Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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VII

Die Botschafter Frankreichs und Englands, Maurice Paléologue und George Buchanan, hatten in Petersburg ein erheblich angenehmeres Leben als der Graf Pourtalès. Bei der Verteilung der ermunternden Geschenke verfuhren sie mit Umsicht und mit einer liebenswürdigen Gewandtheit, die den deutschen Wohltätern nicht in ähnlichem Masse angeboren war. Von der Petersburger Gesellschaft wurden sie mit Einladungen und andern Freundlichkeiten überhäuft. Nur der Verkehr mit dem Zarenhofe vollzog sich nicht immer zu ihrer Zufriedenheit. Sie waren erstaunt, und beschwerten sich darüber, dass die Türen des Familienidylls auch ihnen nicht offen standen und auch für sie bei feierlichen Gelegenheiten das lästige Hofzeremoniell galt. Aber die Grossfürsten, die Grossfürstinnen und das aristokratische und politische Petersburg waren entzückend in ihrer Gastfreundschaft. Paléologue studierte mit dem gleichen artistischen Genuss russisches Theater und russische Volkssitten, mit dem er das Minenlegen und Intrigenspinnen betrieb. Buchanan war, von Grey ausersehen, 1911 als Nachfolger des ungern ins Foreign Office übergesiedelten Nicolson aus dem Haag nach Petersburg gekommen. Vom ersten Augenblick an war er, wie man aus seinen eigenen Aufzeichnungen ersehen kann, vor allem bestrebt, den günstigen Eindruck zu zerstören, den der Zar und Sasonow von dem Besuche in Potsdam mitgebracht hatten, und obgleich er mit Bedauern zugeben musste, dass die Idee des von Nikolaus und seinem Minister gewünschten, von Nicolson eifrig erstrebten russisch-englischen Bündnisses »im gegenwärtigen Augenblick von unserem Standpunkt aus unausführbar wäre«, arbeitete er doch frühzeitig und nach besten Kräften auf die Teilnahme Englands an dem erwarteten Kriege hin. »Sollte unglücklicherweise jemals Krieg ausbrechen, so würde es für uns fast unmöglich sein, nicht daran teilzunehmen«, schrieb er 1913 an Grey. Es mag sein, dass er, wenn dieses Thema im Gespräch mit russischen Persönlichkeiten berührt wurde, vorsichtig auswich, aber seines Herzens Wunsch war doch so heiss, dass er zu den Gluten gehörte, die man, wie es in dem Verse Heines heisst, durch die Weste brennen sieht. Er erklärt auch in seinem Buche ohne Versteckspiel, es sei seine persönliche Ansicht gewesen, dass England einem Kriege nicht fernbleiben und seiner eigenen Sicherheit wegen Deutschland nicht gestatten dürfe, Frankreich zu vernichten, und diese Ansicht hat er auch stets in seinen offiziellen Berichten ausgedrückt. Zu seinen staatsmännischen Erwägungen, die als Erwägungen eines Engländers begreiflich waren, kam noch eine besondere Antipathie. Die Antipathie gegen das kaiserliche Berlin. Er war von 1901 bis 1903 Sekretär bei der Botschaft in Berlin gewesen und hatte aus der damaligen Hauptstadt des Kaiserreiches mit 186 ihrer steifen Hofgesellschaft keine angenehmen Erinnerungen mitgenommen. Er hatte sich, wie er erzählt, nirgends so gelangweilt wie dort.

 

Was Buchanan an Grey schrieb, konnte ihm keine Zurückweisung zuziehen, denn es stimmte mit den Ansichten, die Grey selber hegte und nur nicht so scharf zu formulieren wagte, ungefähr überein. Es war als offizielle Meinung Englands wiederholt kundgegeben worden und die britische Regierung hatte es den deutschen Botschaftern nicht nur einmal, sondern ziemlich häufig zur Weitergabe nach Berlin anvertraut. Während der ersten Marokko-Krise hatte die Regierung des Königs Eduard kein Hehl aus ihrem festen Willen gemacht, in einem Kriege Deutschlands gegen Frankreich den Ententefreund vor Vernichtung zu bewahren, sich neben ihn zu stellen. Während der Agadir-Affäre hatte Lloyd George das gleiche erklärt. In und nach den Verhandlungen, zu denen Haldane nach Berlin gekommen war, wies das britische Kabinett jede Formel zurück, die es hindern sollte, im Kriegsfalle Frankreich beizustehen. Immer wieder wurde in den diplomatischen Unterhandlungen der Grundsatz, dass England Frankreich stützen müsse, absichtlich und deutlich hervorgekehrt. Wenn dennoch Zweifel übrig blieben, so ergaben sie sich zunächst aus dem Gedanken, dass Wille noch nicht gleichbedeutend mit Tat sei, und aus der überlieferten Auffassung, das »perfide Albion« habe noch jeden im Stiche gelassen, und sei ein überaus unzuverlässiger Kamerad. Stärkere Hemmungen als aus einer angeblichen Nationalgewohnheit konnten sich aus der Uneinigkeit im Kabinett Asquith ergeben, und tatsächlich hatte dieser Zwiespalt, wie man nachträglich erfahren hat, schon früher seine Wirkung ausgeübt. Der Generalstabschef Sir Henry Wilson hatte während der Agadir-Krise in einer gemeinsamen Beratung mit den Ministern seine kriegerischen Pläne mit der ihm eigenen Vehemenz vertreten und über den Eindruck seines Vorstosses teilt er in seinem Tagebuch folgendes mit: »Haldane bat mich heute um seinen Besuch. Er erzählte mir, es herrsche ein ernster Zwist im Kabinett. Asquith, Haldane, Lloyd George, Grey, Winston Churchill stimmten meinen Ausführungen zu. Morley, Crewe, Harcourt, McKenna und einige unbedeutendere Leute, die sich ärgerten, weil sie an der August-Konferenz nicht teilgenommen hatten, seien gegen mich.« Diese Gruppierung, die schon im August 1911 sich zeigte, bestand fort. Sie machte es Grey unmöglich, denjenigen, die ein unlösbar verpflichtendes und bindendes Versprechen von England zu hören wünschten, noch mehr, als er es schon getan hatte, entgegenzukommen. Diese Unbefriedigten, die es in Frankreich, in Russland und auch in England selbst gab, behaupteten, ein offener Anschluss Englands an die französisch-russische Allianz, oder eine Aktion, die der Uebernahme von Bündnisverpflichtungen für den Kriegsfall gleichkäme, würde Deutschland ein für allemal nachdenklich machen und es verhindern, böse Pläne zu spinnen. Mit dem gleichen Recht konnte 187 die Gegenpartei sagen, wenn England den Franzosen nicht fortwährend zu verstehen geben wollte, dass sie auf seine Hilfe rechnen dürften, würde der französische Nationalismus Herausforderungen unterlassen und dadurch würde der Friede erheblich an Festigkeit gewinnen. Grey, mit ziemlich gespaltener Seele und in einem gespaltenen Kabinett, tat weder das eine noch das andere, liess starke Hoffnungen, aber auch einen letzten Zweifel fortdauern und machte so, ohne es zu wollen, allen Mut. Dieses Gehenlassen verhinderte die französischen Nationalisten nicht, zu denken: »sie werden kommen«, und erlaubte deutschen Optimisten, zu sagen: »sie werden zu Hause bleiben«, und beides war ungesund.

Sir Henry Wilson, Generalstabschef und später Feldmarschall, bekennt in seinen Niederschriften ebenso offenherzig, ein Kriegstreiber gewesen zu sein, wie in den seinigen Conrad von Hötzendorff. Wie die Ehrlichkeit Conrads, wirkt die Aufrichtigkeit Wilsons angenehm zwischen all dem grossen Reinigen der Zivilwesten, der Diplomatenfräcke und der Uniform. Allerdings setzte Sir Henry Wilson, wenn er die Beteiligung Englands am Kriege forderte, natürlich voraus, dass Deutschland den Stein ins Rollen bringen werde, aber der Unterschied ist gering. Wilson war ein so forscher Soldat, ein so ungeduldiger Haudegen, dass ihm die Wartezeit gewiss viel zu lang erschien. Auf allen Photographien, die ihn zusammen mit dem König oder mit dem General Foch oder mit andern Personen zeigen, überragt er seine Umgebung um ein reichliches Stück, und sein ungefähr eiförmiges Haupt, mit einem kurzen Schnurrbart, ungleichen, etwas weit voneinander entfernten Augen, einer kräftigen Nase und spärlich auf der Schädelhöhe beginnendem Haarwuchs, beugt sich mit einer freundlichen Huld zu den Begleitern hinab. Ersichtlich war er das, was man in England einen »very good fellow« nennt, und die Kadetten waren begeistert, wenn er bei einem Besuch in ihrer Anstalt seine Ansprache mit gesalzenen Scherzen über ihren Kommandanten einleitete und dann fortfuhr: »Je mehr ihr meinen Worten zuhört, um so mehr werde ich mich geehrt fühlen, aber ich habe auch nichts dagegen einzuwenden, dass ihr während meiner Rede einschlaft, vorausgesetzt, dass ihr nicht von euren Stühlen auf den Boden fallt.« Seit 1909 pflegte er die französischen Kameraden in Paris zu besuchen, wo man dann einig darüber war, dass die Deutschen in Belgien eindringen würden, und für alle Fälle gemeinsam über den besten Kriegsplan beriet. Als Wilson einmal Foch fragte, wie gross eine englische Hilfsarmee sein müsste, erwiderte der französische Freund: »Ein einziger englischer Soldat würde genügen, und wir werden dafür sorgen, dass er bald getötet wird.« Foch schätzte, wie der Herausgeber der Wilsonschen Tagebuchnotizen erläutert, die moralische Wirkung, die von der Anwesenheit eines englischen Soldaten ausgehen würde, als ein grosses Plus. Und da er sich sagen durfte, dass England einen toten Soldaten durch viele Lebende ersetzen würde, konnte er bescheiden sein. 188 Es scheint, dass General Wilson sehr Tüchtiges für die Verbesserung der englischen Armee geleistet hat. Im Jahre 1912 wurden die Vorbereitungen für den Transport eines Expeditionskorps nach Frankreich getroffen, zu Anfang des Jahres 1914 war der Verschiffungsplan mit allem, was dazu gehörte, so ziemlich fertiggestellt. Mit dem belgischen Generalstab hatten die Generalstäbler Sir Henry Wilsons die Verabredungen getroffen, die man aus den Brüsseler Dokumenten kennt. Alles für den Fall, dass Deutschland angreifen und die belgische Neutralität verletzen, und die englische Regierung beschliessen sollte, den Bedrohten zu Hilfe zu kommen. Und natürlich immer auch in der Hoffnung, der schöne neue militärische Apparat werde nicht ungenützt zu rosten brauchen, soviel Anstrengung werde nicht überflüssig gewesen sein.

