Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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XI

Am 22. Juli frühstückte ich im Haag mit dem französischen Geschäftsträger bei dem deutschen Gesandten Felix von Müller, einem mir seit langem befreundeten, liebenswürdigen Aestheten und Musikkenner, der einige Jahre später unter tragischen Umständen freiwillig aus dem Leben schied. Nach dem Frühstück hatte Müller den Wunsch, meiner Frau und mir im Friedenspalast, dessen Kurator er war, die Ausschmückungsgeschenke der friedliebenden Monarchen zu zeigen, und wir bewunderten ihm zuliebe Seiden aus Japan, Vasen aus Russland und andere auf dem Altar der milden Gottheit niedergelegte Fabrikate nationaler Luxusindustrie. Man verliess dankbar den Palast durch das von Wilhelm II. gestiftete schmiedeeiserne Gittertor. Felix von Müller war von keiner beunruhigenden Nachricht bedrückt, als er uns durch diese pompöse Friedenspforte geleitete, und der französische Geschäftsträger, ein höflicher Mann ohne sichtbare Eigenart, war am Frühstückstisch bei bestem Appetit gewesen, offenbar unbekümmert und ahnungslos. Am Vormittag des nächsten Tages kam der Gesandte zum Tee zu uns nach Scheveningen, in das Hotel d'Orange, und brachte mir einen ihm zur Weitergabe übersandten Brief von Wilhelm von Stumm mit, der mich bat, am 24. in Berlin zu sein. »Die serbisch-österreichische Auseinandersetzung, die allmählich anfängt, die öffentliche Meinung immer mehr zu beschäftigen und zu erregen«, mache eine Fühlungnahme doch sehr wünschenswert. Im Postskriptum ein Dank für den Artikel, in dem noch einmal die englisch-russischen Marineverhandlungen erörtert worden waren, und die Mitteilung, man habe ihn »zum Ausgangspunkt eines letzten Aktionsversuches genommen«. Und die optimistische Bemerkung, man werde vielleicht nicht alles verhindern können, aber es werde schliesslich doch wohl nur zu recht farblosen Vereinbarungen kommen. Ich betrachtete das billet doux zweifelnd, und meine Neigung, zum Rendezvous nach Berlin zu fahren, war in diesem Augenblick äusserst gering. Die Aussicht auf eine »Fühlungnahme« mit dem Auswärtigen Amt lockte mich nicht. Ich sagte das Felix von Müller, der mir pflichtgemäss zuredete, und reiste am 23. nicht ab. Am 24., gegen Mittag, erhielt ich ein Telegramm meiner Redaktion, das mir mitteilte, der österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad habe am Tage vorher ein Ultimatum überreicht. Herr von Jagow wünsche dringend, mich zu sprechen, und habe die Verzögerung meiner Rückkehr bedauert – den Schritt in Belgrad habe die Redaktion in der Zeitung vorsichtig und zurückhaltend kommentiert. Die ehemals freundlichen Beziehungen zwischen Herrn von Jagow und mir hatten, wie schon erwähnt wurde, seit längerer Zeit aufgehört. Die Situation musste in der Tat ausserordentlich sein, wenn er jetzt Wert darauf 322 legte, mich wieder zu sehen. Da mir unbekannt war, was man in Berlin getan und beschlossen hatte, wusste ich auch nicht, wohin seine Absichten gingen. Dass er die Absicht hatte, mir die deutsche Politik zu erläutern und unbequemem Widerspruch vorzubeugen, war allerdings klar. Indessen, weiterer Aufschub war eine Unmöglichkeit. Ich antwortete der Redaktion, dass ich am Morgen des 25. in Berlin eintreffen würde, und ersuchte sie, auch weiterhin in der Behandlung der politischen Vorgänge vorsichtig und zurückhaltend zu sein.

An diesem 24. Juli wurde in Scheveningen, wie überall in der Welt, der Inhalt des Ultimatums bekannt. Ich entnahm ihn zuerst aus einer Depesche der »Frankfurter Zeitung«, die an der Aussenwand des Kurhauses angeschlagen worden war. Die österreichischen Forderungen erschienen mir, soweit der mitgeteilte Auszug erkennen liess, in ihrer Klobigkeit und ihrer Häufung als eine planvolle Provokation. Alle Badegäste, die sie auf dem Maueranschlag oder in den holländischen Blättern lasen, erschraken, schlichen scheu herum, und die Musik des Strandorchesters war unpassend und verletzend, wie an einem Sterbebett. In der Ultimatumsnote wurden die Unterdrückung jeder antiösterreichischen Aeusserung in der Presse, im mündlichen Unterricht und in den Schulbüchern, die sofortige Auflösung der »Narodna Odbrana« und ähnlicher Vereine und die Konfiskation ihrer Propagandamittel, die Entlassung aller von der Wiener Regierung als Oesterreichfeinde bezeichneten Offiziere und Beamten verlangt. Und was noch unannehmbarer schien: Organe der österreichisch-ungarischen Regierung sollten auf serbischem Boden an der Untersuchung gegen die Teilnehmer des Attentatskomplottes und sogar bei der Verhinderung der antiösterreichischen Propaganda mitwirken dürfen, und die königlich serbische Regierung sollte am 26. Juli auf der ersten Seite ihres Amtsblattes und in einem Tagesbefehl des Königs an die Armee eine demütige, bedauernde, Besserung versprechende, jede gegen Oesterreich gerichtete Handlung ablehnende und mit strengster Strafe bedrohende Erklärung abgeben, deren Wortlaut ihr in der Note vorgeschrieben war. Unbestreitbar hatte die Wiener Regierung ein Recht, in Belgrad auf entschiedene Massregeln gegen eine hetzerisch nationalistische, den Frieden gefährdende Bewegung zu dringen. Aber wollte derjenige, der von Serbien in dieser Weise die Preisgabe seiner Souveränität und die kläglichste Unterwerfung forderte, den Frieden, oder wollte er nicht vielmehr den Krieg? . . . Als man im Hotel erfuhr, dass ich abreisen wollte, kamen viele mit der Frage, ob es nicht auch für sie ratsam wäre, die Koffer zu packen, und die Direktion und das Personal waren um das Geschäft besorgt. Eine zerstörte Saison.

Bei meiner Ankunft in Berlin am Sonnabend, dem 25., konstatierte ich mit grossem Missbehagen, dass die Zurückhaltung, die angeblich meine Mitarbeiter geübt hatten, unvollständig gewesen war. Schon vor meiner Abreise nach Scheveningen hatte ich dringend ersucht, in keiner 323 wichtigen politischen Frage hastig und ohne vorherige Verständigung mit mir Stellung zu nehmen, aber man hatte diese Weisung nur mangelhaft befolgt. Allerdings war zuerst das österreichische Ultimatum im Blatt ohne Kommentar veröffentlicht worden, aber dann, am Abend des 24. Juli, war ein Leitartikel erschienen, der vor allem durch den Ton meinen Empfindungen widersprach. Endlich, hiess es darin, habe sich die österreichisch-ungarische Regierung zu einer kräftigen, durch die Umstände gebotenen Sprache aufgerafft. Den Mächten, die etwa Oesterreich in den Arm fallen wollten, wurde mit starker Betonung Deutschlands Bereitschaftswille erklärt. In diesem Falle, hiess es weiter, würde Deutschland an der Seite seines Verbündeten stehen. Die Nachrichten, die im Laufe des Tages eintrafen, lauteten ziemlich ernst. Die österreichische Regierung hatte ein Ersuchen Russlands, die Frist für die Beantwortung des Ultimatums, die um sechs Uhr nachmittags ablief, zu verlängern, »höflich, aber entschieden« abgelehnt. Eine offiziöse Wiener Meldung besagte, Oesterreich-Ungarn weise jede Intervention zugunsten Serbiens zurück. In Paris hatte der Botschafter von Schoen, auf Grund der Instruktionen, die er aus Berlin erhalten hatte, dem Vertreter des Aussenministers Viviani, dem Justizminister Bienvenu-Martin, gesagt, Deutschland sei mit Oesterreich-Ungarn einig, billige sein Vorgehen und erstrebe die Lokalisierung, aber »jedes Eingreifen einer andern Macht würde infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen«. Dieser Schritt erregte die Franzosen um so mehr, da man glaubte, dass er nur in Paris erfolgt sei, bis eine amtliche Havasnotiz Beruhigung schuf. Die deutschen Botschafter in Petersburg und London hatten am gleichen Tage den gleichen Auftrag ausgeführt. Nachrichten über Mobilmachung langten fortwährend aus Oesterreich-Ungarn und Serbien an. Die Börsen in allen Hauptstädten der europäischen Grosstaaten hatten einen »schwarzen Sonnabend«, die Berichte verzeichneten »Déroute«, »sensationellen Kurssturz« und »fieberhafte Erregung«, das schon in den letzten Wochen stark erschütterte Vertrauen der Besitzer von Staatspapieren und Aktien brach an diesem Tage völlig zusammen.

 

In einer der ersten Vormittagsstunden ging ich zum Auswärtigen Amt. Ich war nur zweimal in dieses Haus eingedrungen – einmal, um auf Wunsch des Fürsten Radolin, nach meiner Uebersiedelung aus Paris, dem Geheimrat Hammann eine Höflichkeitsvisite abzustatten, und ein anderes Mal, um in einer besondern, die Zeitung betreffenden Angelegenheit mit Herrn von Tschirschky zu verhandeln, der damals Unterstaatssekretär war. Die unterste Stufe der innern Treppe wird von zwei dort lagernden steinernen Sphinxen flankiert. Offenbar gilt die schweigsame und rätselhafte Sphinx als Symbol und Vorbild der Diplomatie. An einem Korridor im Erdgeschoss lagen die Zimmer, in denen Hammann, unterstützt von wenigen Gehilfen, seine journalistischen 324 Vertrauten empfing und täglich öffentliche Meinung schuf. Im oberen Stockwerk führte mich ein Diener zu Wilhelm von Stumm. Der Dirigent der Politischen Abteilung sagte, dass Jagow mich sogleich zu sprechen wünsche, und geleitete mich in ein Konferenzzimmer, wo auf einem langen Tisch die restlichen Spuren einer Beratung zu sehen waren, zerschnittene Kanzleibogen, Bleistifte und anderes, was ein staatsmännisches Kollegium braucht. Dann trat Jagow ein, er erschien mir ziemlich verändert, sein lautlos schiebender Gang berührte seltsamer als früher, seine Haltung war gebogener und besonders sein Lächeln, ein etwas dünnes Lächeln, fiel mir in diesem Augenblick auf. Er dankte mir zunächst für den »grossen Dienst«, den ich der deutschen Politik in einer andern Sache – der englisch-russischen – erwiesen hätte, und machte einige lobende Bemerkungen über die Haltung des »Berliner Tageblattes«, wenn ja auch sonst unsere Ansicht nicht immer die seinige sei. Ich erwiderte, ich hätte angesichts der vollendeten Tatsache, vor die man gestellt worden sei, die allgemeine Tendenz des Kommentars verstanden, aber der Ton habe mir nicht gefallen, man sei darin meiner Ansicht nach zu weit gegangen und ein Vorbehalt, eine Wendung, die für alle Fälle einen Rückweg offen lässt, habe mir gefehlt. Die österreichische Note fände ich fürchterlich. Das Uebermass und die Häufung der Forderungen riefen einen sehr üblen Eindruck hervor. Er, lächelnd und ziemlich lebhaft: ja, er fände die Note auch nicht gut, es sei ein Sammelsurium von zusammengesuchten Forderungen, zwei, drei grosse Punkte hätten besser gewirkt. Aber nun müsse man festbleiben, das sei noch das sicherste Mittel, um einen allgemeinen Krieg zu verhindern und Russland von der Neigung zum Eingreifen abzubringen. »Haben Sie denn«, fragte ich, »die Note nicht gekannt?« Er erwiderte, man habe in Berlin absichtlich vermieden, sie vorher zu sehen, und habe es den Oesterreichern überlassen, allein ihre Forderungen aufzustellen. Ohne diese diplomatische Finesse ganz zu begreifen und zu würdigen, fragte ich weiter: wenn aber Russland nun nicht zurückweiche, was dann? Wir würden dann doch in einen Weltkrieg verwickelt werden, ohne ihn zu wollen? Jagow: Er glaube das nicht, die diplomatische Situation sei sehr günstig, weder Russland noch Frankreich wünschten den Krieg. Die Russen würden – hier sprach er ungefähr so, wie er sich in seinem Brief an Lichnowsky geäussert hatte – gewiss sehr viel Lärm machen, aber sie seien mit ihren Rüstungen nicht fertig, sie würden nicht losschlagen, in zwei Jahren würde, wenn wir die Dinge gehen liessen, die Gefahr weit grösser sein als jetzt. Beim Abschied sagte er: »Ich halte die Situation nicht für kritisch« – immer mit der sanften Stimme und dem kleinen Lächeln, das an seinen etwas leidenden Mund gebannt und keine Beziehung zu seiner innern Natur zu haben schien. Als ich ihn, halb in der Tür, noch fragte: »Wir haben bisher politisch gesprochen, nun noch eine persönliche Frage – ich habe meine Familie in Scheveningen gelassen – soll ich sie nicht heimberufen?« zögerte er 325 einen Moment lang und antwortete dann: »Es ist nicht nötig, nein, wirklich nicht.«

Ich ging zu Wilhelm von Stumm zurück, der sehr optimistisch über die diplomatische Lage sprach. Wie immer, wenn man Festigkeit zeige, meldeten sich allerlei Freundschaften, auf die man gar nicht gerechnet habe – eine Bemerkung, die leider, wie sich bald zeigen sollte, durch nichts begründet war. Ich sagte: »Wenn wir nur nicht hängen bleiben – das darf nicht geschehen.« Er gab zu verstehen, man würde dann schon den Rückweg finden können. Wie Jagow erklärte er, in zwei Jahren würde der Krieg unvermeidlich sein. Wenn Oesterreich jetzt nicht durchhalten könne, sei es als Bundesgenosse nichts mehr wert. Die Russen würden laut herumschreien, und es könnten heisse Tage kommen. Vielleicht werde Russland mobilisieren und dann werde es natürlich nötig sein, unsere Militärs zurückzuhalten, aber das werde ja wohl gelingen. Russland werde es sich zweimal überlegen, ehe es losschlage, es könne den Krieg nicht wollen. Bei einem Kriege würde Russland etwas erleben – Revolution in Finnland und in Polen, und man werde sehen, dass alles gestohlen sei, nichts da sei, keine Gewehre und keine Munition. Was Frankreich betreffe – es könne gleichfalls keinen Krieg wünschen, die Enthüllungen des Senators Humbert über die Zustände in der Armee seien Goldes wert. Eine so gute Situation käme nicht wieder – nur Durchhalten und Festigkeit.

Unter der Wirkung dieser beiden Unterhaltungen ging ich ein wenig hoffnungsvoller fort. Die Auffassung, dass in dieser ungeheuren Gefahr eine ruhige entschlossene Miene das Raubtier des Krieges am ehesten verscheuchen, Russland fernhalten könne, liess sich hören – unter der Voraussetzung, dass man sich wirklich den Rückweg offen gehalten hatte, griffbereit den Schlüssel zum Notausgang in der Tasche trug. Der Bluff war immer ein schandbar leichtherziges Diplomatenspiel. Wer den Bluff begonnen hatte und erkennen liess, dass er nur bluffe, riskierte vielleicht noch mehr. Aber ich habe gleich darauf bedauert, dass ich nicht beim ersten Wort, namentlich in dem Gespräch mit Jagow, glatt und klar die Unterstützung einer Ultimatumspolitik abgelehnt habe, gegen die ich immer gewesen war, so oft sie drohend näher zu kommen schien. Allerdings, die Dinge standen nicht ganz so wie bei der bosnischen Affäre, in der es sich um eine sinnlose Annexion gehandelt hatte, während diesmal, nach dem Attentat von Serajewo und den unleugbaren nationalistischen Ausschreitungen Serbiens, ein gewisses moralisches Recht Oesterreichs – wenn auch nur das Recht, das einer vernünftigen Gerechtigkeit untergeordnet bleibt – sich nicht verkennen liess. Das eindrucksvollste Argument des Auswärtigen Amtes aber lag in der Versicherung, die russische Armee sei unfähig für den Kriegsgebrauch. Das wurde mit solcher Bestimmtheit und so viel Einzelheiten vorgebracht, dass man wenigstens einen Moment lang glauben konnte, Russland werde wirklich nicht imstande sein, zu schiessen, und sei noch immer 326 zu ohnmächtiger Resignation gezwungen. Diejenigen, die es sagten, versuchten nicht zu täuschen, sondern täuschten sich selbst, oder man hatte sie getäuscht. Wie sie, hielt Wilhelm II. Russland für gelähmt. Warum sagten sie alle dasselbe, wie kamen sie dazu, deuteten ihre fast gleichartigen Worte nicht auf einen gemeinsamen Ursprung hin? Oder war es nur jenes Gerede, das immer der eine vom andern übernimmt?

 

Lichnowsky sagt in der Denkschrift »Meine Londoner Mission«, die Haltung des Auswärtigen Amtes sei veranlasst worden durch einen Bericht, »dass Russland unter keinen Umständen sich rühren werde« – deshalb habe man den Grafen Berchtold zu möglichster Energie angespornt. Im Oktober 1914 erklärte mir im Auswärtigen Amt Graf Botho Wedel, später Botschafter in Wien, auf die militärischen Berichte hin, »die alles unterschätzten«, habe das Amt »eine starke Politik machen können«. Der Gesandte Dr. Riezler, Bethmanns Mitarbeiter, hat mir brieflich bestätigt, dass der Generalstab die Kriegsbereitschaft Russlands zu gering taxiert habe: »Die Furcht vor der zukünftigen militärischen Entwicklung Russlands war gross, die Meinung über die damalige militärische Macht, über die getroffenen Vereinbarungen, die herrschende Ordnung, die Bereitschaft, das mutmassliche Tempo der Mobilisierung zweifellos zu gering. Die Meinung der politischen Stellen hierüber konnte nur auf militärischen Berichten beruhen.« Der Militärattaché in Petersburg, Herr von Eggeling, hat offenbar irreführende Darstellungen nicht nach Berlin geschickt. Im Reichsarchiv in Potsdam befindet sich, wie mir versichert wurde, unter den Handakten des Militärattachés kein derartiger Bericht. Aber militärische Informationen schöpfte man natürlich aus allerlei Quellen. Die Frage bleibt ungeklärt.

 

Als ich aus dem Auswärtigen Amt zurückgekehrt war, beschloss ich, trotz Jagows Logik und allen optimistischen Erklärungen, vorsichtig von der Linie abzubiegen, die in der Zeitung beschritten worden war. Gewiss, alles musste vermieden werden, was Russland ermutigen und so die Gefahr steigern konnte, aber mit den kräftigsten Worten musste jeder, der an der Erhaltung des Friedens mitwirken wollte, gegen die andere Gefahr ankämpfen, die aus der Erhitzung der Leidenschaften in Deutschland, aus der schon spürbaren Tätigkeit der nationalistischen Einpeitscher entstand. Wie leicht das Fieber, durch künstliche Mittel angereizt, um sich greifen konnte, zeigte sich sehr schnell. Am Abend erfuhr Berlin durch viele Extrablätter, Serbien habe das Ultimatum abgelehnt. In Wahrheit hatte die serbische Regierung am 25. Juli fast alle österreichischen Forderungen angenommen. Sie war in ihren Zugeständnissen überraschend weit gegangen. Sie wollte auf der ersten Seite des Amtsblattes eine Erklärung veröffentlichen, die jede gegen Oesterreich-Ungarn gerichtete Propaganda verurteilte, und hatte den ihr von Wien vorgeschriebenen Text nur in ganz geringfügiger Weise an zwei Stellen umstilisiert. Sie war bereit, durch ein besonderes 327 Pressegesetz jede antiösterreichische Propaganda zu verbieten, alles, was diese Propaganda fördern könnte, aus den Schulbüchern zu entfernen, die »Narodna Odbrana« und jede Gesellschaft, die gegen Oesterreich-Ungarn agitieren sollte, aufzulösen, schuldige Beamte und Offiziere zu entlassen, und sie hatte, wie sie mitteilte, bereits die Verhaftung des von Oesterreich-Ungarn angeklagten Voislav Takositsch verfügt. Nur die direkte Mitwirkung österreichisch-ungarischer Delegierter an der Untersuchung wurde für unannehmbar erklärt. Sie war unvereinbar mit der Verfassung und dem serbischen Strafprozessgesetz.

In Wien hatte man sich nicht beeilt, diese erstaunlich nachgiebige Antwort an die Oeffentlichkeit zu bringen. Im Auswärtigen Amt in Berlin wurde sie erst am Nachmittag des 27. Juli durch den serbischen Geschäftsträger überreicht. Jagow hatte am 27. Juli, ehe er die Note von der serbischen Seite erhielt, Tschirschky um sofortige telegraphische Mitteilung des Textes ersucht. Tschirschky antwortete, im Wiener Aussenministerium werde ihm erklärt, dass man »bei Ueberbürdung der Büros« noch nicht imstande gewesen sei, eine Kopie der umfangreichen serbischen Note herzustellen. Er empfing sie um halb zwölf Uhr nachts. Man hatte erst noch die »erläuternden Bemerkungen« hinzudichten müssen, bevor man dieses eminent wichtige Dokument dem deutschen Verbündeten übergab. Das Publikum erfuhr nur durch Wiener Telegramme, die serbische Regierung habe »die österreichischen Forderungen zurückgewiesen«, der österreichisch-ungarische Gesandte von Giesl habe Belgrad verlassen, die diplomatischen Beziehungen seien abgebrochen, und in Wien herrsche grosse Begeisterung. So brachten die Berchtold und Genossen, indem sie die Wahrheit über die Antwort Serbiens zunächst einmal im Schrank verschlossen, auch die deutsche Volksseele in Schwung. Wenn das deutsche Volk sofort die serbische Antwortnote hätte lesen, und wenn die deutsche Presse, in Kenntnis des Wortlautes, in der ersten Stunde ihr Urteil hätte abgeben können – schwerlich wäre es möglich gewesen, Deutschland weiter in den Händen der Wiener Kriegsklique zu lassen, die diese mehr als genügende Antwort »ungenügend« fand. Jeder, die ungern auf ihr Fest verzichtenden Raufbolde ausgenommen, hätte sich geäussert, wie Wilhelm II., der, als er am 28. Juli endlich die serbische Note empfangen hatte, die Worte darunter setzte: »Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein grosser moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen.« Graf Berchtold und die Seinigen hielten die serbische Note drei Tage lang zurück und liessen sie erst am Abend des 28. Juli veröffentlichen, an dem gleichen Tage, an dem die Kriegserklärung an Serbien ging. Auch jetzt noch wurde durch die »Widerlegungen«, die hinter jedem Satz der Note angefügt wurden, für die Abschwächung des Eindruckes gesorgt, und im übrigen war ja die Volksstimmung in allen beteiligten Ländern inzwischen genügend angeheizt worden und die Kriegserklärung nahm den 328 Untertanen völlig die Lust, sich noch in ein Dokument zu vertiefen, das jetzt nichts mehr war als ein elendes, altes, von den wilderregten Wogen zur Seite geschleudertes Stück Papier. Mit Bedauern ist festzustellen, dass Herr von Jagow in seinem Buch, im Gegensatz zu Wilhelm II., seine österreichischen Kollegen auch durch herabsetzende Bemerkungen über die serbischen Zugeständnisse zu entlasten versucht. Stände auf dem Schuldkonto des Grafen Berchtold und seiner Genossen nichts anderes als die Tatsache, dass sie, um die Stimmung nicht verderben zu lassen und Wilhelm II. an rechtzeitiger Prüfung zu verhindern, die serbische Antwortnote hinterhältig versteckt hielten, so käme ihnen, schon dieser absichtlichen Verheimlichung wegen, ein Ehrenplatz auf der Anklagebank zu.

