Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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II

Als im Jahre 1885 Maupassants »Bel Ami« erschien, befasste man sich in Paris noch nicht mit der Eroberung Marokkos, und die Goldsucher hatten einstweilen noch andere koloniale Bissen zu verdauen. Aber der Dichter, den Ereignissen vorauseilend, stellte es im siebenten Kapitel so dar, als sei das marokkanische Land schon gewonnen, und schilderte die grosse Kulturtat respektlos wie eine gewöhnliche Finanzspekulation. Eine seiner Romanfiguren, der Bankier und Zeitungsbesitzer Walter, gewinnt bei dem Geschäft dreissig bis vierzig Millionen durch das Steigen der Anleihe und acht bis zehn Millionen, indem er die vorher fast umsonst errafften Minenkonzessionen und Terrains am Tage nach der Besetzung an Kolonialgesellschaften verkauft. Er wird über Nacht einer der allmächtigen Finanzherren, vor denen alles sich beugt. Erst längere Zeit nachdem Maupassant seinen Roman geschrieben hatte, wurde die Frucht reif.

Der Marokko-Vertrag, der 1909 zwischen Deutschland und Frankreich abgeschlossen wurde, konnte keine dauernde Eintracht schaffen, und schuf nur neue Verärgerung. Misanthropen könnten annehmen, dass das Lächeln, mit dem der König Eduard bei seinem Besuch in Berlin dem Fürsten Bülow zu diesem Vertrage gratulierte, ein malitiöses Lächeln gewesen sei. Mit dem Bemühen, objektiv zu urteilen, hat André Tardieu, etwa zwei Jahre vor dem Kriege, in einem dicken Bande »Le Mystère d'Agadir« auseinandergesetzt, warum die Hoffnungen, mit denen man den Vertrag begleitete, nicht in Erfüllung gingen. Er sagt ganz richtig, dass das französische Publikum sich eingeredet habe, Deutschland wolle mit einer vornehmen Geste den marokkanischen Zankapfel von sich fortschieben und sozusagen Schluss machen, während deutsche Unternehmerkreise das Abkommen als ein Instrument betrachteten und sich bereit machten, aus der Situation möglichst viel Vorteile zu ziehen. Er bemerkt auch zutreffend, man habe der geplanten deutsch-französischen Arbeitsteilung, oder Arbeitsvereinigung, in Marokko nicht eine klare, sichere Grundlage gegeben, sondern habe sie auf Zweideutigkeiten aufgebaut. In der Tat war man ein wenig hastig über Zweifelhaftes hinweggegangen und hatte sich der frohen Ueberzeugung hingegeben, die konkurrierenden deutschen und französischen Industriellen würden mit echt brüderlichem Sinn, selbstlos und versöhnlich zusammenwirken und kollegial nach dem Wahlspruch handeln: Jedem das Seine, jedem das, was er nimmt.