 

Häufig fuhr Sir Henry Wilson nach Frankreich, radelte durch die Kriegsgebiete seiner Träume und setzte dort, hoch zu Rad, seine Studien fort. Einer seiner englischen Verehrer berichtet: »Zum Beweise dafür, dass er sein Wissen nicht aus Büchern habe, bemerkte er einmal, er habe in den Jahren vor dem Kriege nicht weniger als siebzehn Reisen auf dem Fahrrad an der deutsch-französischen und der belgischen Grenze unternommen.« Nur der Enthusiasmus befähigt zu solchen Rekorden und macht so stark. Als Sir Henry Wilson einmal wieder, wie schon öfters zuvor, bei Mars-la-Tour vor der Statue der »France« haltgemacht hatte, schrieb er in sein Tagebuch: »Sie war so schön, wie noch nie, und ich legte zu ihren Füssen ein Stück der Karte nieder, auf der die Aufstellung der britischen Truppen auf französischem Boden verzeichnet war.« Aus der Zeit des Krieges, vom 4. Dezember 1915, stammt die folgende Tagebuchaufzeichnung des Feldmarschalls: »Ich speiste mit dem König und Stamfordham. Stamfordham sagte mir unter anderem, dass ich mehr als alle andern für den Eintritt Englands in den Krieg verantwortlich sei. Ich glaube, das stimmt.« Auch aus dem August 1916 haben wir, von Sir Henry Wilson keck hingeworfen, eine Tagebuchnotiz. »Castelnau war ausserordentlich liebenswürdig zu mir. Beim Essen sagte er vor allen Anwesenden, England wäre ohne mich niemals in den Krieg gegangen und es sei eine historische Tatsache, dass Frankreich durch mich gerettet worden ist. Ein stolzer Augenblick!«

Wie Sir Henry Wilson davon träumte, das Landheer gegen die deutsche Armee zu führen, so hoffte Sir John Fisher, Erster Seelord und dann Grossadmiral, eines Tages mit der britischen Flotte die deutschen Schlachtschiffe zusammenschiessen zu können. Er war auch ein ganz besonderes Temperament. Im Jahre 1911, während der Agadir-Krise, hatte Churchill, der soeben an Grey geschrieben hatte: »Schlagen Sie Frankreich und Russland einen Dreibund vor zum Schutze der Unabhängigkeit von Belgien, Holland und Dänemark« und: »Sagen Sie Belgien, dass wir bereit sind, ihm zu helfen, wenn seine Neutralität 189 verletzt werden sollte«, die Leitung der Admiralität übernommen. Sofort rief er Sir John Fisher zu sich, der im Jahre vorher unzufrieden die Uniform ausgezogen hatte, und die zwei »Feuergeister« arbeiteten, für das gleiche Ziel, rastlos miteinander, bis sie schliesslich während des Krieges, aus Anlass des missglückten Angriffs auf die Dardanellen, sich veruneinigten und Fisher abermals Kommandostab und Admiralsrock wütend in die Ecke warf. Churchill hat ihn sehr anschaulich geschildert: eigenwillig, argwöhnisch, streitsüchtig und sogar brutal im Dienst, immer die Worte wiederholend, man müsse gegen die faulen und widerspenstigen Offiziere »unbarmherzig, hart und mitleidlos« sein. Er litt an »starken Abneigungen« und war ein Ideensprudel, wenn er in Begeisterung geriet. Seine Briefe an Churchill – mehr als dreihundert eng mit der Schreibmaschine geschriebene Seiten – waren unterhaltsam, enthielten witzige Wendungen und beissenden Spott. »Seine kraftvolle Feder«, versichert Churchill poetisch, »raste im Kielwasser seiner überragenden Gedanken dahin . . .« Einer seiner Gedanken war, man müsse die deutsche Flotte mitten im Frieden in ihren Häfen überfallen. Offenbar war er in der starkzähnigen Gattung der Seebären ein Prachtexemplar.

Im Foreign Office hatte Grey zwei Mitarbeiter, die beide einen starken Einfluss ausübten, und deren Meinungen erheblich auseinandergingen. Der permanente Unterstaatssekretär Nicolson war unter den amtlichen Personen das denkende Haupt einer scharf antideutschen Richtung, er war der beste Helfer Paul Cambons, der zuverlässigste Freund Frankreichs und Russlands, während Greys »Private Secretary« Tyrrell auch eine Verständigung mit Deutschland für wünschenswert hielt. Beide, Nicolson und Tyrrell, stammten aus Schottland, aber diese Heimat war das einzige, was ihnen gemeinsam war. Keinerlei Stammesverwandtschaft trat in ihrer Physiognomie hervor. Das Auffällige an Nicolsons Erscheinung war, dass der Kopf, ein kahler, nur tief hinten noch mit Haar bewachsener, etwas spitzschädeliger Kopf mit kleinem Schnurrbart, fast ohne Halssäule zwischen den Schultern sass. Die Augen waren klug und forschend, die kleine Gestalt durch Arterienverkalkung und Rheumatismus geschwächt und gekrümmt. Er hatte sich während seines Aufenthaltes in Deutschland ein wenig für den deutschen Sozialismus und andere Probleme interessiert und auch gern wissenschaftlichen Diskussionen zugehört. Nur das Bier, das dabei so reichlich getrunken wurde, hatte er nicht vertragen können. Erst etwas später, um 1890, in Paris, war er durch verschiedene Umstände, beispielsweise durch die deutsche Politik in der ägyptischen Frage, zu der Meinung gelangt, dass Deutschland der eigentliche Widersacher Englands sei, und noch später verärgerte ihn in Tanger – und das hinterliess bleibende Eindrücke – das ungehobelte Wesen des Grafen Tattenbach. Offenbar vermochte er sich sein ganzes Leben lang die Deutschen nur noch mit den Zügen des Grafen Tattenbach vorzustellen. Im Grunde wusste er nicht viel 190 von dem Lande, in dem er nur eine kurze Zeit gelebt hatte – ungefähr wie Holstein machte er sich von den Fremden mit Hilfe von Axiomen sein eigenes Bild zurecht. Die Entente cordiale mit Frankreich genügte ihm nicht, er verfocht die Idee der Allianz. Grey, der den absolut klaren Entscheidungen am liebsten auswich und eine Politik löffelweise schluckte, war ihm zu unentschlossen und zu schwach.

Nicolsons jüngster Sohn, Harold Nicolson, hat in einem der besten historisch kritischen Bücher, die nach dem Kriege geschrieben worden sind, das Bild des verstorbenen Vaters gemalt. Harold Nicolson, der im Jahre 1930 Berlin verliess, wo er Sekretär bei der englischen Botschaft gewesen war, und aus dem diplomatischen Dienst ausschied, um ganz für seine literarischen Arbeiten frei zu sein, ist weder äusserlich noch in erkennbaren Zügen seines Wesens diesem Vater ähnlich, und vielleicht hat er ihn gerade dieses Kontrastes wegen zugleich mit soviel Liebe und soviel Objektivität betrachtet und erfasst. Im Garten der Menschheit gibt es keinen anziehenderen Typ als einen englischen Gentleman, dem eine Nuance vom artistischen Bohême anhaftet, und der, ohne dass die Feinheit der aristokratischen Erziehung sich verwischt hat, gegen die Steifheit der traditionellen Lebensformen revoltiert. Harold Nicolson, von dieser Art, löste höchst bewundernswert die doppelte Aufgabe, den künstlerischen Stil nicht allzusehr von der Last des Aktenmaterials beschweren zu lassen und die pietätvolle Verehrung für die Persönlichkeit des Vaters mit einem unabhängigen Urteil über politische Anschauungen zu vereinigen, deren unelastische Einseitigkeit ihm nicht verborgen blieb.

Er hat Arthur Nicolson auf einer langen und abwechslungsreichen Reise durch das diplomatische Leben gezeigt. Am aktivsten war der Vater als Botschafter in Petersburg. Hauptsächlich durch seine Mitwirkung wurde das englisch-russische Abkommen über Persien und die andern Asienprobleme zustande gebracht. Ein Abkommen, das allerdings weder in England noch in Russland gefiel und sich als undurchführbar herausstellte, weil die britische Politik auf die Konservierung der Zustände an der indischen Grenze hinzielte und die russische auf den Zerfall. Aber Arthur Nicolson hatte andere Bündnisse im Sinn. Er wollte die Triple-Entente in einen Dreibund, in eine englisch-französisch-russische Allianz umgewandelt sehen, und von Petersburg aus drängte er unablässig den langsam vortastenden, solchen entscheidenden Schritten abgeneigten Grey. »Ich fürchte, dass unsere Entente« – mit Russland – »dahinsiechen und möglicherweise sterben wird.« Nur wenn man ihr den Charakter eines Bündnisses verleihe, verhindere man die Annäherung Petersburgs an Berlin. Immer verfolgte ihn die Angst, Russland könnte eines Tages England und Frankreich im Stiche lassen und wieder mit Deutschland zusammenkommen. Als er von Grey die verneinende und abmahnende Antwort erhielt, verzweifelte er an dem Genie seiner Nation. »Es fällt schwer«, schrieb er an seine Gattin, »das 191 britische Publikum wach zu rütteln und ihm zu zeigen, was vor ihm liegt. Wir sind ein unlogisches und inkonsequentes Volk – kurzsichtig und von insularer Arroganz.« . . . »Ich werde mich über einen Regierungswechsel freuen. Ich fürchte, dass bei der jetzigen Regierung eine ausgeprägte, entschlossene Aussenpolitik recht unwahrscheinlich ist.« Man lasse sich liebenswürdig hintreiben, von Tag zu Tag. Er werde »nicht länger um ein Bündnis mit Russland betteln« – er habe das »offensichtlich Sinnlose« solchen Strebens erkannt.

Am 1. Oktober 1910 zog er als Nachfolger des Lord Hardinge in das Foreign Office ein. Mit tiefer Abneigung – »noch nie«, sagt sein Sohn, »ist ein Mensch so ungern Staatssekretär gewesen, wie er«. Die Reformen im innern Dienst, die der tüchtige Hardinge vorgenommen hatte, bewunderte er, aber der bürokratische Kleinkram war ihm verhasst. Es ist anzunehmen, dass ihm der Verkehr mit Paul Cambon eine Entschädigung bot. Hier setzte er seine Bemühungen, England, Frankreich und Russland enger gegen Deutschland zu verbinden, so gut als möglich fort. So gut als möglich, denn die Regierung und Grey wollten noch immer keine »ausgeprägte entschlossene Aussenpolitik«. Darum konnte er auch am 15. April 1912 dem französischen Botschafter noch keine befriedigende Antwort geben, als dieser im Auftrage Poincarés mit einer etwas brüsken Anfrage bei ihm erschien. Es war nach Haldanes Berliner Besuch und Poincaré, durch das Misslingen dieser Mission noch nicht ganz beruhigt, »halte es für notwendig, die Lage Frankreichs zu überprüfen und zu sehen, auf welche Hilfe von allen es rechnen könnte, wenn der Augenblick gekommen sei«. Der Augenblick des Krieges – denn davon, dass »Deutschland eine Gelegenheit benutzen werde, vielleicht noch nicht in diesem Jahr, aber im nächsten oder übernächsten, um einen Zwischenfall hervorzurufen . . . der höchstwahrscheinlich zum Kriege führen würde«, sei die französische Regierung überzeugt. Wüsste Deutschland mit Bestimmtheit, dass es auf die englische Neutralität rechnen dürfe, so würde es nicht zögern, gegen Frankreich vorzugehen. »Die unlängst von der Regierung Seiner Majestät erhaltenen Versicherungen und Mitteilungen seien nicht klar und genau genug gewesen«, um Herrn Poincaré zufriedenzustellen. Sir Arthur Nicolson antwortete dem französischen Botschafter, niemand wäre froher als er, wenn die englisch-französische Verständigung gestärkt würde, aber er glaube, die Regierung Seiner Majestät würde sich nicht die Hände binden, sondern volle Handlungsfreiheit bewahren wollen. Ein grosser Teil der Bevölkerung und auch einige Kabinettsmitglieder hätten die unklare Empfindung, dass man Deutschland nicht genügenden Platz an der Sonne gegönnt habe, und seien geneigt, in Deutschland die verfolgte Unschuld zu sehen. »Financiers, Pazifisten, Steckenpferdreiter« trieben eine Propaganda zugunsten engerer Beziehungen zu Deutschland und hätten ziemlich viel erreicht. Wollte man das Verhältnis zu Frankreich so umwandeln, dass es mehr oder weniger den Charakter eines 192 Bündnisses annähme, so würde das für eine Beleidigung und Herausforderung Deutschlands gehalten werden und »weder die gesamte Regierung noch ein Teil der öffentlichen Meinung« seien dazu bereit. Sir Arthur Nicolson war in diesem Augenblick wie der Soldat in »Strassburg auf der Schanz«: er traf den geliebten Kameraden »mitten ins Herz«.

Weil Grey den Franzosen schon viel, den Russen auch mancherlei gegeben hatte, wollte er gern auch etwas für die Deutschen tun. Es war ein nicht ganz sicheres Geschenk, was ihnen in den Kolonialverhandlungen offeriert wurde – nicht entfernt das, was man beim Berliner Besuche Haldanes als Dank für ein Flottenabkommen in Aussicht gestellt hatte –, aber da es ohne wesentliche Gegenleistung, nur zur Verbesserung der deutschen Stimmung, überreicht werden sollte, bestand auf der Seite des Empfangenden eigentlich kein Recht zu übelnehmerischer Unzufriedenheit. Grey wollte nicht, dass aus dem Misserfolg der Haldaneschen Besprechungen eine allzu starke Spannung zurückbliebe, und er wünschte nur keine neuen Unterhaltungen über die allgemeine Politik. So kam man, da ein anderer Anknüpfungsfaden nicht vorhanden war, auf den seit langem angebahnten, fast schon abgeschlossenen, dann wieder beiseitegelegten Vertrag über die portugiesischen Kolonien zurück. Schon im Jahre 1893 hatten der Botschafter Graf Hatzfeldt und Balfour ein Geheimabkommen über eine spätere Aufteilung dieses portugiesischen Besitzes unterzeichnet und man hatte deutsche und englische Interessensphären abgegrenzt. Als die Portugiesen von dieser etwas unheimlichen Absicht, ihnen im geeigneten Moment den Rock vom Leibe zu ziehen, erfuhren, erinnerten sie die britische Regierung an einen hochbetagten Bündnisvertrag, der England zum Schutz ihrer Integrität verpflichtete, und sie erreichten 1899 die Bestätigung dieses alten Versprechens durch ein neues Schriftstück, den sogenannten Windsor-Vertrag. Natürlich reimten sich die englisch-deutschen Abmachungen nicht recht mit den englisch-portugiesischen zusammen, und wenn England den Portugiesen ihren Besitzstand verbürgte, musste doch Deutschland, dem es die Teilung dieses Besitzstandes in Aussicht stellte, betrogen sein. Aber da Portugal immer bankrott, immer der Schuldner Englands war und schliesslich einmal von dem mächtigen Beschützer gezwungen werden konnte, mit seinen Kolonien zu zahlen, war die Sache nicht ganz aussichtslos.

