Die Antwort muss in der Frage gipfeln : Sind wirklich Denken und Handeln auf beiden Seiten so verschieden, dort so ganz anders als hier gewesen und lassen sich bei genauer und gerechter Prüfung andere Unterschiede als einige Nuancen der Methode und der Formgebung erkennen? Die Versuche Poincarés, einen breiten Abstand zwischen seinem Wollen und Tun und dem deutschen Verhalten nachzuweisen, sind ebenso tendenziös, wie jene deutsche Geschichtskritik, die von eigenen Fehlern nichts wissen will und die nicht zugibt, was doch aus den eigenen Akten nicht fortgestrichen werden kann. Keiner ist so weiss, wie er selber dastehen möchte, und keiner so schwarz, wie ihn der andere malt.

Wie Wilhelm, Bethmann, Kiderlen und Jagow, kann Poincaré sagen, er habe gewünscht, die Ausbreitung des Balkanfeuers, das Uebergreifen auf die europäischen Grossmächte, vermieden zu sehen. Er hat die Ansteckungsgefahr gefürchtet, hat mit Formeln und Vorschlägen dagegen angekämpft, und wie man sehr viele deutsche Aeusserungen zitieren kann, die eine aufrichtige Absicht zeigen, den europäischen Frieden zu schützen, kann man viele Worte aus den Instruktionen Poincarés zitieren, an deren friedlichem Charakter sich auch nicht deuteln lässt. Genau wie die Leiter der deutschen Politik, hat Poincaré dann wieder mancherlei ausgesprochen und unternommen, was den Kriegswillen des Verbündeten ermutigen und stärken konnte, und dadurch in gewissen Momenten die Gefahr, die er von seinem Lande fernhalten wollte, näher gebracht. Genau wie den Wegen Wilhelms II. und seiner Ratgeber oder Beauftragten hat es den seinigen an Gradlinigkeit gefehlt, und auch er ist mit manchen unlogischen Seitensprüngen, im 130 Zickzack vorwärts gegangen. In Berlin beobachtete man die konfuse und den Frieden bedrohende Mentalität Wiens mit tiefem Unbehagen und äusserte, wenn österreichische Ohren es nicht hören konnten, derb seine Antipathie. Der Kaiser machte seinem Missvergnügen in einer Fülle absprechender Randnotizen Luft, Kiderlen ärgerte sich über den »Kovalier« Berchtold, der absolut nicht wisse, was er wolle, und stöhnte: »Verbündet sein – und nichts als Misstrauen und Missverständnisse und eigenmächtige Politik!« Ganz ähnlich dachte Poincaré über die Staatskunst des russischen Alliierten: »Die Liste der täglichen Widersprüche fängt an, erschreckende Dimensionen anzunehmen . . . Russland benutzt uns als Schild und als Schreckgespenst.« Paul Cambon schrieb aus London, dass die russische Politik eine »Politik der Eitelkeit mit all ihren Nachteilen« sei. Dennoch stellten die Führenden in Deutschland und stellte Poincaré diesen Verbündeten die Lebenskraft der eigenen Völker zur Verfügung, verstrickten sie sich immer unlösbarer in das Netz dieser Allianzen, spornten sie dadurch eine Abenteuerlust an, die ihnen verwerflich erschien. Der eine wie der andere – der Unterschied war gering.