Ein Freund sagte mir, schon am Abend vorher hätten Unter den Linden und in andern Strassen Kundgebungen stattgefunden, mit Gesang und Geschrei, ganz wie in Wien. Heute, nach der österreichischen Kriegserklärung, werde es wohl noch lebhafter zugehen, und es wäre sicherlich lohnend, sich die Sache anzusehen. Wir machten uns gegen neun Uhr auf, überall waren Menschenmassen unterwegs, das Strassenpflaster war bedeckt mit zerfetzten und beschmutzten Extrablättern, hier und da wurden im Gedränge neue Blätter verteilt. Die Menge schien nervös, gespannt, schob sich ziemlich schweigsam vorwärts, unwillkürlich hatte ich das Gefühl, als schmiegten sich die Frauen dichter als sonst an ihre Männer an. Offenbar strömten diese Menschen nur deshalb hier zusammen, weil sie zu aufgewühlt waren, um zu Hause bleiben zu können, und die Furcht, mit sich allein zu sein, sie auf die Strasse trieb. Hier draussen war gemeinsames Schicksal, die Möglichkeit, in der allgemeinen Sorge dem eigenen Sorgengespenst und den ängstlich fragenden Blicken zu entrinnen. Als wir in der Friedrichstrasse, im Strom mittreibend, den »Linden« näherkamen, wurden hinter uns etwas wie ein Marschlied und Stimmengetöse vernehmbar, und die an die Disziplin der Paradetage gewöhnte Menge wich auseinander, um die Mitte des Fahrdamms freizugeben, und wartete, eng gequetscht, das nahende Ereignis ab. Das nahende Ereignis war ein Zug von einigen hundert oder vielleicht tausend Personen, die in breiten Reihen marschierten, an der Spitze die »Wacht am Rhein« sangen und in der Arrièregarde die Hymne von Franz, dem Kaiser, unserm guten Kaiser Franz. Vor dem Zug wurden Fahnen getragen und ein paar junge Männer und andere von mittlerem Alter, mit Führerallüren, schritten, ihrer Bedeutung bewusst, voraus. Die Mehrzahl der Zugteilnehmer schien aus Studenten und Schülern der obern Gymnasialklassen zu bestehen, aber man sah auch zahlreiche würdige und lange Bärte, die hinunter und hinauf stiegen, je nachdem der umrahmte Mund beim Singen sich öffnete und schloss. Sehr viele Freundinnen und Liebchen waren mit dabei, Arm in Arm mit ihrem Kavalier, oder »eingehängt« zwischen drei oder vier Jünglingen, Augusten und Luisen aus der 329 Familienstube oder der Studentenkneipe, und alle strahlend vergnügt und sehr begeistert im gleichen Schritt und Tritt. Von Zeit zu Zeit, mit kurzen Zwischenpausen, wurde in die »Wacht am Rhein« der unermüdlichen Sänger von andern, gut zusammenarbeitenden Gruppen »Hoch Oesterreich!« und »Nieder mit Serbien! Nieder mit Russland!« hineingeschrien. Es klappte alles wundervoll. Bisweilen nahmen auch ein paar Leute in der Zuschauermasse die Rufe auf und antworteten, während die andern stumm, bedrückt und ersichtlich verwundert über diese unzeitgemässe Silvesterfreude danebenstanden, gleichfalls mit »Nieder!« und mit »Hoch!« Dies war der Anfang, Unter den Linden flossen viele solcher Züge ineinander, der Verkehr stockte völlig, kein Wagen konnte mehr durchkommen, die ganze Gegend war von Menschenmassen überflutet, hinter schwarz-weiss-roten Fahnen wurde am Palais des Kronprinzen vorüber zum Schloss, vom Schloss zurück zum Brandenburger Tor und dem Bismarck-Denkmal, vom Bismarckdenkmal zur österreichischen Botschaft in der Moltkestrasse marschiert. Eine andere Kolonne zog zu der italienischen Botschaft in der Viktoriastrasse, ganz durchdrungen von der patriotischen Notwendigkeit, auch diesem treuen Verbündeten eine Ovation darzubringen. In später Stunde konnte man sogar einen ganzen Zug Studenten, »in Wichs«, mit blanken Schlägern sehen. Sie hatten, auf Anweisung ihrer Chargierten, sich eingekleidet und ihre Banner hervorgeholt. Gegen Mitternacht kam es vor der russischen Botschaft Unter den Linden zum Skandal. Die Menge pfiff und johlte, zu den Fenstern wurde hinaufgeschrien: »Nieder mit Russland!«, und die Polizei, die sonst so streng und wachsam jeden Ruhestörer beim Kragen packte, war nicht da.

 

Hatten wir schon Krieg mit Russland, hatte Russland den Leuten in Berlin und in Wien schon mitgeteilt, ob es Serbien zu unterstützen gedenke, und wollte die deutsche Regierung nicht alles tun, um den Konflikt zu isolieren und die Russen und ihre Ententefreunde davon zu überzeugen, dass dies nur eine österreichisch-serbische Angelegenheit sei? Und da durften die gedankenlosen Menschen einen ganzen Abend lang und eine halbe Nacht hindurch »Nieder mit Russland!« schreien? Und war Deutschland überhaupt an einem Streit, der doch auf die zwei zunächst interessierten Mächte beschränkt werden sollte, schon so beteiligt, dass die Fahnen entfaltet werden mussten und Anlass für patriotische Umzüge war? In diesem Augenblick handelte es sich doch gar nicht um die Wacht am Rhein, sondern nur um die Wacht an der Donau, nicht um Bismarck, der von seinem Denkmal herab, hätte er reden können, den Zerstörern seiner politischen Weisheit Schweigen geboten hätte, sondern nur um den guten Kaiser Franz. Und waren diese Züge, diese Demonstrationen nicht organisiert? Sicherlich, die Regierung hatte nichts mit ihnen zu tun, musste sie lästig und gefährlich finden, aber es gab ersichtlich Stellen oder Personen, die den 330 Heerbann aufboten, Fahnen herbeischafften, die Parole verteilten, eine Volksbewegung inszenieren wollten, um die Köpfe zu berauschen, die deutsche Regierung zum grossen Ziel hinzutreiben, jede kaltblütige Ueberlegung zu überrennen, die Erfüllung ihrer Wünsche zu erzwingen. Der Polizeipräsident Traugott von Jagow, ein Vetter des Staatssekretärs, war ein brillanter Prokonsul der öffentlichen Ordnung, hatte unter dem schön geprägten Wahlspruch, dass die Strasse dem Verkehr gehöre, immer jede Ansammlung verboten, friedliche Wahlrechts-Spaziergänger mit dem Säbel auseinandertreiben lassen, und wie konnte in diesen Strassen Berlins etwas gegen seinen Willen geschehen? Wo war er jetzt, mit seinen schnell dreinschlagenden Schutzleuten, seinen drastisch stilisierten Aufrufen an die Bürgerschaft, seinem Adlerblick, seiner rührigen und auffälligen Person, seinem keck herausfordernden Temperament?

Als ich zu Anfang des Jahres 1923 in einem Artikel fragte, wo Herr Traugott von Jagow eigentlich in jenen Julitagen gewesen sei, und ob er von den Manifestationen gar nichts bemerkt habe, schrieb er mir aus der Festung Gollnow, in der er wegen seiner Beteiligung am Kapp-Putsch sich aufhalten musste, zwei freundliche Briefe, in denen er versicherte, er habe wirklich, tatsächlich, von alledem nichts bemerkt. Die Ereignisse des August und September hätten zu wuchtig gewirkt und die Erinnerung an die Vorgänge des Juli in ihm verwischt – aber das konnte er sagen: von dem ungeheuren Trubel, von den Kundgebungen, über die alle Zeitungen spaltenlange Berichte gebracht hatten, und von den Ausschreitungen vor der russischen Botschaft, die dann doch in einer Regierungserklärung scharf verurteilt wurden, hatte er nichts gesehen und nichts gehört. Dagegen erinnerte er sich noch sehr genau daran, dass – freilich nicht am 26. Juli, wie er annahm, sondern am 28. – eine von den Gewerkschaften veranstaltete Friedenskundgebung der Berliner Arbeiterschaft stattgefunden habe, bei der »Nieder mit dem Krieg« gerufen wurde, und er betonte, dass er dagegen nicht eingeschritten sei. Zwei Tage später seien ihm dann auch Gruppen junger Akademiker begegnet, die »Deutschland, Deutschland über alles« sangen. Es wäre überflüssig, sich mit Widerlegungen gegen eine Aussage zu wenden, die nicht nur, was auch schon genügen würde, durch die aufbewahrte Chronik jener Zeit erledigt wird. In Mappen mit unveröffentlichten Akten des damaligen Polizeipräsidiums befindet sich, wie ich festgestellt habe, eine ganze amtliche Korrespondenz über die Manifestationen und den Krakeel vor der russischen Botschaft – der Unterstaatssekretär Wahnschaffe hat damals Herrn Traugott von Jagow zur Aeusserung aufgefordert, und die Antwortschreiben, in denen unter anderem bemerkt wird, dass man in einer patriotisch erregten Menschenmasse ungehörige Rufe einzelner Personen nicht verhindern könne, tragen des Herrn Polizeipräsidenten eigene, mit starker Hand hingehauene Unterschrift.

331 Der nächste Tag, der 26., war ein Sonntag, schon am Vormittag war Unter den Linden und überall im Zentrum der Stadt ein ungeheurer Zusammenlauf, das Musikkorps der aufziehenden Wachkompagnie spielte die österreichische Kaiserhymne, vor den Denkmälern hielten junge und alte Herren patriotische Ansprachen, in einem Automobil fuhr man Bilder Franz Josefs und Wilhelms herum. In München hatte man am Abend alle Serben verprügelt, die dort studierten, und ihr Stammlokal, ein Kaffeehaus, demoliert. Ein amtliches Telegramm meldete, der Kaiser habe seine Nordlandreise abgebrochen und sei von Bergen auf dem schnellsten Wege nach Deutschland abgereist. Wahrscheinlich werde er schon morgen wieder in der Heimat sein. Er hatte in den norwegischen Blättern die Nachrichten über die Ueberreichung des Ultimatums und die österreichische Note gelesen – das Auswärtige Amt hatte ihn, wie er in seinem Buche erwähnt, nicht informiert. Sofort hatte er beschlossen, zurückzukehren, und der Flotte befohlen, nach Wilhelmshaven zu gehen. Andere Meldungen von besonderer Wichtigkeit trafen an diesem Sonntag nicht ein. Nur von allen Seiten her Mitteilungen über Anstrengungen der Kabinette, den europäischen Frieden zu erhalten, und aus Wien die offiziöse Erklärung, dass nach einer Unterredung Sasonows mit dem österreichisch-ungarischen Botschafter Graf Szapary »der allgemeine Eindruck ein günstiger ist, wenn auch die Lage kritisch bleibt«.

Gegen Mittag ging ich in das Auswärtige Amt, zu Wilhelm von Stumm. Ich sagte ihm, dass doch zum mindesten die Skandalszenen vor der russischen Botschaft und das ganze Nieder-Geschrei aufhören müssten, und dass es die Pflicht der Regierung sei, alles irgend Notwendige für die Beendigung dieses Unfuges zu tun. Wenn man den Schreiern weiter so die Strasse überlasse, treibe man geradezu in die Katastrophe hinein. Es sei nicht möglich, die bisherige Politik weiter mitzumachen, wenn die Regierung nicht deutlich den Entschluss zeige, sich von den Radauhelden zu trennen. Wilhelm von Stumm meinte auch, dass etwas geschehen müsse, und machte sich, um dem Gedächtnis nachzuhelfen, eine Notiz. Im Laufe des Tages erschien dann, sicherlich nicht auf meine Anregung hin, eine offiziöse Erklärung, die besagte, dass »bedauerlicherweise taktlose Rufe vor dem Gebäude der hiesigen kaiserlichen russischen Botschaft ausgestossen worden« seien, und Massnahmen gegen die Wiederholung derartiger Vorkommnisse verhiess. Als wir über die allgemeine Schicksalsfrage sprachen, äusserte Stumm, er halte an der Hoffnung fest, dass man »herauskommen« werde, und jedenfalls habe sich die Situation nicht weiter verschärft. Er wiederholte die Gründe, aus denen sich »ruhiges Durchhalten« empfehle, und ich war nicht absolut überzeugt davon, dass er selbst diese Ruhe besass. Unten in der Wilhelmstrasse traf ich einen bekannten Grossbankier, Generalkonsul einer ausserhalb der Konfliktzone stehenden Macht, der mir erzählte: »Ich habe unsern Botschafter gefragt, soll ich mir eine Uniform machen 332 lassen, Exzellenz? Der Botschafter hat mir geantwortet: ›Ich habe so viele solcher Krisen kommen und gehen sehen, und glaube auch diesmal nicht an den Krieg.‹ Er ist ein alter diplomatischer Routinier. Ich werde mir die Uniform noch nicht bestellen.«

Am Montag, dem 27. Juli, sprach im Unterhause vor den vollständig versammelten Parlamentsmitgliedern Sir Edward Grey. Auf der Tribüne sass, nicht minder vollständig und nicht minder gespannt, das diplomatische Korps. Grey sagte, solange der Konflikt auf Oesterreich und Serbien beschränkt bleibe, habe England zur Einmischung kein Recht. Wenn aber die Beziehungen zwischen Oesterreich-Ungarn, Deutschland und Russland bedrohlich würden, sei das eine Sache des europäischen Friedens und gehe alle an. Er habe bei den Regierungen Frankreichs, Deutschlands und Italiens angefragt, ob nicht ihre Botschafter in London in gemeinsamer Konferenz mit ihm Mittel suchen könnten, um über die Schwierigkeiten hinwegzukommen. Gleichfalls gemeinsam sollten die vier Mächte die Kabinette in Wien, Petersburg und Belgrad ersuchen, die militärischen Massnahmen bis zur Beendigung dieser Konferenz einzustellen. Die Rede und der Vorschlag Greys machten einen starken Eindruck auf das Publikum der ganzen Welt. Allerdings, die Nachdenklicheren erkannten die Schwierigkeiten, die sich aus der Voraussetzung ergeben mussten, dass die in den Streit verwickelten Mächte sich verpflichten sollten, bis zur Beendigung der Konferenz ihre militärischen Vorbereitungen einzustellen, denn jeder konnte ja immer behaupten, der andere setze seine Rüstungen fort. Aber Grey hatte doch wenigstens eine Initiative gezeigt. Er war jetzt doch der einzige, der aus dem Dunkel heraustrat, sich öffentlich an die Völker und ihre Regierungen wandte, während ringsherum eine geheime Diplomatie fatalistisch oder mit halber Bereitwilligkeit in jeder Minute dem Kriege näher entgegenglitt. Wenn alle sich treiben liessen, niemand genug Willenskraft und Meisterschaft hatte, um dicht vor dem Niagarafall den Kahn zurückzureissen, so musste es doch zum fürchterlichen Absturz kommen. In dieser allgemeinen Ideenarmut und Untätigkeit erschien Grey, der Zwiespältige, innerlich Unsichere, als Mann der Aktion.

»Die serbische Antwort«, schreibt Grey, »übertraf in ihrer Unterwürfigkeit unsere kühnsten Hoffnungen, und doch behandelte Oesterreich die serbische Antwort, als sei damit nichts erreicht.« Sein Urteil stimmte ganz mit dem des deutschen Kaisers überein. Er bat Lichnowsky um seinen Besuch und teilte ihm diese Auffassung mit. Er habe in Petersburg zur Mässigung geraten, nun bitte er die deutsche Regierung, in Wien den Standpunkt zu vertreten, dass die serbische Note eine Grundlage für Besprechungen sei. Lichnowsky unterstützte diese Bitte durch ein beschwörendes Telegramm an das Auswärtige Amt. Eine Erfüllung des Wunsches würde die deutsch-englischen Beziehungen auf unabsehbare Zeit hinaus freundschaftlich gestalten, sollte es aber zum Kriege 333 kommen, so werde England »sich unbedingt auf die Seite Frankreichs und Russlands stellen«. Grey selbst dachte skeptisch über den Erfolg seines Konferenzvorschlages und sagt es: »Ich erhoffte von der Antwort, die wir aus Berlin bekommen würden, nicht viel.« Er meinte auch, man würde ihm in Berlin die Leitung einer zweiten Botschafterkonferenz nicht gönnen, und berücksichtigte vielleicht weniger die andere Tatsache, dass auf einer Londoner Botschafterkonferenz der nicht gerade österreichfreundliche Fürst Lichnowsky der Anwalt der antiserbischen Partei hätte sein müssen, und dass man in Berlin von einer solchen Vertretung nichts hielt. Es kam so, wie Grey erwartet hatte: während Russland, Frankreich und Italien ihm ihre Zustimmung schickten, verweigerte die deutsche Regierung eine Beteiligung an der Konferenz. Jagow sagte zu Goschen, dem englischen Botschafter, die Konferenz würde einem Schiedsgerichtshof gleichen, der nur auf Verlangen Oesterreichs und Russlands zusammenberufen werden könne, und Bethmann-Hollweg erklärte dem Botschafter, die Konferenz würde ein Areopag sein, in dem vier Mächte über zwei andere Mächte zu Gericht sitzen würden, aber im übrigen wünsche er dringend, zur Erhaltung des Friedens mit England zusammenzugehen. Herr von Bethmann und Herr von Jagow lehnten den Konferenzvorschlag ab, ohne vorher Erkundigungen über die Meinung Wiens einzuziehen. Das war indessen auch überflüssig, denn Graf Berchtold, stolz und der deutschen Bündnistreue sicher, hätte keinem »Areopag« eine Einmischung zur Erhaltung des Friedens gestattet – die drohende Einmischung der Areopagmächte in den Krieg war offenbar weniger schlimm.

Herr von Bethmann hatte am 28. Juli, nach der Ablehnung des Konferenzvorschlages, dem Botschafter Goschen erklärt, er werde »in Wien und in Petersburg sein Bestes tun, um die beiden Regierungen zu einem direkten und freundschaftlichen Gedankenaustausch über die Lage zusammenzubringen«. In seiner Broschüre »England und der Kriegsausbruch«, die als Widerlegung der Darstellung in Greys Memoiren gedacht war, hat Jagow Greys Behauptung, der Reichskanzler habe in Wien zunächst nur »im Flüsterton« gesprochen, mit dem Satze beantwortet: »Anderseits könnten ihn die deutschen Dokumente überzeugt haben, dass wir in jenen Tagen unserem österreichischen Alliierten gegenüber eine Sprache geführt haben, wie sie von ihm seinen Freunden gegenüber nicht geführt worden ist.« In der Sammlung »Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch« befindet sich am Schlusse des ersten Bandes ein Telegramm, in dem Bethmann Herrn von Tschirschky den Bericht Lichnowskys über die Unterredung mit Grey wiedergibt. Ueber die Unterredung, in der Grey auch bat, die deutsche Regierung möge ihren Einfluss in Wien geltend machen und dort die Ansicht vertreten, dass die serbische Antwort entweder als genügend oder als eine Grundlage für Besprechungen zu betrachten sei. Herr von Bethmann fügte hinzu: »Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt 334 haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist um so schwieriger, als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir können daher die Rolle des Vermittlers nicht abweisen und müssen den englischen Vorschlag dem Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten, zumal London und Paris fortgesetzt auf Petersburg einwirken. Erbitte Graf Berchtolds Ansicht über die englische Anregung, ebenso wie über Wunsch Herrn Sasonows, in Wien direkt zu verhandeln.« Am gleichen Tage telegraphierte Herr von Bethmann an Lichnowsky, dass »in dem von Sir Edward Grey gewünschten Sinne Vermittlungsaktion in Wien sofort eingeleitet« worden sei. Dem Kaiser meldete er, er habe die Anregung Sir Edward Greys dem Grafen Berchtold unterbreitet und »Oesterreichs Sache« werde es sein, »dazu Stellung zu nehmen« . . . »Wollten wir jede Vermittlerrolle a limine abweisen, zumal da London und Paris fortgesetzt auf Petersburg einwirken, so würden wir vor England und der ganzen Welt als verantwortlich für die Konflagration und als eigentliche Kriegstreiber dastehen. Das würde uns einerseits unmöglich machen, im eigenen Lande die gute Stimmung aufrechtzuerhalten, anderseits aber auch geeignet sein, England von seiner Neutralität abzubringen.« Dies war die erste Phase der deutschen Einwirkung in Wien. Der Wunsch, vor der Welt das Odium des Kriegsurhebers zu vermeiden und »als die zum Krieg Gezwungenen dazustehen«, erscheint hier zunächst noch als das Hauptmotiv. Der Wunsch, den Frieden wirklich zu erhalten, äussert sich in dieser scheusslichen Stilisierung nicht. Aber der Autor, über dessen »passive Obstruktion« Grey klagte, hat vielleicht geglaubt, diejenigen Gründe hervorsuchen zu müssen, die auf den Grafen Berchtold am ehesten Eindruck machen könnten, und er hat auch nicht Furcht und Schwäche zeigen wollen. Darum, darf man annehmen, die nicht ganz ethisch scheinende Beschränkung auf das Problem der Weltmeinung und der »Flüsterton«.

 

Als im Frühling des Jahres 1919 die Delegierten der siegreichen Staaten in Paris das Material für ihre Schuldthese und die Verurteilung Deutschlands zusammentrugen, lenkten die Amerikaner die Aufmerksamkeit der Kollegen auch auf eine Depesche des österreichisch-ungarischen Botschafters, des Grafen Szögyény, hin. Am 27. Juli 1914 hatte der Botschafter an das Ministerium des Aeussern in Wien folgendes telegraphiert: »Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form sehr entschieden, dass in der nächsten Zeit eventuelle Vermittlungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung zur Kenntnis seiner Exzellenz gebracht werden. Die deutsche Regierung versicherte auf das bündigste, 335 dass sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben nur, um der englischen Bitte Rechnung zu tragen, weitergebe.« In dieser Depesche konnten die amerikanischen Schuldspezialisten wirklich einen Beweis für die Hinterhältigkeit der deutschen Regierung sehen. Herr von Jagow bemerkt in seinem 1919 erschienenen Buch »Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges« noch, er könne die Authentizität der Depesche nicht feststellen, aber diese Zweifel wurden schon im gleichen Jahre beseitigt, da in dem von der Republik Oesterreich herausgegebenen Rotbuch das Telegramm – vollständig und mit noch weiterer Ausspinnung des gleichen Themas – enthalten war. Nach dem ungekürzten Text sollte Jagow unter anderem noch erklärt haben, er habe die Note Greys an Tschirschky weitergegeben, ihm aber einen Auftrag, sie Berchtold vorzulegen, nicht erteilt. So habe er dem englischen Kabinett mitteilen können, dass die Note »nach Wien weitergegeben« worden sei. Am 28. Juli beauftragte dann Graf Berchtold den Grafen Szögyény, dem Staatssekretär »für die freundschaftliche Mitteilung, die das deutsche Kabinett bestimmte, die englischen Vermittlungsvorschläge an uns weiterzuleiten, bestens zu danken«, und hinzuzufügen, er würdige die Motive für diese Haltung vollauf. Herr von Tschirschky habe ihm die englische Anregung zur Kenntnis gebracht und werde am nächsten Tage darüber unterrichtet werden, warum »uns die Annahme derselben untunlich erscheint«. Hier ist zunächst ein Widerspruch zu konstatieren, denn Szögyény hatte gemeldet, Tschirschky sollte die Note Greys gar nicht vorlegen, und er hat sie doch vorgelegt. Jagow versichert, Graf Szögyény, der früher so bedeutende Diplomat, dessen Abberufung in Wien schon beschlossen war, habe infolge seines Alters und körperlichen Unwohlseins nicht mehr die frühere Spannkraft gezeigt. Wahrscheinlich habe er bisweilen fremde Mitteilungen mit eigenen Ideen vermengt. Herr von Wegerer hat dieser Untersuchung eines diplomatischen Geisteszustandes noch ein interessantes briefliches Zeugnis hinzugefügt. Ein bekannter deutscher Geschäftsmann erzählt in diesem Brief, dass der österreichisch-ungarische Botschafter ein Glasanfasser war, jedes Glas und jede Glasscheibe im Laden anfasste und zum Gaudium des Personals bei jedem Besuch, mindestens zehnmal im Monat, auf die gleichen Silbergeräte deutete und fragte, »ob dös englisches Silber ist«. Jedesmal habe man ihm erwidert, nein, das komme aus Wien. Ein doch wohl mit einigen zu witzigen Karikaturstrichen ausgestattetes kleines Genrebild.