Nicolson fand die Transaktion »schändlich« und »die zynischeste Angelegenheit, die mir während all meiner diplomatischen Erfahrungen vorgekommen ist«. Das Urteil war nicht ungerecht, wenn man sich auch sagen muss, dass in Nicolsons Augen der Zweck nicht die Mittel heiligte, weil er auch den Zweck verwarf. Kiderlen-Wächter interessierte sich wenig für diese moralische Angelegenheit, aber er verhinderte das Geschäft nicht und Wolff-Metternich gab gemeinsam mit Grey dem Text den letzten oder vielmehr den vorletzten Schliff. Jetzt schliffen 193 Lichnowsky und der Botschaftsrat von Kühlmann noch einmal nach, einige Aenderungen, die in Berlin für notwendig galten, wurden vorgenommen und im August 1913 wurde der Vertrag von Grey und Lichnowsky paraphiert. Er wurde der Welt nicht mitgeteilt, fast ein Jahr lang zurückgehalten, erst im Juli 1914, in extremis gewissermassen, genehmigte die deutsche Regierung die Veröffentlichung. Grey hatte das englisch-deutsche Abkommen zusammen mit dem Windsor-Vertrag bekanntgeben wollen, und in Berlin, wo man erst im Oktober 1913 durch den Gesandten Dr. Rosen – der jetzt Deutschland in Lissabon vertrat – etwas von der Existenz dieses Dokumentes erfuhr, wurde erklärt, das würde in Deutschland einen miserablen Eindruck machen, nicht verstanden werden, wie ein Hohn erscheinen – man traute sich anscheinend die Fähigkeit, den Landsleuten den Sinn des Geschäftes klarzumachen, nicht zu. Rosen, dem in Berlin nur der Staatssekretär im Kolonialamt Dr. Solf sekundierte, hat auch in einer Denkschrift am 30. Mai 1914 den Versuch gemacht, den Herren von Jagow und von Stumm die endgültige Unterzeichnung abzuringen. Aber Jagow und Stumm reagierten nicht. Zwischen Lichnowsky, dessen Kritik von einigen der besten deutschen Diplomaten berechtigt gefunden wird, und den damaligen leitenden Personen und den freiwilligen Hilfskräften des Auswärtigen Amtes ist dieser verzögerten Veröffentlichung wegen ein sehr hitziger Streit entbrannt. Lichnowsky hat behauptet, das Auswärtige Amt, und besonders Wilhelm von Stumm, der Dirigent der Politischen Abteilung, habe ihm den Erfolg nicht gegönnt und deshalb gegen die von England gewünschte Bekanntgabe immer neue Einwendungen gemacht. Welches die Motive des Auswärtigen Amtes oder einzelner Persönlichkeiten waren, ist eine psychologische Frage, und am ehesten behält in diesem Falle, wie in vielen andern Fällen, wohl derjenige recht, der zu der Ansicht neigt, dass Bewusstes, Halbbewusstes und Unbewusstes ineinanderfliessen und im Zwielicht das Gefühl Hilfe beim Verstande zu finden weiss. Man kann sich da, wie auch sonst, auf ein Wort in Leopold von Rankes »Wallenstein« berufen: dass »etwas Hypothetisches im Dunkel menschlicher Antriebe und Ziele immer übrig bleibt«.

Die Liberalen im Kabinett und im Parlament, die Arbeiterpartei und die Geschäftswelt der City waren auch in dieser Zeit jedem Schritt, der eine bessere Stimmung zwischen England und Deutschland herbeiführen konnte, günstig gesinnt. Ihre journalistische Streitmacht war bei weitem nicht so zahlreich und nicht so gut organisiert, wie die der unionistischen Entente-Getreuen, und konnte nicht die öffentliche Meinung so umklammern, wie schon allein der gewaltige, nach allen Seiten mit zahllosen Fangarmen greifende Northcliffe-Polyp. Northcliffe erfasste damals mit der »Times«, der »Daily Mail«, dem »Daily Mirror«, den »Evening News« und vielen andern Organen alle Klassen und Schichten des Publikums. Und das alles war in den Dienst einer 194 politischen Idee oder einer Tendenz gestellt – und die Ideen und die Tendenzen des Lord Northcliffe waren die eines kühnen Imperialismus, eines starren Herrentums, einer britischen Weltherrschaft, die neben sich keine dreist aufstrebende Konkurrenz vertrug. Thomas Buckle hatte einige Jahrzehnte früher in seiner »Geschichte der Zivilisation in England« geschrieben: »Soviel aber können wir mit Sicherheit behaupten, dass in unserem Vaterlande die Liebe zum Kriege als eine nationale Neigung völlig erloschen ist.« Was dieser Engländer als einen moralischen Gewinn verzeichnet hatte, war in den Augen des Lord Northcliffe eine nationale Verfallserscheinung, und ganz wie in Frankreich die neuen Jugendlehrer eine Renaissance der Energie vorbereiteten und in Deutschland die Odinspriester zu männlicher Entschlossenheit aufriefen, bot der grösste Meinungseroberer Englands all seine ungeheuren Mittel auf, um das britische Volk für die Stunde des Zusammenpralls, des Kampfes, zu erziehen. Indessen, obgleich er eine so unvergleichliche Macht, einen so harten Machtwillen und vielleicht mehr Feldherrntalent besass als viele besternte Feldherren, und obgleich ausserhalb seines Konzerns andere Zeitungen und einige der hervorragendsten Publizisten – nur etwas weniger stürmisch – die gleiche Richtung einhielten, war das pädagogische Resultat ziemlich schwach. Entschieden sträubte sich der Volksgeist gegen den Gedanken, englische Männer, Familienväter und Söhne, könnten verfrachtet werden, um drüben auf dem Festland sich herumzuschlagen und kameradschaftlich an der Seite der Franzosen auf so verrückte Weise ums Leben zu kommen. Die Volksmentalität hätte niemals eine Allianz mit Frankreich gebilligt und niemand hätte einen solchen Vorschlag öffentlich zu äussern gewagt. Die arbeitende, handeltreibende und ackerbauende Masse war auch ganz und gar nicht schlachtlüstern und begnügte sich damit, ihren natürlichen Tribut an die Ideale des Heroismus zu entrichten, indem sie die billige »Daily Mail« las.

Zudem beschäftigten innere Sorgen und sehr aufregende Ereignisse das englische Publikum so sehr, dass es sich noch weniger als sonst um das kümmern konnte, was auf dem Kontinent vor sich ging. Es gab Sensationen, denen auch in den Blättern des Lord Northcliffe der Vorrang und der breiteste Raum zugebilligt werden mussten, und neben denen der aussenpolitische Leitartikel wie eine fade Suppe erschien. Die Suffragetten, seit längerer Zeit schon in romantischer Tatenpropaganda geübt, setzten gerade jetzt die Störung der öffentlichen Ordnung mit bewundernswertem Mut und selbstloser Hingabe fort. Sie warfen entzündbare Chemikalien in die Briefkasten, zerschnitten Telegraphendrähte, brannten in der Grafschaft Surrey das Landhaus nieder, das der Witwe des Generals White gehörte, und schleuderten eine Bombe in die Wohnstätte Lloyd Georges. Im Juni 1914 veranstalteten sie ein Bombenattentat in der Westminster-Abtei und beschädigten dabei den historischen Stuhl, auf dem bei der Krönungsfeier der König sitzt. Mit 195 all dem Krach kamen sie nicht ans Ziel. Im Unterhause wurde das Frauenwahlrecht mit 266 gegen 219 Stimmen abgelehnt. Ihre Vorbilder und Lehrer in der Propaganda der Gewalt, die Iren, erreichten mehr.

Seit Jahrzehnten hatten die englischen Liberalen sich um die Versöhnung Irlands bemüht. Man war abwechselnd vorwärts gegangen und, sobald die irische Standhaftigkeit kleine Geschenke abwies und der Fanatismus nur noch stärker gereizt schien, wieder eine Strecke weit zurück. Die Homerule-Vorlage von 1912 gab den Iren ein eigenes Landesparlament. Im Reichsparlament, in dem die Vertreter Irlands ihre Sitze behielten, wurde über die Fragen der auswärtigen Politik und der Landesverteidigung entschieden, und wirtschaftlich stellte das Zollsystem die Bindung Irlands an England her. Gegen diese grossartige Reform lehnten sich nun die protestantischen Ulsterleute auf. Geleitet von Sir Edward Carson und in London unterstützt von den Unionisten unter Bonar Law und Austen Chamberlain, wurde die Gegenbewegung der »Freiwilligen von Ulster« zur Revolte und berührte sogar die Armee. Als der Kriegsminister Seely es nötig fand, den General Gough, Kommandeur einer Kavalleriebrigade, zu befragen, wie sich das Offizierskorps bei einem Vorgehen gegen Ulster verhalten würde, reichten der General und zahlreiche seiner Kameraden – in der Meinung, dass Massnahmen schon geplant wären – ihr Demissionsgesuch ein. Im Unterhause kam es zu heftigen Debatten über die militärische Disziplin, die Unionisten verteidigten die aufsässigen Offiziere, Liberale und Arbeiterpartei antworteten, dass die Armee bedingungslos der Zivilgewalt zu gehorchen habe, und Asquith nannte die unionistische Lehre die »Grammatik der Anarchie«. Seely musste zurücktreten, mit ihm gingen der Feldmarschall Sir John French, der Höchstkommandierende, und der Generalleutnant Sir John Ewart, Asquith übernahm das Kriegsministerium und die Sorge für die notwendige militärische Subordination. Als am 25. April die Freiwilligen von Ulster grosse Vorräte an Gewehren und Munition erhalten hatten, wurde die Garnison von Dublin mobilisiert. Im Unterhause beantragte Austen Chamberlain ein Misstrauensvotum und eine Untersuchung über das Vorgehen der Regierung, worauf Winston Churchill das als die kühnste und unverschämteste Forderung bezeichnete, die er jemals erlebt habe, und hinzufügte, wenn Ulster nicht provoziere, werde es ganz gewiss zum Bürgerkrieg nicht kommen. Den Bürgerkrieg verhütete die Festigkeit der Regierung, und am 25. Mai wurde, so sehr auch Bonar Law sich über die »verächtliche Posse« ereiferte und mit dem Appell an das englische Volk drohte, die Homerule-Bill auch in der dritten Lesung mit 351 gegen 274 Stimmen angenommen. Weil man eine Verständigung mit den Ulsterleuten suchen wollte, bat man in der zweiten Julihälfte die Führer der streitenden Parteien zu einer Konferenz in den Buckingham-Palast. Der König führte den Vorsitz, Asquith und Lloyd George vertraten die 196 Regierung, für die irischen Nationalisten kamen Redmond und Dillon, für Ulster Carson und Craig, aber der Versuch hatte nur den einen Erfolg, dass die Arbeiterpartei und viele Liberale darin eine unzulässige Einmischung der Krone und eine Umgehung des Parlamentes sahen. Am 24. Juli scheiterte die Konferenz. Am Abend vorher hatte in Belgrad der Gesandte Freiherr von Giesl der serbischen Regierung das österreichisch-ungarische Ultimatum zugestellt.