Deutschland war durch seinen Vertrag verpflichtet, den Oesterreichern bei einem Angriff durch Russland zu helfen, Frankreich war verpflichtet, den Russen bei einem deutschen Angriff oder bei einem von Deutschland unterstützten österreichischen beizustehen. Sowohl von Deutschland wie von Frankreich wurde der Text der Verträge im Jahre 1913 schärfer als beim Abschluss der Bündnisse ausgelegt, wurden das Gewicht und der Umfang der Verträge freiwillig vermehrt. Bismarck hatte die Zumutung, dass Deutschland für die österreichisch-ungarischen Balkaninteressen eintreten solle, immer energisch zurückgewiesen und erklärt, wir würden genötigt sein, Oesterreich in den orientalischen Fragen »nicht nur von derartigem Widerstand gegen Russland abzuraten, sondern auch durch jedes anwendbare Mittel zu entmutigen«, falls ihm nicht gerade der Beistand Englands gesichert sei. Der Beistand Englands war jetzt den Oesterreichern ganz und gar nicht gesichert, aber diejenigen, die in Berlin über das deutsche Schicksal entschieden, setzten für die österreichische Balkanposition Glück und Leben des deutschen Volkes ein. Alles, wie sie behaupteten und noch behaupten, natürlich nur, um den Bundesgenossen – den niemand uns nehmen konnte und der nur auf Deutschland angewiesen war – nicht zu verlieren, und um ein brüchiges, morsches Staatsgebilde zu halten, von dem man offenbar glaubte, dass es schon zusammenkrachen müsse, wenn Serbien einen Hafen erhielt. »Indem unsere Staatsmänner«, sagt der ausgezeichnete Historiker Erich Brandenburg, »die Notwendigkeit des Dreibundes und der Erhaltung der Donaumonarchie zu einem unantastbaren Dogma erstarren liessen, handelten sie durchaus dem Geiste Bismarcks und jeder gesunden Politik zuwider und beraubten sich der notwendigen Bewegungsfreiheit in der Ausgestaltung unseres 131 Bündnissystems«. Und ganz ebenso hat Poincaré, auch wenn er es auf zahllosen Seiten seiner Memoiren und in vielen Aufsätzen bestritten hat, dem französisch-russischen Allianzvertrag einen von den ursprünglichen Ideen abweichenden Sinn gegeben und das Risiko ausdrücklich auf die Balkansphäre ausgedehnt. Während seine Vorgänger zum mindesten vorsichtig um diesen kritischen Punkt herumgingen, beseitigte er jeden Zweifel, der die Russen hätte hemmen und beklemmen können. Gewiss, Poincaré kann – und er tut es im elften Kapitel seines zweiten Bandes mit Nachdruck – auf den Wortlaut der Militärkonvention hinweisen, in der Frankreich versprochen hatte, den Russen gegen einen von Deutschland unterstützten österreichischen Angriff zu Hilfe zu kommen, und in der von einer Beschränkung dieser Bundespflicht auf den Okzident nicht die Rede war. Formell ist seine Interpretation richtig, aber mehr als eine formale, juristische Richtigkeit hat die Ansicht seines heftig befehdeten Gegners Fabre-Luce, es komme nicht so sehr auf den Text wie auf die Anwendung, auf die diplomatische Handhabung an. Und dann gibt es in diesem Spiel der Verträge noch eine weitere Aehnlichkeit. Deutschland und Frankreich steigerten ihre Leistungen, oder die Bereitwilligkeit zu Leistungen, gegenüber ihren Verbündeten, und während sie das taten, schränkten die Verbündeten die eigenen Verpflichtungen nach Möglichkeit ein. Oesterreich hatte Deutschland bei allen Marokkokonflikten achselzuckend im Stich gelassen, hatte bei solchen Gelegenheiten den Franzosen vieldeutig zugeblinzelt und hätte, wenn Deutschland in einen Krieg hineingeraten wäre, keine Hand gerührt. Sasonow stellte – der Verfasser des Werkes »Au Service de la France« kann in der Polemik mit Fabre-Luce die Bedeutung dieser Erklärung höchstens um einige Nuancen herabmindern – bei dem Petersburger Besuche Poincarés fest, Russland brauche seinem Alliierten nur in »Lebensfragen« zu helfen, brauche ihm in »aussereuropäischen« Konflikten keine Hilfe zu bringen. Deutschland und Frankreich, ritterliche Nationen, waren Liebhaber mit unbegrenztem Opfermut. Die geliebten Personen kamen nur, wenn es ihnen passte, zum Rendezvous.

 

Poincaré wirft, und leider mit unleugbarer Berechtigung, der deutschen Politik vor, sie habe sich im Schlepptau Oesterreichs bewegt. Dass Frankreich ebenso willig der russischen Regierung gefolgt sei, bestreitet er mit Energie. Indessen, als im November 1912 die Oesterreicher Kriegsvorbereitungen gegen Serbien trafen und Russland nicht mit ähnlichen Vorkehrungen zu antworten schien, äusserte er sich über diese angebliche russische Untätigkeit ungemein besorgt. Iswolski meldete, Poincaré und das gesamte Kabinett seien »höchst bestürzt und aufgeregt«, weil man in Petersburg an einen österreichischen Angriff nicht glauben wollte, und man fürchte sich in Frankreich nicht mehr davor, für fremde Interessen in den Krieg hineingezogen zu werden, sondern habe nur noch die Sorge, Russland verhalte sich zu passiv. 132 Diese Darstellung Iswolskis hat Poincaré nicht dementiert. Sollte sie, wie man glauben muss, zutreffend sein, so hätte in jenem Augenblick die französische Regierung sich allerdings nicht im Schlepptau Russlands befunden, sondern eher die Rolle des Schleppdampfers gespielt. Noch einmal: manches, was in Berlin gesagt und getan wurde, konnte verderblich werden und in einer Unglückssekunde konnte das deutsche Volk in die Hölle der Kriegsteufel hinunterstürzen, vor der es völlig ahnungslos stand. Aber wenn man in Petersburg die aufgeregten Pariser Ratschläge befolgt hätte, dann hätte sich wahrscheinlich auch die Hölle aufgetan.

