Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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X

Während die andern Gäste noch auf der »Viktoria Luise« blieben – viele, um am nächsten Morgen dem Kaiser nach Kiel zu folgen –, kehrte ich, durch Verpflichtungen an längerer Festbeteiligung verhindert, mit Hutten-Czapski gegen Mitternacht auf einer Barkasse nach Hamburg und von dort nach Berlin zurück. Als ich am Abend des 28. Juni von Heringsdorf, wo ich meine Mutter besucht hatte, mit meinen beiden kleinen Söhnen nach Stettin fahren wollte, wurde mir am Dampfersteg ein Telegramm übergeben, in dem man mir meldete, dass in Serajewo der Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin von einem serbischen Studenten ermordet worden seien. Der Kaiser hatte die Kieler Regatta abgebrochen, das englische Geschwader, das ein Freundschaftsgastspiel gegeben hatte, war abgedampft. Das Fest war aus. Bülow zufolge war Wilhelm im ersten Augenblick sehr bestürzt über die Attentatsnachricht gewesen, hatte sich aber schnell beruhigt und sogar mit seiner Yacht »Meteor« weitersegeln wollen, »zumal er gute Chancen hatte, den von ihm selbst ausgesetzten schönen Preis zu gewinnen«. Es ist schwer zu sagen, ob diese Erzählung in die Reihe derjenigen gehört, vor die man die pompejanische Warnung »cave canem« setzen muss, oder ob hier Wahres mit Pfiffigkeit vorgetragen wird. In Berlin fand ich eine nervöse Spannung vor. Ueber ganz Europa ging ein Zittern durch die Luft. Mitgefühl mit den Opfern der Tragödie, Schauder über das entsetzliche Attentat, gewiss. Aber es war nicht das Mitleid mit dem Ehepaar, das man wenig gekannt hatte, und nicht der Schauder über das entsetzliche Attentat, was für einen Augenblick das Blut in den Adern erstarren liess. Es war etwas anderes, eine sinnverwirrende Frage, die plötzlich vor jedem stand. In diesem Augenblick hatten die Menschen das Haupt der Medusa gesehen.

Franz Ferdinand war, von Wien kommend, zu den Manövern in Bosnien gereist, am 25. Juni in Mostar, der Hauptstadt der Herzegowina, von den Behörden begrüsst worden und am folgenden Tage in dem Badeort Ilidze, dicht vor Serajewo, mit seiner Gattin zusammengetroffen, die über Agram gekommen war. Das Paar hatte dann am Nachmittag einen Ausflug nach Serajewo unternommen, dort zu Fuss die Strassen durchwandert, die Geschäfte besucht und Einkäufe gemacht. An den folgenden beiden Tagen war der Herzog bei den Manövern, am Abend des 27. war in Ilidze Paradediner. Am Sonntag, dem 28. Juni, offizielle Einfahrt in Serajewo, mit dem ganzen üblichen Empfangszeremoniell. Franz Ferdinand in dem weissen Waffenrock, mit Orden, und dem Helm mit dem breiten Federbusch. Die Herzogin von Hohenberg in weissem Kleid, eine hochstehende schwarze Straussenfeder auf dem weissen Sommerhut. Auf dem Appel-Kai flog eine Bombe gegen das 285 Automobil, in dem Franz Ferdinand und seine Gattin sassen, prallte aber ab und explodierte erst unter dem nachfolgenden Wagen, dessen Räder gerade über sie hinübergingen. Ein Offizier, der Oberstleutnant von Mericzei, wurde schwer, ein anderer leicht verletzt. Nach kurzem Aufenthalt wurde die Fahrt fortgesetzt, über den Kai zum Rathaus, wo Franz Ferdinand zum Bürgermeister sagte: »Mit Bomben wird man bei euch empfangen.« Der Feldzeugmeister Potiorek, Landeschef von Bosnien, beruhigte, verbürgte sich, versicherte, als der Erzherzog fragte, ob das mit den Bomben so fortgehen werde, nein, es bestehe keine Gefahr. Indessen, es war besser, den Weg abzukürzen, das Innere der Stadt zu vermeiden, und die Chauffeure erhielten den entsprechenden Befehl. Der Chauffeur des Bürgermeisters, der mit seinem Auto vorausfuhr, vergass die neue Weisung, lenkte in die Franz-Joseph-Strasse ein, hielt, als er den Irrtum bemerkte und angeschrien wurde, und wollte umkehren, und in diesem Augenblick der Stockung fielen zwei Revolverschüsse, die Herzogin von Hohenberg sank, von einer der Kugeln getroffen, leblos zusammen. Franz Ferdinand umfing sie mit seinen Armen, er schien unversehrt, das Automobil jagte dem Konak zu. Vor dem Ziel schwankte der Erzherzog, der andere der beiden Schüsse hatte ihn tödlich verwundet, er war schon bewusstlos, als ihm der Priester die letzte Oelung gab.

Das Attentat wurde von dem bosnischen Studenten Gavrilo Princip, dem jungen Gabrinovitsch, der in der Staatsdruckerei in Belgrad angestellt war, und dem Studenten Grabez ausgeführt. Ein Bosnier namens Ilic hatte die letzten Vorbereitungen geleitet, drei in Serajewo wohnhafte Individuen, Gubrilovitsch, Popovitsch und Mehmed Basitsch, hatten als Aufpasser und Signalgeber gedient. Urheber und oberster Stratege der Mordverschwörung war der Oberst Dragutin Dimitrijevitsch, der Chef der Nachrichtenabteilung im serbischen Generalstab und gleichzeitig Chef der mit dem Kabinett Paschitsch verfeindeten »Schwarzen Hand«. Angeblich hatte er die Ermordung beschlossen, als Spitzel des russischen Generalstabes berichteten, Franz Ferdinand und Wilhelm II. hätten sich im Oktober 1913 in Konopischt dahin geeinigt, im nächsten Frühjahr Serbien zu überfallen. Diese Agentenmeldung war so dumm und zeugte von einer solchen Unwissenheit ihrer Erfinder, dass man sich schwer vorstellen kann, der Oberst Dimitrijevitsch habe sie ernst genommen. Aber Verschwörer-Intelligenz sollte nie zu hoch geschätzt werden, und es hat manchen dieser Art gegeben, dessen Denken wie ein verbogener Speer immer die falsche Stelle traf. Dimitrijevitsch beauftragte seine beste Kraft, den Major Tankositsch, mit der Vorbereitung des Attentates, Tankositsch weihte, wie es scheint, den südslawischen Komplottpolitiker Gasinovitsch ein, der in Lausanne lebte, und Gasinovitsch berief seine Vertrauensleute nach Toulouse. Mehr oder weniger unabhängig von diesen mit etwas viel Eisenbahnfahrten verbundenen Konferenzen, und vermutlich ganz unabhängig von ihnen, verhandelte in Belgrad der 286 Major Tankositsch mit Gabrinovitsch und dem Studenten Princip, die dann wieder Grabez und den Bosnier Ilic gewannen, und Ende Mai war alles bereit. Auf sehr abenteuerlichen Wegen wurden die Bomben, zusammen mit den Attentätern, über die bosnische Grenze nach Serajewo gebracht. Die Anhänger der »Schwarzen Hand«, in Sabac ein Offizier, auf dem Drinaufer ein erfahrener Schmuggler, auf bosnischem Boden ein Lehrer, sein Vetter und ein Kinobesitzer, wirkten dabei hilfreich mit. Am Vormittag des 28. Juni wurden in Serajewo den Attentätern durch Ilic die Bomben und die Revolver überreicht. Dies geschah an einem sonst harmlosen Rendezvous-Ort, in einer kleinen Konditorei.

Man hat nachweisen wollen – besonders die Herren von Wiesener und Boghitschewitsch sind auch in diesem Fall die Anklagevertreter –, dass die serbische Regierung, Paschitsch und die Seinigen, an dem Attentat von Serajewo beteiligt oder direkt verantwortlich für die Mordtat gewesen seien. Diese Anklage ist keineswegs sofort aufgetaucht, sie ist erst nach dem Kriege konstruiert worden, als die Diskussion über die Schuldfrage sich immer mehr ausbreitete und mancher in dem Eifer, die fremde These zu zerstören und die eigene zu begründen, die Methoden der Versailler Richter nachzuahmen begann. Vorsichtige haben sich mit der Behauptung begnügt, die Regierung Paschitsch habe ihren Anteil an der Verantwortung gehabt, weil hohe Offiziere das Komplott organisierten und serbische Beamte den Attentätern halfen, die Bomben nach Serajewo zu bringen. Andere, Kühnere, haben sogar den Kronprinzen Alexander, nunmehr König, als Mitwisser ausgegeben, weil er sich bei einem Besuche in der Staatsdruckerei einen Augenblick lang mit Gabrinovitsch, der ihm vorgestellt wurde, freundlich unterhielt. Es muss daran erinnert werden, dass die Leute der »Schwarzen Hand«, die immer aufsässigen Offiziere, die unzufriedenen und herrschsüchtigen Sieger der Balkankriege, Paschitsch hassten und dass – der dann später zum Tode verurteilte – Dragutin Dimitrijevitsch der Feind des Ministerpräsidenten war. Ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Verschworenen Paschitsch einweihten, ihm ihr Geheimnis und sich selbst auslieferten, und dass Paschitsch sich ihnen in die Hände lieferte, und welchen Nutzen hätte selbst seine Zustimmung für die Ausführung ihres Planes gehabt? Und noch einmal muss gefragt werden, was Paschitsch sich von der Mörderpolitik der »Schwarzen Hand« versprechen konnte, und obenein von einem Attentat, das in Europa Entsetzen erregen musste und dem serbischen Volke vielleicht nichts anderes eintragen würde als Busse, Erniedrigung und Verlust von Sympathien. Ein solches Spiel konnten abenteuernde Kartenhelden spielen, Paschitsch spielte es vermutlich nicht.

Aber während man nicht annehmen kann, dass das Kabinett Paschitsch das Attentat gewollt oder gebilligt hat, lässt sich kaum bezweifeln – und so weit kann man auch Herrn von Wiesener folgen –, dass ihm irgend etwas über die Absicht der Verschwörer bekanntgewesen ist. 287 Die Regierung hatte in der »Schwarzen Hand«, in der Umgebung des Obersten Dimitrijevitsch, natürlich ihre bezahlten Horcher, und es scheint, dass der wertvollste von ihnen, Milan Ciganovitsch, ihr einen Wink zukommen liess. Ljuba Jovanovitsch, der beim Kriegsbeginn Unterrichtsminister war, hat zuerst im »Kr Slovenstva« Angaben darüber gemacht, dann, im April 1925, einem Interviewer gegenüber seine Mitteilungen bestätigt und schliesslich im April 1926 im Hauptausschuss der Radikalen Partei sich gegen den Vorwurf, durch solche Offenherzigkeit Hochverrat begangen zu haben, tapfer gewehrt. Seiner Erzählung zufolge hat Ende Mai oder Anfang Juni Paschitsch seinen Ministerkollegen gesagt, »dass einige Leute Vorbereitungen träfen, um nach Serajewo zu gehen und Franz Ferdinand, der dort eintreffen und am Veitstag feierlich empfangen werden solle, umzubringen«, und dass man durch eine Verfügung an die Grenzbehörden sie verhindern müsse, über die Grenze hinüber zu gelangen. Der Innenminister Stojan Protitsch übernahm es, das Notwendige zu veranlassen, und übermittelte den Grenzbeamten an der Drina einen entsprechenden Befehl. Die Beamten, die, wie Ljuba Jovanovitsch hinzusetzte, selber der Geheimorganisation angehörten, führten den Befehl nicht aus, sondern meldeten, die jungen Leute befänden sich bereits jenseits des Flusses und die Weisung sei zu spät gekommen. Als Ljuba Jovanovitsch diese Vorgänge bekannt machte, wurde er von den serbischen Patrioten mit Entrüstungsgranaten bombardiert, und im Ausschuss der Radikalen Partei erklärte Paschitsch, der ehemalige Unterrichtsminister habe die Unwahrheit gesagt. Jovanovitsch erbot sich, Dokumente vorzulegen, aber mehrere Anwesende ersuchten ihn dringend, das zu unterlassen, und damit war die Angelegenheit bis auf weiteres abgetan. Paschitsch selber hat übrigens zugegeben, dass er mindestens eine Ahnung von den Attentatsabsichten gehabt hat, denn er hat, allerdings zwischen Rückzugsversuchen, erklärt, dass die Wiener Regierung von ihm gewarnt worden sei. Auch über diese angebliche Warnung ist bereits eine ganze Literatur zusammengeschrieben worden, die so voll von Widersprüchen ist, dass jedesmal, wenn man die letzte Neuerscheinung liest, von all den frühern Veröffentlichungen nur noch wenig übrig bleibt. Fest steht, dass der serbische Gesandte in Wien, Joca Jovanovitsch, zu dem österreichischen Finanzminister von Bilinski ging und ihm sagte, während der Anwesenheit Franz Ferdinands in Bosnien könnten serbische Fanatiker den Thronfolger umbringen wollen. Ein Mitglied der serbischen Gesandtschaft, der Vizekonsul Joksimovitsch, hat berichtet, dass Paschitsch dem Gesandten durch eine Chiffre-Depesche diesen Auftrag erteilt habe, während der Gesandte erzählt, er habe den Schritt aus eigener Initiative unternommen. Einem österreichischen Journalisten, Leopold Mandl, der in der Monatsschrift »Die Kriegsschuldfrage« sich geäussert hat, erklärte Herr von Bilinski, er wünsche über diesen Punkt »den Schleier der Vergessenheit zu breiten«, und auch in den Memoiren, die der inzwischen verstorbene Bilinski hinterlassen 288 hat, findet man gerade an dieser Stelle nur den »Schleier der Vergessenheit«. Mandl versichert, dass Bilinski tatsächlich die Warnung erhalten habe, und dass sie »vom Finanzministerium aus nach Serajewo weitergegeben« worden sei. Warum aber ist der serbische Gesandte, aufgefordert von Paschitsch oder unaufgefordert, zum Finanzminister von Bilinski und nicht zum Grafen Berchtold oder zu einer dem Wiener Hofe nahestehenden Persönlichkeit gegangen? Weil, scheint es, Herr Joca Jovanovitsch in Wien sehr unbeliebt war, von den Erzherzögen und allen Ministern gemieden wurde und nur bei Bilinski noch Zutritt fand. Bilinski aber leitete die Warnung nicht an die zuständigen Stellen in Wien weiter, weil er mit dem Ministerpräsidenten Grafen Stürkh in Feindschaft lebte und von Franz Ferdinand und seiner Umgebung nur Abweisungen empfing. Resultat einer schadhaften Harmonie.