Diese Vorgänge waren für das englische Volk natürlich wichtiger und interessanter als alles, was auf dem Kontinent oder etwa gar auf dem Balkan geschah. Ganz ebenso, wie jetzt für die Franzosen das ganze Welttheater hinter der Tragödie der Frau Caillaux verschwand. Und wie konnte das englische Publikum meinen, dass sein Land in einem Augenblick in fremde Händel verstrickt werden dürfe, wo innerer Zwist Stämme, Religionen, Parteien auseinanderriss? Wo die Zeit der Bürgerkriege, deren Feuerschein so lange über der Geschichte des Reiches gelegen hatte, wiederzukommen schien? Und was waren die Länder da drüben, war Englands Seele mit der ihrigen verbunden, waren sie gleichberechtigte Verwandte, war nicht alles, ihre Sprache, ihre Sitten, der Rhythmus ihres Lebens, dem englischen Wesen fremd? Das waren Ziele für Sommerreisen mit allerlei Sehenswürdigkeiten, es waren angenehme Winterstationen, in denen man mit schwerem Geld die Sonne bezahlte, und es waren Hotels, Restaurants, historische Schlösser und Museen. Es waren, wenn das not tat, auch Schachfiguren im grossen Spiel der englischen Politik. Und die Staatsmänner mussten darauf achten, dass die »Balance of Power«, das für die Sicherheit Englands und die Ruhe Europas notwendige Gleichgewicht, nicht verloren ging. »England!« – in Wahrheit gab es doch nur das, zählte doch nur das! England mit seinen grünen Fluren, seinen roten Felsenriffen, seinen bewaldeten Flussufern, einziges Juwel, »Bollwerk der Natur«, Inselthron der Welt, vom brandenden Meer umrahmt. In der Inbrunst, mit der man den geliebten Namen hütete, trafen der Stolz und die Beschränktheit aller Völker zusammen, die jemals geglaubt haben, die Herrenrasse zu sein. Herrscherblick in die Weite und Beharren in einer für überragend gehaltenen Engigkeit. Die politische Splendid Isolation hatte aufgehört. Die Splendid Isolation des englischen Geistes wurde von vielen als eine Nationaltugend, ein Vorzug, ein Zeichen der Kraft und Ueberlegenheit angesehen.

Sir Edward Grey beschirmte die »Balance of Power«, wie seine Vorgänger sie beschirmt hatten, und das war nicht nur sein Recht, das war seine Britenpflicht. Wie seine Vorgänger, erklärte er bei jeder Gelegenheit, England wünsche mit Deutschland in Frieden zu leben, würde aber eine Niederwerfung Frankreichs, die dem Gleichgewicht ein Ende machen und die Macht und Sicherheit des Inselreiches dem Willen des deutschen Siegers ausliefern müsste, nicht tatenlos hinnehmen können. Das war, um es noch einmal zu sagen, ein vollkommen zulässiges, vom 197 Standpunkt des Engländers aus richtiges Prinzip. Nur hielt er, obgleich mit diesem Prinzip doch eine Kriegsgefahr für England verbunden war, den Chauvinismus in den befreundeten Ländern nicht von hochfliegenden Hoffnungen zurück. Der Freund der Blumen, zwischen Nicolson und Tyrrell seufzend, besass nicht die zu solchem Anziehen der Zügel notwendige starke Hand. Und vor allem zügelte er die unethischen Geister nicht, weil er, wie Herr von Bethmann-Hollweg, ein Ethiker war. Freilich ein Ethiker, der lieber vom ethischen Inhalt etwas preisgab, als von der Wirkung nach aussen hin. Englands moralische Erscheinung sollte unter seiner Führung unantastbar dastehen – um ihm den guten moralischen Ruf zu wahren, schloss er mit der Moral ein zweideutiges Kompromiss. Der Conte de Las Cases hat im »Mémorial de Sainte-Hélène« die Worte Napoleons aufgezeichnet: »Die englischen Minister sprachen fortwährend von meinen Enttäuschungen, aber war etwas ihrem Machiavellismus, ihrem Egoismus während der ganzen Zeit der von ihnen selbst genährten Umwälzungen und Zuckungen an die Seite zu stellen? . . . Wenn ganz Europa sich unter dem Einfluss ihrer Intrigen und ihrer Hilfsgelder gegenseitig erwürgt, beschäftigen sie sich nur mit ihrer eigenen Sicherheit, dem Gewinn ihres Handels, der Herrschaft über die Meere, dem Monopol über die Welt.« Sir Edward Grey wollte nicht als ein solcher Minister dastehen, das tausendfach gemalte Bild von der englischen Treulosigkeit, Selbstsucht und Falschheit war ein verleumderisches Zerrbild, beleidigende Zweifel und Misstrauen mussten bei denen, die sich England anschlossen, verschwinden, das gehörte, falls es je so gewesen war, vergangenen, sittlich getrübten Zeiten an. Weil Sir Edward Grey die üble Nachrede und die hässliche Verdächtigung fürchtete, unterliess er es, denen, die für das grosse Autodafé den Holzstoss aufrichteten, in den Arm zu fallen. Nein, England sollte nicht weiter als das Land gelten, das jeden Freund betrog. Wie Wilhelm II. durch den Beinamen »Le Timide«, den man ihm angehängt hatte, gebrannt war, so zuckte Sir Edward Grey zusammen bei der Erinnerung an das Schimpfwort »perfides Albion« . . .

Seit dem 17. Januar 1913 war Poincaré Präsident der Republik. Er erhielt aus dem Auslande die Glückwunschtelegramme der andern Staatshäupter und auch in der deutschen Presse manchen höflichen Begrüssungsartikel, aber diesmal ist es doch eine leichte Uebertreibung, wenn er unter Berufung auf die Zeugnisse einer selbstverständlichen Courtoisie versichert, »ganz Europa habe in dem Votum der Nationalversammlung ein glückliches Friedenspfand erblickt«. Wir besitzen zur Beurteilung der Auffassung, die in geheimen Diplomatenberichten geäussert wurde, ja auch die Telegramme Iswolskis und die belgischen Dokumente, und in den einen und den andern steht nichts vom »Friedenspfand«. Dass Iswolski in froher Laune war, weil er das Ereignis als das Gegenteil einer Friedensbürgschaft ansah, ist bekannt. 198 Baron Guillaume, der belgische Gesandte in Paris, berichtete, Poincaré sei täglich Gegenstand von Sympathiekundgebungen, in allen Gassenhauern werde sein Lob gesungen. In erster Linie müsse man darin »eine Kundgebung jenes alten französischen Chauvinismus sehen, der lange Jahre hindurch ganz zurückgetreten war, aber seit den Zwischenfällen von Agadir wieder an Kraft gewonnen hat«. Poincaré sei Lothringer und erinnere bei jeder Gelegenheit daran. »Er war der Mitarbeiter und der Anstifter der militaristischen Politik des Herrn Millerand.« Und etwas später: In den bewegten Zeiten, in denen sich Europa befinde, ergebe sich aus dem Bestreben Poincarés, die Fahne des Vaterlandes hochzuhalten, eine Gefahr. »Sind doch unter seinem Ministerium die militaristischen – und etwas chauvinistischen – Instinkte des französischen Volkes erwacht.« In diesem Umschwung habe man seine Hand erblickt . . . Die Sprache der diplomatischen Geheimberichte klang also anders als die Sprache der offiziellen Gratulationen, die der neue Präsident empfing.

Der behäbige Fallières, der nun das Elysée verlassen und zu den Annehmlichkeiten eines anspruchsloseren Landlebens zurückkehren durfte, musste noch den Mann bestimmen, der Poincaré an der Spitze des Kabinetts ersetzen sollte, und vertraute, nachdem er sich mit seinem Erben darüber beraten hatte, Briand die Regierungslösung an. Am 22. Januar wurde die Ministerliste veröffentlicht, Briand übernahm mit der Leitung des Kabinetts das Innere, Barthou die Justiz, Etienne das Kriegsministerium, Pams, Poincarés Gegenkandidat, und Delcassé verzichteten auf ihre Portefeuilles, während der Senator Jonnart, dem Poincaré »Klugheit, Takt und Mässigung« nachrühmt, die Führung der auswärtigen Angelegenheiten übernahm. Am 18. Februar fand die feierliche Uebergabe der Präsidentschaftswürde statt. Fallières zog aus, Poincaré zog ein, es wehte ein eisiger Wind, aber »nichts konnte«, so schreibt der neue Palastbewohner, »die Begeisterung des Volkes aufhalten« und die Zeremonie vollzog sich mit grossem Pomp und jener offiziellen Rhetorik, die sich bei solchen Gelegenheiten, wie die Wasserfälle in der Schweiz, von allen Höhen ergiesst. In der kurzen Zeit zwischen dem 22. Januar und dem 18. Februar hatte das Kabinett den Botschafter Louis aus Petersburg abberufen und Delcassé dorthin geschickt. Noch einmal muss gesagt werden, dass eine Regierung nicht getadelt werden kann, wenn sie einen Diplomaten heimholt, der unbeliebt, vereinsamt, ohne Verbindungen in dem Lande seines Wirkens ist. Nicht die Abberufung des Botschafters Louis durfte eine Kritik hervorrufen, sondern eher die Tatsache, dass als Nachfolger der Mann ausgesucht wurde, dessen dunkler Ehrgeiz dem Frieden ungefähr so heilsam sein konnte wie dem menschlichen Körper Strychnin. Delcassé blieb nur wenige Monate in Petersburg. Er führte die Verhandlungen über die Verstärkung oder Umverlegung der russischen Streitkräfte zu gutem Ende, erreichte, dass die militärischen Vorkehrungen mehr als bisher 199 gegen das deutsche Ziel gerichtet wurden, und setzte, indem er ganz besonders auch Sasonow unter seinen Einfluss brachte, besser als der missliebige Louis es vermocht hatte, alle Wünsche der französischen Regierung und des französischen Generalstabes durch. Als er seine Arbeit getan hatte, sagte er sich, dass es angenehmer wäre, in der Heimat den weitern Verlauf der Dinge zu überwachen, und kehrte nach Paris zurück. Er kannte aus langem Verkehr seinen Nachfolger, Maurice Paléologue, und durfte von diesem geistreichen und nicht allzu skrupelhaften Diplomaten Verständnis für die Arbeit erwarten, die er ihm hinterliess.

Der Ministerrat und der Oberste Kriegsrat erörterten das Gesetz über die dreijährige Dienstzeit, das einstimmige Annahme fand. Ehe das Gesetz der Kammer und dem Senat vorgelegt werden konnte, wurde das Kabinett Briand in einer Wahlreformdebatte gestürzt und Poincaré übertrug die Bildung und Leitung der neuen Regierung seinem Freunde Barthou, der am besten geeignet schien, die parlamentarische Opposition gegen die dreijährige Dienstzeit niederzuringen. Denn es rührte sich, im Parlament und im Lande, eine sehr heftige Opposition. Unter Führung von Jaurès und Caillaux bekämpften Sozialisten und bürgerliche Linksrepublikaner mit äusserster Entschiedenheit das Projekt. Das beste Mittel, sie zu überwinden, lag in der Ausmalung der deutschen Gefahr. Von diesem Mittel wurde energisch Gebrauch gemacht. Es ist, in Deutschland und Frankreich, unendlich viel darüber gestritten worden, ob der französische Entschluss vor der deutschen Entscheidung gefasst worden sei, oder ob der deutsche Generalstab seine Forderung nach Heeresvermehrung erst für notwendig gehalten habe, als über die französische Absicht, die Dienstzeit zu verlängern, kein Zweifel mehr bestand. Poincaré versichert, dass der französische Kriegsminister an die organisatorischen Neuerungen erst dachte, als ihn sein militärischer Nachrichtendienst über die Ausarbeitung der deutschen Heeresvorlage informiert hatte, während Herr von Schoen, Botschafter in Paris, in seinem »Erlebtes« schreibt, es sei »jedem auch nur halbwegs Wissenden nicht zweifelhaft« gewesen, »dass der französische Entschluss zur Heeresvermehrung dem unsrigen vorausgegangen war«. Alle »Fachmänner« dort und hier haben in ihren literarischen Erzeugnissen dieser Frage wegen miteinander gerauft und offenbar empfand keiner von ihnen die Ueberflüssigkeit einer solchen, mit ernsthafter Miene geführten Diskussion. Als wenn sich überhaupt feststellen liesse, ob zuerst zu dem deutschen oder dem französischen Generalstab einer der vielen Agenten mit der Meldung gekommen ist, drüben, beim Feinde, gehe wieder einmal etwas vor.