In Wien und in Petersburg, in Wien besonders, blieb nach so langer Spannung, Nervenüberreizung und wirtschaftlicher Anstrengung eine drückende Dunstatmosphäre zurück. Müde Unlust der Enttäuschten, nagender Groll und Erbitterung aller, die behaupteten, die gute Gelegenheit sei versäumt worden, tiefe Beunruhigung, weil die Verschlechterung der politischen Situation sich nicht wegdisputieren liess. Oesterreich hatte, von Deutschland unterstützt, an diplomatischen Erfolgen weit mehr als Russland errungen. Sein Veto hatte die Serben von der Küste ferngehalten, Skutari war geräumt, das selbständige Albanien geschaffen worden, und kein serbischer Soldat blieb auf dem albanischen Terrain. Aber was half das alles, da Serbien doch weit über seine alten Grenzen hinausgewachsen war? Ein Serbien, das nun erst seine Kraft erkannt, am Siegeswein sich nur durstig getrunken hatte und selbstsicher und hassvoll zu dem alten Oesterreich, dem Verhinderer und Räuber eines schwer erkämpften Preises, hinübersah. Deutschland, das so lange den Schirmherrn der Türken gespielt hatte, sah diesen Klienten beinahe ausgeschaltet und hatte schliesslich, nach soviel selbstloser Dienstwilligkeit, seinen österreichischen Verbündeten verstimmt. Eine unerfreuliche Tatsache, denn oft wird, um solche Erinnerungen auszulöschen, die Bündnistreue in doppelten Portionen serviert.

Russland hatte sehr viele diplomatische Rückzüge angetreten, hatte jedesmal, wenn die Dinge sich zuspitzten, in Belgrad zur Nachgiebigkeit geraten, also anscheinend einen Misserfolg an den andern gereiht. Indessen, es verfügte nun über ein kampfbereites und äusserst kampfwilliges Serbien, wusste, dass Rumänien trotz Carol und Wilhelm nicht mehr in die Front der Gegner gehöre, und hatte bei seinen Rückzugsbewegungen nur wie ein Fabius cunctator oder ein Kutusow gehandelt, die zögern und warten, bis die Frucht ihnen entgegenreift. Am 22. Oktober 1912 erklärte Sasonow in Belgrad: »Wir haben Serbien kategorisch wissen lassen, dass es nicht darauf rechnen solle, uns mit sich fortzureissen« – aber bei all den sehr kräftigen Warnungen, die nach Belgrad gerichtet wurden, sprach doch, wie gesagt, immer der Gedanke mit, bald werde die günstigere Stunde kommen. Durch ein planmässiges Zurückweichen bereitete man sich auf zukünftige Möglichkeiten vor. Von der deutschen Geschichtsschreibung wird ein Brief, 133 den Sasonow am 6. Mai 1913 an den russischen Gesandten in Belgrad geschrieben hat, viel benutzt. Serbien, heisst es darin, müsse zur Erreichung seines Zieles noch einen furchtbaren Kampf aushalten, sein verheissenes Land liege im Gebiete Oesterreich-Ungarns, die Zeit arbeite für Serbien und zum Verderben seiner Feinde, deren Zersetzung schon deutlich sichtbar sei. Dieser Brief, der für authentisch gilt, ist natürlich geschrieben worden, weil man Serbien von einem zu schroffen Vorgehen gegen die Bulgaren ablenken, die Sprengung des Balkanbundes verhindern und keinen, auf den man gerechnet hatte, dazu drängen lassen wollte, ins gegnerische Lager überzugehen. Aber es war doch auch die aufrichtige Meinung des Briefschreibers: der österreichische Dilettantismus wird in seinem hochmütigen Dreinfahren selber die bessere Gelegenheit schaffen und die Zukunft gehört dem, der zu warten versteht.

Obgleich der Friedensschluss beinahe niemanden befriedigte, die Luft nicht reinigte, empfanden die genügsamen Völker es doch angenehm, dass nun keine Kriegsdepeschen mehr in den Zeitungen standen und endlich einmal kein Kanonendonner mehr aus der Ferne herüberdrang. Viele nannten es auch ein gutes Zeichen, dass Europa diesmal die Probe bestanden habe, und allerlei Lobendes wurde über das »europäische Konzert« gesagt. Die Menschen hielten gern das Mögliche für unmöglich, das Nahe für weltfern, und auch wenn sie Grund hatten, an der Weisheit ihrer Hirten zu zweifeln, zwangen sie sich zu einem halben Vertrauen. Sogar die Weinbauern am Vesuv bauen ja nach jedem Ausbruch immer wieder neben der noch heissen Lava ihre Wohnstätten auf.