 

Selbstverständlich kann man, oder muss man sogar, der Ansicht sein, Paschitsch habe, wenn ihm wirklich der Attentatsplan bekanntgeworden war, etwas zu wenig für die Verhinderung des Mordes getan. Die Serben dürften antworten, eine serbische Regierung habe nicht junge serbische Männer den Oesterreichern ans Messer liefern können und Oesterreich habe doch schliesslich genug eigene Aufpasser gehabt. Wahrscheinlich hätte auch die Offizierspartei, mit Dragutin Dimitrijevitsch an der Spitze, alle Patrioten aufgewiegelt und den Verrat zu nützen versucht. Erklärungen – von denen keine vor einer wahren Moralauffassung bestehen könnte – gibt es von allen Arten und übergenug. Vielleicht hat Paschitsch gedacht, die Sache sei nicht allzu ernst. Auch in andern Ländern sind Minister und Behörden schon von ihren Geheimagenten über Attentatspläne unterrichtet worden und haben sich dann mit einer beruhigenden Schlafpille und dem optimistischen Gedanken ins Bett gelegt, das alles sei Räuberromantik und gar nichts werde geschehen. Unwahrscheinlich ist nur, dass Paschitsch absichtlich oder mit bewusster Hinterhältigkeit die Ermordung Franz Ferdinands begünstigt hat. Was sonst in ihm vorgegangen ist, bringt keine Obduktion mehr an den Tag.

 

Als in Ischl am Abend des 28. Juni der Generaladjutant Graf Paar dem alten Franz Joseph das Telegramm überbrachte, das die Mordtat meldete, schwieg der Ahnherr erst eine Weile lang und schien, mit geschlossenen Augen, ganz zu versinken in eine dunkle Gedankenwelt. Dann sagte er: »Entsetzlich! der Allmächtige lässt sich nicht herausfordern . . . eine höhere Gewalt hat wieder jene Ordnung hergestellt, die ich leider nicht zu erhalten vermochte« . . . und sah in dem tragischen Ereignis zunächst nichts anderes als die göttliche Strafe für die durch Franz Ferdinands Heirat gestörte Ordnung der habsburgischen Dynastie. Gott hatte das heilige Prinzip der Legitimität wieder aufgerichtet und das mystische Band, wieder gefestigt, durch keine morganatische Sünde mehr gelockert, schlang sich von Geschlecht zu Geschlecht. Die sündige Unreinheit war abgewaschen mit Blut. Der eisige Greis verbot, das ermordete Paar in 289 der Kapuzinerkirche, in der Gruft der Habsburger, zu bestatten, und verweigerte ihm die Ehren, mit denen jedes Mitglied der Familie auf dem letzten Wege begleitet worden war. Als die österreichische Aristokratie dem Oberhofmeister, dem Fürsten Montenuovo, die Duldung dieser Hartherzigkeit heftig vorwarf, sagte Franz Joseph dem treuen Diener öffentlich in einem Handschreiben seinen Dank. Die Trauernden schafften die beiden Särge nachts, bei Regen und Blitz, im Kahn über die hochgehende Donau nach Artstetten, einem Gut Franz Ferdinands, wo das Gruftgewölbe die ausgestossenen, verfemten, vom Bannstrahl verfolgten Toten umfing. Tschuppik bemerkt sehr treffend: »Mit dieser unerbittlichen Konsequenz hat sich das spanische Zeremoniell selber verabschiedet, es war seine letzte Kundgebung grossen Stils.« Aber wenn es Gott war, der die gestörte Ordnung wieder hergestellt und die Sünder bestraft hatte, dann war es doch eine Auflehnung gegen seinen Willen, eine Missachtung seines Waltens, wollte man nun von Serbien Rechenschaft verlangen? Dann waren doch eigentlich auch die Attentäter nur Werkzeuge der »höhern Gewalt«.

Die Führer der österreichischen Kriegspartei und ihre Mitläufer, sonst pünktliche Kirchenbesucher, liessen sich durch solche religiösen Betrachtungen nicht beeinflussen und entlasteten nicht Serbien auf Kosten der Göttlichkeit. Gegen den Himmel konnte man nicht Krieg führen, und diesmal war die Gelegenheit, gegen Serbien loszuschlagen, wirklich zu schön. In die Trauerweisen, die schnell verhallten, klangen Trompetentöne hinein. Die Leichen der Ermordeten waren bei Nacht und Nebel, in würdeloser Hast, fortgebracht worden, aber mit der dramatischen Geste des Marc Anton deuteten diejenigen, die frei von Betrübnis waren, auf den Kadaver und riefen das Volk zur Rache herbei. Nein, diesmal durfte Serbien dem Schicksal, das man ihm seit langem bereiten wollte, nicht entgehen. Mussten nicht auch alle Monarchen die Bestrafung des Fürstenmordes als ihre gemeinsame Sache empfinden, konnte der selbst von Bomben bedrohte Zar sich widersetzen, konnte Wilhelm II. dem Freunde und der Frau, denen er eben noch die Hand gedrückt hatte, das rächerische Totenopfer verweigern wollen? Nibelungentreue hatte er zugesagt. Konnte er jetzt den Schwur vergessen, da der Freund erschlagen war? Er hatte, in einer ersten Regung, zum Begräbnis nach Wien fahren wollen, aber der deutsche Generalkonsul in Serajewo hatte Befürchtungen für das allerhöchste Leben geäussert, auf die Möglichkeit neuer Attentate aufmerksam gemacht, und der Reichskanzler hatte infolgedessen von der Reise abgeraten, und da die Frevler am heiligen Blut der Habsburger Dynastie prunklos eingescharrt werden sollten, hatte man auch in Wien das Erscheinen eines so bedeutenden Trauergastes nicht gewünscht. Im Trauergefolge hatte man ihn nicht haben wollen, für die Heeresfolge rechnete man auf ihn. Conrad von Hötzendorff, der mit Franz Ferdinand an den Manövern teilgenommen hatte, fragte telegraphisch bei der Militärkanzlei des 290 Kaisers in Ischl an, ob er »in Wien einrücken« solle – ins Zivildeutsch übersetzt, ob seine Rückkehr wünschenswert sei. Er erhielt eine bejahende Antwort und rückte ein. Sein Standpunkt war: die Entscheidung über die Frage, ob Oesterreich-Ungarn »als Konglomeratsstaat verschiedener Nationalitäten unter einem gemeinsamen Herrscher ein gemeinsames Gedeihen finden solle«, sei diesmal nicht zu umgehen. »Deshalb, nicht als Sühne für den Mord«, müsse »Oesterreich-Ungarn das Schwert gegen Serbien ziehen.« Am Abend des 29. Juni suchte er den Grafen Berchtold auf. Er erklärte dem Minister, die Mobilisierung gegen Serbien sei unvermeidlich, das Attentat von Serajewo sei ein Attentat gegen die Monarchie. Russland gegenüber müsse man »das Antimonarchische der Mordtat hervorheben«, und für Carol von Rumänien werde es bei solcher Sachlage unmöglich sein, gegen Oesterreich vorzugehen. Berchtold antwortete, er habe sich einen andern Plan zurechtgelegt. Er wolle von der serbischen Regierung die Auflösung gewisser Vereine und die Entlassung des Polizeiministers verlangen. Zunächst aber warte man wohl am besten den Ausgang der Untersuchung ab. Am 1. Juli sagte Berchtold dem ungeduldigen Generalstabschef, auch der Kaiser Franz Joseph und der Ministerpräsident Graf Stürkh wollten das Ergebnis der Untersuchung abwarten und Graf Tisza sei für »kalte Nerven«, gegen den Krieg. Tisza fürchte, dass Russland losschlagen werde, und bezweifle Deutschlands Zuverlässigkeit. Zum Schluss teilte Berchtold mit, er habe ein Memorandum verfasst, in dem er Deutschland auffordere, »Rumänien für den Dreibund sicherzustellen«. Conrad entgegnete, man »müsse Deutschland vor allem fragen, ob es uns den Rücken decken wolle oder nicht«. Nur kraftvolles Eingreifen helfe gegen die drohende Gefahr. Verhalte es sich mit dem deutsch-österreichischen Bündnis so, wie Tisza meine und auch Berchtold besorge, so stehe man allerdings mit gebundenen Händen da.

Tisza war, wie Berchtold ganz richtig gesagt hatte, in diesen Tagen das schlimmste und unangenehmste Hindernis. Er war für »kalte Nerven«, er wollte den Krieg mit Serbien nicht. Er wollte ihn nicht, weil er, mit all seinen Fehlern und seinem magyarischen Junkerhochmut, doch ein ernsthafter Rechner, ein Mann von anderm Kaliber war als der fahrige, spielerische, zwischen einem Pferderennen und einer Anprobe beim Schneider am Volksschicksal sich vergreifende Berchtold und der andere gräfliche Genosse, der unerschrockene Forgatsch, und weil er nicht wie diese Salonlöwen sich und andere leichtherzig mit der Hoffnung auf ein abermaliges Zurückweichen Russlands betrog. Er wollte auch nicht die Zerstückelung Serbiens, weil er fand, dass die ungarische Erde schon hinreichend verunreinigt durch fremde Elemente sei, und weil er nicht neuem Zustrom gestatten wollte, das Magyarentum zu umbranden und schliesslich zu überschwemmen. Er war tapfer und ehrliebend, aber er war, zum Unterschied von jenen, nicht der Meinung, dass man die Ehre der Monarchie rettete, indem man, statt 291 des eigenen Blutes, das Blut des Volkes vergoss. Oft neigte er zur Donquichotterie, aber in diesem Augenblick war er ein nüchtern gewordener Don Quichotte. Am 1. Juli schickte er einen Brief nach Ischl und legte dem alten Franz Joseph seine Einwendungen dar. Er schrieb, dass er es für einen »verhängnisvollen Fehler« halten würde, wenn man die Greueltat von Serajewo zum Anlass der Abrechnung mit Serbien nehmen wollte, und lehnte die Zumutung, die Verantwortung für ein solches Vorgehen zu teilen, entschieden ab. Genügende Anhaltspunkte, »um Serbien verantwortlich machen zu können, und trotz etwaiger befriedigender Erklärungen der serbischen Regierung, einen Krieg mit diesem Lande zu provozieren«, lägen bisher nicht vor. Man würde »den denkbar schlechtesten locus standi haben«, vor der ganzen Welt als Friedensstörer dastehen und einen grossen Krieg unter den ungünstigsten Umständen beginnen. In diesem Briefe vermisst man die schlagkräftigsten Argumente, mit denen Tisza dem Grafen Berchtold entgegengetreten war. Vielleicht hätte am ehesten eine starke Betonung der Ueberzeugung, dass Russland nicht still bleiben werde, Eindruck auf Franz Joseph gemacht. Der Alte las das Schreiben und ging wahrscheinlich mit dem Gedanken schlafen, noch brauche er sich nicht zu entscheiden, noch sei nichts Unwiderrufliches geschehen. Vielleicht werde Deutschland nicht mitkommen wollen, der Kaiser Wilhelm diesmal auf die Nibelungentreue verzichten – dann würde man doch überhaupt gar keinen Krieg machen können.

An dem Tage, an dem er Tiszas Brief erhielt, vorher oder nachher, empfing er den deutschen Botschafter von Tschirschky in Audienz. Tschirschky war beauftragt, ihm zu sagen, wie schwer seinem allerhöchsten Herrn der Entschluss gefallen sei, der Trauerfeier fernzubleiben, und wie sehr Wilhelm II. gewünscht hätte, »dem Kaiser tröstend und mit leidtragend zur Seite zu stehen«. Franz Joseph lenkte ab und bemerkte, die Zeiten seien sehr ernst. Er wisse nicht, wie lange er noch leben werde, aber anscheinend sei ihm auch jetzt, in seinen letzten Lebenstagen, keine Ruhe vergönnt. »Da unten« wachse die Gefahr. Mit den Serben sei eben im Guten nichts anzufangen. Er hoffe, der deutsche Kaiser und seine Regierung hätten von der Bedeutung, die für Oesterreich-Ungarn in der serbischen Nachbarschaft liege, ein richtiges Bild. Die Dreibundmächte müssten an die Zukunft denken und an ihre Sicherung. Herr von Tschirschky wies, wie er in seinem Bericht an das Auswärtige Amt konstatierte, »nochmals darauf hin – wie ich es in diesen Tagen dem Grafen Berchtold gegenüber sehr nachdrücklich bereits getan habe –«, dass »S. M. sicher darauf bauen könne, Deutschland hinter der Monarchie zu finden«, sobald »die Verteidigung eines ihrer Lebensinteressen« notwendig geworden sei. »Wann und wo ein solches Lebensinteresse vorliege«, müsse Oesterreich selbst bestimmen. Aus Wünschen und Stimmungen heraus mache man, wenn sie auch noch so verständlich seien, keine Politik. Vor jedem entscheidenden Schritt 292 müsse genau erwogen werden, wie weit man gehen und welche Mittel man anwenden wolle, und vor allem sei Berücksichtigung der allgemeinen politischen Lage und der Haltung, die voraussichtlich die andern Mächte einnehmen würden, erforderlich. Er könne nur wiederholen, sein Kaiser werde »hinter jedem festen Entschluss Oesterreich-Ungarns stehen«. Franz Joseph antwortete, der deutsche Botschafter habe ganz recht. Nachdem er noch gesagt hatte: »Alles stirbt um mich herum, es ist zu traurig«, äusserte er sich über die Aussichten der Hirschjagd und über seine Sommerpläne in Ischl. Dann kehrte der Besucher, »in gnädigster Weise entlassen«, nach Wien zurück.

Man weiss, dass in den Büchern der österreichischen Historiker und Erzähler gewöhnlich Herr von Tschirschky als derjenige erscheint, der die Wiener Diplomaten zum Kriege getrieben hat. Er gehört zu der Zahl der Angeklagten, die man, wegen vorzeitigen Verschwindens aus dieser Welt, nicht mehr befragen kann. »Es ist gar kein Zweifel«, versichert Czernin, »dass die ganzen privaten Reden des Herrn von Tschirschky zu dieser Zeit auf den Tenor gestimmt waren: jetzt oder nie! Und es ist sicher, dass der deutsche Botschafter seine Meinung dahin erklärte, im jetzigen Augenblick sei Deutschland bereit, unsern Standpunkt mit aller moralischen und militärischen Macht zu unterstützen – ob dies in Zukunft noch der Fall sein werde, wenn wir die serbische Ohrfeige einsteckten, schiene ihm zweifelhaft«. Graf Czernin meint, der deutsche Botschafter, »dessen ganzem Wesen und Temperament es entsprach, mit einer gewissen Vehemenz und nicht immer in der taktvollsten Weise in unsere Angelegenheiten hineinzusprechen und die Monarchie ›aus dem Schlafe zu rütteln‹, habe jetzt, im Jahre 1914, zum Kriege geraten, weil er überzeugt gewesen sei, dass Deutschland in der allernächsten Zeit gegen Frankreich und Russland werde kämpfen müssen – und weil »es ihm zweifelhaft erschien, ob der alte friedfertige Kaiser Franz Joseph bei einer andern Gelegenheit, wo er weniger im Mittelpunkt des Angriffes stehe«, bereit sein würde, »für Deutschland das Schwert zu ziehen«. Das sei private Botschafterpolitik gewesen, nicht Bethmanns, nicht die Berliner Politik. Auch Graf Berchtold ersucht alle, die an seinen Taten etwas auszusetzen finden, mit ihren Beschwerden zu dem Grabhügel des toten Tschirschky zu gehen. In der Vereinigung so vieler Zeugnisse liegt eine scheinbare Beweiskraft, die bürokratische Diplomatengestalt des Herrn von Tschirschky mag bevormundend und ermunternd hinter den Wiener Kriegsfreunden gestanden haben, wir wollen ihn begraben, nicht ihn preisen, und alle andern sind ehrenwert. Aber der ehemalige bayerische Gesandte in Wien, Freiherr von Tucher, hat vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstages über den Fall Tschirschky anders ausgesagt. »Wenn Herr von Tschirschky«, hat er erklärt, »eine den Krieg schürende Haltung eingenommen hätte, so wäre es mir bei meinen fast täglichen Begegnungen mit dem Botschafter sicherlich aufgefallen . . . Dagegen ist 293 mir in lebhafter Erinnerung, dass Herr von Tschirschky immer wieder betont hat, Oesterreich-Ungarn habe zu beurteilen, was seine Lebensinteressen seien, Deutschland stehe dem Bundesgenossen treu zur Seite und werde alle Konsequenzen aus dem Bündnis ziehen«. Hier muss man einschalten, dass Herr von Tschirschky auf diese Weise allerdings, ganz wie die Berliner Regierung, den Oesterreichern leider auch die Entscheidung über die deutschen Lebensinteressen überliess.