 

Im französischen Gelbbuch ist ein Bericht über eine Unterredung veröffentlicht worden, die an diesem 27. Juli zwischen Jagow und dem Botschafter Jules Cambon stattgefunden hat. Jagow sagte, dass er die Konferenz ablehne und nicht in dem österreichisch-serbischen Konflikt, sondern nur in einem österreichisch-russischen intervenieren könne, und Cambon entgegnete, die Sache des Friedens stehe über solchen 336 Formalitäten, und wenn man die Intervention Russlands verhindern wolle, müsse man mit der Vermittlung zwischen Oesterreich und Serbien beginnen. Er habe gefragt: »Haben Sie sich verpflichtet, Oesterreich mit verschlossenen Augen überallhin zu folgen, und haben Sie von der serbischen Antwortnote Kenntnis genommen?« Jagow habe erwidert: »Ich habe noch keine Zeit dazu gehabt.« Der Botschafter fragte weiter, ob Deutschland den Krieg wolle, und Jagow protestierte lebhaft und sagte, er wisse, dass Cambon das glaube, aber es sei eine absolut irrige Idee. Worauf Cambon den Staatssekretär beschwor, den Wortlaut der serbischen Note mit seinem Gewissen zu wägen und sich nicht mit der persönlichen Verantwortung für die Katastrophen zu belasten, die im Entstehen begriffen seien. Wieder protestierte Jagow und erklärte, er wolle mit Frankreich und England gemeinsam vorgehen, aber die Kabinette müssten eine annehmbare Formel finden, und im übrigen seien zwischen Wien und Petersburg direkte Verhandlungen angeknüpft worden, er erwarte davon viel Gutes und man werde vielleicht bald ein Ergebnis sehen. Jules Cambon, durchaus nichts Gutes erwartend, sehr pessimistisch, riet beim Abschied noch, die Unterhaltungen in Wien zu beschleunigen, damit nicht inzwischen in Russland eine jener Meinungsströmungen entstände, die alles fortreissen können.

Am Vormittag des 28. Juli suchte ich abermals Wilhelm von Stumm in seinem Arbeitszimmer auf. Er sagte, Greys Konferenzvorschlag sei unannehmbar gewesen, man müsse Rücksicht auf Oesterreich nehmen und könne es jetzt nicht, nach dem Beginn der Aktion, zum Haltmachen zwingen. Er war ziemlich verschlossen und wich bei meinen kritischen Einwendungen achselzuckend aus. Ich sagte, so werde nun auch die letzte Reserve, die Vermittlung Englands, verscherzt. Der Eindruck in der Welt müsse für uns sehr ungünstig sein. Gegen die Konferenz möge sich allerlei einwenden lassen, aber die Art, wie man sie abgelehnt habe, formalistisch und ohne öffentlichen Gegenvorschlag, habe peinlich berührt. Grey habe öffentlich, im Parlament, der ganzen Welt seinen Vorschlag mitgeteilt. Warum trete Deutschland nicht ebenso mit einem eigenen Gedanken für die Erhaltung des Friedens an die Oeffentlichkeit? Stumm erklärte, es sei alles mögliche geschehen. Ich warf ein, das möge zutreffen, aber auf die öffentliche Meinung, auf die Völker komme es an, und die wüssten nichts davon. Die Gefahr sei nachgerade riesengross. Er: Eine Gefahr bestehe natürlich, aber ohne Risiko gebe es keinen Erfolg. Die Hauptsache sei, dass man unsere Militärs zurückhalte, falls Russland mobilisieren sollte, was ja nicht ausgeschlossen sei. Dann würden wahrscheinlich unsere Militärs kommen und mobilmachen wollen, und da werde man alles tun müssen, um sie von solchen Ideen abzubringen. Am folgenden Tage, dem 29., im gleichen Zimmer, fortgesetzter Dialog. Stumm hielt auch jetzt – am Abend vorher hatte Oesterreich-Ungarn die Kriegserklärung an Serbien gerichtet – die Lage zwar für ernst, aber nicht für aussichtslos. Es komme natürlich 337 viel auf die weitere Haltung Englands an. Der dunkle Punkt sei, dass Russland seine Rüstungen weiterbetreibe – alle aus Russland eintreffenden Meldungen besagten das. Hoffentlich würden unsere militärischen Kreise nicht die Nerven verlieren und nun nicht auch die Mobilmachung verlangen. Dass er abermals auf die militärischen Nerven zurückkam, zeigte deutlich, dass er sich viel mit ihnen beschäftigte und selber nervös geworden war. Am Abend traf die Nachricht von einer russischen Mobilisierung ein. Der Befehl war an 16 Armeekorps, in den Militärbezirken Kiew, Odessa, Moskau und Kasan, ergangen. Die österreichische Grenze, noch nicht die deutsche, war bedroht. Wie man ferner erfuhr, hatten um 5 Uhr in der Frühe die österreichisch-ungarischen Monitore und die Artillerie mit der Beschiessung von Belgrad begonnen. Die Stadt wurde kaum verteidigt, die Serben hatten schon einige Tage vorher die weisse Fahne gehisst. Aber die Ehre der Armeen verlangt, dass bei solchen Gelegenheiten gekämpft und geschossen wird.

Ich ging nur noch mit einem Gefühl, das schwer zu definieren ist, aber jedenfalls ein Gefühl des Widerstrebens war, in das Haus in der Wilhelmstrasse und an den beiden Sphinxen vorbei. Die Luft in dem Hause war dumpf, und man hatte den Eindruck, dass die Fenster seit langem nicht mehr geöffnet worden seien. Die Stille in den Korridoren lastete, es war eine Wucht des Schweigens, die Beamten, die dann und wann mit Akten aus einem Zimmer traten, wirkten beinahe gepensterhaft. Und zugleich war es eine Atmosphäre wie im Spielkasino, wo die nervösen Verlierer und die »schönen«, die mit der breiten Brust, den letzten Einsatz riskieren, wenn schon die fahle Morgendämmerung naht. Man hatte ein grosses diplomatisches Spiel spielen wollen, und die Hoffnung, dass man heil herauskommen könnte, zerrann mit jeder Stunde mehr. Man heuchelte achselzuckend Kaltblütigkeit, man verbarg die Furcht hinter Masken, man kam mit einem verräterischen Atem aus dem Klub, in dem man den Mut mit Kognak belebt hatte, und fand die Depeschen vor, von denen jede einzige das Hereinbrechen der Flut erkennen liess. In all diesen Tagen habe ich kein einziges Wort gehört, das die Auffassung hätte bestätigen können, der Krieg wäre dem einen oder dem andern willkommen. Ich habe keine Miene gesehen, die den Schluss zugelassen hätte, man habe den Krieg gewollt. Gerade auch Wilhelm von Stumm, der von einigen misstrauisch beurteilt worden ist, hat sicherlich nur gemeint, man werde den Bluff, diese geniale Erfindung der kühnen Mittelmässigkeit, ohne Genickbruch durchhalten können. Gewiss, die Seele der Menschen hat viele Etagen und Räume, im Unterbewusstsein können Gedanken ruhen, denen das klar bewusste Denken widerspricht. In E. T. A. Hoffmanns »Elixieren des Teufels« führt der Pater Medardus ein Doppelleben, und der fromme Mönch ist den Scheusslichkeiten fremd, die er in seiner andern Gestalt verübt. Aber ich habe nur ein einziges Mal, aus dem Munde eines einflusslosen Diplomaten zweiter Klasse, auf meinen scharf geäusserten Einspruch, dass 338 es nicht zur Katastrophe kommen dürfe, und dass man ihr entgegenglitte, eine Wendung wie diese vernommen: »Wollen Sie lieber, dass wir auf den Standpunkt Belgiens heruntersinken?« – und auch diejenigen, die vielleicht so sprachen, waren wie Selbstmordkandidaten, die sich die selbstmörderische Absicht vorrenommieren und gar keine Lust haben, Selbstmord zu begehen. Mancher mochte sich zuflüstern: »Wenn es doch zum Kriege kommen sollte – besser jetzt, als später« – – die alte fatalistische Melodie. Aber das flog vorbei. Nein, eine kriegerische Stimmung war bei den Hauptakteuren, soweit ich mit ihnen in Berührung kam, nicht zu konstatieren, und noch weniger gab es Anzeichen dafür, dass sich zielbewusste kriegerische Absicht hinter einer Verschleierung verbarg. Das Erschreckende lag nur in der Hilflosigkeit gegenüber den fortrollenden Ereignissen, in der Armut an Einfällen, in der Passivität dieser Leute, die sich einen strategischen Plan zurechtgemacht hatten, nun nicht weiter wußten und – dabei immer mit einer Miene, als wären sie die einzig möglichen Staatsmänner – nur noch auf ein Wunder zu warten schienen, als der Plan misslang. Und noch schlimmer waren ihre diplomatischen Konversationskünste, Stilkniffe, Finessen, dieses Rüstzeug und diese Methoden – Ueberbleibsel einer ganz andern Zeit. Dieses Ausweichen, das sie für ein elegantes Florettspiel hielten, und diese höflichen, nichtssagenden Versicherungen, deren Unaufrichtigkeit sie eigentlich gar nicht verbergen wollten – wie jene Kartenkünstler, die gern verstehen lassen, alles sei nur Trick und Geschicklichkeit. Jagow war gewiss auf seine Art intelligent und gebildet, aber er hatte in einer Schule studiert, in der man sich noch das Haar puderte, dialektische Ausflüchte wie zierliche Tanzschritte einübte, das gleichmütige Lächeln probte und darauf dressiert wurde, über die Form zu plaudern, während es um das Leben der Völker ging. Diese altmodische, wirklichkeitsfremde Künstelei passte zu seiner zarten Konstitution, seiner Geschmacksveranlagung, seiner ultrakonservativen Denkrichtung, seiner Natur, die gepflegt und abgezirkelt war wie die beschnittenen Taxushecken im Park von Sanssouci. Ein solches diplomatisches Benehmen musste verdächtig erscheinen, musste den Argwohn erwecken, die deutsche Regierung beabsichtige etwas ganz anderes als die Rettung des Friedens, und weil diese courtoisievolle Diplomatie sich durchaus »undurchdringlich« machen wollte, konnte man meinen, sie zu durchschauen, und annehmen, sie suche absichtlich, planvoll den Krieg. Es ist begreiflich, dass Jules Cambon nach seiner Unterhaltung mit Jagow zu pessimistischen Schlussfolgerungen kam. In dem Hause nebenan, im Palais des Reichskanzlers, beschwichtigte Herr von Bethmann-Hollweg, solange es ging, seine Unruhe, indem er, oft mit vielen Korrekturen, Depeschen redigierte und sich den Spruch aufsagte, er habe alles nach bestem Wissen und Gewissen bedacht und gemacht, er sei in jedem Augenblick auf der Höhe seiner staatsmännischen Aufgabe gewesen und kein Vorwurf könne ihn 339 treffen, keine Kritik. Dann wieder sah er sich wohl als den Führer in Sturm und Not, den Führer der Nation, der, Feinde ringsum, unerschütterlich dastehen würde, aber es ist nicht sicher, dass die Wirkung dieser Kampferspritze sich als sehr dauerhaft erwies.

Dies waren einige der Eindrücke, die man nicht abwehren konnte, wenn man jetzt das Haus der steinernen Sphinxe betrat. Erschreckender als alles andere war der Gedanke, dass hier und im Nebengebäude das Schicksal eines grossen Volkes in den Händen von ein paar gänzlich unkontrolliert handelnden Beamten lag. Wenn ein Genie vom Kaliber Bismarcks dagewesen wäre, hätte der eine genügt. Aber wenn man die Fähigkeiten der drei oder vier addierte, ergab die Zusammenrechnung bei weitem kein Genie. Der Reichskanzler musste den Kaiser über das, was sie taten oder nicht taten, unterrichten, aber sie hielten es für nicht nötig, irgendeinen Mann, der politische Erfahrung besass und vielleicht nützliche Ideen haben könnte, zu befragen oder ihn auch nur in ihre Schwierigkeiten einzuweihen. Sie fanden, dass ihre eigene Wissenschaft keiner Ergänzung bedürfe, und zogen, obgleich sie die Agonie kommen sahen, keinen andern Arzt hinzu. Fürst Bülow, trotz allen Fehlern eine Autorität im Entschlüpfen aus selbstbereiteten Gefahren, sass in Klein-Flottbeck bei Hamburg, wenige Eisenbahnstunden von Berlin. Und weder er noch sonst einer der ältern, weltkundigen Diplomaten wurde konsultiert. Es war in diesem Lande selbstverständlich, dass man nicht mit den Reichstagsparteien Fühlung nahm, ihre Vertrauensleute nicht zusammenberief. Das waren französische und englische Sitten, hier kannte man solche Entartung der Regierungsgewalten nicht. Die Aufgabe, von deren Lösung alles abhing, war die Angelegenheit weniger, und wenn die wenigen sich irrten, sich verrannten, dann zahlten andere als sie. Die dicksten und festesten Befestigungen, die jemals die Ingenieurkunst aufgerichtet hatte, waren nicht so dick und fest wie die Mauern des Hauses in der Wilhelmstrasse, nichts drang hinein, nichts drang heraus, einsam wirkten die Nornen unter dem Baume Ygdrasil.

Indessen, am Nachmittag des 28. Juli wurden der Reichskanzler und die Herren des Auswärtigen Amtes zu etwas kräftigerem Handeln in Wien ermahnt. Aufgerüttelt und ermahnt von Wilhelm II., der nun wieder nach dem raschen Anlauf seines Witzes in einen mehr gesetzten Ton verfiel. Wilhelm II. hat in seinen »Ereignissen und Gestalten« das Auswärtige Amt als den Tummelplatz aller Unfähigkeit geschildert: »Die ganze diplomatische Maschine bei uns hat versagt.« Die Diplomaten hätten den heraufziehenden Krieg nicht sehen wollen, weil man auf dem Standpunkt gestanden habe: »Surtout pas d'histoires!« An den Krieg hatte er ebensowenig wie das Auswärtige Amt geglaubt. Kaiserliche Aussprüche, die das beweisen, liegen, wie man gesehen hat, in genügender Masse vor. Er soll nach seiner Rückkehr zu Bethmann gesagt haben: »Sie haben mir die Suppe eingebrockt.« Wenn 340 die Könige ihren Anteil an einem Fehler auf ihre verantwortlichen Ratgeber ablenken wollen, werden sie plötzlich streng konstitutionell. Wilhelm hatte durch das rasche Jawort, das er den Oesterreichern gegeben hatte, die halsbrecherische Politik eingeleitet, Bethmann und das Auswärtige Amt hatten sich ihm angeschlossen, hatten nichts anderes, nicht mehr getan, als er. Aber jetzt, da Optimismus nicht mehr zeitgemäss war, ergriff er, während seine Ratgeber und Gehilfen noch immer wie Nachtwandler, oder wie Rekruten, in der einmal eingeschlagenen Richtung weitergingen, die Initiative, gab er, leider spät, den Rückzugsbefehl. Es wiederholte sich der oft gesehene Vorgang: nach der »Impulsivität« stellten sich, angesichts des heranfauchenden Präriebrandes, Ueberlegung und Vernunft wieder ein. Früher als bei seiner amtlichen Umgebung, und nur nicht früh genug. Am Morgen des 28. erhielt er die ihm von Jagow übersandte Kopie der serbischen Antwortnote, und als er mit Befriedigung erkannte, dass diese Antwort durchaus genüge, jede gerechte Erwartung übertreffe, kommandierte er: »Das Ganze halt!« Um 10 Uhr vormittags verfasste er eigenhändig ein Schreiben an Jagow, das nach dem Eingangsvermerk seltsamerweise erst am Nachmittag des 29. an seinen Bestimmungsort kam. Er schrieb – ähnlich wie er es sofort unter den Text der serbischen Note geschrieben hatte –, nach Durchlesung der Antwort sei er der Ueberzeugung, dass im grossen und ganzen die Wünsche der Donau-Monarchie erfüllt worden seien. »Die paar Reserven, welche Serbien zu einzelnen Punkten machte«, könnten durch Verhandlungen geklärt werden, aber es sei eine Kapitulation demütigster Art, durch die »jeder Grund zum Kriege entfällt.« Allerdings, die Serben seien, wie alle Orientalen, verlogen, und deshalb müsse Oesterreich ein Faustpfand, Belgrad, behalten, um die Durchführung der Versprechungen erzwingen zu können. Das sei auch eine notwendige Genugtuung für Oesterreichs Nationalgefühl und die Waffen der österreichisch-ungarischen Armee. Auf dieser Basis sei er zur Friedensvermittlung bereit. »Dagegenlaufende Vorschläge oder Proteste anderer Staaten würde ich unbedingt abweisen, um so mehr, als alle mehr oder weniger an Mich appellieren, den Frieden in Oesterreich zu vermitteln . . . Das werde ich tun auf Meine Manier.« Sein Kopf befand sich noch in der Wolke, aber die Füsse standen schon auf festem Boden, und wenn ihm genug Zeit und die Möglichkeit freien Handelns geblieben wären, hätte er wahrscheinlich auch auf die Illusion verzichtet, er könne ganz auf seine Manier als Weltrichter den Schiedsspruch fällen. Er hätte, auf die Erhaltung des Friedens bedacht, sich mit jedem anständigen Kompromiss einverstanden erklärt.

 

Die Hauptsache war: der deutsche Kaiser sah in der serbischen Antwort eine ausreichende Erfüllung der österreichischen Wünsche und konstatierte, dass die paar »Reserven«, die Serbien zu einzelnen Punkten gemacht habe, durch Verhandlungen zu erledigen seien. Damit schloss 341 er sich dem Standpunkt Russlands und Frankreichs, der Ansicht Greys und Lichnowskys an. Damit verwarf er die ertüftelte, starre, sinnlose Doktrin des Auswärtigen Amtes, trennte er sich von der Ansicht derjenigen, die immer nur die einstudierte Formel wiederholten, dass man sich nicht einmischen, über die österreichischen Forderungen und die serbischen Zugeständnisse nicht reden könne, denn das sei unantastbares österreichisches Privileg. Jetzt, nach Empfang dieser kaiserlichen Willenskundgebung, trat in der Wilhelmstrasse eine deutliche Stimmungsänderung ein. Noch in einem vertraulichen Rundschreiben, das am 28. Juli den deutschen Bundesregierungen überreicht wurde, sagten Bethmann und Jagow, die serbische Antwort lasse erkennen, dass die massgebenden Faktoren in Serbien nicht gesonnen seien, ihre agitatorische Tätigkeit einzustellen. Am Abend des 28. Juli, um 10.15 Uhr – das Handschreiben Wilhelms war noch nicht eingetroffen, aber die Auffassung und der Vorschlag des Kaisers waren natürlich dem Auswärtigen Amt im Laufe des Tages schon bekanntgeworden – schickte Herr von Bethmann ein von Wilhelm von Stumm verfasstes dringendes Telegramm an Tschirschky, in dem es hiess: »Die nunmehr vorliegende Antwort der serbischen Regierung auf das österreichische Ultimatum lässt erkennen, dass Serbien den österreichischen Forderungen doch in so weitgehendem Masse entgegengekommen ist, dass bei einer völlig intransigenten Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung mit einer allmählichen Abkehr der öffentlichen Meinung von ihr in ganz Europa gerechnet werden muss.« Wenn die kaiserliche Regierung weiter allen Vermittlungsversuchen der andern Kabinette gegenüber Zurückhaltung bewahre, werde auch in den Augen des deutschen Volkes das Odium, einen Weltkrieg verursacht zu haben, auf sie fallen. Es folgte der Vorschlag, sich mit der Besetzung von Belgrad zu begnügen – ganz so, und zum Teil mit den gleichen Worten, wie er von Wilhelm II. niedergeschrieben worden war. Gleichzeitig sollte Tschirschky die Wiener Regierung ersuchen, in Petersburg noch einmal die bestimmte Erklärung abzugeben, territoriale Erwerbungen in Serbien lägen ihr völlig fern. Auch den Versicherungen, die Graf Berchtold zu diesem Punkte seines Kriegsprogramms gegeben hatte, traute Herr von Bethmann jetzt nicht mehr. In einer Randbemerkung zu einem Brief Lichnowskys sprach er, ebenfalls am 28., bereits von Oesterreichs »unerträglicher Zweideutigkeit«. Dazu lagen einige Gründe vor, denn in Wien, wo man seit Beginn der Aktion die Zukunft Serbiens mit unerträglicher Zweideutigkeit erörtert hatte, wuchs mit dem Vertrauen auf die deutsche Waffenhilfe täglich der Appetit. Leider machte sich Herr von Bethmann-Hollweg erst Sorgen über die weitere Behandlung des serbischen Territoriums, als er das richtige Mittel, den Wiener Eroberern einen Zügel anzulegen und Bedingungen aufzunötigen, nicht mehr besass. Nach Oesterreichs Absichten hätte er am 5. Juli fragen müssen, als Graf Szögyény dem Kaiser den Brief Franz Josephs übergab.

342 Wie die Stimmung im deutschen Volke, in der deutschen Presse umgeschlagen wäre, wenn man sofort, rechtzeitig, bevor die aufgestachelten Leidenschaften die Sinne trübten und die österreichische Kriegserklärung an Serbien das Dokumentenstudium überflüssig erscheinen liess, statt der telegraphischen Fälschung die serbische Antwort hätte lesen können, wurde hier gesagt. Das Verbrechen, das die Wiener Kriegsdiplomaten mit der Zurückhaltung der Veröffentlichung begingen, tritt aber erst recht ins Licht, wenn man sich klar macht, wie im noch günstigen Augenblick, im Augenblick der letzten Möglichkeit, der Erlösungsbrief Wilhelms hätte wirken können. Wenn Wilhelm II. die dem österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad am 25. Juli, zwei Minuten vor sechs Uhr abends, überreichte serbische Antwortnote zum mindesten am folgenden Tage, dem 26., erhalten hätte – welche Entwicklung hätten dann die Dinge genommen? Der Kaiser hätte schon damals an den Rand geschrieben: »Damit fällt jeder Kriegsgrund fort.« Er hätte schon damals erklärt, über die paar serbischen »Reserven« solle verhandelt werden, und hätte seinem Reichskanzler und seinem Auswärtigen Amt die entsprechenden Weisungen erteilt. Man hätte sich mit Grey, mit Russland und Frankreich verständigt, die auch nur sagten, dass die serbische Antwortnote eine Basis für eine Vermittlung und für Verhandlungen sei. Man hätte, in gemeinsamer Betonung des gleichen Standpunktes, Wien nötigen können, Verhandlungen mit Serbien zu beginnen. In Berlin hätte man nicht mehr die Melodie heruntergeleiert, dass Wien in seiner Auseinandersetzung mit Serbien durch kein Dazwischentreten und keinen Ratschlag anderer Mächte behelligt werden dürfe, und Herr von Jagow hätte nicht die geheimnisvolle Maske umgebunden und nicht in verdachterregenden Orakeln gesprochen, als er Herrn Jules Cambon empfing. Drei Tage Verzögerung, das war im Grunde nicht viel? In dieser Juliwoche bedeuteten sie unendlich viel, entschieden sie gegen den Frieden und für den Krieg. Am 28. erfolgte die österreichische Kriegserklärung, die Truppen überschritten die Grenze, die österreichischen Kanonen donnerten, einige Gebäude in Belgrad wurden vernichtet, einige Menschen umgebracht. Der Zar ordnete die angekündigte Mobilmachung an. Seit dem 25. Juli, seit der Ueberreichung der serbischen Antwort hatten die Ereignisse einander gejagt, es war eine völlig veränderte Situation. Graf Berchtold und seine Komplicen hatten es so gewollt.