Natürlich ereigneten sich die Zwischenfälle, die in gewissen Zwischenräumen dafür zu sorgen haben, dass das Publikum in Stimmung bleibt. Zunächst landete am 3. April des Jahre 1913 bei Luneville ein Zeppelinluftschiff mit deutschen Offizieren, das angeblich im Nebel über das 200 französische Gebiet geflogen war. Gleich darauf wurden in Nancy, in einem Varietétheater und hinterher auf dem Bahnhof, deutsche Geschäftsreisende angeflegelt, die man für Offiziere hielt. Der Präfekt und einige höhere Polizeibeamte wurden infolgedessen mit Versetzung, zwei Polizisten sogar mit Absetzung bestraft. Wenn es einen Augenblick lang an Stoff fehlte, kamen heftige Angriffe der deutschen Nationalisten gegen die Fremdenlegion. Ein Pariser Blatt hatte die schöne Idee, einen Wettflug nach der Ostgrenze zu veranstalten, und ein deutsches schrieb darauf, man werde die französischen Flieger herunterschiessen, falls sie es wagen sollten, den Türmen des Strassburger Münsters nahe zu kommen. Bücher und Broschüren erschienen in dieser Zeit in französischer Sprache, deren Verfasser haarscharf bewiesen, dass Deutschland, wenn man es nur richtig anfasse, unentrinnbar dem Untergang verfallen sei. »La Fin de la Prusse et le démembrement de l'Allemagne« hiess eines dieser weissagenden Werke, und der Oberstleutnant Driant verfasste unter dem Pseudonym »Capitän Danrit« unermüdlich Romane und andere Schriften, die »Alerte!« oder »La Guerre de demain« oder »La Guerre fatale« hiessen, und deren Inhalt sich schon aus diesen Titeln ergibt. Es ist nicht lohnend, bei der Produktion eines kühnen Militarismus zu verweilen, die es, ungefähr in den gleichen Formen, schliesslich in fast allen Ländern gab. Das Interesse für diese Werke war begrenzt. Aber die »Renaissance latine«, das Erwachen Frankreichs aus dem Schlummer, in den es die Pazifisten und Internationalisten mit ihren einschläfernden Tränken versetzt hatten, war ein Thema, das eigentlich jeder französische Schriftsteller behandeln oder streifen musste, der Anspruch auf die Achtung der Salons und der bessern Gesellschaft erhob. Die Anatole France, Octave Mirbeau, Lucien Descaves und eine literarische Bohême mochten die wahren nationalen Ideale verkennen und lästern – Maurice Barrès, Paul Bourget, François Coppée, Marcel Prévost, die Elite der Akademiker und der Akademiekandidaten, schwangen die heilige Fahne und bekämpften den Geist des bequemen und feigen Verzichtes, des zermürbenden Skeptizismus, der traurigen Negation. Die »Renaissance«, die Wiederauferstehung des nationalen Tat-Instinktes, der »patriotischen Leidenschaft«, hatte unter der Anleitung der Charles Maurras und Maurice Barrès unbestreitbare Fortschritte gemacht. »Dieselben Freunde«, schrieb schon im Jahre 1912 die tapfere Engländerin Vernon Lee, »die ich als Pazifisten, Antimilitaristen, Antinationalisten, Goetheaner, Nietzscheaner, Wagnerianer gekannt hatte, fand ich seltsam verändert wieder – auf den Lippen hatten sie noch die alten Worte »Friede« und »Fortschritt«, aber jedes ihrer Worte, jeder Ton, jeder Blick verriet einen Wunsch nach Krieg.« Ihr antwortete der Professor Paul Desjardins, der Krieg sei dumm und hässlich, aber er sei nicht das Schlimmste, und die »friedliche Zersetzung eines Volkes, der alles bestimmende Trieb, möglichst behaglich bei möglichst geringem Einsatz zu leben«, sei die vollendete Bestialität. Desjardins hatte noch vor 201 Agadir zu den Gegnern des Nationalismus gehört. Ich bewahre Briefe auf, in denen mir der Historiker Ernest Lavisse um die Jahrhundertwende schrieb: »Nirgends geniessen die deutschen Universitäten eine höhere Achtung als in Frankreich«, und den Wunsch nach geistiger Annäherung zu erkennen gab. Als er während der Agadir-Affäre in Reden und Zeitungsartikeln das Feuer gewaltig schürte, erinnerte ich ihn an seine damaligen Regungen, und er antwortete ausweichend und wie ein mürrischer Alter, dem es peinlich ist, wenn man ihn an einen Liebesfrühling mahnt. Einst, im Januar 1900, hatte er in der »Revue de Paris« geschrieben, das deutsche und das französische Volk seien durch ihr verschiedenartiges Genie dazu gemacht, einander zu ergänzen, und zur gemeinsamen Führung der Menschheit bestimmt. Jetzt schrieb dieser einflussreichste Lehrer der französischen Jugend in einem Geschichtshandbuch für die Schulen, die französische Geschichte zeige, dass in Frankreich die Söhne noch immer die Niederlagen ihrer Väter gerächt hätten, und: »Euch, den Kindern, die heute in den Schulen herangebildet werden, fällt die Pflicht zu, unsere Väter zu rächen, die bei Sedan und Metz besiegt worden sind.« Wie diese Lehren auf die studierende Jugend wirkten, sagten, 1913, in dem Buche »Les jeunes gens d'aujourd'hui« die Veranstalter einer vielleicht etwas einseitigen Untersuchung: »Man findet in den hohen Schulen keine Schüler mehr, die sich zum Antipatriotismus bekennen. An der Polytechnischen Hochschule, an der ›Ecole Normale‹, wo die Antimilitaristen und die Schüler Jaurès' ehemals so zahlreich waren, in der Sorbonne sogar, die so viele kosmopolitische Elemente umfasst, haben die humanitären Doktrinen keine Anhänger mehr . . . Das Wort ›Krieg!‹ hat ein plötzliches Prestige erlangt. Das ist ein junges, ganz neues Wort, geschmückt mit dem verführerischen Reiz, den der ewige kriegerische Instinkt im Herzen der Menschen wieder lebendig macht. Diese jungen Leute legen all die Schönheit hinein, nach der sie sich sehnen und die ihnen das tägliche Leben nicht gibt. Der Krieg ist vor allem, in ihren Augen, die Gelegenheit zur Entfaltung der Tugenden, die ihnen als die höchsten erscheinen, der Energie, der Führerschaft, der Hingabe an eine Sache, die mehr bedeutet als wir.« Die lobende Zensur, die hier den Studenten erteilt wurde, beruhte, wie gesagt, wohl auf einer etwas einseitigen Auffassung, und die Examenleiter hatten vermutlich nur die Schüler auf den vordern Bänken examiniert. Immerhin, das Ideal der »nationalen Tat«, das ohne geistige Anstrengung verstanden werden kann, erschien einem nicht geringen Teil der studierenden Jugend gewiss verlockender als der Humanismus eines Jaurès und der Intellektualismus der Auguste Comte, Taine und Renan – die, wie der Akademiker Faguet versicherte, nur noch »mit dem Ausdruck letzter Verachtung genannt wurden« – und wenigstens vor diesem Auditorium hatte Maurice Barrès die grössten Denker und die erhabensten Gedanken seines Landes besiegt.

202 Von den Romanen, die Maurice Barrès, neben zahlreichen philosophischen Erläuterungen der »französischen Renaissance« und nationalistischen Briefen an die Korinther, dem Büchermarkt geliefert hat, ist kein anderer auch von einem simplen Bürgerpublikum so viel gelesen worden wie »Colette Baudoche, Geschichte eines jungen Mädchens aus Metz«. Diese Erzählung war einfachem Sinn zugänglicher als die wertvolleren Bücher des Autors, als die »Déracinés« oder der »Jardin de Bérénice«. Colette Baudoche ist eine junge lothringische Patriotin, die mit ihrer Mutter bescheiden in Metz lebt, ein Zimmer an den blonden deutschen Professor Asmus vermietet und bald von diesem braven germanischen Schullehrer liebend umworben wird. Asmus entdeckt mit Entzücken die Feinheiten des französischen Geistes, aber obgleich Colette seine Anstrengungen achtet und, wäre er von ihrer Rasse, gern seine Gattin werden würde, entzieht sie sich seiner ehrenhaften Werbung – treu dem alten Vaterlande, treu den nationalen Erinnerungen, wenn auch tief betrübt. Eine Geschichte, die sich nicht gerade durch Gedankentiefe auszeichnete, mit essigsaurer Volksbetrachtung und süsser Sentimentalität. »Sie« – die Deutschen – »schnaubten sich die Nase in papierenen Taschentüchern«, und Asmus lernt von Colette und ihrer Mutter, dass man das Messer nicht in den Mund stecken soll. Indessen, der Roman des jungen Mädchens von Metz war nicht so schlimm wie ein Roman, mit dem Marcel Prévost sich dem gutgesinnten Publikum empfahl. In »Les Anges gardiennes« wurden die armen deutschen Gouvernanten, die in französischen Familien einen nicht immer besonnten Platz hatten, als Spioninnen denunziert, und gewiss wurde mehr als eine nach dem Erscheinen dieses Buches von furchtsamen Lohngebern aus ihrer Stellung gejagt.

Der Franzose Demartial hat ein interessantes Buch verfasst: »Comment on mobilisa les Consciences«. Er hat darin viele Aussprüche hervorragender Landsleute zitiert, denen der Krieg, schon ehe er ausbrach, als etwas Herrliches und Unentbehrliches galt. Sogar der sanfte Renan hatte ihn einmal »eine Voraussetzung des Fortschritts« genannt, Victor Cousin hatte ganz Aehnliches geschrieben, der Historiker Victor Duruy hatte behauptet, dass »der Krieg die männlichen Tugenden nährt, die der Friede erstickt«. Demartial hätte auch den – übrigens in dieser Form wirklich falschen – Satz aus Stendhals »Rouge et noir« anführen können: »Frankreich glaubt nicht und es liebt den Krieg.« Der General Lyautey lehrte, dass der Krieg »die Entfaltung der höchsten menschlichen Tugenden« sei. Pierre Loti sprach von der »herrlichen, einzigen Schule der Entsagung, des Mutes und der Kraft«. Der Akademiker Marquis de Vogué erklärte: »Die Gewissheit des Friedens würde vor Ablauf einer Jahrhunderthälfte eine Korruption und eine Dekadenz erzeugen, die für den Menschen vernichtender als der schlimmste Krieg wäre«, und Paul Bourget, im Jahre 1913: »Ja, der Krieg ist wirklich der grosse Erneuerer.« Und schon zwei Jahre vorher hatte der 203 Oberstleutnant Montaigne in einem Werk über die Kriegsdoktrin verkündet, wie dieser die Menschheit erneuernde Krieg auszusehen habe: »Das unmittelbare Ziel des Kampfes ist nicht der Sieg, sondern das Töten, und man marschiert nur, um zu töten, man schiesst nur, um zu töten, und man springt dem Gegner nur an die Kehle, um zu töten, und man tötet so lange, bis es nichts mehr zu töten gibt.«

Gewiss, die Stärkung der Willenskraft, des Verantwortungsgefühls, auch des nationalen Gemeinschaftsgefühls, kann etwas Preiswürdiges sein, wenn kein Missbrauch mit diesen Eigenschaften getrieben wird. Leider wurde viel Missbrauch getrieben, und triumphierend erklärte in einem Briefe, der den »Jeunes gens d'aujourd'hui« beigegeben wurde, Herr Durret-Wilden: »Es ist der kriegerische Geist, der erwacht, denn eine Renaissance der nationalen Energie hat bei einem von Natur kriegerischen Volke einen Aufschwung des Kriegsgeistes zur Voraussetzung, und Europa täuscht sich darüber nicht.« Wenn es feststeht – und trotz allen sophistischen Künsten steht es doch wohl fest –, dass der Krieg eine Verrohung bedingt, so ist auch seine Apologie eine Verrohung, mag sie mit noch so viel Wortflittern aufgeputzt sein. Niemand hatte enthusiastischer als der Franzose Michelet in der Geschichte den grossen Befreiungskampf der Menschheit, die Befreiung vom blinden Wahn gegrüsst, und nun endete die Sternenbahn des Gedankens in Mordlust, das Hohelied in einer Verherrlichung brutaler Schlächterei? Diese Literaten und Redner stiessen den Goldschatz, den die Vorgänger gehäuft hatten, hoheitsvoll zur Seite und streuten, genau wie ihre Geistesgenossen in andern Ländern, die billige Blechmünze der Phrase aus. Das in der Werkstatt der Intelligenz geprägte Wort, Ausdruck und Schale langsam gereifter Ideen, galt nichts mehr, nur das hurtige Schlagwort hatte noch Wert. Eine schlechte deutsche Politik, Tanger und Agadir waren vorangegangen und alles mochte aus dem Gefühl, das empfangene Demütigungen hinterlassen hatten, zu erklären sein. Aber wenn man die Ursachen verurteilt, braucht man noch nicht die Folgen verzeihlich zu nennen.