 

Würde man sich nur an den Wortlaut der freilich für seelische Probleme niemals entscheidenden diplomatischen Schriftstücke halten, so könnte man kaum zu einer Verurteilung des Herrn von Tschirschky gelangen. Auch die Meinungsverschiedenheit, die, Czernin zufolge, zwischen dem Botschafter und Berlin bestanden hat, stellt sich dann etwas anders dar. Am 30. Juni telegraphierte Herr von Tschirschky an den Reichskanzler: »Hier höre ich, auch bei ernsten Leuten, vielfach den Wunsch, es müsse einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden. Man müsse den Serben zunächst eine Reihe von Forderungen stellen und, falls sie diese nicht akzeptierten, energisch vorgehen. Ich benutze jeden solchen Anlass, um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen. Vor allem müsse man sich erst klar darüber werden, was man wolle, denn ich hörte bisher nur ganz unklare Gefühlsäusserungen. Dann solle man die Chancen irgendeiner Aktion sorgfältig erwägen und sich vor Augen halten, dass Oesterreich-Ungarn nicht allein in der Welt stehe, dass es Pflicht sei, neben der Rücksicht auf seine Bundesgenossen die europäische Gesamtlage in Rechnung zu ziehen.« Als Wilhelm II. diesen verständigen Bericht las, sprach er sich abfällig aus. Bei den Worten: »es müsse einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden«, schrieb er auf den Rand: »Jetzt oder nie.« Zu der Mitteilung, dass Tschirschky Vernunft und Mässigung predige, bemerkte er: »Wer hat ihn dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm! Geht ihn gar nichts an, da es lediglich Oesterreichs Sache ist, was es hierauf zu tun gedenkt. Nachher heisst es dann, wenn es schief geht, Deutschland hat nicht gewollt! Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen! Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald!« So durch den kaiserlichen Tadel belehrt, den Rippenstoss noch fühlend, erklärte Herr von Tschirschky am 2. Juli dem Kaiser Franz Joseph, er könne mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Deutschlands bauen. Um seinem ungnädigen allerhöchsten Herrn zu zeigen, dass es ihm an Eifer nicht gefehlt habe, setzte er in seinem Bericht hinzu, er habe »es in diesen Tagen dem Grafen Berchtold gegenüber sehr nachdrücklich bereits getan«. Immerhin scheint er, in diesem Augenblick wenigstens, doch begriffen zu haben, dass eine Entscheidung, die das deutsche Volk in einen Weltkrieg hineinschleifen konnte, nicht »lediglich Oesterreichs Sache« sei. Und wenn es »schief ging«, und wenn Deutschland und sein Monarch in Wien unzufriedene Mienen sehen mussten, weil sie 294 vom Kriege abgeraten hatten – es konnte, mit Hilfe von Leichtsinn und Prahlerei, noch ganz anders schief gehen, schief und gerade in das Debacle hinein.

Das Memorandum, von dem Graf Berchtold in der Unterredung mit Conrad gesprochen hatte, und das am Ballplatz zur Belehrung des deutschen Kaisers aufgesetzt wurde, behandelte vor allem die Frage, wie man Rumänien beim Dreibund festhalten könnte, ohne auf das Bündnis mit Bulgarien zu verzichten, das den österreichischen Politikern am Herzen lag. Bulgarien – von dem Wilhelm II., des ihm unsympathischen König Ferdinands wegen, nichts wissen wollte – sei »aus der russischen Hypnose erwacht«, aber werde es noch möglich sein, durch eine solche »ernste Warnung«, durch einen offen bekanntgegebenen Zusammenschluss mit Bulgarien, die Rumänen von ihrer Hinneigung zu Frankreich und Russland abzubringen? Oesterreich-Ungarn lege Wert darauf, ein volles Einvernehmen über diese Aktion mit dem Deutschen Reiche herzustellen. Wichtige Interessen Deutschlands ständen auf dem Spiele – ja, eigentlich wurde Oesterreich-Ungarn nur Deutschlands wegen verfolgt und bedrängt. Denn »wenn Russland, von Frankreich unterstützt, die Balkanstaaten gegen Oesterreich-Ungarn zu vereinigen trachte«, so geschehe das doch nicht zuletzt deshalb, »weil Oesterreich-Ungarn der Bundesgenosse Deutschlands sei«. Die »manifesten Einkreisungstendenzen Russlands gegen die Monarchie, die keine Weltpolitik treibt, haben den Endzweck, dem Deutschen Reiche den Widerstand gegen jene letzten Ziele Russlands und gegen seine politische und wirtschaftliche Suprematie unmöglich zu machen« – der deutschen Weltpolitik die Wege zu versperren. Eigentlich, man sieht, wollte Oesterreich gar nichts für sich, dachten Graf Berchtold und die Seinigen völlig selbstlos, als treue Bundesgenossen, nur an die Interessen Deutschlands und an die deutsche Weltpolitik. Ein diplomatischer Altruismus, wie er in der Geschichte selten vorgekommen ist. Für Deutschland musste und wollte Wien siegen oder untergehen. Auch Graf Czernin hat in seinem Buche behauptet: »Unser Schicksal war an das Deutschlands gebunden, wir wurden durch das Bündnis von Deutschland, ohne dass wir es wussten, fortgeschleppt.«

Der Denkschrift wurde ein Handschreiben Franz Josephs an Wilhelm II. beigefügt. Es hatte natürlich die gleichen Verfasser, und es war bei weitem das wichtigere Stück. Franz Joseph äusserte sein aufrichtiges Bedauern darüber, dass Wilhelm II. den Plan habe aufgeben müssen, zur Trauerfeier nach Wien zu kommen. In der Stunde schweren Kummers tue ein so herzliches Mitgefühl besonders wohl. »Nach allen bisherigen Erhebungen hat es sich in Serajewo nicht um die Bluttat eines einzelnen, sondern um ein wohlorganisiertes Komplott gehandelt, dessen Fäden nach Belgrad reichen«, und wenn es auch vermutlich unmöglich sein werde, die Komplizität der serbischen Regierung nachzuweisen, so könne doch daran, dass die Politik dieser Regierung solche Verbrechen fördere, 295 kein Zweifel bestehen. Durch die gehässige Agitation, die in Rumänien gegen Oesterreich-Ungarn betrieben werden dürfe, werde die Gefahr noch erhöht. »Das Bestreben meiner Regierung muss in Zukunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein.« Die erste Etappe auf diesem Wege wäre die Stärkung Bulgariens, das verhindert werden müsse, in die alte Russophilie zurückzufallen. »Unter der Patronanz des Dreibundes« könnte vielleicht, als Damm gegen die panslawistische Hochflut, ein neuer Balkanbund sich bilden, aber »dieses wird nur dann möglich sein, wenn Serbien, welches gegenwärtig den Angelpunkt der panslawistischen Politik bildet, als politischer Machtfaktor am Balkan ausgeschaltet wird«. – »Auch Du wirst nach den jüngsten furchtbaren Geschehnissen in Bosnien die Ueberzeugung haben, dass an eine Versöhnung des Gegensatzes, der Serbien von uns trennt, nicht mehr zu denken ist.« Solange »dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt«, bleibe »die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht«. Womit dann also ausgesprochen war, um was es sich eigentlich handelte, was man von Wilhelm II. zu hören wünschte, und weshalb man den Gang zu dem Herrn über Krieg und Frieden unternahm. Seinen Dank für das Beileid hätte der tief betrübte Franz Joseph auch telegraphisch aussprechen, über Bulgarien und Rumänien hätte man sich auch mit dem Botschafter von Tschirschky unterhalten können. Für das, was man erreichen wollte, brauchte man die zugleich feierliche und familiäre Form des Handschreibens, das kaiserliche »Du«, den Appell an die Hohenzollernehre und, wie Bismarck das zu nennen pflegte, an das »preussische Portepée«.

Mit Denkschrift und Handschreiben fuhr am Abend des 4. Juli Graf Hoyos nach Berlin. In der Nacht schickte Graf Berchtold eine Geheimdepesche an den Botschafter, Graf Szögyény, der ersucht wurde, sofort das Handschreiben dem Kaiser Wilhelm zustellen zu lassen, oder, wenn möglich, es ihm persönlich zu überbringen. Wilhelm II. wollte sich am 6. Juli nach Kiel begeben, und von dort auf die Nordlandfahrt. Unbedingt musste man ihn noch vorher fassen, jetzt, eine Woche nach dem Attentat, war er noch in der richtigen Stimmung, auf der schaukelnden Flut, in den friedlichen Fjorden, würde vielleicht seine bewegliche Seele vor bindender Verpflichtung zurückschrecken, konnte er zuviel Zeit haben zur Ueberlegung oder dem Einfluss friedfertiger Ratgeber verfallen. Graf Szögyény sollte auch, am gleichen Tage noch, Herrn von Bethmann-Hollweg aufsuchen, in Berlin oder auf dem Gute Hohenfinow, wo immer er zu erreichen war. Der Reichskanzler musste mit dem Kaiser über »den Inhalt dieser Piècen« sprechen können, bevor Wilhelm gen Norden verschwand. Der alte Szögyény hatte an diesem Tage Flügel an den Sohlen, wie der Götterbote Merkur. Er frühstückte in Potsdam, im Neuen Palais, bei den Majestäten, übergab dem Kaiser die beiden »Piècen«, Handschreiben und Memorandum, hatte vor und nach 296 dem Dejeuner Unterhaltungen mit Wilhelm II. und diktierte, in das Botschaftshaus zurückgekehrt, dem Sekretär einen Triumphbericht, den man dann, für die in Wien gespannt harrenden Auftraggeber, in die telegraphische Chiffre-Sprache übertrug.

Der alte Diplomat, freudig erregt und nicht mit Unrecht von der Wichtigkeit des Momentes und seiner Mission durchdrungen, diktierte: »Nach dem Dejeuner, als ich nochmals den Ernst der Situation mit grossem Nachdrucke betonte, ermächtigte mich Seine Majestät, unserem allergnädigsten Herrn zu melden, dass wir auch in diesem Falle auf die volle Unterstützung Deutschlands rechnen können.« Er müsse vorerst noch den Reichskanzler hören, zweifle aber an seiner Zustimmung nicht. Nach seiner, des Kaisers Meinung, müsse mit der Aktion gegen Serbien »nicht zugewartet werden«, Russlands Haltung »werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er hierauf schon seit Jahren vorbereitet«, und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Oesterreich-Ungarn und Russland kommen, so werde Deutschland »in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen«. Russland werde es sich übrigens gewiss noch sehr überlegen, an die Waffen zu appellieren, denn es sei noch keineswegs kriegsbereit. Dass es Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät bei seiner bekannten Friedensliebe schwer fallen würde, in Serbien einzumarschieren, begreife er sehr gut. »Wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er es bedauern, wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenutzt liessen«, und was Rumänien betreffe, werde er, Wilhelm II., für ein korrektes Verhalten des Königs Carol und seiner Ratgeber zu sorgen verstehen.

Am Nachmittag, während Graf Szögyény seine Meldung für Wien zurechtmachte, empfing der Kaiser im Park des Neuen Palais den aus Hohenfinow herbeigeholten Bethmann-Hollweg und den Unterstaatssekretär Zimmermann. Der Staatssekretär, Gottlieb von Jagow, war auf der Hochzeitsreise, am Vierwaldstättersee. Ueber die Potsdamer Frühstücksunterredung zwischen dem Kaiser und dem Grafen Szögyény wird in dem Buche Wilhelms nichts gesagt. Auch nichts über das Parkgespräch mit Bethmann und Zimmermann. Herr von Bethmann-Hollweg dagegen hat in seinen »Betrachtungen« wenigstens einiges über die Freiluftberatung mitgeteilt. Er »referierte« im Park über die österreichischen Dokumente, von »deren Tenor« er vorher Kenntnis genommen hatte und von denen auch Herr Zimmermann eine Abschrift besass. Der Kaiser erklärte dann, man dürfe sich über den Ernst der Lage, die für Oesterreich-Ungarn die grossserbische Propaganda geschaffen habe, keiner Täuschung hingeben, aber dem Bundesgenossen zu raten, was er infolge der Serajewoer Bluttat zu tun habe, sei »unseres Amtes nicht«. Darüber müssten die Oesterreicher »selbst befinden«, nicht wir. Direkter Anregungen und Ratschläge müsse man sich »um so mehr enthalten, als wir mit allen Mitteln dagegen arbeiten müssten, 297 dass sich der österreichisch-serbische Streit zu einem internationalen Konflikt auswachse«. Kaiser Franz Joseph aber müsse wissen, »dass wir auch in ernster Stunde Oesterreich-Ungarn nicht verlassen würden«. Unser eigenes Lebensinteresse sei mit der unversehrten Erhaltung Oesterreichs verknüpft. Herr von Bethmann fügt seiner Erzählung hinzu, diese Ansichten des Kaisers hätten sich mit seinen eigenen Anschauungen gedeckt. Sicherlich glaubten Wilhelm II. und sein Kanzler aufrichtig, man verhindere am besten durch den Verzicht auf Anregungen und Ratschläge den gefürchteten internationalen Konflikt. Aber das war eine ungemein irrige Annahme, denn wie konnte man dieser Gefahr wirksam entgegentreten, wie »mit allen Mitteln dagegen arbeiten«, wenn man die österreichische Diplomatie »selbst befinden« liess und nicht vom ersten Augenblick an die Zügel in der Hand behielt? Am 3. Juli hatte Berchtold dem neugierigen Herrn von Tschirschky geantwortet, »im gebotenen Momente« müsste wohl von der Regierung Oesterreich-Ungarns entschieden werden, »wie weit man gehen wolle und was mit Serbien eventuell zu geschehen hätte«, und letzteres stelle »übrigens eine Cura posterior« dar. Der Kaiser und der Reichskanzler teilten nicht die Wissbegierde ihres Botschafters, fanden gegen die stolze Haltung des Grafen – darüber entscheiden wir und das brauchen wir euch nicht zu sagen – gar nichts einzuwenden und nannten hinterher kluge Ueberlegung, was entweder eine überaus naive Taktik oder eine Fahrlässigkeit war.