Dass diese schöne Zuversicht nicht ganz berechtigt gewesen war, zeigte sich bald. In Deutschland wie in Frankreich gab es Unternehmer, die ohne Rücksicht auf Verträge und Mitbewerber die Zivilisation nach Marokko tragen wollten, und dieser Pioniereifer führte zunächst zu der 31 Affäre Mannesmann. Tardieu erzählt diese Affäre, die schon vor andern Geschäften ähnlicher Art den kaum geschaffenen Frieden wieder störte, ungefähr wahrheitsgetreu. Die Gebrüder Mannesmann, kühne Geschäftsleute, hatten im Jahre 1907 dem von allen Seiten bedrängten und sehr geldbedürftigen Sultan Mulay-Hafid irgendeine Summe geborgt, die ihm jedenfalls gestattete, seinen Harem frisch aufzufüllen. Dafür hatte der Marokkaner, sehr naiv oder sehr schlau, ihnen gewaltige Minenkonzessionen in Gegenden überlassen, wo auch die Union des Mines schon Rechte besass. Diese Union des Mines, an der ausser Schneider-Creusot, der Compagnie Maroccaine, Hoskier und andern französischen Gesellschaften und Grosskapitalisten, und ausser englischen, spanischen, italienischen und portugiesischen Häusern auch Krupp, Gelsenkirchen und Thyssen, zusammen mit zwanzig Prozent, beteiligt waren, sah das Erscheinen eines neuen Kulturträgers mit Missvergnügen und setzte sich zur Wehr. Vielleicht wünschten die Mannesmann gar nicht, ihre Konzessionen selber durch langwierige Arbeit auszubeuten, und vielleicht war eine möglichst nutzbringende Einigung mit der Union, Beteiligung oder Entschädigung, auch ein Ziel ihrer Spekulation. Nachdem der Streit mehrere Jahre gewährt, den Vertragsabschluss von 1909 überdauert hatte, teilte am 19. Mai 1910 Wilhelm II. in London, bei der Beisetzung Eduards VII., dem französischen Minister des Aeussern, Herrn Pichon, mit, dass er Walter Rathenau als Vermittler nach Paris senden wolle, und Rathenau, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Male vom kaiserlichen Regime zu amtlicher Mission verwendet wurde, trat bald nach der Londoner Unterhaltung die Reise an. In Paris versuchte er, zunächst nicht ohne Erfolg, eine Einigung zwischen der Union und den Mannesmann zustande zu bringen, aber als, nach längerem Handel, das schon fertige Abkommen unterzeichnet werden sollte, verweigerten die Mannesmann ihre Zustimmung, forderten neue Vorteile, und Rathenau, der mit der Angelegenheit nichts mehr zu tun haben wollte, legte sein Vermittleramt nieder und fuhr nach Berlin zurück. Wenn man später mit ihm von dieser Episode sprach, tat er sie gewöhnlich mit einem Achselzucken ab. Vielleicht aber hatte er in ihr doch frühzeitig die erste öffentliche Ankündigung eines für Deutschland ganz neuen Herrschgelüstes, einer neuen Entwicklung, erkannt. Einer Entwicklung, auf deren Gefährlichkeit er dann häufig hingewiesen hat.

Denn diese Affäre der ebenso zahlreichen wie rührigen Brüder Mannesmann verdient vor allem deswegen noch heute besondere Beachtung, weil hier eigentlich zum ersten Male das private Unternehmertum als eine politische Macht der Staatsautorität entgegentrat und sich bemühte, mit allen Mitteln der Agitation und mit grossem Kostenaufwand der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches seinen Willen aufzuzwingen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass Bismarck spekulative Personen, die mit solcher Zumutung zu ihm gekommen wären, grob vor die Tür 32 befördert hätte, aber jetzt kämpfte jene ganze nationalistisch, alldeutsch oder konservativ gefärbte Presse, die soviel von Bismarck sprach und so wenig von ihm bewahrt hatte, für ein paar schwerindustrielle Geldmacher und gegen das Auswärtige Amt, in dem, vor dem Erscheinen des Herrn von Kiderlen-Wächter, Herr von Schoen den Brüdern nicht in jedem Augenblick die geforderte Unterstützung lieh. Die Idee, dass die Regierung der Industrie nicht genug helfe, ihr im Auslande nicht emsig genug Wege erschliesse, hatte sich allmählich bereits in den Köpfen festgesetzt. Je glänzender der deutsche Handel und die Industrie sich entfalteten, desto mehr wurde über den amtlichen Apparat geklagt. Daran war richtig, dass die konservativ-bürokratische Anschauungsweise, eingerostet und trocken, sich dem grossen Aufschwung nicht anzupassen verstand. Es war richtig, dass es in den Zentralbüros sehr viel altmodische Routine, in den Botschaften und Gesandtschaften sehr viel Unkenntnis, in zahlreichen Konsulaten einen Widerwillen gegen störende Besucher gab. In den Kreisen der Schwerindustrie, die ihre Macht zu fühlen und zu gebrauchen begann, und in ihren politischen Hilfslagern aber fasste man die Sache nachgerade anders auf. Dort entwickelte sich die Meinung, dass das Deutsche Reich und die Politik des Deutschen Reiches eigentlich dazu da seien, mit schimmernder Wehr für ganz besondere Geschäftsinteressen einzutreten und für jeden auftrumpfenden Industriekapitän und für jede einflussreiche Industriegruppe den Brennus zu spielen, der das Schwert in die Waagschale wirft. Auch die Mannesmann hatten für wenig Geld grossen Gewinn erhofft. Als man nicht genug tat, um ihnen den Gewinn einzutreiben, unternahmen sie eine lärmende Kampagne gegen die Regierung und vor allem gegen den Staatssekretär von Schoen. Die Brüder Mannesmann waren wirklich Pioniere in ihrer Art. Sie waren die ersten deutschen »Industriekapitäne«, die aus ihrem Geschäft eine »nationale Angelegenheit« zu machen wussten – andere folgten nach.