Wie in allen frühern Krisen des französischen Geistes, wie in der Dreyfus-Affäre und bei jedem Sturm, in dem die Patriotenfahne kriegerisch wehte, marschierte neben den nationalistischen Truppen ein extremer, kämpferischer Klerikalismus, bereit, durch die Mauerbresche in die Zitadelle der republikanischen Demokratie einzudringen. Immer war es das gleiche Zusammenspiel. Immer wieder waren Schwert und Kreuz, oder, wie die freimaurerischen Logenbrüder spöttisch sagten, Säbel und Weihwedel zu einer Interessengemeinschaft vereint. Immer wieder sah der engere Kreis der französischen Orthodoxie – so sehr verschieden von der katholischen Orthodoxie anderer Länder – in der Erweckung der militärischen Instinkte das Mittel, in der Republik die verlorene Machtposition zurückzugewinnen. Die Revanche für die Schliessung der Klöster ging mit der Revanche für 1870 zusammen. Der Intellektualismus, den man bekämpfte, war das Freidenkertum der Renan, Taine, Anatole France. Die freie Kritik, diese grossartige Errungenschaft der wahren Renaissance nach dem Siege über das Mittelalter, sollte aus den Gehirnen vertrieben werden, wurde als zersetzendes Gift, als Verfallserscheinung denunziert. Die Maurras, Barrès, Bourget predigten ebenso inbrünstig, wie sie die »nationale Energie« und die Religion des Krieges predigten, die Rückkehr zur Kirche, zum Dogma, und hingen über die Waffe den Rosenkranz.

Diese innige Verbindung der nationalen Hoffnungen mit den Hoffnungen der Kirche war für republikanische Politiker wie Barthou und Delcassé sicherlich nicht angenehm. Ein patriotischer Aufmarsch, der in einer Prozession endete, erregte bei den Wählermassen Verdacht. Es gab doch immer noch die Volksschullehrer, die Logen, die gewaltigen Scharen im Lande, die auf die Eleganz der Rechtgläubigkeit weniger Wert legten als die Pariser Damen und die Mitglieder der Akademie. Diesen Massen behagte das Gemisch von Pulverdampf und Weihrauch nicht. Wirklich war ja die ganze »Renaissance«, dieses Training zum Kriegsspiel, nur eine Beschäftigung von Schichten, die oben schwimmen oder zur Gesellschaft gerechnet werden wollen. Ungefähr wie Polo und Golf. Das Volk war friedlich, fürchtete und hasste, wie jedes andere Volk, den Krieg. Der kleine und der mittlere Rentner, der Arbeiter, der Bauer, der Kaufmann vollbrachten gewissenhaft und fleissig ihr Tagewerk und fühlten durchaus kein Bedürfnis nach andern Taten der »nationalen Energie«. Sie überliessen das einigen Snobs, Salondichtern, Kathederpatrioten, den unruhigen Jünglingen des Quartier Latin, den Spekulanten der Waffenindustrie und allen, die den heroischen Lärm brauchten, um sich bemerkbar zu machen, oder denen ein Auftraggeber gesagt hat, wie Fiesco zu dem Mohren: »Aus jedem Kopf blüht ein Scudi für dich.« Nein, das französische Volk nahm nicht teil an diesem Fest, es blieb abseits, wollte das kurze Leben und sein bisschen Glück nicht in der berauschenden Schönheit eines Gemetzels opfern, liebte die Heimaterde, ohne theatralisch über seine Liebe zu deklamieren, und war nur durch all das Schwertgerassel, von dem die Welt voll war, geängstigt und bedrückt. Man sprach auch am Tisch im Provinzcafé manchmal die in Umlauf gesetzten Worte nach: »Lieber ein Ende mit Schrecken!« und trotzte dem Schicksal beim Domino. Aber man hoffte sehr, das Ende mit Schrecken werde nicht kommen.

 

Es erschienen auf den Auslagetischen der Buchhändler auch andere, ganz anders redende Bücher als die der Bourget, Driant, Maurras, Prévost und Barrès. Anatole France war doch noch nicht so völlig überwunden und sogar die Damen des Faubourg Saint-Germain lasen wohl, obgleich sie es nicht laut erzählten, lieber als die schwer erarbeiteten, pedantisch anspruchsvollen nationalen Erbauungsschriften, die lichte und beflügelte, in griechischer Sonne aus der Tiefe des Gedankensees 205 emporperlende Prosa des frevelhaft lächelnden Skeptikers, der geschrieben hatte: »Wenn aber noch eine Ehre in den Völkern fortbesteht, ist es ein eigentümliches Mittel, sie aufrechtzuerhalten, indem man Kriege führt und also alle Verbrechen, Brandstiftung, Raub, Vergewaltigung und Mord begeht, durch die ein Privatmann sich entehrt.« Ueberall besprach man Marcel Sembats »Faites un Roi, sinon faites la Paix«. Dieses Buch erschien im Herbst 1913 und war die stärkste und eindrucksvollste Kampfschrift gegen die Lobredner des Krieges, das letzte Warnungssignal vor dem Sturm. Marcel Sembat, der blonde Johannes des grössern Jaurès, hatte den Titel gut und schlecht gewählt. Gut, weil dieses »Entweder-Oder« sensationell wirkte, die Aufmerksamkeit auf das Buch hinlenkte, und schlecht, weil die Geschichte oft genug gezeigt hatte, dass Republiken mindestens so erfolgreich wie Könige Krieg führen können. »Wenn wir Sieger sein sollten«, sagte Sembat, »könnten wir die verlorenen Provinzen wiedernehmen und den Deutschen einen fürchterlichen Kriegstribut auferlegen, aber wir könnten nicht mehr erlangen. Wir werden die deutsche Einheit nicht zerbrechen, denn wenn wir sie zerbrechen wollten, würde die Erinnerung an ein halbes Jahrhundert der Einheit im Herzen aller Deutschen leben . . . und die Niederlage würde diese Einheit noch fester zementieren, als der Sieg es vermag.«

Es muss, wenn von Büchern die Rede ist, auch erwähnt werden, dass in den Lehrbüchern, die man den Schulkindern in die Hand gab, nicht überall die Anweisung des gealterten Lavisse befolgt, sondern noch oft der freidenkerische, am Ideal der Völkerversöhnung sich wärmende Geist des republikanischen Schulmeisters zu verspüren war. In einer kleinen Sammlung von Aeusserungen dieses französischen Schulpazifismus hat Professor Dr. H. Werneke einiges zitiert, was er in den »Lectures primaires« von Loutey, einem in siebenhundertfünfzigtausend Exemplaren verbreiteten Lesebuche, und zwar in der Ausgabe von 1912, gefunden hat. Indem man die Schüler vor dem in den Tagen der »Renaissance« eifrig betriebenen Napoleon-Kultus warnte, wurden die Kränze eines jeden Militarismus zerpflückt. »Die Handbücher der Geschichte«, hiess es da, »widmen den Berichten über die mörderischen Schlachten Napoleons viele Seiten, von Jacquard« – dem Erfinder des Seidenwebstuhls – »und seinem arbeitsamen und fruchtbaren Leben sagen sie wenig oder nichts.« Deutlicher noch lasen die Schüler in dem »Cours moyen d'Histoire de France« von Bouniol und Behr: »Wer die Macht und den Ruhm liebt, sagt: Napoleon hat in unserem Lande die Ruhe und Ordnung wieder hergestellt. Dank ihm sind die Franzosen triumphierend in Berlin, Wien, Madrid und Moskau eingezogen, und etliche Jahre hindurch hat die ›grosse Nation‹ in Europa den Herrn gespielt. Wer die Freiheit und Gerechtigkeit liebt, antwortet: Napoleon hat die schlimmste Tyrannei aufgerichtet, die unser Land je erduldet hat. Seine Gegner hat er grausam behandelt: Preussen, Oesterreich 206 und sogar das verbündete Spanien, und er hat fast sieben Millionen Menschen umgebracht.« In der »Instruction Morale et Leçons de choses pour les petits enfants«, 55. Auflage, 1900, wurde den Kindern gesagt, dass die Wohlfahrt einer Nation nicht von der Ausdehnung ihres Gebietes, sondern von den Fortschritten ihres Geistes abhänge, und sie wurden aufgefordert, den Himmel zu bitten, »dass er uns und unserem Vaterlande diese wahren Güter schenke, die auch für alle andern Menschen Güter sind« . . . »Dadurch werden wir nicht bloss zum Glück unseres geliebten Vaterlandes beitragen, sondern auch zum Glück jenes andern grossen Vaterlandes, der Menschheit, die unserem Herzen ebenso wert sein soll.« Zweifellos, in andern Schulbüchern klang es anders und die Revancheverslein fehlten nicht. Aber gab es in dem Haufen von pädagogischem Material, mit dem die Zöglinge der deutschen Schulanstalten versorgt wurden, viele Sätze gegen den militärischen Ruhm? Es ist empfehlenswert, auch einmal in den deutschen Gedichtsammlungen »für die reifere Jugend« zu blättern, und etwa nachzuschauen, was »Wolffs poetischer Hausschatz des deutschen Volkes«, die beliebteste – mehrere hunderttausend Exemplare – dieser Poesiekisten, enthielt. Aus diesem »Hausschatz«, in dem die Dichter massenhaft vorbeiziehen, wie in einer Fleischfabrik von Chikago die Hammel, war zu entnehmen, dass Ferdinand Freiligrath »Die Trompete von Gravelotte« besungen hat und Georg Herwegh der Sänger der deutschen Flotte und ein Dichter von Reiterliedern gewesen ist . . .

 

Präsident Poincaré reiste viel im Lande umher. Manche fanden, dass er nicht wie der Präsident einer Bürgerrepublik auftrete, sondern die Huldigungen seiner Verehrer mit der den Monarchen eigenen Leutseligkeit entgegennehme, und während das den einen gefiel, reizte es die andern zur schärfsten Kritik. Auf dem Parteitag der Radikalen wurde eine Protestresolution gegen den Reiseprunk des Staatsoberhauptes angenommen. Man warf ihm in der gleichen Kundgebung persönliche Politik und damit Missachtung der Verfassung vor. In jeder seiner Reden kam das Wort »Friede« vor, aber immer liess er die Fahne des »grossen und starken« Frankreich flattern, liess er durchblicken, er, oder Frankreich, scheue im Notfall auch vor kriegerischer Entscheidung nicht zurück. Er sprach, wie 1840 Thiers, gegen den zu friedlichen Guizot: »Si la France recule, elle descend de son rang

 

In der Kammer verteidigten Barthou und Etienne, der zum Kriegsminister avancierte Kolonialmann, die dreijährige Dienstzeit, Caillaux führte die Opposition. Da die Regierung über eine sichere Mehrheit verfügte, war der Widerstand von Anfang an aussichtslos. Am 20. Juli 1913 wurde, mit 358 gegen 205 Stimmen, das Gesetz votiert. Poincaré und Barthou hatten Grosses erreicht. Indessen, das Gesetz war ausserordentlich unpopulär, man nahm es nur widerwillig hin. Die Ueberzeugung, dass man diese Last nicht lange würde tragen können, und der Wunsch, 207 sie bald wieder abzuschütteln, waren weit verbreitet, und auch das war, obgleich nun zunächst die nationalistische Agitation ein wenig nachliess, nicht ungefährlich, denn in den Unzufriedenen und Bedrückten konnte sich leicht der Gedanke festwurzeln, das »Ende mit Schrecken« sei immer noch besser als die endlose Qual. Am 2. Dezember 1913 fiel, in einer Steuerdebatte, das Kabinett Barthou, verlassen auch von manchem, der sich gezwungen gefühlt hatte, ihm in dem Kampf für die dreijährige Dienstzeit beizustehen. Da die Kammerlinke die Regierung gestürzt hatte, musste ihr die Erbschaft zufallen, und so kam, mit Caillaux als Finanzminister, dem Sozialisten Viviani für den Unterricht und Noulens als Kriegsminister, nun ein Kabinett unter dem liebenswürdigen Linksrepublikaner Doumergue. Diese neue Regierung wurde, weil Gaillaux ihr angehörte, von den Nationalisten, den Klerikalen und den Advokaten des Grosskapitals mit der denkbar schärfsten Kampfansage empfangen. Die Presse der Rechtsparteien glich einem feuerspeienden Vesuv. Die Gefühle, mit denen der Präsident der Republik dieses Kabinett kommen sah, dessen Bildung er nicht verhindern konnte, schilderte der belgische Gesandte in Paris, Baron Guillaume, am 10. März 1914 seiner Regierung: »Die Notwendigkeit, die Macht Herrn Caillaux anzuvertrauen, indem er sie nur dem Namen nach dem Herrn Doumergue übertrug, hat Herrn Poincaré tief verstimmt. Die Persönlichkeit des Finanzministers, deren Schwächen er ebenso kennt wie ihre Qualitäten, ist ihm aufs äusserste antipathisch und er sieht darin einen Echec der militärischen und nationalistischen Politik, die er seit dem Tage betreibt, wo er als Ministerpräsident die Leitung der Geschäfte übernahm.« In wenigen Monaten sollten die Neuwahlen für die Deputiertenkammer stattfinden, unter einer Regierung, in der Caillaux die treibende Kraft, der Kopf, der Führer war. Caillaux, der die dreijährige Dienstzeit wieder abschaffen wollte, eine Politik der Versöhnung mit Deutschland erstrebte und – entarteter Sprössling der hohen Bourgeoisie und Renegat wie die Gracchen – dem Parlament als erste Gesetzesvorlage das Projekt einer Kapitalsteuer übergab. Er hätte schon die Hand an die Stirn legen, das Zeichen des Tiberius Gracchus machen können, das die Hilfe des Volkes herbeirufen sollte und von der aristokratischen Arglist als Aufforderung gedeutet wurde, dem Tribunen die königliche Binde zu bringen. Man musste ihn beseitigen, wie Tiberius und Caius Gracchus beseitigt worden sind.