Wilhelm, der von so vielen Dingen schweigt, legt Wert auf die Feststellung, er habe »in tiefer Sorge über die Wendung, die die Dinge nehmen konnten«, die Nordlandreise aufgeben wollen, aber der Reichskanzler und das Auswärtige Amt seien der entgegengesetzten Ansicht gewesen und hätten, der beruhigenden Wirkung auf Europa wegen, die Ausführung des Reiseplanes dringend gewünscht. Herr von Bethmann habe »kurz und bündig« erklärt, der Verzicht auf die Reise würde »die Lage ernster erscheinen lassen, als sie bisher sei«, und zum Ausbruch des Krieges beitragen können. Wilhelm II. erwähnt noch, er habe auch Herrn von Moltke, den Chef des Generalstabes, befragt. Und er habe sich schweren Herzens zur Abfahrt entschlossen, als auch Herr von Moltke die Lage ruhig auffasste und selbst um Sommerurlaub nach Karlsbad bat. Wie vor jeder Reise habe er noch einige Minister empfangen. In keiner dieser Unterredungen habe man sich mit Kriegsvorbereitungen befasst. Unzuständige Kritiker könnten finden, dass es eigentlich nur natürlich und sogar die Erfüllung einer allerersten Pflicht gewesen wäre, wenn der Monarch mit seinen Beratern noch schnell ein wenig die Fragen besprochen hätte, die nun einmal beim Ausbruch eines Krieges die wichtigsten sind. Nachdem er den Oesterreichern Deutschland hingegeben hatte, hätte man wohl auch vom Stande der Vorbereitungen, von den wirtschaftlichen Voraussetzungen und vom Kriegsplan sprechen können, und es ist erstaunlich und keineswegs 298 rühmenswert, dass man sich, mit dem kaiserlichen Jawort auf der Seele, nur von harmloseren Dingen unterhielt.

Am folgenden Tage, dem 6. Juli, führte Graf Szögyény den zweiten Teil seines Auftrages aus. Er kam, diesmal vom Grafen Hoyos begleitet, zum Reichskanzler, der auch den Unterstaatssekretär Zimmermann an dieser Unterredung teilnehmen liess. Nach Schluss der Beratung meldete er nach Wien, dass ihm Herr von Bethmann erklärt habe: »Unser Bündnis zu Serbien betreffend, stehe deutsche Regierung auf dem Standpunkt, dass wir beurteilen müssten, was zu geschehen habe, um dieses Verhältnis zu klären; wir könnten hierbei – wie auch immer unsere Entscheidung ausfallen möge – mit Sicherheit darauf rechnen, dass Deutschland als Bundesgenosse und Freund der Monarchie hinter ihr steht.« Ebenso wie sein kaiserlicher Herr sehe der Reichskanzler »ein sofortiges Einschreiten unserseits gegen Serbien als radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten« an, da »vom internationalen Standpunkt« der jetzige Augenblick günstiger als ein späterer sei. Die Auffassung, dass man weder Italien noch Rumänien von einer eventuellen Aktion gegen Serbien verständigen dürfe, stimme ganz mit der Ansicht des Reichskanzlers überein. Herr von Bethmann seinerseits sandte Herrn von Tschirschky in Wien gleichfalls einen Bericht über dieses Gespräch. Er teilte darin mit, dass er dem österreichisch-ungarischen Botschafter erklärt habe, S. M. könne zu den zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien schwebenden Fragen »naturgemäss keine Stellung nehmen, da sie sich Seiner Kompetenz entzögen«, aber S. M. würden, darauf könne sich Kaiser Franz Joseph verlassen, »im Einklang mit seinen Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft treu an Seite Oesterreich-Ungarns stehen«. Herr Zimmermann, der das Telegramm aufsetzte, fügte hinter der Freundschaft die Worte »unter allen Umständen« ein. Diese Worte strich Herr von Bethmann-Hollweg fort. Gewiss meinte er, damit habe er alle Gebote staatsmännischer Vorsicht erfüllt. Aber der Strich war zu kurz, zuviel blieb übrig, an der Tatsache der Verpflichtung änderte die kleine stilistische Vorsichtsmassregel nichts.

Während in Berlin diese folgenschweren Ereignisse sich begaben, hatte Conrad von Hötzendorff wieder eine Audienz bei seinem Kaiser, im Schlosse von Schönbrunn. Als er sogleich wieder seine Meinung vortrug, dass der Krieg gegen Serbien unvermeidlich sei, entgegnete Franz Joseph, das sei ganz richtig, aber wie wolle man Krieg führen, wenn dann alle, besonders Russland, sich entschlössen, über Oesterreich herzufallen? »Wir haben doch die Rückendeckung durch Deutschland?« warf Conrad ein. Franz Joseph antwortete, indem er den Krieger fragend ansah: »Sind Sie Deutschlands sicher?« und erzählte, dass er durch Franz Ferdinand in Konopischt vom deutschen Kaiser eine bindende Erklärung habe erbitten lassen, und dass Wilhelm II. der Frage ausgewichen sei. Conrad sagte: »Eure Majestät, wir müssen aber wissen, 299 wie wir daran sind.« Der Kaiser erwiderte: »Gestern abend ist eine Note nach Deutschland abgegangen, in der wir klare Antwort verlangen.« Conrad: »Wenn die Antwort lautet, dass Deutschland auf unserer Seite steht, führen wir dann den Krieg?« – Franz Joseph: »Dann ja« – und nach kurzem Nachdenken: »Wenn Deutschland uns diese Antwort aber nicht gibt, was dann?« Der Greis klagte noch darüber, dass »alle sterben«, nur er noch leben müsse, und auf ein »Gott sei Dank« Conrads: »Ja, ja, aber da bleibt man halt dann ganz allein.« Schliesslich geriet er in eine erregte Stimmung, als der Generalstabschef beantragte, das Standgericht zu erklären, um Attentate gegen wichtige Objekte, wie Brücken und dergleichen, sofort bestrafen zu können. »Das«, sagte er, »gehört alles für den Mobilisierungsfall.« – Conrad: »Dann ist es zu spät.« – Der Kaiser: »Aber ich mache es nicht.« Trotzig, starrköpfig, wie einer, dessen Kräfte in der Angst vor dem Unwiderruflichen wachsen – mancher Sterbende wehrt sich so, wenn er den Tod neben sich spürt.

Niemand hat uns die Mienen geschildert und die ersten, über die Lippen geschlüpften Laute wiedergegeben, mit denen man in Wien in dem Ministerium am Ballplatz die Geheimtelegramme des Grafen Szögyény empfing. Aber wir können uns ungefähr vorstellen, was sich begab und vernehmbar wurde, als der dechiffrierende Hofrat die Perlen, eine nach der andern, aus der Muschel nahm. Das hatte man nicht erwartet, nicht zu hoffen gewagt. Man war auf ein halbes Versprechen, auf einige zu nichts verpflichtende Freundschaftsversicherungen, auf eine Bundesbereitschaft mit Wenn und Aber und allerlei Verklausulierungen gefasst gewesen, und erhielt »carte blanche« und eine Zusage, ohne eine jener einschränkenden Bedingungen, mit denen so oft die Diplomatie sich noch eine Hintertür offen hält. Da war nichts darin von den zögernden Vorbehalten des Herrn von Tschirschky, nichts von seiner Ermahnung, »die europäische Gesamtlage in Rechnung zu ziehen«. Da wurde nicht der leiseste Anspruch geäussert, im Namen Deutschlands bei der Entscheidung mitzusprechen, sondern ausdrücklich wurde anerkannt, dass dies nur Oesterreichs Sache sei. Da wurde auch nicht, wie Herr von Tschirschky das am 3. Juli in einer Unterredung mit dem Grafen Berchtold getan hatte, indiskret gefragt, »wie weit man gehen wolle und was mit Serbien eventuell zu geschehen hätte« –- all das entzog sich der deutschen »Kompetenz«. Der Skeptizismus Tiszas war schlagend widerlegt, dieser gefährliche Kriegsgegner durch die Berliner Antwort zum Schweigen gebracht, und auch den stillen Zweifeln Franz Josephs, hinter denen vielleicht stille Hoffnungen sich verbargen, war ein Ende gemacht.

Herr von Jagow, der erst am 6. Juli von der Hochzeitsreise heimkehrte und also für die Einleitung der Aktion nicht mitverantwortlich ist, hat, fünf Jahre später, die Gründe, aus denen man in Berlin ein so schnelles Handeln wünschte, genannt. Man glaubte, unter dem noch frischen 300 Eindruck der Mordtat würde in den Ländern der Triple-Entente eine Parteinahme für Serbien unterbleiben, die allgemeine Empörung würde niemanden gestatten, den Serben zu Hilfe zu kommen. Wenn schon in den ersten Julitagen Herr von Bethmann-Hollweg und das Auswärtige Amt ihr Drängen so oder ähnlich, mit solchen oder ähnlichen irrigen Argumenten, motiviert hätten, so hätten sie wenigstens manchen spätern Anklagen vorgebeugt. Es wäre den Wiener Unschuldsadvokaten dann nicht ganz so leicht geworden, hinterher zu behaupten, dass die deutschen Alliierten kriegsdurstiger als sie selbst gewesen seien.

Im Besitz der guten Nachrichten aus Berlin, rief Graf Berchtold am 7. Juli einen Ministerrat zusammen. Vereinsamt und feindselig belauert, sass Tisza zwischen den Berchtold, Stürkh, Bilinski, Conrad und Krobatin, allein gegenüber einer schon durch Verabredung gebundenen Front, die nun zum Kriege entschlossen war. Berchtold sprach zuerst. Er sagte, man müsse sich fragen, ob jetzt nicht »Serbien durch eine Kraftäusserung für immer unschädlich« gemacht werden solle, und er habe mit der deutschen Regierung Fühlung genommen. Die Besprechungen in Berlin hätten zu einem sehr befriedigenden Resultat geführt. Sowohl der Kaiser wie Herr von Bethmann-Hollweg hätten »für den Fall einer kriegerischen Komplikation mit Serbien die unbedingte Unterstützung Deutschlands mit allem Nachdrucke« zugesagt. Gewiss, ein Waffengang mit Serbien werde den Krieg mit Russland zur Folge haben können. Aber Russlands Politik erstrebe den Zusammenschluss der Balkanstaaten, die Situation müsse sich für Oesterreich-Ungarn immer mehr verschlechtern und eine rechtzeitige Abrechnung mit Serbien sei das einzige Mittel gegen diesen Entwicklungsprozess. Dann nahm Tisza das Wort. Niemals würde er einem überraschenden Angriff auf Serbien, den man offenbar beabsichtige, zustimmen, denn damit würde man in eine sehr schlechte Lage gegenüber Europa kommen. Man müsse Forderungen formulieren und erst, wenn Serbien sie nicht erfülle, ein Ultimatum stellen. Diese Forderungen müssten zwar hart, aber nicht unerfüllbar sein. Wenn Serbien sie annehme, werde man einen eklatanten diplomatischen Erfolg erreicht haben und eine Mehrung des Prestiges auf dem Balkan gewinnen. Lehne die serbische Regierung sie ab, so werde auch er eine kriegerische Aktion gutheissen, aber höchstens eine Verkleinerung, nicht eine Vernichtung Serbiens, und keine Einverleibung serbischer Gebietsteile in die Monarchie. Mit sehr unfreundlicher Schärfe wies Tisza die Berufung auf die deutsche Bereitschaft zurück. »Es sei nicht Sache Deutschlands, zu beurteilen, ob wir jetzt gegen Serbien losschlagen sollten, oder nicht.«

 

Nacheinander standen die andern gegen ihn auf. Berchtold erklärte, diplomatische Erfolge nützten nichts. Stürkh, der Ministerpräsident, sagte, die Situation dränge »unbedingt zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Serbien«, und ging dann auf Tiszas Bemerkungen 301 über Deutschland ein. Allerdings müsste die österreichisch-ungarische, nicht die deutsche Regierung beurteilen, ob ein Krieg notwendig sei oder nicht, aber es sollte doch »auf unsere Entschliessung einen sehr grossen Einfluss ausüben, wenn an der Stelle, welche wir als treueste Stütze unserer Politik im Dreibund ansehen müssten, uns, wie wir gehört, rückhaltlose Bündnistreue zugesagt und überdies nahegelegt werde, sofort zu handeln«, nachdem von österreichischer Seite dort angefragt worden sei. Eine Politik des Zauderns und der Schwäche könnte diese rückhaltlose Unterstützung des Deutschen Reiches zu einem spätern Zeitpunkt zweifelhaft machen, und das solle Graf Tisza doch in Erwägung ziehen. Man möge zunächst eine diplomatische Aktion gegen Serbien beschliessen, aber mit der festen Absicht, dass sie nicht anders beendet werden dürfe, als durch Krieg. Der Finanzminister Bilinski und der Kriegsminister Krobatin sprachen im gleichen Sinne, Berchtold griff noch zweimal ein, Stürkh erklärte noch, dass man die Dynastie Karageorgewitsch beseitigen, einem europäischen Fürsten die serbische Krone geben müsse, und dass es sich empfehlen werde, das »verkleinerte Königreich« in ein militärisches Abhängigkeitsverhältnis zur Monarchie zu bringen. Sie verteilten schon die Beute, und je länger die Sitzung dauerte, desto grösser wurde der Appetit. Tisza gab nicht nach, aber mit dem Berliner Pfeil im Fleische kämpfte er einen aussichtslosen Kampf. Um ihm einen kleinen Scheinerfolg zu lassen, beschloss man, zunächst »konkrete Forderungen« und ein Ultimatum an Serbien zu richten, und erst nach der Ablehnung mit der Mobilmachung zu beginnen. Graf Berchtold schickte seinen »wärmsten Dank für die von dem Geiste reinster Bundestreue getragenen Erklärungen« nach Berlin. »Ich erblicke«, telegraphierte er, »in der Bereitwilligkeit, mit welcher sich die kaiserliche Regierung meinen Ausführungen angeschlossen hat, einen neuen Beweis dafür, dass die Ziele und die grossen Richtlinien der Politik, welche die beiden verbündeten Mächte auf dem Balkan verfolgen, identisch sind.« Dann fuhr er nach Ischl, zu Franz Joseph, dem Tisza soeben in einem neuen langen Brief erklärt hatte, die »allerdings sehr erfreulichen Nachrichten« aus Berlin hätten bei allen andern Teilnehmern der Ministerkonferenz die Absicht reifen lassen, »einen Krieg mit Serbien zu provozieren«, aber da »ein derartiger Angriff auf Serbien nach jeder menschlichen Voraussicht die Intervention Russlands und somit den Weltkrieg heraufbeschwören« würde und dieser Krieg »wahrscheinlich unter sehr ungünstigen Bedingungen durchgefochten werden müsste«, so würde er die Verantwortung nicht mittragen können. Der Alte in Ischl, hin und her gerissen, schüttelte bei dieser Lektüre gewiss trübselig das Haupt. Wenn er den Befehl zum Rückzug gäbe – was würde Wilhelm II. sagen, wie würde der deutsche Kaiser den eigenen Mut zur Schau tragen, mit seiner Bündnistreue paradieren – und Habsburg klein, dem preussischen Spott hingeworfen –: »Haben wir es nicht gleich gewusst, 302 Oesterreich kneift . . .?« Nein, er hätte gern zu Tisza gehalten, aber das ging nun nicht mehr, das war vorbei.