Die Diskussion über die Affäre Mannesmann wurde, auch nach dem Abbruch der Pariser Verhandlungen, noch sehr lange fortgesetzt. Andere Schwierigkeiten, die aus ernsthaften Gründen entstanden, wurden mit weniger Lärm erörtert, trieben aber allmählich die Beteiligten in eine gereizte Stimmung hinein. Immerhin blieben besonders die Beziehungen zwischen der deutschen Diplomatie und dem französischen Aussenminister Pichon im allgemeinen angenehm. Nur im Februar 1910, als die Franzosen in der Anleihefrage scharf gegen Mulay-Hafid auftraten, konstatierte der Botschaftsrat Freiherr von der Lancken, dass zu seiner Ueberraschung Pichon sich auf die Seite der Energiepolitiker geschlagen habe, und im Dezember 1910, nach den deutsch-russischen Freundschaftsküssen bei der Potsdamer Entrevue, machte die Kritik der französischen Presse Pichon ein wenig nervös. Nicht direkt in Verbindung mit dem Vertrage von 1909 standen die Bemühungen, die französischen und deutschen Kolonialinteressen in Südkamerun und im Kongoland 33 zu vereinigen und durch ein gemeinsames Konsortium die Gebiete nutzbar zu machen, die am Kongo die französische Gesellschaft N'goko-Sangha besass. Pichon und der Kolonialminister Milliès-Lacroix nahmen den Vorschlag, den ihnen Herr von der Lancken übermittelte, günstig auf und die N'goko-Sangha war bereit, die Sache zu studieren, und schickte ihren Administrator, Herrn Mestayer, nach Berlin. An das erste Hindernis gelangte man, als die Budgetkommission der französischen Deputiertenkammer die ganze Kombination verwarf. Aber Pichon, einig mit Briand, dem Ministerpräsidenten, liess sich nicht entmutigen, ein neues, erweitertes Projekt wurde mit Zustimmung der deutschen Botschaft entworfen, ein deutsch-französisches Konsortium sollte in der deutschen Kolonie, ein anderes in der französischen sich betätigen, jeder sollte sowohl Land hergeben wie Kapital. Als man so weit war, fiel, am 28. Februar 1910, das Kabinett Briand, Pichon fiel mit und der afrikanische Plan wurde mit allen andern Akten dem neuen Minister des Aeussern, Herrn Cruppi, auf den Tisch gelegt. Herr Cruppi, bis dahin Advokat, konnte die Angelegenheit nicht wohlwollend beurteilen, denn er hatte in der Budgetkommission gegen Briand, Pichon und das Konsortium gestimmt, hatte eine tugendhafte Abneigung gegen Geschäftsleute und brachte im übrigen, bei sonst trefflichen Eigenschaften, in das Ministerium des Aeussern für derartige Fragen nichts mit als eine allseitig anerkannte Inkompetenz.