 

Wenn man den Fehler der von Oesterreich und dem mitgeschleiften Deutschland betriebenen Politik zeigen will, braucht man nur daran zu erinnern, dass Wien sich mit Rom zur Vertreibung der Montenegriner aus Skutari, zur Fernhaltung der Serben von der Küste und zur Gründung des Albanerstaates zusammenfand. Mit der Feindschaft zweier Nationen, der italienischen und der serbischen, hatte Oesterreich zu rechnen, und statt die beiden auseinanderzuhalten, zwischen ihnen die Ursache ewigen Gegensatzes und Zwistes zu schaffen, räumte man, plötzlich dem einen zu gemeinsamem Werk verbunden, den Giftherd, dessen Hauch sie gegeneinander getrieben hätte, mit grossartiger Tatkraft aus. Der serbische Hafen hätte die Existenz Oesterreichs, wenn sie sonst nur solide gewesen wäre, nicht bedrohen können. Aber Serbien an der Küste der Adria – für Italien täglich eine aufreizende, eine verhasste Idee. Die Eifersucht der beiden Adria-Konkurrenten wäre nicht einen Augenblick lang zur Ruhe gekommen. Wenn Serbien niemals den Hafen begehrt hätte – Oesterreich hätte ihm diesen Wunsch suggerieren müssen, um es mit Italien zu entzweien. Das war doch das einfachste und immer wieder empfehlenswerte Hausmittel der Staatsmannkunst, unzählige Male erfolgreich gebraucht, hier leichter als 134 jemals und mit doppeltem Profit anwendbar – der unvergleichliche Zankapfel, ohne Züchteranstrengung an der Adriasonne gereift. Italien und Serbien hätten nicht mehr vereint auf das alte österreichische Ziel geblickt, sie hätten anderes zu tun gehabt, und schwerlich hätte Italien für ein Serbien, oder an der Seite eines Serbien, das sein schlimmster Rivale geworden war, fechten wollen. In Wien und in Berlin war man nicht fähig, das zu sehen. Was man dort für Politik hielt, war lebensfremd, wirklichkeitsfremd. Etwas Künstliches, Konstruiertes, Papierenes, das ausserhalb aller Realitäten stand. Nach irgendeinem doktrinären Schema im Kanzleizimmer hinter Vorhängen, die das Licht und die Geräusche der lebendigen Welt nicht hereindringen liessen, von scholastischen Gehirnen zurechtgemacht.

Aber wenn das in Oesterreich und in Deutschland als Politik geübt und ausgegeben wurde – war es nicht anderswo ebenso? Was kümmerten die Dinge auf dem Balkan das französische Volk? Ueberall wollten die Menschen ihr kurzes Leben in ruhiger Arbeit und im friedlichen Genuss der oft magern Ernte verbringen. Sie bauten ihr Haus oder ihre Hütte, waren Bürger und Familienväter, aus der Summe der Resultate, die sie mit ihrem Fleiss und ihren Fähigkeiten errangen, ergab sich, zu ihrer Freude, das Wohlergehen ihres Staates, und dieser stille, bescheidene, schaffende Patriotismus war ohne Zweifel wertvoller als das Gehabe der herumschwirrenden Drohnen, die immer behaupteten, sie hätten eine nationale Mission zu erfüllen. Was gingen die ungeheure Mehrheit der Menschen die sogenannten diplomatischen Erfolge an? Fast niemals hingen von solchen Erfolgen Glück und Gedeihen des Landes ab. Nur die Kriegslieferanten, gewissenlose Zeitungsschreiber und Demagogen, Renommisten in Zivil und Ruhmjäger in Uniform pusteten unwesentliche Geschehnisse zu entscheidenden Ereignissen auf. Nur für sie war es Anlass zu gewaltiger Erregung, wenn irgendein fremdes Land ein gleichgültiges Gebiet gewann. Aber über den Völkern walteten, überall zu wenig kontrolliert, diejenigen, deren Amt es war, das Steuerrad zu drehen. Sie sassen gebeugt über Karten und Akten, und sie klammerten sich, weil die Gedanken unklar durcheinandergingen, an ein aus nebelhaften Prinzipien und blanken Schlagworten errichtetes System. Wenn diese Schicksalsmacher aufblickten, zeigte sich ihnen eine grosse Puppe, dick, wachsig, unnatürlich und starr. Immer mehr hielten sie dieses gespenstische Produkt ihrer Phantasie für ein Wesen, dessen Wille respektiert werden müsse, und immer gefügiger unterwarfen sie sich dieser bizarren Zauberkraft. Ihre aufgequollene Puppe war mit goldenen und bunten Flittern götzenhaft ausstaffiert. Sie nannten sie: das Prestige. 135

 


 


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