Was hat Wilhelm zu dem gefährlichen Jawort getrieben, ihn so betört, dass er in einer Unglücksstunde sich und das deutsche Volk bedingungslos den österreichischen Kriegsköchen verschrieb? Warum ging er der Spinne ins Netz? Er war doch bis dahin nicht blind gewesen gegenüber den Sünden und dem wirren Tatendrang der Wiener Aristokratenpolitik. Oft hatte er den Abgrund, in den man Deutschland hineinreissen wollte, gesehen, hatte zu bremsen versucht, oder doch wenigstens einen Augenblick lang sich geweigert, zu folgen, und seinen Grimm, seine Abneigung bissig und ärgerlich ausgedrückt. Allerdings, das alles war unzusammenhängend, der Zusammenhang wurde durch plötzliche Willensänderungen durchbrochen, der Wind drehte sich von einer Minute zur andern, hinter der entschiedenen Weigerung, Deutschland für Oesterreichs Interessen in den Höllenschlund zu werfen, konnte, ganz unvermittelt, ein hastiger Griff an die schimmernde Wehr, ein Aufflammen heldischer Bundestreue kommen. Aber die überhitzte Natur befreite sich in Worten, in nichts anderem als in Worten, kein Blitz schlug ein, der Donner war schnell in friedlichem Raum verrollt. Um schon Gesagtes zu wiederholen: auch aus dieser Manie, sich und den Intimen eine Szene der Tapferkeit vorzuspielen, vor dem Spiegel den Harnisch umzuschnallen, den giftigen Hohn über den feigen Friedenskaiser durch einen Hieb in die Luft zu widerlegen, konnte die Katastrophe entstehen. Aber noch immer, wenn die Oesterreicher den Schein auf dem Tische ausgebreitet und die Unterschrift gewünscht hatten, und noch jedesmal, wenn von ihm statt der tönenden vorletzten Worte das letzte Wort verlangt wurde, war er erwacht und – freilich mitunter durch fremde Hilfe – den Belagerern entschlüpft. Er, der oft die wirkliche und nahe Gefahr gewittert hatte, wie der Hirsch den Jäger, und dann kehrtgemacht hatte, wurde diesmal von keiner innern Warnerstimme zu vorsichtiger Ueberlegung zurückgeführt. Warum verliess ihn sein Instinkt?

Natürlich war er, wenn auch Bülows skeptisch-ironische Erzählungen nicht völlig falsch sein mögen, über die Ermordung des Freundes und der Schlossherrin, die ihn eben noch bewirtet hatten, empört. Ihn bewegte vermutlich mehr als die menschliche Teilnahme die Idee der dynastischen Solidarität. Einer aus der Fürstenrunde war durch Mordbuben gefallen. Es war Ritterpflicht, ihn zu rächen, das Haupt der revolutionären Hydra zu zerschmettern, die Höhle auszuräuchern, aus der die Untat hervorgekrochen war. In seinem Antwortschreiben an Franz Joseph, das im Auswärtigen Amt entworfen worden war und das er am 14. Juli von Bornholm aus absenden liess, bezeichnete er es als eine moralische Pflicht aller Kulturstaaten, der Propaganda der Tat entgegenzutreten, »die sich vornehmlich das feste Gefüge der Monarchien als Angriffsobjekt ausersieht«. Bei der Stilisierung dieses Satzes hatten sich die 303 Herren des Amtes sehr geschickt in seine Anschauungsweise hineingedacht. Indessen, durch die von Gott geweihte Königsromantik allein wird sein Eifer nicht genügend erklärt. Er war doch nicht nur Lohengrin und dachte auch nicht, wie Schillers braver Mann, an sich selbst zuletzt. Auch die ewige, ganz unbegründete Furcht des guten Bethmann, dass man bei einer Weigerung Oesterreichs den angeblich zuverlässigen Bundesgenossen verlieren könnte, brauchte ihn nicht zu so rückhaltlosem, vorbehaltlosem Gelübde zu bestimmen. Einige Klauseln, eine Bitte um nähere Angabe der Ziele und Absichten beispielsweise, hätten nichts geschadet, und wo sollte ein abtrünniges Oesterreich hin?

Die Wahrheit ist: er glaubte nicht an eine Gefahr, wollte die Möglichkeit, dass er seine Verpflichtungen werde einlösen müssen, nicht sehen. Der Gedanke, es könnte doch so kommen, drang bis in das Vorzimmer seines Geistes – aus den innern Gemächern hielt er ihn fern. Der Zar, alle Monarchen würden davor zurückschrecken, ein Schwert für eine so anrüchige Sache, für die Mörder eines Thronerben, zu ziehen. Und er hatte ja zu dem Grafen Szögyény gesagt, Russland werde es sich sehr überlegen, an die Waffen zu appellieren, und sei noch keineswegs kriegsbereit. Dies war keine gelegentliche Beruhigungsphrase – immer hatte er in der letzten Zeit die Ursachen, aus denen Russland den Frieden halten wolle und müsse, allen Zweiflern und Pessimisten auseinandergesetzt. Hatte Russland nicht während des Balkankrieges gekuscht, nicht Nikita im Stiche gelassen, nicht die Absperrung Serbiens vom Meere ebenso hinnehmen müssen, wie damals die Annexion Bosniens, und konnte der arme Zar einen Krieg entfesseln wollen? Dann spielte er doch um seinen Thron. Wilhelm II. war auch überzeugt, und verbürgte sich dafür, dass unter König Carol, einem Hohenzollern, ein Abschwenken Rumäniens ausgeschlossen sei. Und hatte ihm nicht vor kurzem erst in Venedig König Viktor Emanuel einen Einblick in das franzosenfeindliche Herz Italiens gewährt? Sicherlich, Oesterreichs Schlag gegen Serbien würde einen ungeheuren Lärm, Wutanfälle und eine schwere Krise zur Folge haben, man fuhr in ein schlimmes Unwetter hinaus, es war ein grosses Risiko, das man da übernahm. Aber dann würde mitten im Sturm, unerschütterlich und ruhig, der deutsche Roland stehen, mit den Gesichtszügen des deutschen Kaisers, und die Welt würde bewundernd sehen, wie ein eiserner Wille die Elemente zu bändigen vermag. In dem Gedankengehäuse Wilhelms herrschte vermutlich keine klare Gleichmässigkeit, bald horchte er auf die quälerische Sorge, bald auf die tröstliche Selbstbeschwichtigung, und wie der Mut von der Nervosität durchzittert war, ist auch aus den auf der »Hohenzollern« hingeworfenen, noch immer alarmläutenden Randbemerkungen zu erkennen. Auch hier, an Bord der »Hohenzollern« noch, auf der Nordlandfahrt, war Wilhelm der Ungeduldige, der Anspornende, der Tatendurstige, aber, wie in frühern Fällen, fürchtete er den Krieg nur deshalb nicht, weil er nicht an ihn glaubte, und er 304 war nur tatendurstig, weil die beschwichtigende Stimme ihm sagte, er werde ja gar nicht genötigt sein, kriegerische Taten zu vollbringen. War er nicht oft schon mit tapfern lauten Rufen unbeschädigt durch den von bösen Geistern bewohnten Wald gegangen? Weil er die Komödien der »gepanzerten Faust« bis dahin ohne Unfall überstanden hatte, hielt er die Tragödie für abgeschafft.

Fürst Bülow, der die deutsche Politik ja auch auf falsche und gefährliche Wege geführt hatte, aber wenigstens im letzten kritischen Augenblick die Rückwege zu finden wusste, hat mir während des Krieges einmal gesagt: »Wie konnte man meinen, der Zar werde ruhig zusehen, wenn Oesterreich Serbien okkupierte, ihm seine Souveränität, seine Freiheit nahm? Der Zar hätte riskiert, dass irgendein Generaladjutant zu ihm ins Zimmer getreten wäre und ihm erklärt hätte: ›Majestät, das geht nicht, das erlaubt Russland nicht.‹ Er hätte riskiert, dass man ihm die Gurgel abgeschnitten hätte – er musste den Oesterreichern den Krieg machen, er wäre sonst seines Lebens nicht mehr sicher gewesen, man hätte ihn umgebracht. Nur eine völlige inexpérience konnte das nicht sehen.« Jedenfalls war es eine eigentümliche Annahme, Russland werde jetzt Serbien erwürgen lassen, weil es bei der bosnischen Annexion, bei der Hafenfrage und sonst noch während des Balkankrieges den Affront geschluckt hatte und schliesslich doch, mit geschwollener Zornesader, still geblieben war. Diesmal handelte es sich um die völlige Unterwerfung Serbiens und um die völlige Vernichtung der russischen Politik, und der Umstand, dass Russland schon dreimal oder viermal hatte nachgeben müssen, steigerte noch die Gefahr.

Die Urheber der Versailler Schuldthese und ihre Freunde haben, zur stärkern Belastung Deutschlands, lange behauptet, dass am Tage nach der Ankunft des Grafen Hoyos in Potsdam ein Kronrat abgehalten worden sei. Diese Erzählung ist falsch, ist widerlegt worden, und in Deutschland haben alle, von Wilhelm II. bis zum kleinsten Hilfsschreiber der geschichtserläuternden Anwaltschaft, sie mit äusserster Entrüstung bekämpft. Wenn wirklich ein Kronrat abgehalten worden wäre – wo läge darin ein Schuldbeweis oder auch nur ein Grund zur Verdächtigung? Der Streit der gerichtlichen Sachverständigen dreht sich um die Existenz eines Revolvers, der gar keiner ist. Hätte man mit der Einberufung eines Kronrates etwa ein Verbrechen begangen? Ein Vergehen gegen das deutsche Volk ist es weit eher, dass kein Kronrat stattgefunden hat. In einer Frage von ungeheurer Bedeutung, der Frage, von deren Beantwortung Tod und Leben abhängen konnten, wurden auf einem Parkspaziergang von Wilhelm II., Herrn von Bethmann-Hollweg und dem Unterstaatssekretär Zimmermann die entscheidenden Beschlüsse gefasst. Niemand sonst konnte zur Sache sich äussern, niemand sonst konnte raten, kein anderer wurde befragt, als diese beiden, Bethmann und ein Unterstaatssekretär, der liebenswürdige und immer frische Korpsstudent Zimmermann. Von Herrn von Bethmann-Hollweg hat Wilhelm II. nach 305 dem Kriege geschrieben, seine Unzulänglichkeit als Kanzler habe sich erwiesen, er habe Fehler über Fehler gemacht und im Laufe seiner Kanzlerschaft habe sich sein Unverständnis für die politischen Realitäten immer mehr herausgestellt. Aber als es sich um Krieg und Frieden handelte, genügte ein kurzes Gespräch mit diesem Kanzler, den der Monarch für so unfähig hielt, und mit einem gehorsam nickenden Ministerialbeamten, und da Herr von Bethmann-Hollweg, der »Fehler über Fehler machte«, ganz die Meinung seines kaiserlichen Herrn teilte, war die Angelegenheit erledigt und man konnte am nächsten Morgen auf die Nordlandreise gehen. Da Wilhelm II. das war, was man in Deutschland einen »konstitutionellen Herrscher« nannte, trug er die Schicksalsfrage korrekt seinem Reichskanzler vor. Damit hatte er seine Pflicht voll erfüllt. Auch Herr von Bethmann-Hollweg meinte, seine Pflicht erfüllt zu haben, als er dem Kaiser die Weisheit seines politischen Urteils gespendet hatte, und kam gar nicht auf den Gedanken, dass es doch vielleicht empfehlenswert wäre, andere erfahrene Männer zu Rate zu ziehen. Er war überzeugt von seinen diplomatischen Talenten, von der Sicherheit seiner Hand und seines Blickes, von seiner staatsmännischen Befähigung, zwischen allen Klippen zu steuern, und warum sollte das, was dem Fürsten Bülow in der bosnischen Affäre gelungen war, nicht ebenfalls ihm gelingen? Denn natürlich wollte auch er keinen Krieg und am Ende des etwas schwierigen Weges, der vor ihm lag, sah er nur den grossen diplomatischen Erfolg. Oesterreich durch die Demütigung und Knebelung Serbiens wieder gestärkt, ein wertvoller Bundesgenosse, dankbar dem treuen Freunde, die Kraft der deutschen Führung endlich überall anerkannt, von den Gegnern draussen und den Spöttern im eigenen Lande, und Russland und Frankreich, zornig über die eigene Schwäche, einander beschuldigend, miteinander zankend und gemeinsam enttäuscht von dem abermals als unzuverlässig erkannten Albion. Bülow hatte in der bosnischen Krise durch eine entschlossene Miene die Russen und ihren Anhang aus dem Spiele hinausgeblufft. Die Kunst des Bluffens hatten auch andere Leute gelernt. Herr von Bethmann wusste genau, wohin er gehen wollte, und es war absolut überflüssig, noch diesen oder jenen zu befragen und einzuweihen. Das machen wir allein. Nur eines war nötig: dass der Kaiser, der durch plötzliche Einfälle und Eingriffe so leicht den vorgezeichneten, vom Staatsmannsauge schnell erspähten Gang der Handlung stören konnte, schleunigst zu den nordischen Gewässern hin verschwand. Dann konnte man ohne Verwirrung, in Ruhe und Klarheit den Knoten schürzen und wieder lösen, und nach vollbrachter Tat konnte der heimkehrende Monarch aus den Händen seines Paladins den stolzen Lorbeer des friedlichen Sieges empfangen.

So malte sich in diesen Köpfen die Welt. So ging aus diesen Köpfen, in einem Potsdamer Schlosspark, die Entscheidung hervor, die alle Zweifel in Wien hinwegwehte, wie ein kräftiger Windstoss die Nebel 306 auseinanderweht. Die eigenwilligsten Autokraten riefen, bevor sie weittragende Beschlüsse fassten, ihre Minister und die Grossen der Krone zusammen. Ludwig XIV. hatte gewiss den Glauben an seine Ueberlegenheit, aber wer je die grossartigste Chronik eines Zeitalters, die Memoiren Saint-Simons, gelesen hat, weiss, dass er kaum etwas Wichtiges ohne vielerlei vorbereitende Beratungen unternahm. Täglich, mit Ausnahme des Donnerstags, Tag der Audienzen, und des Freitags, Tag des Beichtvaters, wohnte er einer Ministersitzung bei. Als er die Nachricht vom Tode des spanischen Königs Karl II. empfing, forderte er die Minister und die Mitglieder des Staatsrates auf, sich schleunigst in dem Landhaus der Madame de Maintenon einzufinden, in dessen Nähe er gejagt hatte, und vier Stunden lang an diesem und vier Stunden lang am nächsten Tage wurde im Salon der Königsfreundin über die Politik Frankreichs diskutiert. Es war sehr unmoralisch und liederlich, dass der Sonnenkönig im Heim der Madame Maintenon mit seinen Ministern und den andern Ratgebern ein Ereignis erörterte, aus dem dann der spanische Erbfolgekrieg entstand. Aber wenn man die sittlichen Beklemmungen mühevoll unterdrückt, muss man gestehen, dass acht Stunden, angefüllt mit Reden und Gegenreden einer an Erfahrung reichen Versammlung, für den Staat nützlicher sein können, als ein halbstündiger Spaziergang zu dreien durch den Park.