Die Franzosen hatten begonnen, in Marokko zwei strategische Bahnlinien zu bauen, ohne die Arbeit öffentlich ausbieten zu lassen, wie das im Algeciras-Vertrage bestimmt worden war. Gegen Ende des Jahres 1910 machte Herr von Schoen, der nun schon als Botschafter in der Rue de Lille wohnte, Herrn Pichon auf dieses Versehen in freundschaftlicher Weise aufmerksam und regte eine deutsche Beteiligung bei andern Bahnbauten an. Herr Pichon erhob Einwendungen, drang aber, da Herr von Kiderlen-Wächter den verletzten Algeciras-Vertrag hervorholte, nicht durch. In Berlin forderte man, dass zuerst der Bau der Linie von Fez nach Tanger, die eine internationale Bedeutung hatte, vergeben werde, während die marokkanische Gesellschaft die nur für Frankreich nützliche Linie von Casablanca nach Fez vorzog, und in diesem Punkte gab die französische Regierung nach. Herr von Kiderlen-Wächter wollte den Erfolg erweitern, die in der Gesellschaft organisierte Arbeitsgemeinschaft gegen jeden störenden Wettbewerb sichern, und schickte neue Vorschläge nach Paris. Ganz wie das Kolonialprojekt, war diese Angelegenheit noch unerledigt, als das Kabinett Briand-Pichon zurücktrat, und ganz wie das Geschäft am Kongo versumpfte, versandete die marokkanische Eisenbahnfrage, als die Aktenmappe in die Hände des Herrn Cruppi geriet. Aber wenn gut eingeleitete geschäftliche Verhandlungen, die weder das Leben noch die Ehre eines Volkes berühren, ins Stocken geraten, so ist das noch nicht unbedingt ein Anlass für eine gewaltige, sensationelle Aktion. Dergleichen brauchte am wenigsten eine 34 Aktion zu veranlassen, die, wie man vorhersehen musste, die deutsche Politik völlig von ihren eigentlichen Zielen ablenkte, den Wagen mit einem Stoss aus dem Geleise warf. Es handelte sich um kaufmännische Vorteile, aber kein Kaufmann wird eine Million riskieren, wenn er mit diesem Einsatz höchstens hundert Mark gewinnen kann. Nur ein Operettenzeus dreht immer gleich seinen Donnerapparat auf. Und wenn man aus jedem diplomatischen Handel dritter Klasse eine Tragödie erster Klasse machen wollte, würde die Erde nicht mehr bewohnbar sein. Herr von Kiderlen-Wächter war, nach der Meinung seiner Freunde, ein Staatsmann von grossem Kaliber und konnte also nicht aus Ungeduld zu Mitteln greifen, die der wirkliche Staatsmann nur in höchster Not benutzt.

Es kamen Ereignisse, die interessanter waren als ein Austausch von Negerdörfern und der Bau einer marokkanischen Eisenbahn. In Marokko gab es, wie die Pariser Boulevardblätter meldeten, wieder eine Rebellion. Einige Stämme wollten dem von Frankreich beherrschten Sultan Mulay-Hafid nicht mehr gehorchen, die sogenannte Zivilisation war bedroht, die Barbarei erhob sich gegen die europäische Gesittung, Aufwiegler sprachen von Freiheit und Unabhängigkeit. In Farben von afrikanischer Glut schilderte man die verübten Gewalttaten, die Angst und die Gefahren der in Fez eingeschlossenen Europäer, die heranstürmende Anarchie. Das Kabinett Monis, dem Herr Cruppi angehörte, zeigte sich tatkräftig und befahl dem General Moinier den Marsch nach Fez. Um die Mitte des März hatte Herr von Kiderlen-Wächter dem französischen Botschafter Jules Cambon bemerkt, die kleinen militärischen Operationen, mit denen man angefangen hatte, schienen sich auszudehnen, und einige Aufklärungen über die weitern Absichten seien wünschenswert. Anfang April teilte der Botschafter dem Staatssekretär mit, dass der französische Konsul die Situation der Fremden in Fez als sehr ernst bezeichne und dass Frankreich durch Pflicht und Ehre genötigt werde, den Bedrohten Hilfe zu senden, aber natürlich nicht als Eroberer ausziehe, sondern nur als braver Polizist. Darauf hatte Herr von Kiderlen entgegnet, der Augenblick sei ungünstig für eine Besetzung von Fez, das deutsche Publikum sei nun einmal misstrauisch, und auch Herr von Bethmann-Hollweg hatte Herrn Cambon erklärt, er sei der öffentlichen Meinung wegen äusserst besorgt. Am 21. Mai 1911 marschierten die französischen Truppen in die alte marokkanische Hauptstadt ein. Die Fremdenkolonien in Fez befanden sich wohl.