Ja, sie hatten die serbische Antwort nicht nur zurückgehalten, damit der Elan, die Volksstimmung in Oesterreich-Ungarn und in Deutschland nicht gedämpft werde – sie hatten in gescheiter Voraussicht gefürchtet, Wilhelm II. könnte bei der Lektüre zu der Meinung gelangen, es liege nun absolut kein Grund zum Kriege mehr vor. Wenn der deutsche Kaiser schon am 26. abgestoppt hätte, wären sie um den glorreichen Krieg, um die Verwirklichung nichteingestandener Eroberungspläne, um die Zerstückelung Serbiens gekommen. Darum lieferten sie der 343 verbündeten Regierung die Antwortnote erst drei Tage später aus. Im gleichen Augenblick, in dem sie die Kriegserklärung abschickten, eine vollendete Tatsache schufen, die dazu diente, dem deutschen Kaiser den Rückweg zu verbauen. Der Bundesgenosse hätte Anspruch darauf gehabt, die serbische Antwort sofort, und ohne die offiziösen österreichischen Kommentare, zu sehen. Die Langmut des Auswärtigen Amtes, das sich, weil das Ganze ja nur »eine Angelegenheit Oesterreichs« war, beinahe drei Tage lang hinhalten liess, und das Phlegma des Herrn von Tschirschky, den man mit der »Ueberarbeitung der Büros« vertrösten konnte, trugen zum Gelingen des Manövers bei.

Nikolaus II. sandte am 29. Juli ein Telegramm an Wilhelm II., in dem er um die Hilfe des kaiserlichen Vetters bat. Einem schwachen Lande sei ein unwürdiger Krieg erklärt worden, die Entrüstung in Russland sei ungeheuer, er werde sehr bald dem Druck erliegen und äusserste Massnahmen ergreifen müssen, die zum Kriege führen würden, und: »Ich bitte Dich im Namen unserer alten Freundschaft, alles Dir mögliche zu tun, um Deinen Bundesgenossen davon zurückzuhalten, zu weit zu gehen.« Wilhelm II. schrieb an den Rand: »Worin besteht das«? und: »Deinen!« – Deinen Bundesgenossen – und vergass, weil es wohl das Wichtigste war, immer recht zu behalten, dass er selbst soeben konstatiert hatte, sein eigener Bundesgenosse gehe zu weit und Serbien habe überraschend viel Zugeständnisse gemacht. Er fügte auch eine psychologische Betrachtung hinzu: »Der Ausdruck ›ignoble war‹ lässt nicht auf monarchistisches Solidaritätsgefühl beim Zaren schliessen, sondern auf panslawistische Auffassung«, und die optimistische Bemerkung, zum Verhandeln sei »später immer noch Zeit«. Am Vormittag des 29. Juli, als er das hinschrieb, glaubte er noch, dass man sehr viel Zeit habe und rasches Handeln noch gar nicht nötig sei. Auf Veranlassung des Reichskanzlers hatte er am Tage vorher ein von Stumm verfasstes Telegramm an den Zaren geschickt. Darin erinnerte er Nikolaus II. an das gemeinsame Interesse der Souveräne, die Bestrafung aller für die Mordtat von Serajewo moralisch verantwortlichen Personen zu erzwingen. Anderseits verstehe er vollkommen, wie schwer es für den Zaren sei, der öffentlichen Meinung entgegenzutreten, und darum biete er, »im Hinblick auf die herzliche und innige Freundschaft, die uns beide seit langem mit festem Band verbindet«, seinen ganzen Einfluss auf, »um zu veranlassen, durch sofortiges Handeln zu einer befriedigenden Verständigung mit Dir zu kommen«. Er hoffe zuversichtlich, dass Nikolaus ihn in dem Bemühen unterstützen werde, »die Schwierigkeiten zu beseitigen, die noch entstehen können«. Die beiden Telegramme hatten sich gekreuzt. Auch die Worte gingen aneinander vorbei. Die Verkehrssprache war das gewohnte Englisch, die Sprache dieser deutsch-russischen Monarchenfreundschaft, und die Vettern unterzeichneten die von ihren Geheimräten stilisierten Depeschen mit »Nicki« und »Willy«, wie im Honigmond. Aber besser als die herzlichsten Allgemeinheiten wäre ein 344 klar geäusserter Vorschlag gewesen, und wirksamer als die aufrichtigsten Friedenswünsche der kleinste Hinweis auf ein praktisches Angebot.

Der Kaiser berief am Abend des 29. Juli die militärischen Chefs zu sich nach Potsdam in das Neue Palais. Er äusserte sich, wie Tirpitz berichtet hat, sehr offenherzig über Bethmanns »Unzulänglichkeit«, sagte aber, er könnte sich jetzt von diesem unzulänglichen Reichskanzler, der das Vertrauen Europas besitze, nicht trennen. Er erklärte auch, er wisse gar nicht, was die Oesterreicher eigentlich wollten, denn die Serben hätten ja, bis auf einige Bagatellen, alle österreichischen Bedingungen akzeptiert. Seit dem 5. Juli hätten die Oesterreicher nichts darüber gesagt, was sie vorhätten – allerdings hatten er selber und seine Beamten auch nicht danach gefragt. Wilhelm II. erklärte, Tirpitz zufolge, dann weiter, Bethmann »hätte vorgeschlagen, wir sollten, um England neutral zu halten, die deutsche Flotte durch ein Abkommen mit England opfern«, aber er, der Kaiser, habe das abgelehnt. Das »Opfern« sollte wohl in der Annahme des Flottenabkommens bestehen, das die Engländer immer gewünscht, der Kaiser und Tirpitz immer verhindert hatten, aber auch mit dieser verspäteten Liebesgabe hätte man die englische Entscheidung jetzt nicht mehr beeinflussen können. Uebrigens glaubte Wilhelm II. an eine kriegerische Entscheidung Englands nicht. Sein Bruder, Prinz Heinrich, der gerade aus England eingetroffen war, hatte ihm berichtet, dass ihm König Georg erklärt habe, sein Land werde neutral bleiben, und Wilhelm sagte zu Tirpitz, er »habe das Wort eines Königs«, und das genüge ihm.

Die Berliner Morgenblätter am Donnerstag, dem 30. Juli, gaben die russische Teilmobilisierung bekannt. In Petersburg hatte der Zar an die Aspiranten der Marineschule eine Ansprache gerichtet, worin er ihnen den Glauben an »Gott und den Ruhm und an die Grösse unseres mächtigen Vaterlandes« empfahl. In Wien sagte Franz Joseph, der Allmächtige werde seinen Waffen den Sieg verleihen. Der liebe Gott wurde allseitig an seine Verpflichtungen gemahnt. Die Kriegsbegeisterung in Wien war gross, die patriotischen Strassenkundgebungen nahmen kein Ende, und die nach Serbien ausrückenden Truppen wurden so umjubelt, als wäre das nicht ein Marsch in den Tod, sondern bereits eine frohe Heimkehr zum Siegesfest. In einem Wiener Bericht hiess es: »Bengalische Feuer setzen den Platz vor dem Rathaus in strahlendes Licht, bis zum Halbrund des Burgtheaters, hundert Fahnen werden geschwungen, werden akklamiert und wer nur unkundig hierher kam, der musste glauben, der Friede und nicht der Krieg sei erklärt.«

Ich ging an diesem Tage früh ins Auswärtige Amt. Im grossen Wartesaal sassen auf einem Sofa an der Wand der österreichisch-ungarische Botschafter Graf Szögyény und der holländische Gesandte Baron Gevers, mehrere andere Diplomaten brüteten auf den altmodischen Fauteuils, standen herum oder blickten durch die Fenster 345 auf die Wilhelmstrasse hinaus. Anscheinend hatte niemand Lust, zu sprechen, und es herrschte ein Schweigen wie in einem Hause, in dem ein Toter liegt. Szögyény, in seiner Sofaecke, war fahl, geisterhaft und wie erloschen, der alte Magyar, vor einigen Tagen immerhin noch elegant, glich jetzt einem hoffnungslosen bedürftigen Klienten im Vorzimmer einer Arbeitsnachweis-Kommission. Ich setzte mich zu ihm und fragte: »Glauben Sie nicht, dass noch ein Mittel, eine rettende Formel gefunden werden kann?« Er antwortete mit müder Bewegung: »Ich glaube nicht daran. Wie soll eine Formel noch gefunden werden können? Die Gegensätze sind zu gross.« Stumm, den ich dann besuchte, trug kühle Ueberlegenheit zur Schau. Ja, die Lage sei sehr ernst, die russische Mobilisierung habe alles verdorben, werfe alles um. »Es besteht also keine Möglichkeit mehr, dass dieser entsetzliche Krieg vermieden wird?« – »Neunundneunzig von hundert Chancen sind für den Krieg.« – »Und England? Liegt nichts von Lichnowsky vor?« – »Ach, Lichnowsky, der macht sich natürlich in die Hosen, nachdem er uns die ganze Zeit vorerzählt hat, England wünsche eine Verständigung mit uns.« – »England wird mit Frankreich gehen.« – »Was England tun wird, weiss man noch nicht.« Es war nicht schwer, hinter dem Panzer der Kaltblütigkeit die Aufregung und Zerrissenheit zu erkennen. Wirklich, Stumm, der robust und kaltschnäuzig scheinen wollte, war kein kriegerischer Berserker – er scheute nur nicht genügend das Kostenrisiko und hatte, weil hier sein Platz war, an einer unglücklichen Spielpartie teilgenommen. Zuerst hatte er sich noch mit dem Gedanken weitergeholfen, eine russische Teilmobilmachung, nur gegen Oesterreich gerichtet, würde ertragen werden, auch vom Generalstab hingenommen werden müssen, würde jedenfalls kein Anlass sein, gleich alles aus dem Geleise zu bringen. Jetzt merkte er, wie das eine das andere nach sich zog und wie die Macht stündlich mehr aus den Händen der schiffbrüchigen Politiker zu den Militärs hinüberglitt.

Wilhelm II. hat erzählt, wie er schon bei seiner Rückkehr nach Potsdam den Reichskanzler und das Auswärtige Amt im Konflikt mit dem Chef des Generalstabes von Moltke fand. Moltke vertrat die Ansicht, der Krieg werde bestimmt ausbrechen, während die andern erklärten, er werde sich vermeiden lassen, man dürfe nur nicht mobilmachen, und »dieser Streit dauerte die ganze Zeit über an«. Herr von Moltke verfasste am 28. Juli ein Memorandum »zur Beurteilung der politischen Lage«, das er dem Kaiser und dem Auswärtigen Amt zugehen liess. »Mit einer bis zur Schwäche gehenden Langmut habe Oesterreich bisher die dauernden Provokationen und die auf Zersetzung seines staatlichen Bestandes gerichtete politische Wühlarbeit eines Volkes ertragen, das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord im Nachbarland geschritten ist.« Jetzt endlich habe Oesterreich zum äussersten Mittel gegriffen, um mit glühendem Eisen das Geschwür auszubrennen. Während ganz Europa bei der Züchtigung des verbrecherischen Landes hätte aufatmen müssen, 346 dessen Bestand Oesterreich gar nicht antasten wolle, habe Russland sich eingemischt. Deutschland wolle diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen, aber die deutsche Regierung wisse, »dass sie die tiefgewurzelten Gefühle der Bundestreue, einen der schönsten Züge deutschen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise verletzen und sich in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen würde, wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht zu Hilfe kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden muss«. Deutschland werde also, »wenn der Zusammenstoss zwischen Oesterreich und Russland unvermeidlich ist, mobilmachen und bereit sein, den Kampf nach zwei Fronten aufzunehmen«, und es sei »für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten militärischen Massnahmen« von höchster Wichtigkeit, schleunigst zu einer Klärung zu kommen. Conrad von Hötzendorff hat in seinem vierten Band ein Telegramm Moltkes mitgeteilt, das er am 31. Juli in Wien erhielt. Es lautete: »Russische Mobilmachung durchhalten, Oesterreich-Ungarn muss erhalten bleiben, gleich gegen Russland mobilisieren. Deutschland wird mobilisieren. Italien durch Kompensationen zur Bundespflicht zwingen.« Eine Niederschrift dieses Telegramms hat man in den Berliner Aktenschränken nicht aufzufinden vermocht. Indessen, an seiner Echtheit können diejenigen nicht zweifeln, die eingesehen haben, dass Conrad sich von vielen andern hochgestellten Personen durch eine unerschütterliche Ehrlichkeit unterschied. Uebrigens stimmt das Telegramm mit dem Ton und Gedankengang des Memorandums durchaus überein. In der Sammlung der Moltkeschen Briefe, die zu pietätvoller Verteidigung die Witwe herausgegeben hat, gibt es leider zwischen dem 27. Juli – an dem die Lage noch »dauernd recht unklar« genannt wird – und dem 29. August eine breite Lücke, so dass man über die Rolle, die der Generalstabschef an den entscheidenden Tagen gespielt hat, aus diesem Gedenkbuch nichts erfährt. Dem unbefangenen Sinn mag es seltsam erscheinen, dass Herr von Moltke, allerdings unter Berufung auf die schönsten Züge deutschen Gemütslebens, sich mit einem feierlichen Schriftstück in die Politik einmischte und der politischen Leitung eine Vorlesung über ihre Pflichten und Aufgaben hielt. Allerdings war – hierin liegt keine Entschuldigung – das nicht nur in Deutschland so, und sogar in dem ordnungsliebenden England hatten die Militärs derartige Gewohnheiten angenommen.

Vor vielen Jahren habe ich in Athen ein Erdbeben miterlebt, das in der Stadt, am Fusse der Akropolis, einige antike Reste umwarf und im Lande viele Zerstörungen und Tote hinterliess. Bevor es kam, hatte eine ungesunde, den Atem in die Brust pressende Glutluft über Athen gelegen, und ich habe nie die Stimmung vergessen können, in der man nach der ersten wellenartigen Erdbewegung auf die zweite wartete und das Knistern hörte, das durch den scheinbar sich biegenden Fussboden und dann hinauf durch die Wände lief. In dieser stickigen Erdbebenstimmung, in diesem lähmenden und aufgeregten Warten auf den 347 Erdstoss, der alles umwerfen sollte, lebte oder existierte seit dem Augenblick, wo die österreichische Kriegserklärung und die russische Teilmobilmachung bekanntgeworden waren, die Berliner Bevölkerung. Wie immer bis dahin, ging jeder an seine Arbeit, in das Geschäft, das Büro und die Fabriken, aber die gewohnte Tätigkeit war eine automatische Geste und schien seelenlos geworden zu sein. Plötzlich fuhr in die Schwefelatmosphäre ein Krachen, als sei die grosse Erschütterung schon da. Diesmal war es noch ein falscher Alarm. Nach zwei Uhr nachmittags liefen an diesem 30. Juli Zeitungsboten durch die Strassen, brüllten: »Extrablatt des ›Lokal-Anzeigers‹, Mobilmachung!« und warfen den herbeistürzenden Menschen ihre Papierfetzen zu. Der Text des Extrablattes begann mit den Worten: »Die Entscheidung ist gefallen.« Kaiser Wilhelm habe soeben die sofortige Mobilmachung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte verfügt. Der Schritt Deutschlands sei »die notgedrungene Antwort auf die kriegerischen Vorbereitungen Russlands, die nach Lage der Dinge gegen uns nicht minder wie gegen unsern Bundesgenossen Oesterreich-Ungarn« gerichtet seien. Die Nachricht war unwahr, weil verfrüht. Der »Berliner Lokalanzeiger« musste durch ein zweites Extrablatt verkünden, sein erstes sei »durch einen groben Unfug verbreitet worden«, und er stelle die Unrichtigkeit der Meldung hiermit fest. Inzwischen hatte man in allen fremden Botschaften und Gesandtschaften das erste Extrablatt gelesen, Diplomaten und Zeitungskorrespondenten hatten die Sensation in alle Teile der Welt hinaustelegraphiert. Etwas später, von einigen auch erst nach längerem Zögern, weil man dem Dementi nicht glaubte, wurde der falschen Nachricht die richtige nachgeschickt. Dieser Extrablatt-Affäre sind von den offiziellen Kriegsschuldforschern und ihren ausländischen Gegnern viele Artikel und Abhandlungen gewidmet worden, und bei dieser Diskussion stehen zwei Fragen im Vordergrund. Ist das Extrablatt des »Lokal-Anzeigers« infolge einer militärisch-nationalistischen Intrige, unter Mitwirkung gewissenloser Kriegsmacher auf die Strasse geschleudert worden, und wurde die russische Totalmobilisierung angeordnet, als man in Petersburg die falsche Alarmnachricht erfuhr?

Von den Untersuchungen, in denen der Ursprung des Extrablattes ermittelt werden sollte, ist am vollständigsten diejenige, deren Resultat Herr Alfred von Wegerer in seinem Monatsheft vom November 1929 wiedergab. Auch diese vollständigste Untersuchung ist noch unvollständig und lückenhaft. Herr von Wegerer sagt zutreffend, der Zar sei schon am Abend des 29., gedrängt von seinen Ratgebern, zur Anordnung der allgemeinen Mobilmachung entschlossen gewesen, habe aber den Befehl zurückgezogen und nur die Teilmobilisierung gegen Oesterreich angeordnet, als er das Telegramm Wilhelms erhielt. Die Kunde von der geplanten Totalmobilmachung sei in Petersburg vielen Personen bekannt gewesen und »mit Begeisterung« aufgenommen worden, und auch der Redaktion des »Lokal-Anzeigers« sei sie zugegangen. Da die 348 Redaktion dank ihren offiziösen Beziehungen wusste, dass man die allgemeine russische Mobilmachung mit einer allgemeinen deutschen beantworten werde, habe sie die Vorbereitung eines Extrablattes beschlossen, zweitausend Exemplare drucken lassen, und diese feuergefährliche Ware einem Expedienten mit der Weisung übergeben, sie erst nach einer Bestätigung der Meldung »in nächster Nähe des Geschäftshauses« unter die Leute zu bringen. Hier zunächst stimmt etwas nicht. In dem Extrablatt stand gar nichts von einer russischen Totalmobilmachung, und bei der frühzeitigen Herstellung des Blattes waren offenbar nur die gegen Oesterreich gerichteten »kriegerischen Vorbereitungen« bekannt. Hätte man, als der Wortlaut des Extrablattes aufgesetzt wurde, bereits etwas von der allgemeinen Mobilmachung in Russland gewusst, so hätte man die Bedeutung einer solchen direkt gegen Deutschland gerichteten Massnahme gewiss sehr stark hervorgehoben und betont. Herr von Wegerer hat mehrere Zeugen verhört, die aussagen, der Expedient habe sich in der Aufregung geirrt, oder – eine andere Version – ein paar jugendliche Boten hätten einen bedauerlichen Unfug getrieben, und so sei das Unglück geschehen. An der Ecke der Jerusalemer- und der Zimmerstrasse seien etwa hundertundfünfzig Exemplare verteilt worden, dann »nach etwa zwei Minuten, als man den Irrtum erkannte, wurde die Verteilung sofort eingestellt«. Auch das stimmt nicht ganz. Ein anderer Zeuge, ein Redakteur des »Lokal-Anzeigers«, schildert, wie er dem Extrablattrummel aus einem Fenster der russischen Botschaft Unter den Linden zusah, wo er sich zufällig gerade befand. Freiherr von Behr, gleichfalls ehemaliger Mitarbeiter des »Lokal-Anzeigers«, hat in einem Briefe erklärt, dass »bald nach halb vier Uhr die letzten Blätter von der Strasse verschwunden« seien. Also in mehr als einer Stunde hatten die geflügelten Boten nur hundertundfünfzig Extrablätter verteilt? Alle diese kleinen Untersuchungsfehler und Widersprüche sind vielleicht bedeutungslos. Aber Herr von Wegerer hat festgestellt, dass die Redaktion des »Lokal-Anzeigers« die Mitteilung von der allgemeinen russischen Mobilmachung erhalten habe, und die »Kölnische Volkszeitung« hat erklärt, ihrem Berliner Vertreter sei die Nachricht von dem deutschen Mobilmachungsbefehl von einer der massgebendsten Stellen gegeben worden, und da bleibt doch das ungelöste Rätsel: wer hat diesen und andern Zeitungen solche Winke erteilt, und durch wen ist der Lärm ins Lager gekommen?

Auch ich habe mich ein wenig um die Aufklärung bemüht. Ueber einen Vorfall, wie er sich hier zugetragen hat, musste in den Akten der Politischen Polizei doch irgend etwas stehen. Es ist nicht denkbar, dass diese rührige Behörde sich nicht mit einer Angelegenheit befasst haben sollte, die soviel ungeheures Aufsehen erregte und zu soviel Kommentaren Anlass gab. Die Politische Abteilung in dem Gebäude am Alexanderplatz, dem Polizeipräsidium, später Abteilung I A, war damals Abteilung VII und wurde von dem Oberregierungsrat Bärecke dirigiert. Die wichtigste 349 und interessanteste Person war der Chef der Exekutive, der Polizeidirektor Dr. Henniger, Leiter des Ueberwachungsdienstes, ein sehr vielseitiger Mann mit jener entgegenkommenden Freundlichkeit, die den Beruf erleichtert – nach dem Kriege zuerst auf das Nebengeleise einer langweiligen Spezialverwaltung verschoben, dann Regierungsrat in der Provinz. Aber über die Geschichte des Extrablattes konnte man auch am Alexanderplatz Genaueres nicht finden, denn im Oktober 1918, vor dem Ausbruch der Revolution, wurden die Akten der Politischen Polizei dem Feuer übergeben, nur zwei Hefte, die zu der Angelegenheit nichts enthalten, wurden im Preussischen Ministerium des Innern in Sicherheit gebracht.

Für die Frage, ob die unwahre Extrablattmeldung die allgemeine russische Mobilmachung verursacht habe, ist Graf Max Montgelas die deutsche Autorität. Graf Montgelas hat mit dem Fleiss und der Geduld eines Gelehrten, der unter dem Mikroskop die Bewegungen der Mikroben beobachtet, dem Schicksal jeder in Berlin nach Petersburg aufgegebenen Depesche nachgespürt. Von zwei Seiten gingen die ersten telegraphischen Meldungen über das Extrablatt nach Petersburg ab. Der Botschafter Swerbejew, von Herrn Markow, dem Berliner Vertreter einer russischen Telegraphen-Agentur, ungefähr um zwölf Uhr dreissig Minuten über das Erscheinen des Blattes telephonisch unterrichtet, schickte seinem Minister sofort ein chiffriertes Telegramm. Herr Markow, der sich im Wolffschen Telegraphenbüro aufhielt, als auf der Strasse das Extrablatt ausgeschrien wurde, telegraphierte an seine Petersburger Agentur. Nach der Berechnung des Grafen Montgelas wäre die Depesche des Botschafters wegen Leitungsstörungen erst frühestens um sieben Uhr abends in Petersburg eingetroffen, während das Telegramm Markows im günstigsten Falle um vier Uhr vierzig Minuten, nach russischer Zeit, im russischen Aussenministerium bekanntgeworden sei. Um drei Uhr fand beim Zaren in Peterhof ein Vortrag Sasonows statt, dessen Ergebnis der nunmehr endgültige Befehl zur allgemeinen Mobilmachung war. Sasonow und Paléologue sagen in ihren Memoiren übereinstimmend, es sei genau vier Uhr gewesen, als die Beratung bei Nikolaus II. ihr Ende nahm. Es ist nicht gerade einfach, sich eine abschliessende Meinung über Vorgänge zu bilden, bei denen man nach Minuten zählt. Wir kennen die Fehlsprüche der Kriminalkommissäre, Untersuchungsrichter und Gerichte in Affären, wo alles von schwankenden Zeitbestimmungen abhängt und der Weg des Verbrechens mit der Uhr in der Hand bestimmt werden soll. Alles aber spricht dafür, dass die vom Grafen Montgelas kritisch betriebene Arbeit nicht eine nutzlose mathematische Anstrengung gewesen ist. Sasonow hat in einem Briefe über die Bombe des »Lokal-Anzeigers« geschrieben: »Selbstverständlich war sie nicht der Grund für unsere Mobilmachung, wie es die zeitliche Aufeinanderfolge der Ereignisse beweist, aber sie rechtfertigte in unserem Gefühl die unternommenen Schritte und steigerte die Beunruhigung, die uns alle, und 350 besonders unsere militärischen Kreise, ergriff.« Der bayerische Gesandte Graf Lerchenfels berichtete dem Grafen Hertling: »Wie mir im Auswärtigen Amt gesagt wurde, sind die Würfel dadurch ins Rollen gekommen, dass der russische Botschafter Swerbejew die falsche Nachricht des ›Lokal-Anzeigers‹, Deutschland mobilisiere, nach Petersburg gemeldet hat.« Der unbekannte Inspirator oder Urheber der falschen Nachricht hat vielleicht die Würfel ins Rollen bringen wollen, aber er kam um eine kleine Stunde zu spät, man hatte in Petersburg schon vor ihm die Würfel ins Rollen gebracht.