In Wien warteten die Berchtold und Forgach auf die Beweise für die Mitschuld der serbischen Regierung an dem Attentat. Was ihnen auf den Tisch gelegt wurde, war unbefriedigend, diplomatische Vertretungen und Polizeiagenten waren in die Materie noch nicht genügend eingedrungen. War es nicht zum Verzweifeln, dass der nach Serajewo entsandte Sektionsrat von Wiesener, der sehr viel später soviel Anklagegründe zusammentrug, am 13. Juli berichtete, das Material aus der Zeit vor dem Attentate biete »keine Anhaltspunkte für Förderung der Propaganda durch die serbische Regierung« – und nur dafür, dass diese Bewegung, unter Duldung der serbischen Regierung, von Vereinen genährt werde, habe man ein »wenn auch dürftiges, doch hinreichendes« Material? Herr von Wiesener meldete sogar: »Mitwisserschaft serbischer Regierung an der Leitung des Attentates oder dessen Vorbereitung und Bestellung der Waffen durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten«, und: »Es bestehen vielmehr Anhaltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.« Damit vermochte auch der geschickteste Regisseur nichts anzufangen. Dieses Telegramm des Herrn von Wiesener nahm man in das Rotbuch, das der Welt die Gerechtigkeit der Ultimatumspolitik beweisen sollte, lieber nicht auf. Dagegen liefen zahlreiche Berichte aus Serbien ein, die ausführlich schilderten, wie der chauvinistische Pöbel, und sicherlich nicht nur der Pöbel der Gasse, sich bei der Verkündung der Mordtat benahm. Als das Ereignis bekannt wurde, feierte man in Serbien gerade den Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfelde, und die Patrioten 307 begeisterten sich an dem Bilde des grossen Milos Obilitsch, der im Jahre 1389 den Sieger Murad ermordet hat. Auf Befehl der serbischen Regierung wurde am Abend die Feier offiziell abgestoppt. Indessen, beim Bekanntwerden der Nachricht aus Serajewo umarmten sich, wie der Legationsrat Ritter von Storck aus Belgrad dem Grafen Berchtold meldete, hochgestimmte Festteilnehmer und riefen: »Recht ist ihnen geschehen« und »Das ist die Rache für die Annexion!« Der Generalkonsul in Uesküb berichtete: »Als sich in den Abendstunden die Nachricht von der entsetzlichen Schandtat verbreitete, bemächtigte sich der fanatisierten Menge eine Stimmung, welche ich nach den zahlreichen Beifallsäusserungen, die mir von meinen absolut verlässlichen Gewährsmännern gemeldet werden, nicht anders als unmenschlich bezeichnen kann.« Der Gerant Herr Hoflehner in Nisch schrieb, er habe sich um neun Uhr abends, als die Attentatsnachricht eintraf, in einem Gartencafé befunden, und dort habe »eine förmlich fröhliche Stimmung die zahlreichen Gäste des Lokals erfasst«. Solche Vorgänge, die man zweifellos in ganz Serbien hätte beobachten können, waren ein neuer Beweis dafür, wie der Hass jede anständige Gesinnung tötet und die Gehirne bis zur letzten idiotischen Kritiklosigkeit verdummt. Franz Ferdinand war kein Feind Serbiens gewesen, gerade er hatte sich aufgelehnt gegen die Unterdrückung slawischer Bevölkerungsgruppen, gerade er hatte nicht Kriegsgelüste verspürt, gerade er hätte gern Mittel zu friedlichem Ausgleich mit dem Serbenvolke gesucht.

Die Freudenkundgebungen in Serbien waren skandalös und widerwärtig und zeigten den seelischen Abgrund, der zwei Nachbarstaaten schied. Was begab sich zur gleichen Stunde in Wien? Am 2. Juli meldete Herr von Tschirschky, er höre, während er seinen Bericht über die Audienz bei Franz Joseph niederschreibe, zwischen 12 und 1 Uhr nachts, »das Johlen und Pfeifen einer grossen Menschenmenge«, die zu einer »Demonstration vor der nahegelegenen russischen Botschaft« zusammengelaufen sei. »Zahlreichen Schutzmannschaften ist es soeben gelungen, die Demonstranten von der russischen Botschaft abzudrängen, und nach einer Ansprache, die von jemandem an die Menge gerichtet wurde, die ich aber nicht verstehen konnte, zieht die Menge soeben ab, unter Absingung des ›Gott erhalte‹ und der ›Wacht am Rhein‹.« Am 4. Juli berichtete der deutsche Botschafter, die an sich sehr beherzigenswerten Mahnungen zur Ruhe und Besonnenheit fänden in der öffentlichen Meinung kein Verständnis, dazu sei sie, »wie auch aus den allabendlichen Demonstrationen, die sich gegen Serbien und Russland richten, hervorgeht, zu sehr in Wallung versetzt«. In der Tat, allabendlich kam die Polizei zu spät. Man konnte verstehen und entschuldigen, dass die Erregung über die Ermordung des Thronfolgers, so unpopulär er auch gewesen war, sich in Schmährufen auf Serbien entlud, und man mag, da der tobende See sein Opfer haben will, es sogar milde beurteilen, dass eine Hetzjagd auf alle in Wien lebenden 308 Serben begann. Es lag einer der bekannten Fälle von Massensuggestion vor und die meisten abmahnenden Stimmen mussten eindruckslos verhallen. Aber die Tumultszenen vor der russischen Botschaft, das Johlen und Pfeifen und »Nieder mit Russland!«, die Umzüge in den Strassen mit der gleichen Parole – was bedeutete das, wie anders war das zu erklären, als durch blöde Kriegslust und Gewissenlosigkeit? Noch hatten doch angeblich auch die Wiener Diplomaten den Wunsch, den Krieg zu »lokalisieren«, und noch hatte, in diesen Julitagen, Russland nicht für Serbien Partei genommen. Diejenigen, die solche Manifestationen organisierten, ermutigten, duldeten oder an ihnen teilnahmen, sehnten sich wohl nach dem Kriege mit Russland, nach dem Weltkrieg, und ihrer verwirrten Phantasie genügte die Abrechnung mit Serbien nicht? Aus der Glut eines Weltbrandes, aus der Asche Europas sollte der Doppeladler, verjüngt und schöner als ein Phönix, sich aufwärts schwingen. Freilich, Oesterreich-Ungarn allein konnte gegen Russland, gegen eine Welt, nicht kämpfen – man brauchte Deutschland dazu. Darum wurde auch auf der Strasse und in feinen und weniger feinen Restaurants so enthusiastisch, so herzensstark und herzerwärmend die »Wacht am Rhein« gesungen.

In allen Unterhaltungen mit Tschirschky erklärte Graf Berchtold jetzt, man werde die Forderungen an Serbien »so einrichten, dass deren Annahme ausgeschlossen erscheint«. Darüber, »welche Forderungen man stellen könne, die Serbien eine Annahme unmöglich machen würden«, sinne er noch nach. Am 11. Juli sagte er dem Botschafter, »die hauptsächlichsten Forderungen« würden sein, dass der König amtlich und öffentlich in feierlicher Erklärung und in einem Armeebefehl den Verzicht Serbiens auf eine grossserbische Politik kundtun müsse, und dass ein Organ der österreichisch-ungarischen Regierung eingesetzt werde, ein mit der Kontrolle dieser Verpflichtungen betrautes Ueberwachungsorgan. Hinterher fand man in Wien diese »hauptsächlichsten Forderungen« ungenügend, und es wurde dann, in dem Ultimatum, noch allerlei anderes, gleichfalls Hauptsächliches, verlangt. Am 14. Juli unterwarf sich Tisza, in einer Unterredung mit Berchtold, und die Einigkeit der Front war damit hergestellt. Der starke Mann Ungarns hatte nun, wie er zu Tschirschky sagte, die Ueberzeugung gewonnen, dass man »zu einem energischen Entschlusse kommen und den unhaltbaren Zuständen im Südosten ein Ende machen« müsse, und er fügte hinzu, »die bedingungslose Stellungnahme Deutschlands an der Seite der Monarchie« habe auf den Kaiser Franz Joseph einen grossen Einfluss ausgeübt. Graf Berchtold sprach dem Botschafter seine Freude über die Einigung mit Tisza aus. Die Ultimatumsnote werde in einer Ministerkonferenz definitiv geprüft und dann dem Kaiser in Ischl vorgelegt werden, dessen Zustimmung sicher sei. Am 20. Juli sollte der Präsident der Französischen Republik, Poincaré, zum Besuch beim Zaren nach Petersburg kommen. Die Wiener Staatskunst wollte vermeiden, dass 309 dort, »bei Champagnerstimmung und unter dem Einfluss der Herren Poincaré, Iswolski und der Grossfürsten, eine Verbrüderung gefeiert« und die Stellungnahme der Alliierten festgelegt werde, und deshalb werde man erst nach der Beendigung dieses Besuches den Schritt in Belgrad tun. Nachdem man das Datum mehrfach geändert hatte, wurde die Ueberreichung auf den 23. Juli, nachmittags fünf Uhr, anberaumt. Da indessen der deutsche Staatssekretär von Jagow, nach erneuter Berechnung, darauf aufmerksam machte, dass Poincaré um fünf Uhr noch nicht unterwegs auf hohem Meere sein werde, schob man die Aktion noch um eine Stunde hinaus. In solcher »Technik« entwickelte diese Diplomatie sehr viel Talent. Wie ein Fabrikant von Detektivstücken fädelte sie eine Ueberraschungsszene ein.

 

Herr von Jagow war, wie schon erwähnt, am 6. Juli von der Hochzeitsreise in das Auswärtige Amt zurückgekehrt. Er hatte die vollendete Tatsache, die Zusage Wilhelms II. und des Reichskanzlers an Oesterreich, vorgefunden, und er erklärte, dass er damit ganz einverstanden sei. Als ihm während des Krieges klargeworden ist, dass die politisch pfuschende militaristische Diktatur zum Zusammenbruch führen müsste, hat er, was ihn ehrt, seinen Abschied genommen. Es ist sehr bedauerlich, dass er die politische Pfuscharbeit, die er im Juli weiterspinnen sollte, nicht gleichfalls in ihrer Verderblichkeit erkannte und sich nicht damals schon zu einer Weigerung, die vielleicht heilsam gewesen wäre, entschloss. Er hat sein Verhalten mit den üblichen Gründen verteidigt, wir hätten Oesterreich, den einzigen Bundesgenossen, nicht im Stiche lassen dürfen und er habe gehofft, den österreichisch-serbischen Konflikt lokalisieren zu können. Hoffnungen, von denen sich hinterher herausstellt, dass sie auf einer falschen Beurteilung der politischen Tatsachen beruhten, sind leider kein unbedingt entlastendes Moment. Auch Herr von Jagow riet in Wien andauernd zu schnellem Handeln, weil er der Ansicht war, unter dem frischen Eindruck des Attentates von Serajewo würden die Mächte den Serben nicht beispringen wollen. Nach den Forderungen, die Oesterreich in seinem Ultimatum an Serbien richten werde, fragte er so wenig, wie Herr von Bethmann danach gefragt hatte, und es genügte ihm, die Note kennenzulernen, »sobald endgültig festgestellt«. Herr von Jagow sagt in seinem Buche, er habe wissen wollen, »wohin die Reise ginge«, und von einer »Carte blanche« könne keine Rede sein. »Es ist ein grosser Unterschied, ob, wenn ich Schritte prinzipiell als notwendig anerkenne, ich auch den modus procedendi suggeriere und damit die Verantwortung für diesen übernehme, oder ob ich von der Art der Schritte vorher in Kenntnis gesetzt sein und mir gewissermassen die Kontrolle vorbehalten will.« Das ist eine subtile Diplomatenklugheit und zwischen ihr und dem gesunden Menschenverstand besteht gleichfalls ein grosser Unterschied. Es war eine etwas lückenhafte Kontrolle, die sich die deutsche Reichsregierung vorbehielt.

310 Die Eindrücke, die Herr von Jagow gewann, als er, ohne Versäumnis und mit Umsicht, nun daran ging, die nicht ganz sichern Bundesgenossen, Italien und Rumänien, festzuhalten, waren im höchsten Grade fatal. Diese Aufgabe musste um so schwieriger, um so aussichtsloser sein, da man den Oesterreichern versprochen hatte, den zur Indiskretion neigenden Freunden nicht die Wahrheit über die geplante Aktion zu sagen, und in demjenigen, dem man so einen beleidigenden Mangel an Vertrauen zeigt, doch nur das Misstrauen gereizt werden kann. Der Botschafter von Flotow, der in Fiuggi Fonte bei dem leidenden Marquis di San Giuliano weilte, berichtete rechtzeitig mit berechtigtem Pessimismus über die Stimmung und die Absichten Italiens: er halte die Situation »für hoffnungslos, wenn nicht Austria sich angesichts der Gefahr zu der klaren Erkenntnis aufrafft, dass, falls es etwa territorial etwas nehmen will, es Italien entschädigen muss«. San Giuliano erklärte ihm, »eine Niederwerfung Serbiens oder gar österreichische Annexion« würde von Italien und auch von Rumänien nicht geduldet werden können. Auch Jagow war schon von seiner alten Illusion, dass auf Italien zu zählen sei, stark zurückgekommen. Nach den ersten Meldungen Flotows schien es ihm nun doch notwendig, die Kriegsziele Wiens zu erforschen, die noch der Schleier des Mysteriums umgab. »Eine territoriale Ausbreitung der österreichisch-ungarischen Monarchie«, schrieb er am 15. Juli an Tschirschky, »selbst eine Ausdehnung ihres Einflusses im Balkan wird in Italien perhorresziert und als Schädigung der Position Italiens daselbst angesehen . . . Es ist daher von grösster Bedeutung, dass Wien sich mit dem Kabinett von Rom über seine im Konfliktsfalle zu verfolgenden Ziele in Serbien auseinandersetzt«. Jagow regte die Abtretung des Trentino an. Das sei ein schmerzliches Opfer, aber es frage sich, »welchen Wert die Haltung Italiens für die österreichische Politik hat, welchen Preis man dafür zahlen will, und ob der Preis im Verhältnis zu dem anderwärts erstrebten Gewinne steht«. Auch hier fragte Jagow noch nicht schlicht und geradezu: was wird in Wien erstrebt, gewollt, geplant, und er bat, die Italiener aufzuklären, statt für sich, für die deutsche Staatsleitung, eine klare Auskunft zu verlangen. Es wäre wirklich schon am 5. Juli nicht unwichtig gewesen, sich über die Ideen der Berchtold und Genossen zu informieren – jetzt konnte Graf Berchtold, mit der deutschen Unterschrift in der Tasche, kühl ablehnen, als Herr von Tschirschky ihm von Konzessionen für Italien, vom Trentino sprach. Der österreichische Botschafter in Rom, Flotows Kollege, der Baron Merey, aber schrieb am 29. Juli seinem Minister: »Ich werde es für ein wahres Glück halten, wenn es zum Kriege kommt. Entwickelt sich daraus die europäische Konflagration, so wird mir dies beweisen, dass sie eben in der Luft lag« – ein »Nachgeben Serbiens in zwölfter Stunde«, oder gar ein »Eingehen auf Mediations- oder ähnliche Verhandlungen« würde »geradezu eine Katastrophe« sein. »Was nun Italien anbelangt, so geht 311 meine Ansicht dahin, dass es im Falle der europäischen Konflagration seine Bundespflicht sicherlich erfüllen wird.« Es sei bedenklich, dass man sich in Wien auf eine Verpflichtung zu territorialem Desinteressement einlassen wolle, und Deutschland, »welches sich ja immer mehr als unser Vormund aufspielt«, teile das schon urbi et orbi mit. »Es ist ein Jammer, zu sehen, wie Deutschland, unter dessen Vormundschaft wir uns gestellt haben, für seine Zwecke unsere ernstesten Interessen verschleudert«, schrieb dieses interessante Mitglied der habsburgischen Diplomatie. In dem Augenblick, wo Deutschland sich für den Verbündeten ans Kreuz nageln liess . . .