Gaston Calmette, der Chefredakteur des »Figaro«, war bei diesem Beginnen das Instrument. Als er in seinem Eifer zur Veröffentlichung von Privatbriefen schritt, erschoss ihn, am 16. März 1914, in seinem engen Arbeitszimmer in der Rue Drouot, Frau Caillaux, in nervöser Erregung über das Vorgehen eines Gegners, der diskrete Dinge auf den Damm des Boulevards warf. Diese sensationelle Affäre beschäftigte begreiflicherweise das französische Publikum so sehr, dass eine Weile lang alles andere kaum beachtet wurde und in den 208 Hintergrund geriet, und auch als am 20. Juli vor den Pariser Geschworenen der Prozess gegen Frau Caillaux begann, war man durch sie von den äussern Ereignissen abgelenkt, hatte man nur Augen für diese Anklagebank. Acht Tage später, als der Obmann der Geschworenen das freisprechende Urteil verkündete, hingen des Donners Wolken schon schwer auf Ilion herab. Caillaux, der nach dem Attentat sein Ministeramt hatte niederlegen müssen, hat in »Mes Prisons« über das Resultat der Kampagne geschrieben: »Reaktionäre aller Sorten hatten an ihren Triumph geglaubt. Die Bahn schien frei zu sein. Aber all diese Berechnungen werden zerstört. Die Wahlen geben den Parteien der Linken, den Radikalen, an deren Spitze ich stehe, und den Sozialisten unter Führung von Jaurès, eine unwiderstehliche Majorität, ich selbst werde mit gewaltiger Mehrheit wiedergewählt.« In der Tat, die Wahlen für die Deputiertenkammer brachten der Linken einen grossen Erfolg. Die Zahl der sozialistischen Mandate stieg von 75 auf 102, die Partei Caillaux' verfügte über 236 Sitze, das französische Volk hatte sehr deutlich für Frieden und Reform gestimmt. Aber auch nach diesem Wahlsieg der Linken gab es, da der Prozess gegen die Frau noch bevorstand, keine Möglichkeit für Caillaux, seinen Platz in der Regierung zurückzugewinnen. Damit hatten seine Gegner, trotz der fatalen Wahlniederlage, doch das erreicht, was sie vor allem gewünscht hatten, und Gaston Calmette war nicht umsonst gefallen.

Nach dem eintägigen Zwischenspiel eines Kabinett Ribot bildete der sozialistische Advokat Viviani das neue Kabinett. Viviani übernahm mit dem Vorsitz das Ministerium des Aeussern, machte zum Kriegsminister Messimy, zum Minister des Innern Malvy, zum Justizminister Bienvenu-Martin, zum Unterstaatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten Abel Ferry, lauter Mitglieder der Linksparteien. All diese Minister, die unter Viviani am 13. Juni sich der Kammer präsentierten, waren gewiss beseelt von den besten Absichten, keiner von ihnen war kriegslüstern oder geneigt zu weltumstürzenden Intrigen, und keiner kam mit dem Gedanken, dass diese Regierung das Volk auf die Schlachtfelder senden könnte, in sein Amt. Dem Unterstaatssekretär Abel Ferry, einem Neffen Jules Ferrys, der dann im Schützengraben jung von einer todbringenden Kugel getroffen wurde, habe ich, mancher gemeinsam verbrachten Stunde mich erinnernd, ein freundschaftliches Andenken bewahrt. Aber gerade die gutgesinnten Leute in diesem Kabinett, die Alten wie die Jungen, waren Neulinge im internationalen politischen Spiel. Sie konnten nicht in die Karten blicken, die eine teils raffinierte, teils raffiniert sich dünkende internationale Diplomatie in den Händen hielt. Sie vermochten nicht, wie ein Delcassé oder ein Paléologue, den verborgenen Sinn des Geschehens und der Worte zu verstehen. Sie waren Maschinisten, denen die Kenntnis der Maschine fehlt. Der sehr redegewandte Viviani besass weder die humanitäre Leidenschaft noch die festen Ueberzeugungen eines Jaurès, und plädierte nur mit Talent. 209 Wenn Jaurès ganz in Flammen stand, veranstaltete Viviani ein rhetorisches Feuerwerk. Bei alledem glaubte er gewiss aufrichtig, noch genau derselbe wie früher zu sein. Auch er hat, schon an unheilbarer Krankheit leidend, ein Buch über die Entstehung des Krieges verfasst, aber die Erwähnung genügt.

Der Ausfall der französischen Wahlen wurde in Deutschland, durchaus mit Recht, als ein Beweis dafür betrachtet, dass der Nationalismus eine Oberflächenerscheinung und das arbeitsame französische Volk ebenso friedlich wie das deutsche sei. Die Regierenden und die Amtspolitiker in Berlin, bei denen Pessimismus und Optimismus ohne Zwischennuancen zu wechseln pflegten, hielten die Gelegenheit für günstig zu neuen Annäherungsversuchen, und Herr von Schoen lud, nachdem der unvermeidliche Fürst Albert von Monaco seine Yacht zur Verfügung gestellt hatte, Briand zur Kieler Woche ein. Briand hätte, wie Schoen versichert, gern zugestimmt. Aber Paléologue, jetzt Botschafter in Petersburg und zufällig in Geschäften daheim, protestierte energisch und Briand fuhr nicht nach Kiel. Manche hatten es auch günstig gedeutet, dass Poincaré im Februar zu einem Fest in der Deutschen Botschaft erschienen war, und in der Tat war es das erstemal seit 1870, dass ein Präsident der Republik die Schwelle dieses Hauses überschritt. Indessen, Poincaré konnte hier nicht absagen, da er pflichtgetreu zu allen andern Festen ging. Immer in Erfüllung seiner repräsentativen Aufgabe, hatte er schon die Höfe von London und Madrid besucht, und dass er in der Mitte des Juli nach Petersburg reisen werde, stand auch bereits fest. Am 21. April kam das englische Königspaar nach Paris, begleitet von Sir Edward Grey. Bei all diesen Gelegenheiten wurden die üblichen Reden und Toaste gehalten, in denen es hiess, durch die Freundschaft der miteinander dinierenden Staatschefs und ihrer Völker werde der Weltfriede gewahrt. Sie waren ganz nach dem gleichen Schema gearbeitet und hatten ungefähr den gleichen Wortlaut, wie diejenigen, die man in den Dreibundländern bei Monarchenbegegnungen mit der gleichen Betonung sprach.

Als eben die dreijährige Dienstzeit angenommen war und das Publikum glaubte, nun sei durch diese unerwünschte Reform doch wenigstens die Armee auf eine hohe Stufe gebracht, kam der Senator Humbert mit scharfen Angriffen auf die Heeresleitung und einer bösen Manöverkritik. Die letzten Manöver, sagte er im Senat, hätten ein sehr betrübendes Bild ergeben, die Armee sei »schlecht ausgerüstet, schlecht ausgebildet, schlecht geführt«. Der Generalissimus Joffre liess eine Untersuchung vornehmen und drei Korpskommandierende wurden aus ihren Stellungen entfernt. Einer der drei, der General Faure, erklärte in öffentlichen Protesten seine Verurteilung für ungerecht. Herr Charles Humbert, der auch Herausgeber des »Journal« war, fand, nachdem er seine Macht so erprobt hatte, Vergnügen an dieser militärkritischen Tätigkeit und setzte sie, diesmal in seinem Blatte, im Dezember mit 210 noch grösserer Verve fort. Obgleich einige seine Persönlichkeit etwas undurchsichtig fanden, machten seine Behauptungen doch Eindruck, und der Lärm, den sie verursachten, liess erst nach, als um das Attentat der Frau Caillaux und um die Wahlurnen noch stärkerer Lärm sich erhob. Manches in den tadelnden Zensuren, die Herr Humbert der französischen Heeresleitung und besonders den Verwaltern des Rüstungsmaterials erteilte, mag zutreffend gewesen sein, aber an dem kriegerischen Wert der Armee konnte kein Zweifel bestehen. Solcher Meinung war auch, obwohl er gelegentlich in seinen Berichten mangelhafte Ausbildung konstatierte, der deutsche Militärattaché in Paris, der Oberst von Winterfeld. Es gab in der französischen Armee auch jene schönen Offiziere mit der Korsettaille, der Erobererpomade und der Bürgerverachtung, deren preussische Exemplare die Seiten des »Simplizissimus« zierten, aber man fand sie eigentlich nur bei der Kavallerie, sonst traten sie ziemlich vereinzelt auf. Besonders diejenigen Offiziere, die aus der »Ecole Polytechnique« hervorgegangen waren, hatten sehr viel gelernt und glichen mit dem Ernst ihrer Haltung oft mehr dem Typ des Ingenieurs oder des jungen Gelehrten als dem überlieferten Leutnantsideal. Vorherrschend und alles beherrschend war offenbar die Idee, dass einer Wiederholung der Fehler, die 1870 hervortraten, absolut vorgebeugt werden müsse, und der Erfolg nur möglich sei bei pflichtvoller Unterordnung der Armee unter die zivile Zentralregierung, engem Zusammenwirken der einen und der andern, absoluter Einheitlichkeit der Leitung, strengster Vermeidung von Kabalen und Führerstreit. Wirklich, die Vorstellung, die französischen Soldaten würden beim Ausbruch eines Krieges keine Stiefel haben und in Tanzschuhen marschieren müssen, konnte in Deutschland nur noch an Familientischen in hintersten Provinzen weiterbestehen. An hoher Stelle in Berlin war man eher geneigt, die französischen Geldquellen, die Kriegsfinanzen, zu unterschätzen, und Wilhelm II. äusserte sich im März 1914 mit Geringschätzung über Frankreichs finanzielle Kraft. Aber vielleicht unterschätzte man auf französischer Seite ebenso die deutschen Hilfsquellen, denn ich erinnere mich, dass bei einem Frühstück im französischen Botschaftspalais in Berlin ein französischer Finanzfachmann erklärte, Deutschland sei finanziell nur für einen kurzen Krieg gerüstet, und Jules Cambon selber durch Mienen und Gesten seine Billigung dieser Auffassung zu erkennen gab.