In einer spätern Nachmittagsstunde fand ich in meiner Redaktion Jules Hedemann, den »Matin«-Korrespondenten, vor. Er war aus Petersburg, von wo er seine schwungvollen Artikel über die unwiderstehliche russische Armee und den begeisterten Empfang Poincarés an sein Blatt telegraphiert hatte, am 27. Juli nach Berlin gekommen. Als er in seinem Petersburger Telegramm die Revue der »wundervollen Truppen« geschildert hatte, war in einigermassen empfänglichen Leserherzen der Glaube an die »russische Dampfwalze«, die auf dem Wege nach Berlin jeden Widerstand plattdrücken würde, erwacht. Seit er in Berlin war, hatte er seinen Ton erheblich geändert, er wollte den Krieg nicht, schickte nach Paris, solange es ging, beruhigende Telegramme, pries in der Not seines Herzens die friedliche Gesinnung des deutschen Volkes und erkannte die versöhnlichen Bemühungen der deutschen Regierung an. Jetzt war er blass und bedrückt. Ich sagte ihm, was er gewünscht habe, sei nun ja da. Er war kein böser Mensch, nur einer von denjenigen Stilisten, denen der Wunsch, die Leser bei ihrem Frühstück zu erfreuen, über alles geht. Am gleichen Abend fuhr er nach Paris, und beim Ausbruch des Krieges meldete er sich freiwillig zum Heeresdienst. Als fühlte er das Bedürfnis, seine Fehler wieder gutzumachen, zog er in den Granatenhagel hinaus, und er ist dann bald auf einem Schlachtfeld oder in einem Schützengraben gefallen. Es gab, auch bei uns, nicht viele journalistische Helden auf dem Papier, von denen man das gleiche berichten kann.

Am Abend, gegen zehn Uhr, abermals der unfrohe Gang zum Auswärtigen Amt. Nebenan im Vorhof des Reichskanzlerpalais ein paar Autos, wartende Diener, einige, soweit man im dünnen Lichtschein der Laternen erkennen konnte, in der kaiserlichen Livree. Auf der Strasse eine ziemlich grosse Menge Neugieriger, die glaubten, dass der Kaiser bei Bethmann sei. Es waren aber nur Prinz Heinrich und einige andere hohe Besucher dort. Stumm war abgespannt, aber merkwürdigerweise um ein Atom optimistischer, und versicherte, die Verhandlungen würden fortgesetzt. Ob er meine, dass von dem Vorschlag, die österreichische Besetzung räumlich zu begrenzen, noch etwas zu erhoffen sei? Er sagte, man setze die Bemühungen »auf einer ähnlichen Basis« fort. »Es ist alles bis aufs kleinste berechnet, man könnte sagen, mathematisch – geradezu mit Raffinement.« Am meisten komme es jetzt auf die Haltung 351 Englands an. Dass es auf die Haltung Englands ankomme, war nicht gerade neu. Eigentlich musste man allmählich auch wissen, wie es damit stand. Während wir sprachen, huschte lautlos Jagow herein, begrüsste mich lächelnd, legte ein Aktenheft auf den Schreibtisch und verschwand mit leisen Schritten durch die Tür. Ich habe nie begriffen, auf was für Sohlen er ging.

Aus den Akten und Aufzeichnungen ist über den Verlauf dieses Tages folgendes festzustellen: Am 29. hatte Lichnowsky ein langes Telegramm über eine Unterredung mit Grey geschickt, das am Abend im Auswärtigen Amt eintraf und am 30. nachmittags zur Kenntnis des Kaisers kam. Grey war, dem Bericht zufolge, ruhig, aber sehr ernst, und hatte wieder zu der »Vermittlung zu vieren« gedrängt. Der dringlichen Mahnung, zur Vermeidung einer europäischen Katastrophe die Vermittlungsaktion zu unternehmen, fügte er »eine freundschaftliche und private Mitteilung« an. Er wolle sich für später den Vorwurf der Unaufrichtigkeit ersparen und darum müsse er sagen: wenn der Konflikt nicht auf Oesterreich und Russland beschränkt bliebe, sondern Deutschland und Frankreich in den Krieg hineingezogen werden sollten, würde die britische Regierung unter Umständen sich zu schnellen Entschlüssen genötigt sehen. »Es liege ihm fern, irgendeine Drohung aussprechen zu wollen, er habe mich« – meldete Lichnowsky – »nur vor Täuschungen und sich vor dem Vorwurf der Unaufrichtigkeit bewahren wollen und daher die Form einer privaten Verständigung gewählt.« Als Wilhelm II. diesen Bericht las, geriet er in einen jener Zustände, in denen er nur durch schnelles Hinwerfen kraftvoller Randbemerkungen eine Erleichterung fand. Eben hatte er noch von seinem Bruder gehört, dass »Georgie«, der König, neutral bleiben wolle, und jetzt kündigte Grey – wie es seit zehn Jahren jede britische Regierung oft getan hatte – für den Fall, dass Deutschland gegen Frankreich marschieren sollte, die Beteiligung Englands am Kriege an. »Der gemeine Täuscher!« – »Gemeiner Hundsfott!« – »Das gemeine Krämergesindel hat uns mit Diners und Reden zu täuschen versucht.« Tatsächlich sei es eine »Drohung mit Bluff« und Grey versuche, Deutschland von Oesterreich loszulösen und von der Mobilmachung abzubringen. Wilhelm II. schrieb in seiner verständlichen und begründeten Aufregung an diesem Tage viel. Herr von Bethmann-Hollweg aber verstärkte nun seine Anstrengungen in Wien. Er schickte in der Nacht zum 30. Juli kurz hintereinander zwei Depeschen an Tschirschky, beide ungefähr den Rufen vergleichbar, mit denen in höchster Seenot der Kapitän eines sinkenden Schiffes seine Lage offenbart. Falls Oesterreich, telegraphierte er, jede Vermittlung ablehne, werde man, da Italien und Rumänien allen Anzeichen nach nicht mitgingen, zwei gegen vier Grossmächte sein. Infolge der Gegnerschaft Englands fiele Deutschland das Hauptgewicht des Kampfes zu. Unter solchen Umständen sei es nötig, dem Wiener Kabinett die Annahme der Vermittlung dringend und nachdrücklich anheimzustellen. Die 352 Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre ungemein schwer. Und in der zweiten, gleich hinterher gejagten Depesche, sagte er: »Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Vorschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen.« Das solle Tschirschky »sofort und mit Nachdruck und grossem Ernst« dem Grafen Berchtold zur Kenntnis bringen . . . Waren diese diplomatischen Bemühungen völlig aussichtslos? Es war doch eine sehr gewichtige Tatsache, dass nun Deutschland, England, Frankreich und Italien zu gemeinsamer Vermittlungsaktion bereit waren und Russland, wie Sasonow erklärt hatte, seine Zustimmung gab. Man konnte, wusste man nur von diesen Schritten, sich in den Glauben wiegen, es werde noch alles wieder in Ordnung kommen. Aber auch die, die sich diesen Glauben einreden wollten, wie Bethmann, wussten im Grunde, dass es zu spät und die Welt bereits aus den Fugen geraten sei. Die diplomatische Tätigkeit für die Erhaltung des Friedens trat überall, längst schon, hinter der militärischen und der politischen Vorbereitung des Krieges zurück. Befreundete Kabinette verständigten sich für den Kriegsfall und die wichtigste Aufgabe war, Bundesgenossen zu gewinnen. Man lebte schon fieberhaft in der Kriegsatmosphäre, hatte sich in das angeblich Unvermeidliche geschickt, sich mit dem Gedanken, dass das tolle Gewitter nun niedergehen werde, vertraut gemacht. Und in allen Ländern hatten einige das nicht ganz ungern getan . . . Diese sassen im Kreise herum und warteten nur noch: wer wird der Dumme sein, der als erster schiesst? Der Dümmste beginnt.

In einer Besprechung, die am 30. bei dem nun in Wien weilenden Franz Joseph stattfand, trug Berchtold dem Kaiser die Mahnungen Bethmanns vor. Conrad erklärte, während Berchtold lau, mit einem Hinweis auf den Standpunkt Tiszas, zu widerstreben schien, die Annexion Belgrads und der anschliessenden Gebiete sei notwendig, und schob dann mit der Bemerkung, mobilisiere Russland, dann müsse man auch mobilisieren, die Forderung nach allgemeiner Mobilmachung in den Vordergrund. Es wurde in der Besprechung beschlossen: »Der Krieg gegen Serbien wird fortgesetzt. Auf den englischen Vorschlag wird in sehr verbindlicher Form geantwortet, ohne ihn in meritorischer Hinsicht annehmen zu können. Die allgemeine Mobilisierung wird am 1. August angeordnet, mit dem 4. August als erstem Mobilmachungstag.« Doch würde darüber noch am folgenden Tage, dem 31., zu sprechen sein. Der österreichische Generalstabshauptmann Fleischmann, der dem Generalstab in Berlin zugeteilt war, telegraphierte nach einem Empfang bei Herrn von Moltke, Russlands Mobilisierung sei noch kein Anlass zum Mobilmachen – und wenn Deutschland mobilmache, bedeute das unbedingt den Krieg. »Nicht Russland Krieg erklären, sondern Angriff abwarten« – worauf Conrad antwortete: »Wir werden Russland nicht Krieg erklären und Krieg nicht beginnen.« Indessen, für alle Fälle setzte er den 353 Mobilmachungsbefehl durch. Wenn das nun der russische Generalstab durch seinen ausgezeichneten Spionagedienst erfuhr –?

Am 29. Juli hatte Graf Berchtold erklärt, er sei zu seinem lebhaften Bedauern »nicht mehr in der Lage, zu der serbischen Antwortnote im Sinne der englischen Anregung Stellung zu nehmen«, und allen Vorschlägen hatte er kühl und elegant ein Nein entgegengesetzt. Endlich, am Nachmittag des 30. Juli, teilte er Herrn von Tschirschky mit, er habe infolge der Bethmannschen Anregung – in Wahrheit war es nun ein sehr kräftiger Rippenstoss – den Grafen Szapary, den Botschafter in Petersburg, beauftragt, die Konversation mit Herrn Sasonow zu beginnen. Es war, wie man es in der Konferenz bei Franz Joseph beschlossen hatte: der sogenannte gute Wille wurde gezeigt. Der Zweifel daran, dass die Konversation mit Sasonow, wenn man dieses scheinbare Einlenken der Wiener Regierung überhaupt ernst nehmen wollte, zu einer friedlichen Lösung hätte führen können, verschärft sich bei der nähern Betrachtung der Persönlichkeit, an die der Auftrag erging. Graf Szapary, der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg, war kein Anhänger versöhnlicher Ideen, wie sein Vorgänger Graf Thun, und das Bild, das man von ihm besass, hat sich noch um einige Züge bereichert, nachdem auch die Wiener Geheimakten veröffentlicht worden sind. Am 8. Mai 1914 hatte er in einem Bericht sich als starker Mann heftig über Deutschland entrüstet, das er zu friedliebend fand. Deutschland verharre Russland gegenüber in einer »namenlosen Schwäche«, es habe die österreichisch-ungarischen Orientinteressen geopfert, habe »um des lieben Friedens willen« seine eigenen Aspirationen »streitlos« preisgegeben, habe »die Flanke des Verbündeten blosslegen lassen« und betreibe »eine Vogel-Strauss-Politik gegenüber der serbischen Gefahr«. Dieses alles, nachdem Deutschland, töricht genug, es der Wiener Diplomatie ermöglicht hatte, Bosnien zu annektieren und das siegreiche Serbien zu berauben und vom Meere abzusperren. In der Tat, auf seine eigenen »Aspirationen«, oder vielmehr auf die der Alldeutschen, hatte es um des lieben Friedens willen verzichtet, aber für die österreichischen hatte es sich wohl allzusehr eingesetzt. Früher Khevenhüller in Paris, jetzt Szapary in Petersburg, Merey in Rom . . . Der Friede und Deutschland hatten eigentümliche Freunde in diesem diplomatischen Korps.

 

Aus den Aufzeichnungen in Conrads drittem Band ist zu ersehen, dass am 31. Juli, infolge eines skeptischen Berliner Berichtes, in Wiener Regierungskreisen vorübergehend die Meinung verbreitet war, der deutsche Kaiser – der ja wirklich seit der serbischen Antwort keinen Kriegsgrund mehr sah – weiche zurück. Berchtold war zeitweilig auch nicht ganz zuversichtlich, empfand Beklemmungen bei dem Gedanken an einen Krieg mit Russland, fand aber sein seelisches Gleichgewicht wieder, als dann Conrad von Hötzendorff das Telegramm Moltkes: »Deutschland wird mobilisieren« erhielt. Erfreulicherweise kam auch ein – 354 gleichfalls in Conrads drittem Band mitgeteiltes – Telegramm des österreichisch-ungarischen Militärattachés. »Moltke sagte«, hiess es darin, »dass er Lage kritisch beurteile, wenn die ö.-u. Monarchie nicht sofort gegen Russland mobilisiert. Durch abgegebene Erklärung Russlands über angeordnete Mobilisierung Notwendigkeit von Gegenmassregeln durch Oesterreich-Ungarn gegeben, was auch in öffentlicher Begründung anzuführen wäre. Dadurch wäre Bündnisfall für Deutschland gegeben. Von England erneut eingebrachten Schritt zur Erhaltung des Friedens ablehnen. Deutschland geht unbedingt mit.« Diese beiden Telegramme trug Conrad zu Berchtold, wo er auch Tisza, Stürgkh und Baron Burian traf. »Nachdem ich die Telegramme«, erzählt er, »vorgelesen hatte, rief Graf Berchtold aus: ›Das ist gelungen! Wer regiert: Moltke oder Bethmann?‹ – und die gute Laune war wieder da.« Herr von Moltke, bis zur Stunde der russischen Mobilmachung offenbar friedlich gesinnt, forderte jetzt, ohne Wissen der politischen Leitung, die Oesterreicher auf, die englische Vermittlungsaktion abzulehnen, während der vom Kaiser gedrängte, leider zu spät erwachte Reichskanzler verzweifelt zur Annahme riet. Am 7. September 1914, während der Marneschlacht, schrieb der Generalstabschef von Moltke an seine Gattin: »Mich überkommt oft ein Grauen, wenn ich daran denke, und mir ist zu Mute, als müsste ich dieses Entsetzliche verantworten, und doch konnte ich nicht anders handeln, als geschehen ist.«

 

Am 29. und am 30. Juli trafen in Potsdam noch Telegramme des Zaren ein. Wilhelm II. antwortete, aber im Grunde sagte in diesen Telegrammen nur jeder, der andere trage die Verantwortung. Dieser ganze Depeschenwechsel zwischen Willy und Nicky war das zwecklose und unfruchtbare Geklapper einer Mühle, die nichts mahlt. Ein greifbarer Gedanke war nur in dem Telegramm des Zaren vom 29. Juli zu finden, in dem »your loving Nicky« in einem kurzen und nicht sehr kräftig appellierenden Satz, gewissermassen nur nebenbei, die Verweisung des österreichisch-ungarischen Problems an das Haager Schiedsgericht empfahl. Aber wenn man in Petersburg an den Wert einer solchen Anregung geglaubt hätte, so hätte man sie wohl anders vorgebracht und die Aufmerksamkeit der Welt auf sie hingelenkt. In Potsdam wurde ihr solche Aufmerksamkeit jedenfalls nicht geschenkt. Nach dem Ausbruch des Krieges wurde dann von der deutschfeindlichen Propaganda aus der Tatsache, dass dieses Zarentelegramm in das erste deutsche Weissbuch nicht aufgenommen worden war, ein Verbrechen konstruiert. Ich habe denjenigen Mitarbeiter Bethmanns, der über diese Dinge am besten unterrichtet sein muss, gebeten, den Ursprung der Lücke zu erklären, und seine Auskunft beweist, dass der Lärm unberechtigt gewesen ist. »Die Sache ist überaus einfach«, schrieb er mir, »das Weissbuch wurde in einer Nacht zur Hälfte von mir selbst, auf Grund der Akten, deren wir habhaft werden konnten, gemacht. Bei der durchaus 355 begreiflichen Eile und Gesamtbelastung des Apparates hatten, wie sich später herausstellte, einige Aktenstücke gefehlt, darunter auch das letzte Zarentelegramm, das, soweit ich mich erinnere, noch im Schloss (oder beim Reichskanzler in der Tasche) war.«

 

Der 31. Juli, mittags, in der Wilhelmstrasse eine grosse schweigende Menschenmenge, im Vorhofe des Reichskanzlerhauses diesmal zahlreiche Autos, oben bei Bethmann Konferenz. Im Auswärtigen Amt nur ein paar jüngere Diplomaten, die mir sagten, dass die Lage infolge neuer Nachrichten über russische Rüstungen absolut kritisch geworden sei. Ich fuhr zur Redaktion zurück, wo mich eine halbe Stunde später Bernhard Dernburg besuchte, der von dem Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, Wahnschaffe, kam. Er teilte mir mit, Deutschland sei »in Kriegszustand« erklärt. Was bedeutete dieser Zustand, über den man uns in der Geschichtsstunde früher nicht belehrt hatte – offenbar eine militärische Neuerung? Noch nicht Mobilmachung, aber die Vorbereitung dazu.

 

Den Teilnehmern der Konferenz, die bei Herrn von Bethmann stattgefunden hatte, war ein Telegramm des Grafen Pourtalès vorgelegt worden, aufgegeben um zehn Uhr dreissig Minuten in Petersburg, angekommen um elf Uhr vierzig Minuten im Auswärtigen Amt. Es besagte kurz: »Allgemeine Mobilmachung Armee und Flotte befohlen« und bezeichnete den 31. Juli als ersten Mobilmachungstag. Das Auswärtige Amt hatte das Telegramm dem Generalstab, dem Kriegsministerium und der Marine mitgeteilt. Herr von Moltke hatte nun nicht mehr nötig, verzögernde Friedensbemühungen der deutschen Regierung zu durchkreuzen – diese Sorge hatten ihm die Leute in Petersburg abgenommen. Vor der Konferenz hatte Bethmann Herrn von Tirpitz zu sich gerufen und ihm gesagt, der Kaiser habe soeben die »drohende Kriegsgefahr« dekretiert. Tirpitz war über die plötzliche Entwicklung ein wenig verwundert, denn er hatte gerade ein kaiserliches Handschreiben, abgefasst um zwölf Uhr mittags, erhalten, in dem Wilhelm II. England alle Schuld und alle Verantwortung zuschob, dann aber auf die gemeinsamen deutsch-englischen Vermittlungsschritte und auf den Beginn diplomatischer Besprechungen hinwies und schliesslich erklärte, in Petersburg herrsche »Katerstimmung« und man sei dort über das, was man angerichtet habe und noch anrichten werde, äusserst bestürzt. Der Reichskanzler meinte, »der Kaiser mische mehreres durcheinander«, und damit die deutsche Mobilmachung nicht zu sehr zurückbleibe, müsse man Russland ein Ultimatum stellen. Tirpitz will geraten haben, in dem Ultimatum noch einmal die günstig begonnene Vermittlung hervorzuheben, worauf Herr von Bethmann »ziemlich ausser Fassung« erwidert habe, das habe man ja andauernd gesagt. Die Berliner lasen die Bekanntmachung über den Kriegszustand, der vom »Oberbefehlshaber in den Marken«, Generaloberst von Kessel, 356 unterzeichnet war und in den Abendblättern erschien. Bisher hatten nur wenige Bürger gewusst, dass es einen Oberbefehlshaber in den Marken gab, der »von Kessel« hiess. Aus der Bekanntmachung war zu entnehmen, dass die Zivilbehörden nun dem Oberbefehlshaber zu gehorchen hätten, der auch zu jeder Zeit Haussuchungen und Verhaftungen verfügen könne, und dass man jetzt also unter der Militärdiktatur stand. Ferner wurde vielerlei aufgezählt, was von nun ab verboten war. Im Laufe des Tages folgten die Anordnungen aufeinander, ein Bombardement von amtlichen Mitteilungen wurde losgelassen, und die Bevölkerung konnte sehen, was alles an behördlicher Fürsorge zur Einleitung eines Krieges gehört. Die Ausfuhr von Getreide, Futtermitteln, Tieren, Automobilen und Arzneimitteln wurde verboten, der Verkehr bei Eisenbahnen, Post und Telegraph eingeschränkt, der Passzwang verkündet, die Verwendung von Brieftauben untersagt, den jungen Juristen die Notprüfung, allen Kriegsteilnehmern die Nottrauung hergerichtet, die Presse natürlich unter die Obhut militärischer Zensur gestellt. Das Publikum, besonders der kleine Mittelstand und die Arbeiterschaft, drängte sich so sehr zu den Sparkassen, um sein Geld abzuheben, dass reitende Schutzleute die Ordnung aufrechterhalten mussten und der Minister des Innern sich zu der Erklärung veranlasst sah, dass Spareinlagen vollkommen sicher seien. Ungeheuer gross war auch der Andrang bei der Reichsbank, wo die Vorsichtigen und die klug Vorahnenden die Papierscheine in Gold umwechselten, und in den Warenhäusern, wo geängstigte Hausfrauen die Fassung verloren, weil der Verkauf von Lebensmitteln ins Stocken geriet. Wieder musste amtlich erklärt werden, Heer und Volk seien reichlich versorgt und ein Grund zur Beunruhigung bestehe nicht. Indessen, »es war nichts Nennenswertes auf diesem Gebiete geschehen«, heisst es in der Ballin-Biographie von Bernhard Huldermann, dem Direktor der Hamburg-Amerika-Linie, »und am Sonntag, dem 2. August, kam als Abgesandter des Reichsamtes des Innern der spätere Leiter der Zentral-Einkaufs-Gesellschaft, Geheimrat Frisch, nach Hamburg, um Ballin mitzuteilen, dass man im Reichsamt in grosser Sorge sei, den Vorrat an Lebensmitteln in Deutschland sehr gering schätze, mit einem starken Mangel in kürzester Frist rechne, und deshalb bitte, doch nach besten Kräften dazu zu helfen, vom Ausland etwas hereinzubringen«. Der Staatssekretär des Innern, Clemens Delbrück, einer der tüchtigsten Beamten in der wilhelminischen Zeit, hat dem Fürsten Bülow erzählt, er habe nach dem 9. Juli den Reichskanzler gefragt, ob man nicht in Rotterdam Getreide kaufen solle, um so für alle Fälle gerüstet zu sein. Herr von Bethmann hatte solche Ankäufe, die als kriegerische Massnahmen gedeutet werden könnten, nicht für wünschenswert gehalten, Herr von Jagow hatte sie als »vollkommen überflüssig« bezeichnet und Delbrück, den die Sorge aus dem Urlaub nach Berlin getrieben hatte, war, etwas beruhigt durch den allgemeinen Optimismus, zu seinem Sommersitz zurückgekehrt.