 

»Was Rumänien betreffe, so werde er dafür sorgen, dass König Carol und seine Ratgeber sich korrekt verhalten werden«, hatte am 5. Juli Wilhelm II. zu dem Grafen Szögyény gesagt. Auch dieser frohe Glaube wurde schnell zerstört. Oesterreich-Ungarn hatte in Bukarest einen Gesandten, der von einer andern Klasse als der Baron Merey in Rom war, Rumänien auch besser kannte als der aus Argentinien dorthin versetzte deutsche Vertreter von Busche-Haddenhausen, und nicht die Augen vor den Tatsachen verschloss. Graf Czernin dachte über das, was man von Rumänien zu erwarten hätte, wesentlich skeptischer als die Deutschen, und es muss, so gering die Achtung vor den Talenten der Wiener Diplomaten-Aristokratie auch sein mag, daran erinnert werden, dass selbst Graf Berchtold das Geheimnis von Bukarest besser durchschaut hatte als Wilhelm und seine Umgebung, deren Blick gebannt an der sympathischen Figur des Königs Carol hing und niemals weiter drang. Am 13. Juli wurde Herrn von Jagow ein Telegramm des Grafen Czernin vorgelegt. Der österreichisch-ungarische Gesandte berichtete, dass ihm Carol in einer Audienz erklärt habe, man dürfe »die Mordbuben nicht mit dem offiziellen Serbien in einen Topf werfen«, und Serbien würde eine Untersuchung durch eine österreichische Kommission wohl nicht zulassen können. Der König habe sich auch die Ansicht rumänischer Politiker, dass nach der Ermordung Franz Ferdinands »die Zukunft Oesterreich-Ungarns dunkel erscheine«, zu eigen gemacht. Er sei ausgewichen, als Graf Czernin versucht habe, eine Erklärung über Rumäniens Stellungnahme im Falle eines Krieges zu erlangen. Zu diesem Telegramm Czernins bemerkt Herr von Jagow, es lasse »auf einen weitgehenden diplomatischen Dilettantismus des Autors schliessen« – eine entschieden zu herbe Kritik. Bereits war ein Geheimbericht des deutschen Geschäftsträgers in Bukarest unterwegs, der gleichfalls von einer Audienz bei Carol Kunde gab und noch schlimmere Offenbarungen enthielt. Auch dem deutschen Geschäftsträger gegenüber sagte der König, man dürfe die serbische Regierung nicht mit dem Attentat von Serajewo in Verbindung bringen. In Wien scheine man den Kopf verloren zu haben, und eine Einwirkung von Berlin aus täte not.

312 Fürst Lichnowsky hatte auf Befehl des Kaisers an der Kieler Woche teilgenommen. In seinen Aufzeichnungen hat er gesagt, er habe das Attentat von Serajewo an Bord des »Meteors« erfahren, dem Ereignis keine weittragende Bedeutung beigemessen und später festgestellt, dass »bei manchen österreichischen Aristokraten ein Gefühl der Erleichterung andere Empfindungen überwog«. Auch als er sich dann ein paar Tage in Berlin aufhielt, war er von pessimistischen Gedanken weit entfernt. Am 1. Juli sprach er mit mir lange über das, was er als Reichskanzler tun würde, und über die Notwendigkeit der Wahlrechtsreform und die Vorzüge des parlamentarischen Systems – wobei er betonte, Bethmann wolle nicht abdanken und stehe fester als je. Er erzählte, dass Herr von Bethmann-Hollweg, auf eine Zeitungsnotiz hinweisend, lachend zu ihm gesagt habe: »Also Sie wollen mein Nachfolger werden?« und die Fürstin, die dabei stand, eingeworfen habe: »Ich möchte einmal Reichskanzler sein – so radikal, wie ich sein würde, wären Sie alle nicht!« Von der Befürchtung, dass sich aus der Mordtat schicksalsschwere politische Komplikationen ergeben könnten, war er so völlig frei, dass er in der Unterhaltung mit mir an diesem Thema, wie an etwas wenig Beachtenswertem, uninteressiert vorüberging. Hinterher sah er den Reichskanzler, der wieder sehr erfüllt von der Sorge über die russischen Rüstungen war. Lichnowsky erwiderte, von den russischen Rüstungen höre er nun seit etwa dreissig Jahren, schon Graf Waldersee und sein Generalstab hätten mit diesem Argument auf den Krieg hingearbeitet, aber Bismarck habe sich widersetzt und die russischen Kanonen seien dann niemals losgegangen. Ein Krieg, in den Frankreich verstrickt wäre, würde, das müssten wir uns trotz allen guten Beziehungen klar vor Augen halten, auch ein Krieg mit England sein. Unter allen Umständen würde in einem solchen Kampfe England sich schützend an die Seite Frankreichs stellen. Fürst Lichnowsky fuhr dann für zwei oder drei Tage nach Kuchelna, seinem oberschlesischen Besitz, hielt sich auf der Rückreise nur wenige Stunden in Berlin auf und traf am 6. Juli wieder in London ein. Einen Tag vorher hatte Graf Szögyény in Potsdam dem Kaiser das Handschreiben Franz Josephs überreicht. Noch ohne Kenntnis von der österreichischen Aktion, aber unter dem Eindruck der letzten Aeusserungen, die er in Berlin gehört hatte, ging Lichnowsky sofort zu Grey und erklärte ihm, die Spannung zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien habe sich durch die Ermordung des Thronfolgers nicht unerheblich verschärft, und wenn die Wiener Regierung, was er nicht wisse, eine Genugtuung von Belgrad verlangen sollte, so würde man ihr das nicht übelnehmen können. Er bat Sir Edward Grey, in diesem Falle in Petersburg darauf hinzuwirken, dass von dort aus den Serben zur Nachgiebigkeit geraten werde, und berührte auch die Angelegenheit der englisch-russischen Flotten-Entente, die dazu führen könnte, das Selbstbewusstsein des russischen Nationalismus noch zu erhöhen. Grey erwiderte, dass ein geheimes Abkommen nicht existiere, die Beziehungen 313 zu den Ententegenossen aber allerdings »einen sehr intimen Charakter« hätten, und leugnete diesmal eine »Fühlungnahme der beiden Marinen« nicht geradezu ab. Wenn man die Art seines Geistes in Betracht zieht, der sich gewissermassen schamhaft vor sich selbst verschleierte, so muss man zugeben, dass dieses wenige schon viel, das Schweigen beinahe eine Offenherzigkeit war.

Nun entspann sich, an den folgenden Tagen, ein Gedankenaustausch zwischen Lichnowsky und Jagow – ein auf der einen Seite mit bitterem Gefühl, auf der andern mit wohlwollender, nachsichtiger Belehrung geführter Meinungskampf. Das begann am 12. Juli mit einem Telegramm, in dem der Staatssekretär dem Botschafter auseinandersetzte, dass in Berlin unter allen Umständen die Lokalisierung des Konfliktes gewünscht werde, und dass man deshalb auch in der englischen Presse eine Stimmung schaffen müsse, »die in dem Attentat . . . den Ausfluss einer mit dem Kulturgewissen Europas unvereinbaren politischen Verbrechermoral sieht« und bereit wäre, die Berechtigung einer österreichischen Abwehrpolitik anzuerkennen. Lichnowsky wurde aufgefordert, »in diesem Sinne tunlichst auf die dortige Presse einzuwirken«, ganz wie Herr von Jagow den Botschafter von Rom beauftragte, die italienische Presse auf den richtigen Weg zu bringen. Herrn von Flotow wurden Gelder zur Verfügung gestellt, von denen er einen Gebrauch nicht machen konnte – dem Fürsten Lichnowsky wurde wenigstens nicht zugemutet, die »Times«, den »Daily Telegraph« und den »Manchester Guardian« mit ein paar tausend Mark für die Sache Oesterreichs zu gewinnen. Auf diese Weisung antwortete Lichnowsky, die englische Presse sei unabhängig, derartige Einwirkungen würden keinen Erfolg haben, und: »Sosehr man auch eine unnachsichtige strafrechtliche Verfolgung der Mörder begreifen wird, sowenig, fürchte ich, wird die öffentliche Meinung dafür zu haben sein, dass man die Angelegenheit auf das politische Gebiet hinüberspielt und sie zum Ausgangspunkt militärischer Massregeln gegen ein Volk von Verbrechern macht.« Als Jagow ihn nochmals drängte, warnte er in einem Telegramm vom 15. Juli »nachdrücklich vor Enttäuschungen«, am 16. Juli telegraphierte er: »Ich wiederhole meine Auffassung, dass bei militärischen Massnahmen gegen Serbien die gesamte öffentliche Meinung gegen Oesterreich-Ungarn Stellung nehmen wird«, und am gleichen Tage fasste er in einem ausführlichen Schreiben an den Reichskanzler seine Ideen über die Situation zusammen. Er wollte sich eines Urteils darüber enthalten, ob es wirklich möglich sein werde, die russische Regierung zum stillen Zuschauen zu bewegen, aber dass es nicht gelingen werde, im Kriegsfall die öffentliche Meinung Englands gegen Serbien zu beeinflussen, sage er mit Bestimmtheit voraus. Wien habe für die Regelung der südslawischen Frage gar keinen grosszügigen Plan. Er wünsche keine Preisgabe des Bündnisses mit Oesterreich, aber es frage sich, »ob es sich für uns empfiehlt, unsern Bundesgenossen in einer Politik zu unterstützen, 314 beziehungsweise eine Politik zu gewährleisten, die ich als eine abenteuerliche ansehe, da sie weder zu einer radikalen Lösung des Problems noch zu einer Vernichtung der grossserbischen Bewegung führen wird«. Wenn die k. und k. Polizei und die bosnischen Landesbehörden den Thronfolger durch eine »Allee von Bombenwerfern« geführt haben, sei das kein genügender Grund, um »den berühmten pommerschen Grenadier für die österreichische Pandurenpolitik aufs Spiel zu setzen, nur damit das österreichische Staatsbewusstsein gestärkt werde«, das es für seine vornehmste Aufgabe halte, sich der deutschen Bevormundung zu entziehen.

 

Jagow stellte, ebenfalls in einem langen Briefe, dieser gesunden, staatsmännischen Darlegung die bessere Amtseinsicht gegenüber und war freundschaftlich bemüht, Lichnowskys pessimistische Aengste zu zerstreuen. Er dankte ihm für sein »stets wertvolles« Urteil über die Politik der Zentralstelle und gab zu, dass manche seiner Bemerkungen berechtigt seien. »Wir haben Austria nicht zu seinem Entschluss getrieben«, aber es sei nicht möglich, ihm in den Arm zu fallen. Oesterreich müsse, »aus innern und äussern Gründen«, erhalten, möglichst stark erhalten werden, es werde sich nicht ewig erhalten lassen, aber inzwischen werde man »vielleicht Kombinationen« finden können. Herr von Jagow hielt, wie Wilhelm II., wie Bethmann, trotz der gefurchten Stirn und der russischen Beklemmung, in diesem Augenblick das Spiel nicht für allzu gewagt, oder er half sich doch mit so optimistischer Begründung über alle Diskussionen hinweg. »Ich hoffe und glaube auch heute noch«, schrieb er in diesem Brief vom 18. Juli an Lichnowsky, »dass der Konflikt sich lokalisieren lässt . . .« »Je entschlossener sich Oesterreich zeigt, je energischer wir es stützen, um so eher wird Russland ruhig bleiben« – das war sein Leitsatz, sein Axiom. Hatte nicht auch Fürst Bülow – der freilich immer den Schlüssel zum Notausgang in der Tasche hatte – durch eine gleiche Haltung die Partie in der bosnischen Krise gewonnen? »Einiges Gepolter in Petersburg«, versicherte Herr von Jagow, »wird zwar nicht ausbleiben, aber im Grunde ist Russland jetzt nicht schlagfertig«, und Frankreich und England wünschten jetzt gleichfalls keinen Krieg. »In einigen Jahren wird Russland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein, unsere Gruppe wird inzwischen immer schwächer«, das wisse man in Russland, und deshalb wolle man dort für einige Jahre absolut noch Ruhe und werde jetzt keinen Krieg beginnen. Allerdings, es könnte auch anders kommen. Und lasse sich der Konflikt nicht vermeiden, so könnten wir Oesterreich nicht opfern und der casus foederis trete ein. »Wir ständen dann in einer nicht gerade proud zu nennenden Isolation. Ich will keinen Präventivkrieg, aber wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen« – der Komment der Bonner Borussen war im äussersten Notfall massgebend für das deutsche Sechzig-Millionen-Volk.

315 Unmittelbar vor der Ueberreichung des Ultimatums gab es noch einen kleinen höfischen Zwischenfall. Der Kronprinz hatte wieder einmal von sich reden gemacht. Er hatte Zustimmungsdepeschen an den Oberstleutnant Frobenius, Verfasser einer Broschüre »Des Reiches Schicksalsstunde«, und an den Professor Buchholz in Posen, Autor einer Bismarck-Rede, geschickt. Die Oberstleutnantsbroschüre war eine Kriegstreiberei, die Professorenrede war mit Angriffen auf den Reichskanzler und das Auswärtige Amt gespickt. Die kronprinzlichen Depeschen kamen in die Presse, im Ausland rief die Manifestation erregte Erwiderungen hervor. Herr von Bethmann-Hollweg ersuchte in einem langen Schreiben Seine k. Hoheit, von derartigen kompromittierenden Kundgebungen abzusehen. Am 20. Juli telegraphierte er dem Kaiser: »Ich habe keine Sicherheit dafür, dass Seine k. Hoheit diese Bitte erfüllt.« Vielmehr sei ernstlich zu befürchten, dass der Kronprinz nach der Bekanntgabe des österreichischen Ultimatums abermals mit Kundgebungen hervortreten werde, die als gewollte Kriegstreiberei ausgelegt werden könnten, während doch die – ohnehin schwierige – Aufgabe jetzt die Lokalisierung des Konfliktes sei. »Papa Wilhelm« – so lautete die Unterschrift – sagte in einem Telegramm aus Balholm seinem Sohne, dieses Benehmen habe ihn ausserordentlich peinlich und schmerzlich berührt. »Ich appelliere an Dein Pflicht- und Ehrgefühl als preussischer Offizier, der gegebene Versprechen unbedingt zu halten hat, und erwarte mit aller Bestimmtheit, dass Du Dich besonders jetzt bei der Spannung der Lage sowie hinfort überhaupt jeglicher politischer Aeusserung Dritten gegenüber, die nur geeignet sind, Meine und Meiner verantwortlichen Ratgeber Politik zu stören, ein für allemal enthalten wirst.« Der Kronprinz antwortete dem Papa Wilhelm mit drei telegraphischen Worten: »Befehle werden ausgeführt.« Und Herrn von Bethmann ironisch: »Der Inhalt des Telegramms, welches Ew. Exzellenz in der bewussten Angelegenheit an S. M. gesandt haben, hat mich sehr interessiert.«