Für die in einem Kriege so wichtige Sicherung der Ernährung wurde in Frankreich offenbar weit besser als in Deutschland gesorgt. Wie aus dem Budgetbericht der Pariser Stadtverwaltung, den im Jahre 1915 der Munizipalrat Louis Dausset erstattete, hervorgeht, forderte im Januar 1914 das Kriegsministerium eine Vermehrung der Pariser Mehlvorräte und sagte, um alle Zweifel zu zerstreuen, auch seine pekuniäre Beihilfe zu. In der Sitzung, in der diese Frage erörtert wurde, erklärte, am 14. Januar, der Militärgouverneur von Paris, General Michel, die 211 Zeit dränge, dieses Jahr sei »ein aussergewöhnliches Jahr« und »wir wissen nicht, was es uns bringen wird«. Vielleicht werde man im März oder im April die Mobilmachung haben – wie gesagt, »wir wissen es nicht«. In Deutschland dachte man nicht so vorsorglich an die Mobilmachung und an das Mehl. Es ist allenfalls begreiflich, dass diejenigen Leute, die bei Kriegsvorbereitungen mitzuwirken hatten, nicht zunächst Berlin mit Proviant vollstopften, aber geschah etwas für andere Städte, beispielsweise für Köln? Ich habe Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, diese Frage vorgelegt und er hat mir geschrieben: »Während der letzten Jahre vor dem Kriege ist von seiten der Stadt Köln in regelmässigen Zwischenräumen an das Kriegsministerium berichtet worden, dass die Stadt Köln, welche die der Westgrenze zunächst gelegene Festung war, ohne Proviant – auch nur für wenige Tage – sei, so dass sich im Ernstfalle die Festung nur wenige Tage würde halten können. Die Stadt hat diese Berichte an das Kriegsministerium geschrieben, weil sie sich verpflichtet fühlte, auf diesen Zustand aufmerksam zu machen, aber es ist niemals eine Antwort erfolgt. Am Montag, dem 27. Juli 1914, wurde die Stadt Köln vom Reichsamt des Innern telephonisch ersucht, für Proviantierung der Stadt Sorge zu tragen. Da die Vorräte aus der alten Ernte in Deutschland ziemlich aufgebraucht waren, während die neue Ernte noch nicht eingebracht war, erwies sich der Ankauf von Getreide in grössern Mengen als unmöglich und das wurde dem Reichsministerium des Innern telephonisch mitgeteilt. Schliesslich hat die Stadt Köln auf Rat eines inzwischen verstorbenen Stadtverordneten Auer, der Inhaber einer grossen Mühle war, in Antwerpen ausländisches Getreide zu kaufen versucht. Es ist ihr auch gelungen, zwei Kähne mit Weizen zu kaufen, die Abfahrt dieser Kähne aus Antwerpen wurde aber von der belgischen Regierung schon Donnerstag, den 30. Juli 1914, verhindert und erst nach dem Fall der Festung Antwerpen haben wir das Getreide von dort geholt.«

Es ist gewiss kein Beweis für Kriegslust und kriegerische Absichten, dass die französische Regierung und die französischen Militärs die Ernährung von Paris sicherten – dergleichen geschieht »für alle Fälle«, weil man die Weltsituation pessimistisch ansieht, dem Gegner Böses zutraut und, wie der General Michel sagte, »nicht weiss«. Aber wenn die Tatsache, dass die Führer eines Landes sich auf den Krieg vorbereiteten, nicht im üblen Sinne gedeutet werden darf, so dürfte doch der Umstand, dass eine Regierung solche Vorbereitungen unterliess, erst recht nicht ein Beweis planvollen Kriegswillens sein.

Wenn man sagt, eine Armee sei kriegerisch gesinnt, so meint man damit niemals und nirgends den auf dem Kasernenhof Schritte und Griffe übenden, mit Kreide an allen Wänden die Dauer der Dienstzeit abzählenden gemeinen Mann. Der Soldat, der die herannahende Erlösungsstunde jubilierend, nur etwas rauher als die Lerche, begrüsst und nach Hause will, wünscht sich keinen Krieg, und Kriegslust fängt, soweit sie 212 vorhanden ist, im allgemeinen erst beim Leutnant an. Ein Teil des französischen Offizierskorps beschäftigte sich gewiss gern mit dem Gedanken, dass der Krieg unvermeidlich sei. Man braucht, um das zu beweisen, nicht erst wieder viele Zitate aufzutischen, es war wohl beinahe, in vermindertem Masse wieder so, wie nach 1870, wo, nach einer Feststellung des Generals Percin, der aus einem schlachtbegeisterten ein pazifistischer Kämpfer geworden war, »die ganze Armee die Revanche wollte«, und dazu trug die Ueberzeugung, dass an den Niederlagen der Türkei die preussischen Militärs, die Türkenerzieher, ihren Anteil hätten, erheblich bei. Viel war geschehen, um auch dem Volke neben der Freude an seinem Heere die Meinung, dass es nun ein vorzügliches, vielleicht das bessere Heer sei, beizubringen. Millerand hatte für das tägliche militärische Schauspiel gesorgt, die Trommel sollte täglich den friedlichen Bürger aus seinem Schlummer wecken, die Paraden auf dem Felde von Longchamps wurden noch glänzender als früher inszeniert. Da trotzdem die Skeptiker und Zweifler zahlreich waren, auch die von Charles Humbert, André Lefèvre – im »Matin« noch am 14. Juli – und andern geübte Kritik Eindruck gemacht hatte, half man an einigen Stellen, um das Vertrauen zu stärken, mit überschwenglichen Schilderungen des russischen Heeres nach. Am 17. Juli, vor der Reise Poincarés, schickte der Abgesandte des »Matin«, Jules Hedeman, aus Petersburg schwärmerische Verheissungen: »Die Entwicklung Russlands ist heute der gigantischen Entwicklung, die in den Vereinigten Staaten vor dreissig Jahren vor sich ging, vergleichbar – Russland wird für sich allein eine zahlenmässig stärkere Friedensbereitschaft besitzen als die der Dreibundstaaten zusammen – noch 1905, nach dem Kriege in der Mandschurei, militärisch diskreditiert und verachtet, wird es zur stärksten Militärmacht, die jemals in der Welt gesehen worden ist. Seit einigen Monaten schon spricht die russische Diplomatie in einem neuen Tone zu der deutschen Diplomatie. Früher war ihr Ton zögernd, jetzt ist er fest.« Und am 21. Juli 1914, an dem Tage, an dem der Präsident der Republik den russischen Boden betrat, erschien unter der über drei »Matin«-Spalten gehenden Ueberschrift »Si la guerre éclatait . . .«, »Wenn der Krieg ausbrechen würde . . .« ein neuer Bericht des keineswegs böswilligen und nur etwas berauschten Hedeman, in dem die Chancen abgewogen wurden und die russische Armee abermals reichliches Lob erhielt. »Russland verlangt heute nicht, dass Frankreich auch nur einen Soldaten mehr einstellen solle, es übernimmt es von nun ab allein, jede neue Heeresvermehrung zu neutralisieren, die Deutschland vornehmen will.« Die Idee von der russischen Dampfwalze wurde denjenigen, die der eigenen Kraft nicht vertrauten, eingeprägt. Von der Dampfwalze, die unwiderstehlich über alles hinwegrollt, alles niederwirft und zerquetscht.

Es war, wie fast überall, ein Ringen zwischen dem »militärischen Geist« einer Minorität, einzelner Gruppen, und der Friedensliebe eines Volkes, 213 das sein Lebensglück sorgsam und sorgenvoll umklammert hielt. Offenbar verallgemeinerte der belgische Gesandte in Paris, Baron Guillaume, zu sehr, wenn er im März 1913 berichtete, »man begegne nur Leuten, die versichern, dass ein baldiger Krieg mit Deutschland gewiss, ja unvermeidlich ist«, und man bedaure es, aber schicke sich darein. Jedenfalls hatte diese Stimmung der Entschlossenheit, wenn sie im März 1913 bestand, seither wieder nachgelassen und nur jener verschwommene Fatalismus, der mit den Dingen spielt, ohne an sie zu glauben, verebbte nicht ganz. Dem Baron Guillaume begegneten, wie den meisten Diplomaten, nur die Leute der sogenannten obern Gesellschaftskreise, und es ist anzunehmen, dass er keine Beziehungen zu der Seele des jungverheirateten kleinen Bankbeamten und zu der eines Tischlers besass. Wenn die Managers und Regisseure der »Renaissance latine« gemeint hatten, ebenso leicht wie in die Salons und die Hörsäle auch in die Kleinwohnungen, Fabriksäle und Werkstätten eindringen zu können, so war ihr Unternehmen missglückt. Hier verriegelte man ängstlich und misstrauisch die Tür. Philemon und Baucis genossen im Schatten der alten Linde ein stilles Glück. Aber war es genügend geschützt? Die Stimmung war immerhin so, dass auch klugen deutschen Beobachtern ein Krieg für ziemlich ausgeschlossen galt. Vier Wochen vor dem Aufbruch zu den Schlachtfeldern ersuchte der General von Winterfeld, der ehemalige Militärattaché in Paris, seinen Nachfolger, ihm eine Kiste zu schicken, die sich noch in der Gepäckkammer der Botschaft befand. Er fügte hinzu, eine Situation, die diese Sendung verhindern könnte, werde ja wohl nicht entstehen und er glaube an solche Eventualitäten nicht. Der Nachfolger beantwortete diesen Satz, wie etwas ganz Phantastisches, mit scherzender Ironie.

Einer jedenfalls war da, der sich nicht einschüchtern liess, nicht die Klarheit des Blickes verlor, an den Zwang des Fatums nicht glaubte, immer wieder mit der Turmglocke die Schläfer weckte, immer wieder, zu denen oben und zu denen unten, seine Warnungen rief. Der abtrünnige Patrizier Caillaux musste, den Prozess der Gattin erwartend und vorbereitend, beiseitestehen, aber noch blieb Jaurès. Am 7. Juli 1914 stieg er, zum letzten Male, in der Deputiertenkammer die Stufen zur Rednertribüne hinauf. Er erklärte, warum er und seine Freunde die Kredite für die Reise des Präsidenten Poincaré nach Russland ablehnten: »Für diese fernen Entrevuen, bei denen im Namen Frankreichs Verpflichtungen eingegangen werden, die es nicht kennt.« Genau ein Jahr vorher hatte er in der Kammer darauf hingewiesen, dass die Leute der nationalistisch-klerikalen Liga unablässig bemüht wären, zu seiner Ermordung aufzureizen, ihm mit der Rache der wahren Patrioten zu drohen. »In Ihren Zeitungen, in Ihren Artikeln«, sagte er den Parteien der »Renaissance« – deren wütendste Gestalten aus der andern Renaissance die Methoden der Borgia übernahmen –, »bei denen, die Sie unterstützen, gibt es gegen uns einen fortwährenden Aufruf zum Mord. 214 Das Blatt ›La Liberté‹ schreibt seelenruhig – o, Sie werden applaudieren, meine Herren! –, dass ich mich sicherlich gefreut habe, den Tod von sechzig französischen Soldaten in Marokko mitteilen zu können, denn nun wären der deutschen Armee sechzig Franzosen weniger entgegenzustellen. Nach Spalten voll Verleumdungen fügen Ihre Blätter, von mir und meinen Freunden sprechend, hinzu: Dieser Exekution wird sich am Tage der Mobilmachung eine andere, vollständigere, hinzugesellen« . . . Im Kampfe um die dreijährige Dienstzeit war Paul Adam von literarischer Höhe hinuntergestiegen und hatte die Gegner des Gesetzes »Bundesgenossen des Feindes« genannt. »Und Herr Paul Adam«, sagte Jaurès, »setzt hinzu, dass all diese Männer am ersten Tage der Kriegserklärung fallen würden, von dem gerechten Zorn der Patrioten getroffen, denn sie hätten sich zu Komplicen der Invasion gemacht« . . . Als Jaurès diese Aufforderungen zum Morde zitierte, schrie man auf einigen Bänken rechts: »Ja, ja!« Er antwortete unter dem stürmischen Beifall der Republikaner: »Wenn ich manchmal versucht sein könnte, meinen eigenen Wert und die Dienste, die ich in einem Leben voll Hingebung und Kampf meiner Partei und der Republik leisten konnte, an der Heftigkeit des Hasses zu messen, den ich der Reaktion einflösse, so würde ich ohne Zweifel in die Sünde des Hochmuts verfallen . . .« So hörte er, während sein Gesicht in der Leidenschaft des Zornes und der Menschenliebe sich rotglühend erhitzte, nicht auf, anzuklagen und seine Volksgenossen anzuflehen. Mit seinen breiten Schultern, mit seiner ganzen starken Gestalt und der in der Verzweiflung grandiosen Wucht seiner Kämpfernatur stemmte er sich gegen die Tür, an der das Scheusal des Krieges rüttelte, und so stand er, in dieser Tragödie der unbeugsamste Verteidiger der Menschheitsideale, bis zuletzt.215

 


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