 

357 Wilhelm II. kam von Potsdam nach Berlin, gegen drei Uhr fuhr er mit der Kaiserin im offenen Automobil durch die Linden zum Schloss. Er sass unbeweglich da, sehr ernst und starr vor sich hinblickend, während er, um für die Ovationen zu danken, automatisch die Hand an den Helmrand hob. Der Kronprinz, die Kronprinzessin und noch einige Familienmitglieder fuhren hinterher. Die hochrufende Menge erhitzte sich zu stürmischer Begeisterung, sie überflutete, als wollte sie ihrem Kaiser durch körperliche Nähe zeigen, wie sie sich mit ihm verbunden fühle, den Fahrdamm, Hüte und Taschentücher wurden geschwenkt. Es war ein warmer, strahlender Tag. In diese sonnige Luft mischte sich der schweissige Atem des Fiebers, drang schon ein Geruch von Blut. Um halb sieben Uhr trat Wilhelm II. an ein Fenster des Schlosses, umgeben von seiner Familie, und hielt eine Ansprache an das unten harrende Volk. »Man drückt uns das Schwert in die Hand«, falls es nicht noch in letzter Stunde gelinge, die Gegner zum Einsehen zu bringen. Nachdem er gesagt hatte, dass Deutschland das Schwert mit Gottes Hilfe siegreich führen und dass ein Krieg vom deutschen Volke enorme Opfer fordern würde, schloss er: »Und nun empfehle ich euch Gott. Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!« Man berechnete die Zahl der Menschen, die am Abend vor dem Schlosse standen, auf zweimalhunderttausend, und viele andere Hunderttausend wanderten durch die Strassen von Berlin. Ein Teil dieser grossen Masse fand, indem er Hoch und Hurra rief, einen Abfluss für seine Erregung, man traf auch Banden von jungen Burschen in ausgelassener Bierlaune, und andere der Herumziehenden glichen aufgescheuchten Vögeln und waren sehr still. Doch war, bei all dem seelischen Druck, im Bürgertum eine gehobene patriotische Stimmung zu erkennen. Von manchem freilich wurde wohl nur aus der Not eine Tugend gemacht.

Trupps von Manifestanten huldigten auch wieder der österreichischen Botschaft, und wie vor einer Woche erhielt auch diesmal die italienische Botschaft eine Ovation. Man hatte noch nicht gewagt, die Ahnungslosen zu warnen, und liess sie sich lieber vor das unrichtige Haus verirren. In Wien hatte am 30. Juli den Conrad, Tisza, Stürgkh und Burian bereits ein Telegramm aus Rom vorgelegen, das die Entscheidung enthielt. »Da der Dreibund«, hatte San Giuliano erklärt, »rein defensiven Charakter habe, und das Wiener Kabinett durch sein violentes Vorgehen gegen Serbien die europäische Konflagration provoziert und sich überdies mit der römischen Regierung nicht vorher ins Einvernehmen gesetzt habe, obliege Italien keine Verpflichtung, an dem Kriege teilzunehmen.« In Berlin sagte Herr von Bethmann am 30. zu Graf Lerchenfeld, »Italien stehe zum Dreibund und habe nur eine gewisse Modifikation seiner Hilfeleistung angekündigt«, und Herr von Moltke schwor, wie mir Graf Monts bestätigte, noch immer darauf, die Italiener würden zum Rendezvous kommen. Während er für die Treue des Bundesgenossen sich einsetzte, 358 war die Meldung des Botschafters von Flotow über die Verweigerung der Waffenhilfe unterwegs. Der Ministerrat in Rom hatte festgestellt, dass »das österreichische Vorgehen gegen Serbien als ein aggressives betrachtet werden müsse und daher der casus foederis nach Massgabe des Dreibund-Vertrages nicht gegeben sei«. Italien bleibe neutral. Conrad von Hötzendorff nannte das »eine Unverfrorenheit«, aber ging der Mann, der immer den Krieg gegen Italien gepredigt hatte, in seiner Entrüstung nicht ein bisschen zu weit? Man hatte die italienische Regierung nicht eingeweiht, ihr den ganzen Ultimatumsplan misstrauisch verschwiegen – hatte man jetzt ein Recht, von ihr Blutopfer für Oesterreich zu verlangen? Mit Tränen in den Augen beklagte sich in Berlin, im Auswärtigen Amt, der redliche Botschafter Bolatti, ein zuverlässiger Deutschenfreund, darüber, dass auch er hintergangen worden war. Den Rumänen bot Herr von Jagow noch an diesem 31. Juli »als Entgelt für aktive Beteiligung am Kriege« den Anspruch auf Bessarabien an. Das half so wenig wie eine Depesche Wilhelms II. an den alten Carol, der gebeten wurde, »als König und Hohenzoller« treu zu seinen Freunden zu halten, und sich doch, seelisch und körperlich gebrochen, dem Willen der Bratianu und Take Jonescu unterwarf. Von alledem wusste das deutsche Publikum noch nichts. »Hoch Italien!« – oder »Evviva Italia!«, wenn man auf Sprachbildung hielt. Wie jedes Volk an die Gerechtigkeit der eigenen Sache glaubte, war für das deutsche seine Sache einwandfrei und gerecht. Und nicht nur die Verbündeten würden sofort herbeieilen, sondern neue Freunde würden sich melden, man würde ganz Unerwartetes sehen. Dieses Volk, schon durch das Gymnasium politischem Denken entwöhnt, stürzte sich nun hastig in politische Berechnungen und rechnete, mit rührender Naivität und in einer geheimen Furcht, wie ein anlehnungsbedürftiges Kind. Die Japaner, denen man auf der Strasse begegnete, wurden umarmt und geküsst. Japan, das mit Russland Krieg geführt hatte, war doch Russlands Feind? Dass Deutschland Kiautschau genommen und der deutsche Kaiser die Völker Europas zur Vereinigung gegen die gelbe Gefahr aufgerufen hatte – das konnte doch kein Hindernis sein.

Was England betraf, so war man daran gewöhnt, in ihm den kaltherzigen Egoisten zu sehen, der sich stets von den andern die Kastanien aus dem Feuer holen liess. Man befreit sich nicht so schnell von Klischees und Schlagworten, und dass die Nation, die angeblich noch jeden betrogen hatte, für Frankreich kämpfen würde, glaubten die meisten nicht. Aber in diesem Augenblick, am Nachmittag des 31. Juli, hatte der englische Botschafter Sir Edward Goschen, als Antwort auf Vorschläge des Reichskanzlers, bereits eine offizielle Erklärung überreicht. Der Vorschlag, dass England neutral bleiben solle, solange Deutschland nicht französisches Gebiet mit Ausschluss der Kolonien annektiere, wurde als unannehmbar bezeichnet, da auch ohne Verkleinerung seines europäischen Territoriums Frankreich so niedergeworfen werden könnte, »dass es seine 359 Stellung als Grossmacht einbüsst und der deutschen Politik sich unterordnen muss«. Ausserdem würde ein solcher Handel auf Kosten Frankreichs nach Meinung der britischen Regierung eine Schmach sein, von welcher »der gute Name Englands sich niemals würde erholen können«. Ebenso unmöglich sei es für die britische Regierung, auf einen Handel bezüglich Belgiens einzugehen. Sir Edward Grey sagt in seinen Memoiren: »Wusste Bethmann-Hollweg nicht, konnte er nicht begreifen, dass er uns ein Angebot machte, dessen Annahme uns Schande brächte – was für ein Mann war er, dass er das nicht sah? Oder dachte er so schlecht von uns, dass er meinte, wir empfänden das nicht?« Wie schon gesagt wurde, hatte das törichte Hohnwort »das falsche Albion« seit langem Sir Edward Grey bedrückt und geplagt. Jetzt stand hinter den Vorschlägen des Herrn von Bethmann-Hollweg zu sichtbar die Hoffnung, England werde sich des schlechten Renommees würdig erweisen, in das es geraten war. Die von Asquith gebilligte Antwort Greys zerstörte eigentlich die letzte Illusion. Eine Möglichkeit blieb: der Widerstand der englischen Kriegsgegner würde vielleicht die Entscheidung verzögern und England würde nicht sofort, sondern erst später, und dann zu spät auf den Kriegschauplatz kommen.

 

Mittags war die Verkündung des »Kriegszustandes« erfolgt. Es blieb nicht lange bei dieser »vorbereitenden Massregel«, dem Volke wurde keine Atempause gegönnt. Am Abend gibt eine Extraausgabe der amtlichen »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« bekannt, dass die deutsche Regierung ein Ultimatum nach Petersburg gerichtet und Russland aufgefordert habe, binnen zwölf Stunden seine Kriegsvorbereitungen einzustellen. Die deutsche Regierung habe darüber eine bestimmte Erklärung verlangt. Gleichzeitig habe man in Paris angefragt. Man habe dort um Auskunft über die Haltung Frankreichs im Falle eines deutsch-russischen Krieges ersucht. Um elf Uhr abends verbreiten Extrablätter diese Nachrichten in Berlin. Jedem ist klar, dass Russland vor einem Ultimatum nicht zurückweichen kann und dass dies die letzten Stunden vor dem Ausbruch eines ungeheuren Ereignisses sind. Die letzte Friedensnacht. Sicherlich finden die meisten keinen Schlaf.

 

Spätabends erwarte ich im Bahnhof Zoologischer Garten meine Frau und die Kinder, die von Scheveningen kommen. Ein fieberhaftes Gewühl, unzählige Züge mit Heimkehrenden und Soldaten, riesige Aufstauung von Gepäck. Die Fahrpläne gelten nichts mehr, alle Züge treffen mit grosser Verspätung ein, gewissermassen aufs Geratewohl. Um zwei Uhr morgens steigen die Meinigen aus einem der überfüllten Wagen, sie haben langen Aufenthalt in Holland gehabt, wo schon alle Brücken bewacht wurden, und in Deutschland, besonders in Essen, wo die Reise ins Stocken geriet. Ein Herr, der zum militärischen Sammelplatz reiste, hat während der Fahrt eines der Kinder auf seinen Knien gehalten – Güte des Menschen, der vielleicht dem Tode entgegenfuhr. In Essen 360 war die Arbeiterbevölkerung wie betäubt gewesen, und es war dort nichts von der Sensationsstimmung zu verspüren, die sich in Berlin an den vorderen Rand der Szene drängt. Man kann bemerken, dass in dem Ankunftsgetümmel die Bahnhofsbeamten nicht ihren Ordnungssinn verlieren, die Gepäckträger schliesslich doch jeden Koffer herausfinden und zum Auto bringen. Diese Leute wissen, dass auch sie in den Krieg hinausgehen werden, und auch sie haben zu Hause Frauen und Kinder, aber jetzt rufen sie noch wie sonst: »Vorsicht, zurücktreten!«, wenn ein Zug einfährt, oder suchen mit dem Gepäckschein in der Hand, umsichtig und gewissenhaft wie immer, jedes vermisste Stück.

Sonnabend, den 1. August. Gestern abend ist in Paris, im Café Croissant, Jaurès erschossen worden – von einem Raoul Villain, einem Schreiberssohn. Es ist ein logischer Mord, denn für die Bergpredigt ist in der neuen Religion kein Platz. Dunkle Mächte haben die Völker umstrickt, ihr Netz über die Welt gesponnen, die Mörderhand hält das Genick der Menschheit gepackt.

Am Abend dieses unheilvollen Tages kommen in Paris die nächsten Freunde des ermordeten Führers zusammen, um Hermann Müller zu hören, der auf Wunsch der deutschen Parteigenossen die Reise unternommen hat. Erst trifft man sich in einem Zimmer des Palais Bourbon, dann, bei Nacht schon, in der Redaktion der »Humanité« – in dieser Redaktion, in der gestern noch Jaurès arbeitend, diskutierend und anfeuernd sass. Man hat noch keine Kunde davon, dass in Berlin bereits die Mobilmachung verfügt worden ist. Man glaubt noch unter dem Damoklesschwert zu beraten, und weiss nicht, dass schon das Schwert der Militärs regiert. Marcel Sembat führt bei der Zusammenkunft den Vorsitz, zuerst trägt der Gast, den man kameradschaftlich begrüsst hat, die Meinung der deutschen Sozialdemokratie vor. Eigentlich ist es nicht eine Meinung, sondern es sind eher mehrere Meinungen, und alles ist unbestimmt, wenig greifbar und »informatorisch«, mit lauter Vorbehalten verknüpft. Hermann Müller sagt, die deutsche Partei halte die Lage für ausserordentlich kritisch, der Kaiser und Bethmann erstrebten die Aufrechterhaltung des Friedens, aber die Entscheidung liege in Petersburg. Darüber, ob man beim Ausbruch eines Krieges die Kriegskredite votieren solle, bestehe in der deutschen Sozialdemokratischen Partei keine Einigkeit. Er könne keine Erklärungen im Namen seiner Fraktion abgeben, aber seine Parteifreunde hielten eine möglichst einheitliche Haltung der deutschen und der französischen Sozialdemokratie für sehr wünschenswert. Eine Verständigung über eine gleichartige gemeinsame Erklärung würde allerdings in solcher Schnelligkeit nicht zu erreichen sein, offenbar sei auch der Telegraph zwischen Paris und Berlin, den man dazu brauche, bereits gesperrt. Der Franzose Renaudel erklärt, wenn Frankreich von Deutschland angegriffen würde, müssten die französischen Genossen für die Kredite stimmen. Die deutschen würden, wenn ein 361 deutscher Angriff vorläge, in anderer Lage sein und die Kredite ablehnen können. Es entspinnt sich eine Debatte darüber, ob und warum der Fall für die einen und die andern verschieden liege, wo Recht und wo Unrecht, und wo hier und dort die Pflicht der Sozialdemokraten sei. Die Franzosen sagen: Wir müssen die freiheitlichen Traditionen Frankreichs gegen den deutschen Imperialismus und Militarismus verteidigen, die französische Republik kämpft für ihre demokratischen Ideale und ihre Existenz. Darauf entgegnet Hermann Müller, die Tatsache der Kriegserklärung sei für die Feststellung, wer als Angreifer zu gelten habe, nicht allein massgebend, die kapitalistisch-imperialistische Expansionspolitik aller Staaten habe die Gefahr verursacht und jetzt sei der wahre Schuldige die russische Kriegspartei. Er regt, ohne sichtbaren Erfolg, eine gemeinsame Stimmenthaltung an. Man fragt ihn, ob die deutsche Partei nicht schliesslich für die Kriegskredite stimmen werde, und weicht – nur Marcel Sembat scheint die Idee der Stimmenthaltungstaktik aufgegriffen zu haben – mit diesem skeptischen Einwand der Antwort aus. Hermann Müller verlässt noch in der Nacht Paris. Das Anerbieten seiner französischen Parteigenossen, ihm einen französischen Pass zu besorgen, hat er nicht angenommen.

Den ganzen Vormittag über bin ich im Auswärtigen Amt. In dem grossen Wartesaal befinden sich Graf Szögyény, der schwedische Baron Taube und der Belgier Baron Beyens, aber soweit es eine Unterhaltung gibt, wird sie nur stockend und leise geführt. Beyens sagt mir ein paar Worte über die glänzende Verfassung und die Aussichten der deutschen Armee. Eine überflüssige und etwas unnatürliche Höflichkeit. Ich frage Szögyény, der ganz zusammengesunken dasitzt: »Sehen Sie noch die geringste Chance für eine Rettung aus dieser furchtbaren Situation?« Er antwortet mit einem Achselzucken: »Eins zu einer Million.« Als ich mittags für eine kurze Weile zur Redaktion fahren will, treffe ich unten in der Treppenhalle den Korrespondenten des »Temps«, Commert. Wir sagen uns nur mit ein paar fliegenden Worten, welche Gefühle diese Katastrophe in uns erregt. Gegen drei Uhr bin ich wieder im Amt und gehe dort zum Unterstaatssekretär Zimmermann. Er sitzt nervös beschäftigt an seinem Schreibtisch, seine übliche burschikose Art dient ihm diesmal dazu, die innere Unruhe zu verbergen, sein immer gerötetes Gesicht mit dem blonden Schnurrbart scheint noch um eine Nuance röter zu sein. »Ist eine Antwort aus Petersburg da?« – »Nein, nichts – ob die Russen überhaupt antworten werden, ist doch mehr als zweifelhaft. Wenn man nur schon klar wüsste, was England machen wird.« Die Franzosen würden natürlich mit den Russen gehen. Es bleibe den armen Kerls doch nichts anderes übrig, auch wenn ihnen davor graut. Dann mit einem etwas sarkastischen Lächeln, zu mir hin: »Ja, nun ist Alldeutsch Trumpf!« Aus dem telephonischen Apparat auf dem Schreibtisch kommt das Klingelzeichen, Zimmermann nimmt den Hörer ans Ohr. Leise zu mir: »Moltke ist am Telephon.« Dann in den 362 Sprechapparat hinein: »Nein, noch nichts, Excellenz.« – Auf eine wiederholte Frage: »Ja, ich glaube auch – aber ein bisschen müssen wir wohl noch warten – nein, nicht sehr lange mehr.« Er legt den Hörer hin und dann wieder zu mir: »Moltke will wissen, ob es losgehen kann.« Die ganze telephonische Unterhaltung liess eine durch falsche Heiterkeit maskierte Aufregung erkennen.

Ich verlasse Zimmermann und gehe in den Konferenzsaal, wo auf dem grünbezogenen Tisch wieder die weissen Bogen sauber hingebreitet sind. Die Tür zum Korridor bleibt geöffnet, und als ich gegen fünf Uhr gerade dort stehe, kommt Jagow vorbei, vergnügt lächelnd, ein Blatt Papier in der Hand haltend, und geht eilig zur Treppe hin. Zwei Minuten später sehe ich, durch das Fenster auf die Wilhelmstrasse hinunterblickend, Jagow mit Bethmann im offenen Automobil abfahren, in der Richtung zum Schloss. Beide sind offenbar in sehr guter Stimmung, Jagow hält noch immer das Blatt Papier in der Hand. Gleich darauf kommt Zimmermann, stark echauffiert, durch den Korridor. »Ich muss zum Kriegsminister«, sagt er mir und will schnell weitergehen. Ich halte ihn auf: »Bethmann und Jagow sind ins Schloss gefahren? Haben Sie eine gute Nachricht bekommen?« – »Vielleicht – es scheint, dass die Engländer nicht mitgehen wollen.«

Eine halbe Stunde später sehe ich Moltke kommen. Mit schwitzendem Gesicht, jugendlich erregt, den Helm, infolge der Aufregung, ein wenig schief auf dem Kopf. Er bringt ins Amt die Anordnung der Mobilmachung mit. Unten auf der Strasse werden bereits die Extrablätter ausgeschrien. Durch die »Linden« fahren, während dies hier geschieht, im offenen Auto Offiziere, schwenken Tücher und Degen, und rufen der heranstürzenden Menge das Wort »Mobilmachung« zu. Durch die ganze Stadt dringt, schnell sich fortpflanzend, der Ruf. Um fünf Uhr nachmittags übergibt in Petersburg Graf Pourtalès, auf Anweisung des Reichskanzlers, die Kriegserklärung, die mit der russischen Mobilmachung begründet wird. Im telegraphischen Text Bethmanns heisst es: »Seine Majestät, der Kaiser, mein erhabener Souverän, nimmt im Namen des Reiches die Herausforderung an.«

Die »gute Nachricht« war ein um vier Uhr dreissig Minuten eingetroffenes Telegramm Lichnowskys gewesen: Grey habe ihm Tyrrell geschickt und ihn dann auch telephonisch gefragt, ob für den Fall, dass Frankreich in einem deutsch-russischen Kriege neutral bleibe – unter englischer Bürgschaft, nahm der Botschafter an –, Deutschland bereit sein würde, von einem Angriff auf die Franzosen abzusehen. Anderthalb Stunden später eine zweite Depesche Lichnowskys: Tyrrell sei soeben bei ihm gewesen und habe ihm erklärt, Grey wolle am Nachmittag Vorschläge für eine englische Neutralität machen, selbst für den Fall, dass der Krieg Deutschlands mit Russland und Frankreich nicht zu verhindern sei. In der Besprechung beim Kaiser hatte grosse Freude geherrscht. Man hatte die Mitteilung – denn die zweite, 363 unwahrscheinlich günstige, war noch nicht eingetroffen – so aufgefasst, als böte Grey die französische Neutralität unter der Garantie Englands an. Der Kaiser hoffte in diesem Augenblick, vielleicht werde noch der ganze Krieg, mindestens aber der gegen Frankreich, zu verhindern sein. Er wollte ihn nicht, diesen Krieg, er sträubte sich gegen diesen Gedanken, der nun nicht nur ein Gedanke war, und gewiss sprach er jetzt, hoffnungsselig, im stillen ein Dankgebet. Moltke, der auf dem Wege zum Generalstab war, wurde herbeigeholt. Der Kaiser sagte ihm: »Also wir marschieren einfach mit der ganzen Armee im Osten auf!« Herr von Moltke, verblüfft über diese Wendung der Dinge, entgegnete, das sei unmöglich, man könne den Aufmarsch eines Millionenheeres nicht improvisieren, man werde nicht ein schlagfertiges Heer, sondern einen wüsten, ungeordneten Haufen bewaffneter Menschen an die Ostgrenze bringen. Der Kaiser, sehr erregt: »Ihr Onkel würde mir eine andere Antwort gegeben haben« – was dem Generalstabschef, wie er in seiner Erzählung hinzufügt, sehr wehe tat. Schliesslich setzte Moltke durch, dass der Aufmarsch gegen Frankreich mit starken Kräften planmässig verlaufen sollte, nach Beendigung dieser Operation würde man grosse Teile des Heeres an die russische Grenze transportieren können. Er sagt in seinen Aufzeichnungen, er sei im Laufe dieser Szene in eine fast verzweifelte Stimmung geraten und das Erlebnis habe in ihm Zuversicht und Vertrauen zerstört. Wilhelm II. telegraphierte nun an den König von England: die Mobilmachung nach Osten und Westen könne er nicht rückgängig machen, aber wenn die französische Neutralität durch die britische Flotte und die britische Armee garantiert werde, so werde er Frankreich nicht angreifen lassen und eine anderweitige Verwendung der Truppen bestimmen. Hoffentlich werde Frankreich nicht nervös. Bethmann telegraphierte ähnlich an Lichnowsky, Jagow, mit bestem Dank für Grey, ebenfalls. Leider war alles nur ein telephonisches Missverständnis, Grey hatte gemeint, dass Deutschland auf jeden Krieg, auch auf den Krieg mit Russland, verzichten solle, und Lichnowsky hatte, wie er am folgenden Tage, dem 2. August, etwas kleinlaut zugab, die Sache falsch aufgefasst. Grey konnte, falls es zum russisch-deutschen Kriege käme, die Neutralität Frankreichs gar nicht garantieren, da die französische Regierung, ebenso wie die deutsche, entschlossen war, ihre Allianzverpflichtungen zu erfüllen. So erlosch auch dieses letzte Licht.

 

Am Abend dieses 1. August nähren sich noch Illusionen an seinem Schein. Um neun Uhr bin ich bei Wilhelm von Stumm, der im Smoking aus dem Klub kommt, und dem ich sage: »Nun ist der Krieg da, ich habe seit langem gefürchtet, dass es so enden wird.« Er antwortet: »Es ist noch nicht sicher«, seine Stimme ist etwas heiser, er steht hinter dem Schreibtisch und stützt sich mit beiden Fäusten auf. »Noch nicht sicher? Aber es wird doch schon mobilgemacht?« – »Trotzdem.« – »Sie meinen, dass noch eine Möglichkeit besteht –?« – Ein »Ja«, mit einer 364 Stimme hervorgestossen, die fest sein soll. »Ja, es ist möglich, wir kommen vielleicht noch heraus.« – »Ohne Krieg?« – »Ja, auch ohne Krieg.« Obgleich mich im ersten Augenblick seine Klubeleganz wie etwas gestört hat, was nicht in die Situation passt, finde ich sein Ringen nach einem Rettungstau sympathisch, und ich würde gern gläubig von ihm gehen. Aber kann man das, wenn unten schon das »Mobilmachung« durch die Strassen dröhnt?