 

Wilhelm II. zog über das Meer. Herr von Tirpitz befand sich, ebenso wie der preussische Minister des Innern, Herr von Loebell, zur Kur in Tarasp. Der Generalstabschef von Moltke weilte mit Frau und Tochter in Karlsbad und wurde auf der Promenade den Schwarzsehern als öffentlicher Beweis für die Friedlichkeit der Lage gezeigt. »Friedlich trank er seinen Brunnen«, wie es in dem alten Liede vom alten Wilhelm heisst. Der Kriegsminister von Falkenhayn und der Chef des Admiralstabes weilten anderswo. Tirpitz, der noch am 24. Juli auf die Anfrage, ob er heimkehren solle, eine verneinende Antwort erhielt – da seine Rückkehr die Lage verschärfen würde –, meint, Herr von Bethmann habe ihn und die andern »mit einer gewissen Eifersucht fernhalten wollen«. Am 8. Juli hatte der Unterstaatssekretär Zimmermann Order gegeben, dass Urlaubsunterbrechungen zu vermeiden seien. Kofferpacken in den Kurhotels könnte beunruhigen, als Vorbereitung auf 316 kriegerische Ereignisse gelten, und die Militärs waren ja für alle Eventualitäten gerüstet, ihre Sache war in bester Ordnung, sie brauchten nur noch auf den elektrischen Knopf zu drücken, sie waren die natürliche und berufsmässige Verkörperung der Kaltblütigkeit. Dem König von Bayern, der seine fern wohnenden Landeskinder besuchen wollte und in Berlin anfragen liess, wurde am 26. Juli geschrieben, er möge, »um nicht unnötige Unruhe zu erregen«, programmgemäss auf Reisen gehen. Eine Frage des Königs von Sachsen, ob er gut täte, aus Tirol heimzukehren, wurde verneint. Auch in Wien ging der Kriegsminister auf Urlaub und Conrad von Hötzendorff ging in die Wälder, »um jeder Beunruhigung vorzubeugen«, wie Graf Berchtold Herrn von Tschirschky wissen liess. »Kindisch!« bemerkte Wilhelm II. dazu, ohne zu beachten, dass man in Deutschland die gleiche Badetaktik betrieb. Das Mysterium des Ultimatums wurde gut gehütet, erst um die Monatsmitte kam in die europäische Diplomatie eine Unruhe, man wusste nun, dass Oesterreich etwas plane, und allen Botschaftern und allen geheimen Agenten wurde äusserste Aufmerksamkeit eingeschärft. Graf Berchtold freute sich auf seinen Ueberraschungseffekt.

Es mag sein, dass in Berlin einige Freunde des Geheimrats Hammann Andeutungen empfingen. Ich war seit Anfang Juli mit meiner Familie in Scheveningen und wusste nichts von dem Handschreiben des Kaisers Franz Joseph, nichts von der Antwort, nichts von allem, was in der Stille einiger Wiener und Berliner Amtsstuben gedieh. Man schien im Auswärtigen Amt auch noch mit andern Dingen beschäftigt zu sein. Denn am 14. Juli erhielt ich einen Brief von Wilhelm von Stumm, der mich bat, in einem neuen Artikel noch einmal auf die englisch-russischen Marineverhandlungen zurückzukommen. Viel Neues liege zwar nicht vor, aber Russland dränge die Engländer sehr und strebe für den Kriegsfall auch eine weitgehende Unterstützung seiner militärischen Massnahmen zu Lande an. Freundlich führte der Briefschreiber ein anscheinendes Zögern Englands auf die Wirkung meiner frühern Veröffentlichungen zurück. Nur mit stilistischer Vorsicht und möglichster Zurückhaltung erfüllte ich seinen Wunsch. Am gleichen 16. Juli schrieb dann Jagow an Albert Ballin, der sich zur Kur in Kissingen befand. Er wisse nicht, woher mir die Nachricht von den englisch-russischen Verhandlungen zugeflogen sei, und habe ihr zuerst auch keinen rechten Glauben schenken wollen, aber inzwischen habe er »durch sehr geheime Quellen« zu seinem Bedauern feststellen können, »dass die Sache doch ihre tatsächliche Unterlage hat«. Es sei »nun aber in Wirklichkeit noch mehr dahinter, als wohl Theodor Wolff selbst wissen mag« und der »gute Lichnowsky« glauben will. Von russischer Seite werde eine weitgehende militärisch-maritime Kooperation gewünscht. Könnte Ballin nicht seine intimen Beziehungen zu massgebenden Engländern, zu Haldane beispielsweise, benutzen, und was halte er von einem »Warnruf über den Kanal«? Jagow dachte an einen brieflichen Warnruf, 317 dessen Inhalt und ungefähren Text er auch sogleich entwarf. Ballin unterbrach seine Kur und kam nach Berlin. Im Auswärtigen Amt sagte man ihm, dass Oesterreich eine energische Note an Serbien richten wolle, und dass es, da Lichnowskys Berichte nicht als zuverlässig gelten könnten, von höchster Wichtigkeit wäre, Klarheit über die Stimmung in England zu gewinnen. Dies auf schriftlichem Wege zu ermitteln, schien Ballin unmöglich, und er reiste unter geschäftlichem Vorwand nach London, wo er mit Grey, Haldane und Churchill zusammentraf. Zuerst waren die Eindrücke, die er empfing, sehr günstig, bis dann das österreichische Ultimatum kam. Den Krieg, den England nicht wollte, hielt Ballin noch für vermeidbar, als er am 27. Juli wieder zur Heimat fuhr. Nur eine kluge, vorsichtige, aufrichtige Politik gehöre dazu . . . Ballin hat es nie verziehen, dass Herr von Jagow ihm den wahren Ursprung der Nachrichten über die Marinebesprechungen verborgen, ihn, der bereitwillig Zeit und Kräfte hergab, mit misstrauischer Unterbewertung behandelt hat. Aber dieser Vorfall war nicht der einzige Grund der ausserordentlichen Antipathie, mit der er bis zu seinem letzten Lebenstage von dem Staatssekretär sprach.

 

Die deutschen Familien waren ganz wie sonst, ohne an furchtbare Ueberraschungen und die Notwendigkeit überstürzter Heimkehr zu glauben, an die See und ins Gebirge gereist. Wie immer, waren die Ferienzüge überfüllt, wie immer, sonnte man sich im Wasser und auf dem Strande, wanderte durch den Wald, stieg zu den Berggipfeln hinauf. Wer konnte ahnen, dass im Dunkel der Krieg, gerüstet, mit all seinen Schrecken, schon bereit zum Hervorbrechen stand? Dass die Wächter der Welt schon die Signalpfeife zwischen die Lippen schoben – dass so viele, so ungeheuer viele von denen, die hier heiter ruhten, oder sich froh in die Wellen warfen oder den Fuss im benagelten Schuh auf den Felsvorsprung setzten, schon Gezeichnete waren, zum Kriegstod Verurteilte, Lieferungsware für ein Massengrab? Dass bald eine Faust dieses Familienglück zerreissen, das Liebste dahingehen, die Angst, der Jammer die eben frisch geröteten Gesichter dieser Gattinnen, Mütter und Kinder bleichen, die Not den Ertrag der Lebensarbeit zerstören würde, und dass das alles schon so nahe, so dicht und so unentrinnbar war, wie der Schatten, der sich nicht abschütteln liess? Es waren heisse, schöne Sommertage, zu heiss nur, und der, der den Städten entronnen war, hätte sich mit Sorge plagen wollen? Aber in der Mitte des Monats Juli kamen aus den Städten beunruhigende Gerüchte, misstönende Geräusche, und in die Gespräche auf dem Strande und den Promenadenwegen drängten sich, zwischen Klatsch, Banalitäten und Flirt, kurwidrige Fragen ein. Die Börsen waren sehr nervös geworden, in Wien hatte es am 14. Juli eine erste Panik gegeben, auch in Berlin stürzten die Kurse, es hiess, dass es in Albanien wieder losgehe, und vielleicht bereitete Oesterreich wirklich einen Schlag gegen 318 Serbien vor? Die nicht eingeweihten Regierungen und Diplomaten sahen nur die Symptome eines heranziehenden Ereignisses, erfuhren nichts Genaues, tappten im Dunkel, hielten auch ein österreichisches Gewitter nicht für unbedingt katastrophal. Seltsamerweise berichtete noch am 23. Juli der bayerische Gesandte von Tucher aus Wien: »Die hiesigen Ententediplomaten sind noch in Unkenntnis der Absicht des Ballplatzes, den Bruch mit Serbien herbeizuführen, der Engländer ist auf dem Land, der Russe ist vorgestern abend auf Urlaub über Petersburg nach seinen Gütern abgereist und Herr Dumaine hat gestern noch den Versuch gemacht, dem Ersten Sektionschef Baron Macchio zu empfehlen, den Bogen nicht zu straff zu spannen.« Bisher hatte auch in den deutschen Zeitungen mehr über den Prozess der Frau Caillaux und über die innern Ereignisse gestanden, im Wahlkreise Labiau-Wehlau waren die Konservativen geschlagen worden, der Kaiserin hatte man einen Schmuck aus deutschen Kolonialdiamanten geschenkt. Jetzt wurde viel über den Zusammenbruch des albanischen Königszaubers berichtet, aber am 19. Juli las man eine offizielle Erklärung, eine Ankündigung ernster Ereignisse, etwas wie den ersten sanften Wink, für alle Eventualitäten das Testament fertigzustellen. Es war ein Artikel der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung«, der besagte, die Berechtigung Oesterreich-Ungarns, eine Klärung seiner Beziehungen zu Serbien herbeizuführen, werde von der europäischen Presse immer mehr anerkannt. Man müsse hoffen, dass eine ernste Krise vermieden werde, und »das solidarische Interesse Europas lasse es erwünscht und geboten erscheinen«, dass die Auseinandersetzungen lokalisiert blieben, »die zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien entstehen können«. Die Wochenberichte der grossen Banken, der Berliner Handels-Gesellschaft zum Beispiel, konstatierten »nervöse Spannung«, »politische Schwüle in Europa«, sprachen von dem festen Entschluss Oesterreichs, und in allen Hauptstädten, in Wien und in Berlin besonders, nahm die Aufregung der Börsenkreise stetig zu. Am 23. erfuhr man, dass alle Statthalter und Korpskommandanten in Oesterreich-Ungarn auf ihre Posten zurückberufen worden seien, deutliche Anzeichen einer Mobilmachung wurden erkennbar, die Meldungen, dass die Ueberreichung einer Note in Belgrad unmittelbar bevorstehe, wurden nicht mehr dementiert, österreichische Zeitungen verhiessen ein Gottesgericht über die »wüsten Bacchanale des trunkenen Grossserbentums«. Die Menschen, auch jetzt ungläubig, mit einem »ganz unmöglich, ganz ausgeschlossen« die Furcht verscheuchend, waren doch aus ihrer sommerlichen Harmlosigkeit aufgeschreckt, hatten einen Stein auf dem Herzen, alle Sinne waren nach der Seite hin, von der das Dunkel heranzog, angespannt. Die Natur schien nicht mehr so leuchtend, aus irgendeinem Grunde war das Licht fahler geworden, der Blick ging flüchtig hinweg über Arkadiens Blumenwiesen, die Flöte des Pan war wohl beschädigt und hatte nicht den alten süssmelodischen Klang.

 

319 Um diese Zeit, ein wenig früher, ging Fürst Bülow, der, wie in jedem Sommer, auf der Reise von Rom nach Klein-Flottbeck in Berlin sich aufhielt, die »Linden« entlang. In der Nähe der Wilhelmstrasse kam Herr von Bethmann-Hollweg hinter ihm her, erkannte ihn, beflügelte seine Schritte und sprach ihn an. Nach dem ersten Austausch freundlicher Begrüssungen war man natürlich sofort bei den grossen Problemen, beim Attentat von Serajewo, bei Oesterreich, Serbien, Russland und der politischen Situation. »Ich denke«, sagte Herr von Bethmann, »dass der Zar und der russische Hof sich nun endlich von Serbien trennen werden und mit diesen serbischen Mordbuben nichts mehr zu schaffen haben wollen.« Bülow zog die rechte Schulter in die Höhe, machte eine der charakteristischen Handbewegungen, mit denen seine Ironie pathetische Sittenstrenge sanft zurückwies, und bemerkte, er habe einige Jahre in Petersburg gelebt und teile vielleicht deshalb so optimistische Hoffnungen nicht. »Das wäre«, antwortete der Ethiker Bethmann nervös, »doch eine entsetzliche Frivolität, eine unerhörte Unmoral!« Während sie beide nebeneinander weitergingen, sagte Bülow: »Kennen Sie die Geschichte von Alexander I. und Savary, dem Herzog von Rovigo, der unter Napoleon französischer Botschafter in Petersburg war? Der Zar Alexander schätzte Savary sehr und als Russland Napoleon den Krieg erklärt hatte und Savary Petersburg verlassen musste, versprach er dem Botschafter in der Abschiedsaudienz, er werde ihm gern immer gefällig sein. Als dann Napoleon besiegt und vertrieben war und die Alliierten Ludwig XVIII. auf den Thron gesetzt hatten, kam in Paris Savary, der von dem Regime der Restauration schlecht behandelt wurde, zu Alexander und bat ihn um seine Fürsprache bei dem neuen Herrn. Alexander verwandte sich für ihn, aber der Bourbonenkönig wehrte ab. Er könne, sagte er, diesen Wunsch leider nicht erfüllen, denn Savary sei Mitglied des Revolutions-Tribunals gewesen, das über Ludwig XVI. das Todesurteil sprach. Wissen Sie, was Alexander antwortete? – er antwortete: ›Und das ist alles, was er getan hat – weiter nichts? Ich diniere an jedem Abend mit den Leuten, von denen mein eigener Vater ermordet worden ist‹« – »Aber das ist entsetzlich frivol«, erwiderte Bethmann, »eine solche Unmoral wäre doch fürchterlich!« Undenkbar, dass der Zar Nikolaus, wie sein Ahnherr, Verbrechen gegen geweihte Häupter ungesühnt lassen könnte – undenkbar ein solcher Zusammenbruch aller sittlichen Grundsätze und der österreichisch-deutschen, von Berchtold und Bethmann geführten Politik! »Ich fahre nach Klein-Flottbeck«, sagte Bülow, »hoffentlich, lieber Freund, auf frohes Wiedersehen!« – »Welch ein Zynismus!« dachte Herr von Bethmann auf dem Rückweg zum Reichskanzlerpalais.

So hat mir Fürst Bülow mehrere Male die Geschichte dieses Sommerspazierganges erzählt. Jedesmal war unter seiner gärtnerischen Pflege zu den Blüten an dem Blütenzweig noch eine neue hinzugekommen. 320 Man muss bei allen historischen Anekdoten dreissig Prozent auf die im Laufe der Zeit zunehmenden Beigaben der ausschmückenden Phantasie anrechnen, fünfundzwanzig Prozent auf den natürlichen Wunsch des Erzählers, sich in günstiger Beleuchtung zu zeigen, und zwanzig auf das ebenso natürliche Bestreben, dem Bilde eines Freundes einige komische oder ungefällige Züge zu verleihen. Was übrig ist, braucht nicht unbedingt erfunden zu sein. 321

 


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