Nebenan, vor dem Reichskanzlerpalais, marschiert, als ich das Amt verlasse, gerade ein Zug von Manifestanten mit Fahnen auf. Sie marschieren stramm wie ein Kriegerverein, singen »Heil Dir im Siegerkranz«, machen dann im Vorhof unter den Fenstern halt, und ein Anführer spricht. Bethmann – in der Dunkelheit, gegen die ein dünner Lichtschein aus den Laternen nichts vermag, sehe ich die Gestalt nur undeutlich – steht an einem Fenster im ersten Stock und dankt für die Huldigung. »Wir sind, wenn der Krieg unvermeidlich sein sollte« – auch er sieht noch den Hoffnungsschimmer –, »alle bereit, unser Blut für den Ruhm und die Ehre Deutschlands zu verspritzen«, und: »Für den Kaiser lassen wir Gut und Blut.« Er zweifelt in diesem Augenblick nicht an sich, fühlt sich ganz als Führer der Nation. In Sturm und Not. Die Patrioten, die ihn, als er noch das Steuer einigermassen festhielt, einen Schwächling genannt haben, feiern ihn jetzt als echten deutschen Mann. Weil er das Steuer aus den Händen verloren hat.

Auch der Kaiser spricht, vom Mittelbalkon, wieder zu der Menge vor dem Schloss. »Ich kenne keine Parteien mehr.« Alle dürften nun nur noch deutsche Brüder sein. Wenn eine oder die andere Partei ihn im Frieden angegriffen habe, wolle er ihr das von Herzen verzeihen. Hochrufe, »Die Wacht am Rhein« und »Heil Dir im Siegerkranz«. Der Kronprinz und die Kronprinzessin nehmen gleichfalls, am Fenster ihres Palais, die Ovationen des Publikums entgegen, die Kronprinzessin trägt, ungefähr wie Maria Theresia in der Versammlung der begeisterten Magyaren, eines ihrer Kinder auf dem Arm. Die »Linden« sind von Menschenmassen überströmt. Auf dem Potsdamer Platz ein dichtes Gewühl, vor Jostys Konditorei halten Herren anfeuernde Reden, zwischen Ansprachen und Liedern ertönen Hochrufe auf die Monarchen, auf das deutsche, das österreichische und, noch immer, auf das italienische Heer. Es ist immer unendlich töricht, zu sagen: so, wie ihr es in diesem Augenblick seht, ist ein Volk. Auch die Gesten auf dem Gemälde täuschen, auch diese in engem Rahmen aus Millionen herausgehobenen Individuen sind nicht so, nicht nur so, wie sie sich zeigen, oder sie sind so und doch nicht so. Hier, in der Oeffentlichkeit, tausende zusammen, reissen sie einander mit fort, übertönen sie die innere Unruhe durch Vereinigung in einem brausenden Lärm, reckt jeder sich empor, verschwindet die einzelne Physiognomie hinter dem Massengesicht. Voltaire hat im »Siècle de Louis XIV.« geschrieben: »Wer viele Zeugen bei seinem Tod hat, stirbt immer tapfer«, und ehe es ans Sterben geht, 365 erleichtert die Anwesenheit vieler Zeugen die Begeisterung für den Krieg. Wenn Asmodée, der hinkende Teufel des Le Sage, heute die Dächer abheben könnte – man würde auch viele bleiche Gesichter und Tränen sehen. Die Angst in den Zügen der Mütter, Gattinnen und Bräute, die Sorge in den Herzen der Männer, die ihre Liebsten verlassen sollen, und die letzten eiligen Ueberlegungen zwischen Ehegatten, die letzten Liebkosungen, die Frage, was aus den Kindern wird, den Blick, der das Unfassbare noch nicht begreift.

Indessen, dies eine ist auch jetzt allen gemeinsam: ebenso wie in den Offiziersfamilien, denen die Sehnsucht, aus oftmals schwer erträglicher Beengtheit herauszukommen, und der Traum von Heldentaten und Auszeichnungen sich erfüllen sollen, und in den Kreisen der Beamten und der sogenannten »guten Gesellschaft«, ist man in jedem Kramladen und in jeder Werkstatt von der Unwiderstehlichkeit der deutschen Waffen und dem raschen Siege überzeugt. Nicht nur die Militaristen, sondern auch die Antimilitaristen sagen, es könne gar nicht anders sein. Der Volksglaube kommt von der Vorstellung, dass die »erste Armee der Welt« unüberwindlich sein muss, nicht los. Das Waffenhandwerk werde nur in Deutschland richtig gelernt. Gewiss, man hat Grund genug gehabt, zu kritisieren und sich zu entrüsten, und die Ausschreitungen der Offiziere von Zabern waren ein böses Aergernis. Aber siegen können nur sie. Die andern? – sie haben nichts von diesem militärischen Geist und diesem Organisationstalent. Ja, der Krieg, den die Russen uns aufgezwungen haben, ist etwas Furchtbares, jedes Einzelschicksal kann vernichtet werden, aber an dem deutschen Siegesglück kann kein Zweifel bestehen. Aus Moltkes Umgebung wird, wie mir etwas später die Vertrauten Bethmanns erzählt haben, versichert, dass der Krieg höchstens vierzig Tage dauern wird. Im Auswärtigen Amt sagt man von den Franzosen: »Sie werden nicht einmal einen Aufmarsch fertigbringen.« Am 31. Juli hat der bayerische Gesandte Graf Lerchenfeld nach München telephoniert: »Preussischer Generalstab sieht Krieg mit Frankreich mit grosser Zuversicht entgegen, rechnet damit, Frankreich in vier Wochen niederwerfen zu können. Im französischen Heer kein guter Geist, wenig Steilfeuergeschütze und schlechteres Gewehr.«

Sonntag, der 2. August, und strahlendes Wetter – an einem solchen Augustsonntag sind sonst die Berliner, Eltern und Kinder, Freund und Freundin, im Grunewald, in den Potsdamer Forsten, an der Havel, in Treptow, auf dem Müggelsee. Heute zieht man nicht hinaus. Die kleinen Handkoffer und Bündel werden zurechtgemacht, dann werden die Väter, Söhne, die Geliebten, zur Kaserne begleitet und alle verwandeln sich dort in »Feldgraue« – so heissen sie jetzt. Plötzlich, in dieser grauen Uniform, die ihnen nicht passt, und unter diesem merkwürdigen Stahlhelm sehen sie verändert aus, die Individualität verschwindet, es ist ein langer grauer Zug, fröhliche Farben haben nur die zum Abschied gespendeten Blumen, das Liebeszeichen, das jeder 366 vor der Brust, am Gewehr, am Helm befestigt hat. So marschieren sie zu den Bahnhöfen, umringt, noch die Hand der danebenschreitenden Mutter, Gattin, Braut pressend, unterwegs hundertmal gefragt, ob der Tornister nicht zu schwer sei, ob sie ihn werden schleppen können. Automobile mit Offizieren und andern Feldgrauen jagen vorbei. Es ist um diese marschierenden Männer und Knaben, die tapfer lächeln wollen, eine stille innige Andacht, ein heisses Flehen. Die Hände falten sich von selbst.

Um die Vorkehrungen zu besprechen, die sich aus der Mobilmachung für die Zeitungen ergeben, muss ich in das Kriegsministerium, wo der Hauptmann Deutelmoser, ein vorzüglicher Offizier, geistig freier als viele seiner Kameraden, sich mit der Regelung dieser Fragen befasst. Er spricht, wie andere, mit bedauernder Sympathie von den Franzosen, den »armen Kerls«, die ihrer Bündnistreue wegen der Vernichtung preisgegeben werden – aber tragen nur sie den Strick einer Allianz um den Hals? Als wir alles erledigt haben, sagt er, dem Kriegsminister würde es wahrscheinlich nicht unlieb sein, mich zu sehen. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, er meldet mich durch das Telephon an und eine Ordonnanz führt mich zum oberen Stockwerk hinauf. Herr von Falkenhayn steht in einer weissen, die Taille fest umschliessenden Leinwand-Litewka, schlank, schmuck, jugendlich, neben einem Tisch, auf dem eine grosse Generalstabskarte ausgebreitet ist. Bild des Feldherrn, zwanglos vor dem Besucher aufgebaut, der zufällig ins Zimmer tritt. Der schönste und eleganteste Kriegsminister des Kaisers empfängt mich mit lächelnder Liebenswürdigkeit, und als ich sage, dass ich gefürchtet habe, ihn zu stören, und dass er an diesem Tage soviel Wichtigeres zu tun haben müsse, antwortet er: »Sie stören mich nicht im mindesten, meine Sache ist fertig, ich habe gar nichts zu tun.« Vielleicht gut preussisch, aber auch nicht ganz ohne Anklang an französische Generalsworte, die in der Chronik des Jahres 1870 aufgezeichnet sind. Herr von Falkenhayn äussert ein paar freundliche Banalitäten und reicht zum Abschied die Hand. Ich trete, um einen historischen Eindruck bereichert, den Rückzug an.

Die Nachrichten, die an diesem Sonntag schnell hintereinander eintreffen und durch Extrablätter bekanntgemacht werden, sind schon richtige Kriegsnachrichten, man ist plötzlich schon mitten im Krieg. Russische Truppen haben die Grenze überschritten, Johannesburg ist angegriffen worden, und in Eydtkuhnen sind russische Patrouillen eingeritten, es gibt bereits Tote und Verwundete, der deutsche Kreuzer »Augsburg« hat Libau bombardiert. Da die militärische Zensur waltet, überall der Telegraph gesperrt ist, werden nur Depeschen des offiziösen Nachrichtenbüros gebracht. Die französische Regierung hat gestern nachmittag die Mobilmachung angeordnet, französische Flugzeuge fliegen überall herum, eines ist bei Wesel heruntergeschossen worden, französische Flieger haben bei Nürnberg Bomben abgeworfen – das 367 alles und ähnliches berichtet der offiziöse Telegraph. Auch die ersten Spione hat man entdeckt. In Kochem sind ein Gastwirt und sein Sohn erschossen worden, weil sie versucht haben, einen Tunnel zu sprengen. Italien? . . . nichts als die kurze, immerhin vielsagende Mitteilung: »Ueber eine Mobilmachung unseres italienischen Bundesgenossen liegen bisher keine Nachrichten vor.« Rumänien? . . . man spricht nicht davon.

 

Am folgenden Tage, dem 3. August, wird bekanntgegeben, französische Truppen hätten ohne Kriegserklärung deutsche Grenzposten angegriffen, bombenwerfende Flieger seien nach Baden, Bayern und der Rheinprovinz gekommen. »Frankreich hat«, heisst es in der amtlichen Meldung, »damit den Angriff gegen uns eröffnet und den Kriegszustand hergestellt. Des Reiches Sicherheit zwingt uns zur Gegenwehr.« In der Kriegserklärung, die Herr von Schoen in Paris dem Ministerpräsidenten Viviani überreicht, wird von angeblicher Grenzverletzung durch französische Truppen – die französische Regierung erhebt den gleichen Vorwurf gegen deutsche Vorposten – nicht gesprochen, als Kriegsgrund werden nur feindselige Handlungen französischer Militärflieger angeführt. Einer dieser Flieger habe versucht, Bahnbauten bei Wesel zu zerstören, andere seien über der Eifelgegend gesehen worden, ein anderer habe »Bomben auf die Eisenbahn bei Karlsruhe und Nürnberg geworfen«, und »infolge dieser Angriffe« erachtet das Deutsche Reich den Kriegszustand für konstatiert. Es ist seither festgestellt worden, dass kein französischer Flieger über Nürnberg und Karlsruhe gesehen worden ist, also auch keiner Bomben abgeworfen hat. Einer jener Irrtümer, deren es in diesen aufgeregten Tagen so ungemein viele gab. Der Ursprung der am Sonntag, dem 2. August, nachmittags zwei Uhr fünfundvierzig Minuten, amtlich verbreiteten »militärischen Meldung« ist, wie nachträglich versichert wurde, bei untergeordneten Zivilorganen zu suchen, die aus Mangel an Kaltblütigkeit und Unterscheidungsvermögen den Himmel voll Gefahren sahen. Aber die hohen militärischen Instanzen bemühten sich auch nicht erst, die Meldung durch telephonische Rückfrage sorgfältig nachzuprüfen, die erfundene Bombengeschichte wurde allen Botschaftern im Ausland zur Verwertung telegraphisch mitgeteilt und eiligst wurde aus ihr, was hinterher höchst peinlich war, der Hauptpunkt, die eigentliche Begründung der deutschen Kriegserklärung gemacht. Der bayerische Gesandte in Berlin, Graf Lerchenfeld, telegraphierte nach München, man habe bisher Frankreich die Rolle des Angreifers überlassen wollen. »Die von einem französischen Flieger geworfene Bombe hat die Lage verändert«, von nun ab würden nur noch militärische Rücksichten entscheidend sein. Der Generalstab wurde durch falschen Alarm irregeführt. Aber man glaubte zu bereitwillig an diese Himmelsboten, diese »Flieger über Nürnberg«.

Warum erklären immer wir den Krieg? Warum sind wir es, die mit Russland und Frankreich die diplomatischen Beziehungen abbrechen, und 368 warum überlassen wir es nicht den Gegnern, warum nicht den Russen nach ihrer Mobilmachung, den entscheidenden Schritt zu tun? Herr von Jagow hat in einem Aufsatz geäussert, wer in der Tatsache, dass Deutschland die ersten Kriegserklärungen erlassen habe, ein Schuldargument suche, verschiebe die Beweisführung auf ein rein formales Gebiet. Trotz allem, diese Formalität hat ein gewisses Gewicht. Nicht auf der Waage einer schlackenfreien, von allen verwirrenden Trieben losgelösten Gerechtigkeit. Man könnte ein Wort aus der Revolutionsgeschichte des Franzosen Mignet zitieren: »Der wahre Urheber des Krieges ist nicht der, der ihn erklärt, sondern der, der ihn notwendig macht.« Aber die Meinung der Welt bildet sich nicht nach den Grundsätzen einer idealen Gerechtigkeit. Und da wir nun in einen gigantischen Krieg hineingehen, ist es doch nicht gleich, was die Welt von uns meint. Wir brauchen jetzt Sympathien. Die am Frieden hängenden Zuschauer pflegen nicht mit dem zu sympathisieren, der, weil er die Brücken abbricht, als Herausforderer gilt.

Gerade der Reichskanzler und das Auswärtige Amt, die Zivilisten, haben jetzt die formelle Kriegserklärung verlangt. Tirpitz hielt sie für einen tollen Fehler, der Kriegsminister von Falkenhayn hat sich dagegen ausgesprochen, auch Moltke hat sich nicht dafür erwärmt. Von Albert Ballin hat Bülow die Schilderung einer Szene erhalten, die sich in seiner Gegenwart am Tage der Kriegserklärung an Russland im Reichskanzlerpalais abgespielt hat. Ballin hat mir den Vorgang ähnlich erzählt. Als er in den Salon eintrat, der an der Rückfront des Palais zu ebener Erde liegt und durch dessen Glastür man in den Garten gelangt, ging Bethmann mit hastigen Schritten auf und ab. An einem Tisch, auf dem juristische Bücher angehäuft waren, sass der Geheimrat Kriege, der fleissige Leiter der Rechtsabteilung, ein vortrefflicher Fachmann, und beugte das mit einem kräftigen Schnurrbart geschmückte Gesicht über einen gelehrten Kommentar. »Ist die Kriegserklärung an Russland noch nicht fertig? Ich muss sie haben« rief Bethmann nervös. Kriege, dessen lange und breitschultrige Gestalt sich unter der Last der Aufgabe zu krümmen schien, suchte weiter nach der am besten passenden Ausdrucksform. »Warum eigentlich«, fragte Ballin den Reichskanzler, »drängen Sie auf die Kriegserklärung an Russland gar so sehr?« Bethmann antwortete: »Sonst bekomme ich die Sozialdemokraten nicht mit.« Sicherlich war er von solchen Gedanken bewegt. Muss man erst nachweisen, dass er sich dabei von einem seltsamen Denkfehler leiten liess? Wenn man Russland nicht den Krieg erklärt hätte, war es ja nach den ersten Feindseligkeiten an der Ostgrenze noch leichter, dem Volke klarzumachen, Russland habe ohne jede Notwendigkeit Deutschland überfallen. Und dann wären die Sozialdemokraten noch bereitwilliger mitgegangen. Natürlich haben aber auch die Moral und der Ordnungssinn mitgewirkt. Erst durch eine formelle Erklärung wurde die Sache gewissermassen standesamtlich legitimiert.

369 Die überflüssige Eile, mit der sich die deutsche Regierung danach drängt, den Krieg anzusagen und allen andern die schlechte Rolle des Angreifers abzunehmen, macht einen peinlichen Eindruck auf jeden, der von den »Imponderabilien« etwas hält. Nun kommt dazu die Verletzung der belgischen Neutralität. Davon weiss man in Berlin am Morgen des 4. August noch nichts. Man munkelt, man steckt einander die letzten Informationen zu: »durch Belgien«, und es gibt nun bereits eine Menge Privatstrategen, die auf der Karte den ganzen Weg der Armeen zeigen können, aber eine Bestätigung ist bisher nicht erfolgt. Die Zensur bewacht alles, verstopft die meisten Nachrichtenquellen, hält zu frühzeitige Aufregungen fern. Keine Meldung, die Belgien beträfe, gelangt durch dieses eng gezogene Netz. Indessen, am 4. August finden die Leser in den Morgenblättern doch telegraphische Auszüge aus einer Rede, die Sir Edward Grey am Tage vorher im Unterhause gehalten hat. Grey hat gesagt, die Frage der Neutralität Belgiens werde mit jeder Minute wichtiger, und wenn die belgische Neutralität verletzt werde, so sei die Situation klar. Eine Stunde, bevor Grey diese Rede hielt, war Lichnowsky bei ihm gewesen und hatte ihm, einen erhaltenen Auftrag widerwillig ausführend, erklärt, Deutschland sei, »um Ueberraschungen« von französischer Seite vorzubeugen, zu »Gegenmassregeln« in Belgien gezwungen. Grey hatte erwidert, England würde den Bruch der belgischen Neutralität nicht ruhig hinnehmen können. In der Tat, die belgische Frage wird, wie Grey sagte, mit jeder Minute wichtiger und der Uhrzeiger ist schon dicht vor der entscheidenden Minute angelangt. Diejenigen, denen noch ein Rest von geistigem Gleichgewicht verblieben ist, haben längst schon den grossen Schatten gesehen, der von dieser Stelle der Landkarte her näher und näher kam.

Am 4. August, um drei Uhr nachmittags, versammelt sich zu feierlicher Sitzung der Reichstag, von dessen Existenz in all diesen Wochen nichts zu bemerken gewesen ist. Alle Minister sind auf ihrem Platz, die Würdenträger des Reiches in grosser Zahl erschienen, viele Abgeordnete rechts als Gardekürassiere, Husaren oder in einer andern Offiziersuniform. Der Reichskanzler spricht, er schildert die Ereignisse, die mit der Freveltat von Serajewo begonnen und schliesslich zu dem Ultimatum an Russland geführt haben, und als er die Haltung Frankreichs darstellt, vergisst er auch die von französischen Fliegern über Süddeutschland abgeworfenen Bomben nicht. Dann sagt er, Not kenne kein Gebot, darum hätten die deutschen Truppen Luxemburg besetzt und ständen vielleicht auch schon auf belgischem Gebiet. Das widerspreche den Geboten des Völkerrechtes, aber Frankreich sei zum Einfall bereit gewesen, und das Unrecht, das wir tun, würden wir wieder gutzumachen suchen, sobald das militärische Ziel erreicht sein wird. Wer, wie wir, um das Höchste kämpfe, dürfe nur daran denken, wie er sich durchhauen kann. Diese Worte werden im Hause und auf den Tribünen mit einer langen Beifallssalve und Händeklatschen aufgenommen. Während der ganzen Sitzung weht 370 ein Wind der Begeisterung durch den Saal. Kein noch so skeptischer Geist könnte leugnen, dass die Einmütigkeit, mit der in dieser Stunde die Entschlossenheit zu Kampf und Sieg sich bekundet, einen gewaltigen Eindruck macht. Nach einer Pause verliest der Sozialdemokrat Hugo Haase eine Erklärung: auch seine Partei habe beschlossen, für die Kredite zu stimmen. Sie habe bis in die letzten Stunden hinein, namentlich im innigen Einvernehmen mit den französischen Brüdern, für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Jetzt ständen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges, uns drohten die Schrecken feindlicher Invasion. »Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Siege des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten seines Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben – wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich.« Hugo Haase ist Vorsitzender der Fraktion, aber auch Führer der radikalen Richtung in der Sozialdemokratischen Partei, die Wirkung ist tief, bewegend, mitreissend, als man ihn so sprechen hört. In diesem Augenblick wissen nur seine Parteifreunde, wie schwer dem Mann auf der Rednertribüne diese Vorleserrolle fällt. Am 3. August, zwei Tage nach der deutschen Kriegserklärung, hat er in der Fraktionssitzung mit dreizehn Genossen die Ablehnung der Kriegskredite gefordert und ist unterlegen, weil achtundsiebzig gegen die nutzlose Manifestation gewesen sind. Er hat sich dann lange geweigert, im Reichstag die Erklärung vorzutragen, aber man hat ihn durch den Appell an sein Pflichtgefühl und durch ein Mehrheitsvotum zur Uebernahme der ihm widerwärtigen Aufgabe gezwungen. Die Kriegskredite werden einstimmig votiert. Es ist wirklich eine ausserordentliche Szene, als so, zum Zeichen ihrer einmütigen Entschlossenheit, unter dem von den Tribünen herabrauschenden Beifallsorkan die ganze Versammlung sich von den Plätzen erhebt.

Auch gegen den Einmarsch in Belgien, gegen den Bruch der Neutralität, hat in der Sitzung niemand etwas eingewendet, kein Wort, kein Zeichen des Bedauerns hat sich in den spontanen Beifall gemischt. Ich will nicht annehmen, dass alle, die geschwiegen haben, einverstanden gewesen sind. Die Welt ist aus den Fugen, die klarsten Köpfe können in diesem Augenblick verwirrt sein, Kühle verlieren ihre Kaltblütigkeit und mancher, der sonst fest steht, verliert dem ersten Ansturm gegenüber den Halt. Es ist, als ob man von der Strömung fortgezogen wird, oder Treibsand unter den Füssen hat. Sicherlich finden sich viele, sobald sie sich von der ansteckenden Berührung losgelöst haben, zu selbständigem Denken zurück. Der Suggestion entronnen, erkennen sie, dass zu der Katastrophe des Krieges die Tragödie des Rechtsgedankens tritt. Herr von Bethmann-Hollweg hat das Unrecht zugegeben, hat erklärt, dass Deutschland das Völkerrecht verletze, und Entschuldigung in dem Satze gesucht, Not 371 kenne kein Gebot. Es wird, nachdem der bärtige Präsident Kämpf die Sitzung geschlossen hat, viel über dieses Geständnis diskutiert, und während die einen sagen, es seien mutige, offene Worte eines ehrlichen Mannes gewesen, haben die andern nur eine schädliche Unklugheit darin gesehen. Ich vermag mich weder den einen noch den andern anzuschliessen und habe den Eindruck, dass auch diesmal der ethische Aufwand zu billig war. Das zwinkernde Licht der verhinderten Moral.

 

Gegen halb acht Uhr abends treffe ich auf der Strasse, in der Nähe unserer Wohnungen, Wilhelm von Stumm, der mir sogleich sagt: »Nun sind wir so weit, England hat uns eben den Krieg erklärt.« Nach einem unbeträchtlichen Gedankenaustausch über dieses Ereignis frage ich ihn, ob ich die Nachricht durch ein Extrablatt verbreiten lassen könne, was er mit dem Hinzufügen bejaht, bekannt werden müsse sie ja doch, und ob etwas früher oder später, sei egal. Der englische Botschafter Sir Edward Goschen hat gleich nach der Rede Bethmanns Herrn von Jagow im Reichstag aufgesucht und noch einmal gefragt, ob die deutsche Regierung von einer Verletzung der belgischen Neutralität Abstand nehmen wolle, und Jagow hat das verneint. Um sieben Uhr ist Goschen im Auswärtigen Amt erschienen, hat eine kurze Note übergeben und seine Pässe verlangt. Er hat auch noch um eine Unterredung mit Bethmann gebeten, die beiden Herren haben einander gegenübergesessen, und es war, wie man später aus dem Bericht Goschens im englischen Blaubuch ersehen hat, ein auf der einen Seite mit kühlen Worten, auf der andern mit beinahe unbeherrschter Erbitterung geführtes Gespräch. »Das ist ja«, hat Bethmann ausgerufen, »wie wenn man einen Mann von hinten anfällt, der gegen zwei Angreifer um sein Leben kämpft!« Goschen sagte, England gehe in den Kampf um Leben und Tod für seine Ehre, die für Belgiens Neutralität feierlich verpfändet worden sei. Bethmann, ausser sich, entgegnete: »Um welchen Preis! – Nur wegen eines Wortes: Neutralität, die in Kriegszeiten so oft verletzt wurde, und wegen eines Fetzens Papier wird England gegen eine Nation kämpfen, die nichts als Freundschaft gefordert hat! Meine ganze Politik bricht zusammen.« In seinen »Betrachtungen zum Weltkrieg« hat Herr von Bethmann-Hollweg, der dem Botschafter vorwirft, dass er dieses »Privatgespräch« amtlich ausgebeutet habe, sich über die Phrase vom »Fetzen Papier« geäussert, die allerdings von der feindlichen Propaganda gründlich ausgebeutet worden ist. »Mag das Wort eine Entgleisung gewesen sein – mein Blut kochte ob der wiederholten hypokritischen Betonung der belgischen Neutralität, die es eben nicht war, was England zum Kriege trieb.« Beim Abschied hat Goschen dann, wie Bethmann erzählt, geweint, und um sich in dieser Verfassung nicht dem Kanzleipersonal zu zeigen, noch einige Zeit im Vorzimmer verweilt. So wird man nicht umhin können, auch ihn in die Zahl der fühlenden diplomatischen Herzen einzureihen.

372 Das Extrablatt kommt gegen halb neun Uhr auf die Strasse, der Eindruck ist sehr stark, aber keineswegs niederschmetternd, da die meisten sich nicht vorstellen können, was die Teilnahme Englands am Kriege bedeutet, und infolge der nationalen Erziehung in Irrtümern befangen sind. Man hat sie gelehrt, dass die Engländer militärisch nicht ernst zu nehmende Fussballspieler seien, und verderblich wie alle Schlagworte sitzt ihnen im Gedächtnis das Wort Bismarcks, ein englisches Expeditionskorps, das etwa landen wolle, werde einfach arretiert. Und wenigstens ist man nun, wo die englische Entscheidung da ist, aus dem Hangen und Bangen, aus der Ungewissheit heraus. Aber wenn eigentlich – man ist auch nachgerade an Donner schon gewöhnt – die Bestürzung mässig bleibt, so sprüht doch zum ersten Male seit dem Kriegsausbruch ein leidenschaftliches Gefühl, der Hass, empor. Abgesehen von jenen, denen gewissermassen eine Giftblase angewachsen ist, verspürt gegen das französische und russische Volk niemand einen Hass. Jetzt, mit den Engländern, steht es anders – dieses Krämervolk hat die Intrige gesponnen, die Kriegskoalition gegen Deutschland zusammengeführt, nach planvoller Vorbereitung die Meute losgelassen, namenloses Unglück über Europa gebracht. Ganz wie Wilhelm II. wünscht die Volksmehrheit, in England den Anstifter des Krieges, den Urheber alles Bösen zu sehen. Wenn England »gekniffen« hätte, wären viele schnell bereit gewesen, es zu verachten – nun, da es mitbluten will, muss es die Strafe Gottes empfangen.

Vor dem Hause der englischen Botschaft in der Wilhelmstrasse stehen in den Abendstunden ein paar tausend Menschen, die »Pfui« rufen, pfeifen und »Deutschland, Deutschland über alles« singen. Es sind wieder nur zwei Polizisten da, und das ist eine Schutzgarde, die bei solcher Gelegenheit nicht genügt. Plötzlich wird in der Menge behauptet, dass vom Dach der Botschaft Kies heruntergeschleudert worden sei. Auch sollen an einem Fenster des Palais mehrere Personen sich mit ironischen Gesten über die Manifestanten lustig gemacht und ihnen sogar englische Pennystücke zugeworfen haben, und tatsächlich findet man auf dem Pflaster diese Beweise höhnischer Mildtätigkeit. Geübte Kletterer schwingen sich an der Hausfassade empor. Man zertrümmert mit Stöcken und Steinwürfen alle Fensterscheiben, die erreichbar sind. Der spanische Botschafter, der Herrn Goschen einen Abschiedsbesuch gemacht hat, wird, als er das Palais verlässt, für einen Engländer gehalten und entgeht nur mit Mühe der Volksjustiz. Der erste Sekretär der englischen Botschaft, der in einem Auto abgefahren ist, erhält von jungen Burschen einen kräftigen Hieb. Endlich langt Polizeiverstärkung an und einigermassen wird für Ordnung gesorgt. Herr von Jagow, im Auswärtigen Amt benachrichtigt, begibt sich zu Sir Edward Goschen und spricht ihm sein Bedauern aus. Goschen erklärt, niemand in der Botschaft habe Kies oder Geldstücke geworfen oder die Menge gereizt. Als Jagow das Palais verlassen hat, begegnet er seinem Vetter Traugott, 373 dem Polizeipräsidenten, der ihn in den Flur eines Nebenhauses führt, wo die Polizei gerade ein paar Zeugen vernimmt. Da diese Personen einstimmig aussagen und auch einen aufgelesenen Penny vorzeigen, geht Jagow abermals zu Goschen und teilt ihm das Resultat der Vernehmung mit. Der Botschafter ruft das ganze Personal zusammen – in der Dienerschaft gibt es mit Ausnahme eines englischen Kammerdieners nur Deutsche – und veranstaltet in Gegenwart Jagows nun gleichfalls ein Verhör. Von der Szene im Hausflur und diesem zweiten Besuch in der englischen Botschaft gibt ein Bericht Kunde, der im Preussischen Ministerium des Innern bei den Polizeiakten liegt. Jagow bekennt sich darin zu der Ansicht, dass Kies und Geldstücke wahrscheinlich nicht aus der Botschaft, sondern vom Dach des benachbarten Hotels Adlon auf die Menge geworfen worden sind. Nach der Erzählung Goschens soll Jagow die Schuld an den Ausschreitungen mit einem hässlichen Wort dem »Berliner Tageblatt« zugeschoben haben – das Extrablatt habe die Leute wild gemacht. Darüber befragt, hat Jagow versichert, er habe ein solches Wort nicht gesagt.

Die Kriegserklärung Englands und der Einmarsch in Belgien werden von den meisten Zeitungen begrüsst. Niemand ist begeisterter als Maximilian Harden, dessen Prosa seit dem Ausbruch des Krieges immer wagnerischer wogt und der sich, auf dem Kampfpapier seiner »Zukunft«, in das Getümmel der Schlachten stürzt. »Der Kanzler im Kürass wollte sein Deutsches Reich von den Schutzgeistern Richelieus und Ludwigs XIV. befreien. Unser Heer ficht gegen den feisten Schatten Eduards und dessen kribbelnde Brut.« Unrecht an Belgien? – gibt es nicht. »Unsere Macht soll in Europa neues Recht schaffen – wir stehen nicht, stellen uns nicht vor Europas Gericht.« Bald wird er, am 17. Oktober, die Einverleibung Belgiens und anderer für »die Majestät edelster Deutschheit« unentbehrlicher »neuer Provinzen« verlangen. »Von Calais wird, nach Antwerpen, Flandern, Limburg, Brabant bis hinter die Maasfestungslinie: preussisch – dann wisse Deutschland, wofür es geblutet hat.« Gleichgültig, wieviel Jahre dieser Krieg dauern wird. »Wir fechten diese Sache durch, bis der Jugend, die fromm lächelnd heute, mit Blumen auf Wams und Mütze, vom nächsten Schlachtfeld auf das fernste eilt, das Haar ergreist.«

Der französische Botschafter Jules Cambon fährt an diesem Abend ab. Er hat Herrn von Jagow, der ihn am Tage vorher besuchte und über die »Fliegerbomben bei Nürnberg« Beschwerde führte, gebeten, über Holland oder Belgien reisen zu dürfen, und man hatte ihm, statt dieser Fahrtrichtung, zunächst die Route über die Schweiz erlaubt. Dann durfte es nicht die Linie über die Schweiz sein, er sollte nach Wien geleitet werden, und schliesslich zog man für seine Heimbeförderung den Weg über Kopenhagen vor. Er behauptet, man habe unterwegs Wachposten vor die Tür seines Abteils gestellt und ihm das Fahrgeld abverlangt. Im Austausch treffen die aus den nun feindlichen Staaten heimgeschickten 374 deutschen Botschafter ein. Aus Petersburg kommt Graf Pourtalès, von dem die Freunde im Amt behaupten, dass er der beste von allen Botschaftern gewesen sei. In der Bellevuestrasse begegne ich Herrn von Schoen, er ruft mich mit dem jugendlichen Frohsinn, der ihn auch jetzt nicht verlassen hat, beim Vornamen und sagt dann, die Franzosen hätten, der ewigen Hetzerei wegen, ihr voraussichtlich böses Schicksal verdient. In seinem Buch »Erlebtes« hat er später auch mit seiner Meinung über die deutsche Staatskunst nicht zurückgehalten und mutig manche Wahrheit vorgebracht. Die französische Regierung hat ihn und das Botschaftspersonal in einem Sonderzug nach Deutschland fahren lassen – in einem »sehr schönen Sonderzug mit zwei Salonwagen«, berichtet der mitreisende bayerische Gesandte Ritter – und er hat Scherereien erst in der Heimat mit den deutschen Bahnhofskommandanten gehabt. In Berlin musste er sogar seine Oberstenuniform anziehen, weil er nur durch dieses Zeichen einer höheren als der diplomatischen Eigenschaft dem militärischen Oberkommandierenden des Bahnhofes imponieren konnte, der übrigens trotzdem darauf bestand, die französischen Schaffner und Lokomotivführer, die den Zug begleitet hatten, einzusperren.

Der tragische Heimkehrer ist Fürst Lichnowsky, er leidet, obgleich ganz schuldlos, besonders schwer. Er sieht in dem allgemeinen Zusammenbruch zugleich den eigenen, die Vernichtung seiner Londoner Bemühungen, den Sturz aus dem Himmel, an dem als Stern das Oxforder Doktordiplom stand. Der fürstliche Grandseigneur vermag diesen Schicksalswechsel nicht ohne Nervenkollaps zu überstehen. Am 31. Juli und noch später hat Lichnowsky, der bis dahin gegenüber Berlin immer die richtige Ansicht vertreten hatte, dass England bestimmt Frankreich nicht im Stiche lassen werde, irrige Hoffnungen gehegt. Als dann die belgische Angelegenheit dazu kam, hat er im Schlusskampf nur noch wie ein Verzweifelter und mit verstörten Sinnen gekämpft. Am Abend des 4. August hat man im Foreign Office, getäuscht durch die falsche Mitteilung, dass eine Kriegserklärung Deutschlands an England vorliege, die Note, mit der dem Fürsten Lichnowsky die Pässe zugestellt werden sollten, umstilisiert und sie mit dem einleitenden Satz: »Da das Deutsche Reich Grossbritannien den Krieg erklärt hat« zur deutschen Botschaft geschickt. Als man den Irrtum feststellte, wurde das jüngste Mitglied des Foreign Office, Harold Nicolson, beauftragt, das fehlerhafte Dokument zurückzuholen und dem Fürsten das fehlerfreie zu überbringen. Harold Nicolson hat geschildert, wie er um elf Uhr abends, die richtige Kriegserklärung in der Hand haltend, zum Botschaftsgebäude kam. Nachdem er lange geklingelt hatte, öffnete endlich ein Diener und sagte, Fürst Lichnowsky sei bereits zu Bett gegangen. Der Kammerdiener, herbeigerufen, bestätigte, der Fürst wolle unter keinen Umständen mehr gestört werden, und liess sich erst dazu herbei, den Botschafter zu benachrichtigen, als ihm der Beamte des Foreign Office erklärte, dass er 375 der Ueberbringer einer äusserst wichtigen Nachricht sei. Nach fünf Minuten geleitete er Harold Nicolson zum oberen Stockwerk hinauf. »Der Kammerdiener klopfte an eine Tür. Hinter der Tür befand sich ein Wandschirm und hinter dem Wandschirm ein Messingbett, auf dem der Botschafter im Pyjama lag.« Harold Nicolson sagte, das vorhin abgegebene Dokument habe einen kleinen Irrtum enthalten, er habe die richtige Fassung mitgebracht. Fürst Lichnowsky wies auf den Schreibtisch, auf dem sich, nur halb geöffnet, der Umschlag mit der unkorrekten Kriegserklärung befand. Offenbar hatte der Fürst das Dokument gar nicht gelesen, nur die Pässe gefühlt, die Bedeutung der Zustellung erraten und das Schriftstück auf den Tisch geworfen, wie einer, der nichts mehr sehen und hören will. Er musste indessen die Empfangsbestätigung unterschreiben, Harold Nicolson brachte ihm Tintenfass und Federhalter ans Bett, und während der Botschafter unterschrieb, kam draussen auf der Strasse die Menge mit Lärm und der Marseillaise vom Buckingham-Palast zurück. Fürst Lichnowsky, erzählt Harold Nicolson, knipste die rosa Lampe neben seinem Bett aus, dann, im Gefühl, dies sei vielleicht unhöflich, drehte er sie wieder an. »Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater«, sagte er, »ich werde ihn vor meiner Abreise wahrscheinlich nicht mehr sehen . . .«

 

Als er London verlassen hat, ist er, wie man mir erzählte, vom Kummer so gebeugt gewesen, dass auf dem Bahnhof die Herren der Botschaft ihn haben stützen müssen, und die Fahrt hat er in dem Abteil, in dem er sich mit der Fürstin eingeschlossen hatte, ohne Teilnahme an den äusseren Geschehnissen zurückgelegt. An der deutschen Grenze, in Bentheim, sind diese Geschehnisse lebhaft gewesen, und, wenigstens für Bentheim, beinahe sensationell. Dort hat eine Gruppe erregter Patrioten den Zug erwartet und ein zur Würde des Bahnhofsobersten beförderter Herr, in prachtvoller, wenn auch noch ungewohnter Uniform, hat fortwährend gerufen: »Wo ist der deutsche Militärattaché?« und dabei stark gestikuliert. Als der Militärattaché, der Oberstleutnant Renner, dann in Zivilkleidung ausstieg und fragte, was es gebe, hat der Bahnhofsgewaltige nicht glauben wollen, dass ein einfacher Zivilist, ohne das Ehrenkleid des Offiziers, ohne Säbel und Orden, eine so wichtige militärische Persönlichkeit sein könne, und wenn nicht die anderen Mitglieder der Botschaft dazwischengetreten wären, hätte man Herrn Renner vielleicht noch als Spion arretiert. Schliesslich hat der Bahnhofskommandant, noch immer mit einiger Verachtung wegen der fehlenden Uniform, erklärt, eine Frau sei soeben aus Antwerpen gekommen und habe berichtet, dass dort alle Deutschen von den Belgiern ermordet worden seien. Man hat den Militärattaché zu der Frau geführt und sie hat nun auch ihm erzählt, wie sie selbst das Gemetzel mit angesehen habe, und hat die Namen der Getöteten genannt und schaurige Einzelheiten mitgeteilt. Renner, zufällig bekannt mit einer der Familien, deren 376 Angehörige angeblich hingeschlachtet wurden, ist erfreulicherweise imstande gewesen, sofort telephonische Erkundigungen einzuziehen. Und es hat sich herausgestellt, dass keinem Deutschen in Antwerpen ein Haar gekrümmt worden ist.

Der Vorfall in Bentheim ist nur ein Einzelfall in einer überall auftretenden Epidemie. Wie die Frau, die in ihrer Einbildung das Schlachtfest in Antwerpen miterlebt hat, haben – und genau das gleiche begibt sich in allen Kriegsländern – Hunderttausende feindliche Schurkereien gesehen, die nie und nirgends geschehen sind. Es ist derselbe Geisteszustand, in dem früher die Leute schworen, sie seien dabei gewesen, als die Hexe auf dem Besen durch das Fenster flog. Die Doktoren des Konsistoriums mögen feststellen, wo die Verwandtschaft mit dem Wunderglauben beginnt. Und die Erfindungen der Hysterie werden sogar an amtlichen Stellen ernst genommen. Aus Metz wird berichtet, dass ein französischer Arzt standrechtlich erschossen worden sei, weil er mit Hilfe zweier verkleideter Offiziere versucht habe, die Brunnen mit Cholerabazillen zu vergiften, und Jagow schickt diese Nachricht zu schneller Verbreitung telegraphisch an die Botschafter in London und Rom. Ein französischer Mehlhändler in Lothringen soll Mehl vergiftet haben, und auf Anweisung Jagows wird dieses Verbrechen sofort in die Auslandspresse lanciert. In Wahrheit ist kein Arzt erschossen, kein Brunnen mit Cholerabazillen vergiftet worden, und auch der verbrecherische Mehlhändler hat gar nicht existiert. Ueberall werden Spione und Verräter entdeckt. Ein Dorf, das noch keinen Verdächtigen ergriffen hat, fühlt sich entehrt. Diese Leidenschaft pflanzt sich über alle Gegenden fort. Wie der Samen der Wucherblume durch den Wind weitergetragen wird. Am 5. August will man bei der Eisenbahndirektion in Köln erfahren haben, »das Bankhaus Mendelssohn in Paris« – so steht es in den unveröffentlichten Polizeiakten – »versuche, hundert Millionen Francs, in Gold, über Deutschland nach Russland zu schaffen«, und der benachrichtigte Polizeipräsident in Essen hat bereits die Vorbeifahrt »einer grösseren Anzahl Automobile, die möglicherweise diesem Zwecke dienen«, festgestellt. Der Minister des Innern lässt durch die Zeitungen das Publikum alarmieren, und nun wird die Jagd auf die »Goldautos« zu einer Lieblingsbeschäftigung eifriger Spiesser, die nicht in den Krieg zu ziehen brauchen, und zu einer Gefahr für jeden, der über eine Landstrasse fährt. Der Krieg, kaum begonnen, lässt viele herrliche Eigenschaften, Pflichtgefühl, Opfermut, Kameradschaftlichkeit, zur Entfaltung kommen. Aber auch alle verborgenen moralischen Krankheiten brechen hervor.

Sonderbar, am 5. August hat Oesterreich noch immer nicht Russland den Krieg erklärt, sich auch der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich nicht angeschlossen, Deutschland ist seit dem 2. August im Kriege mit Russland, seit dem 3. August im Kriege mit Frankreich, die österreichisch-ungarischen Botschafter sitzen ruhig in Petersburg und Paris. 377 Am 4. August ersucht Tirpitz das Auswärtige Amt, die österreichisch-ungarische Regierung zur sofortigen Kriegserklärung an Russland, Frankreich und England zu veranlassen, und Jagow sendet dringende Depeschen nach Wien. In Wien erklärt man, militärtechnische Schwierigkeiten hätten die Verzögerung nötig gemacht. Die Flotte sei nicht fertig, und es wäre besser, man schöbe den Abbruch der Beziehungen hinaus. In Berlin willigt man, nach Beratung der Generalstäbe, ungern ein. Indessen, mit Russland wenigstens wird Klarheit geschaffen, und Graf Szapary reist von Petersburg ab. Dem Grafen in Paris, Széczen, wird befohlen, auf seinem Posten zu bleiben, obgleich die französische Presse höhnisch und misstrauisch sein zu langes Verweilen rügt. Die französische Regierung gibt ihm am 10. August, mit der Begründung, dass österreichisch-ungarische Truppen am Kriege gegen Frankreich teilnähmen, seine Pässe und sendet ihn in einem Sonderzug in sein Land zurück. Im ersten Bande seines Werkes »Au Service de la France« hat Poincaré behauptet: »Im August 1914, nach dem Angriff Deutschlands gegen uns, bildete Oesterreich-Ungarn sich ein paar Tage lang ein, uns gegenüber neutral bleiben zu können. Anscheinend hat es sich in der Hoffnung gewiegt, es würde zu einem Abbruch der Beziehungen zwischen der Republik und der Habsburger Monarchie nicht kommen. Schliesslich war Frankreich genötigt, zu konstatieren, der Krieg, der zwischen seinem russischen Verbündeten und zwei Staaten des Dreibundes bestand, bestehe infolge der Rückwirkung auch zwischen Oesterreich-Ungarn und uns.« Für diese von Poincaré geäusserte Meinung, Wien habe Deutschland im Kampf mit den Franzosen, und wohl auch mit den Engländern, im Stiche lassen wollen, findet man in den österreichischen diplomatischen Akten allerdings keine Bestätigung.

Allmählich gewöhnt man sich an die Neuheit des Gedankens: es ist Krieg. Wenigstens für diejenigen, die sich vom Kriegsdienst befreit wissen, auch nicht Abschied von den liebsten Menschen nehmen, wird der Eindruck des Abnormen ziemlich schnell durch die Gewohnheit ersetzt. Man studiert die Grenzgeographie und sucht zu erraten, wo der erste überraschende Schlag geschehen wird. Die Zurückgebliebenen fangen an, Feldpostkarten zu schreiben, Liebespakete zu packen, und auf den Karten und in den Briefen steht neben dem Gestammel liebevoller Angst die tröstliche Hoffnung: Weihnachten feiern wir zusammen. Denn davon, dass der Krieg kurz sein wird, sind alle überzeugt. Je mehr Mächte sich gegen Deutschland vereinigen und in den tollen Strudel hineingezogen werden, desto früher muss der Krieg zu Ende sein. Luftschlösser, Fata Morgana, aber kann man es dem Volk übelnehmen, wenn es an seine Rechnung glaubt? Seit einem Monat sehen die Rechenmethoden der Regierenden nicht anders aus.

Ueber den Potsdamer Platz reitet zum Bahnhof ein Ulanenregiment. Feldgraue Infanterie marschiert auf der andern Seite dem gleichen Ziele zu. Ulanen und Infanteristen sind mit Blumensträussen geschmückt. 378 Immer marschieren, laufen, humpeln, trippeln die Väter, die Gattinnen, die Bräute, die Mütter, die Kinder nebenher. So viele Blumen, die sterben sollen. Die Ulanen singen: »In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiederseh'n.« Auf dem Bürgersteig stehen in dichten Reihen die Zuschauer, winken zum Abschied, sind begeistert, entzückt über die vorzügliche Haltung der Krieger, oder nachdenklich und gerührt. Einige empfehlen den vorüberwallenden Soldaten, möglichst bald in Paris einzuziehen. Neben mir unterhalten sich zwei ältere Herren, von denen der eine, ein ehemaliger Diplomat mit liebenswürdigen Manieren, mir schon öfters begegnet ist. Der Ehemalige sagt zu seinem Begleiter: »Es schadet gar nichts, dass das Volk einmal ein bisschen rangenommen wird.« Eine Frau, die wohl vom Bahnhof zurückkommt, richtet auf den Sprecher einen Blick, in dem etwas zu funkeln scheint. Aber sie hat nichts gehört, der Glanz in ihren Augen kommt von einer Feuchtigkeit, sie hat nur geweint. 379

 


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