Im Grunde konnte es für Deutschland gleichgültig sein, dass die Franzosen nach Fez marschierten, denn seit der schweren Niederlage in Algeciras hatte die deutsche Politik doch nur noch den Rückweg aus der marokkanischen Höhle gesucht. Die wirtschaftlichen Interessen in Marokko mussten mit Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit gewahrt werden, aber man brauchte sich nicht zu grämen, wenn der letzte politische Zwirnsfaden zerriss, der noch übriggeblieben war. 35 Marokko-Politik hätte Deutschland vor Algeciras, vor der Tanger-Reise, vor der Geburt der Entente cordiale, zusammen mit Frankreich und Spanien machen können. Wenn jetzt Frankreich Fez besetzte, so verloren wir nicht einmal eine Illusion. Aber der Marsch nach Fez vollzog sich unter einer peinlich lauten Begleitmusik. Infolge dieser Klänge wirkte er auch auf diejenigen in Deutschland aufreizend, die es sinnlos fanden, nach allem, was schon geschehen war, die Marokko-Affäre noch einmal von vorn zu beginnen. Den friedliebenden Leuten in Frankreich war bei der Ankündigung des sogenannten Befreiungszuges nicht wohl zu Mute, aber andere waren in heiterer Laune und behandelten das ganze Unternehmen wie einen den Deutschen gespielten Schabernack. Man gab den Zuschauern auf der Galerie mit listigem Blinzeln und schlauer Miene zu verstehen, Germania sei »roulée«, oder, auf deutsch, übers Ohr gehauen. Am 17. Juli schrieb der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, an seinen Minister in Brüssel, einige seiner Kollegen seien »über die Langmut Deutschlands erstaunt«. Man muss wiederholen, dass das eigentliche französische Volk an dem Sport sich nicht beteiligte, aber durch jene ironischen Gesten erhielt der Spaziergang nach Fez doch einen peinlichen Beigeschmack. Dass etwas gegen die spöttisch hüpfenden Feuergeister geschehen müsse, war klar. In die Erkenntnis dieser Notwendigkeit mischte sich indessen eine begreifliche Besorgnis, denn es gibt Diplomaten, die eine Petroleumkanne ausgiessen und meinen, das sei der kalte Wasserstrahl.

Seit dem 11. Juni weilte Herr von Kiderlen in Kissingen, wandelte, mit dem reinigenden Tranke versehen, auf den Wegen, wenn auch nicht auf den Spuren Bismarcks, und unterrichtete in den Pausen die daheimgebliebene Freundin brieflich über die Unfähigkeit Bethmann-Hollwegs und den Gang der hohen Politik. In Berlin empfing Bethmann inzwischen den französischen Botschafter, Jules Cambon, der im Auftrage des Herrn Cruppi besänftigende Erklärungen brachte und auch versicherte, man werde nun bald neue Verhandlungen über das Eisenbahngeschäft beginnen. Der Reichskanzler empfahl dem Botschafter, nach Kissingen zu Kiderlen zu fahren, und Jules Cambon befolgte den Rat. Am 20. Juni und am folgenden Tage hatten Herr Cambon und Herr von Kiderlen in Kissingen Unterredungen, über die man in Deutschland auch später noch wenig informiert wurde, die aber die sehr eifrig nachspürende politische Literatur in Frankreich bald nach dem Ereignis ausführlich und dramatisch geschildert hat. Jules Cambon erklärte Herrn von Kiderlen, Frankreich könnte eine Festsetzung Deutschlands in Marokko nicht hinnehmen, wäre aber zur Verständigung über andere Streitpunkte bereit. Herr von Kiderlen fragte, ob Frankreich Vorschläge zu machen, vielleicht auf einem andern kolonialen Terrain etwas anzubieten habe, und sagte, da Herr Cambon ihm seinen Entschluss, nach Paris zu reisen, ankündigte: »Bringen Sie uns etwas mit!« Elf Tage später, am 1. Juli 1911, wurde amtlich bekanntgegeben, dass 36 das deutsche Kanonenboot »Panther« zum Schutze der nun angeblich gleichfalls in Gefahr schwebenden deutschen Kolonisten nach dem kleinen und bis dahin selten genannten marokkanischen Hafen Agadir entsandt worden sei. Der deutsche Botschafter, Herr von Schoen, hatte den Auftrag empfangen, diese Tatsache dem französischen Minister des Aeussern zur Kenntnis zu bringen. Gerade war in Paris das Kabinett Monis gestürzt worden, Caillaux, bisher Finanzminister, hatte eine neue Regierung gebildet und im Ministerium des Aeussern sass nicht mehr Cruppi, sondern Herr de Selves, der ein guter Seinepräfekt gewesen war und dem, weil er den alten klugen Freycinet zum Onkel hatte, nach Meinung seiner Parteigänger Diplomatenblut in den Adern floss. Herr de Selves nahm die ernste Mitteilung mit Anstand entgegen, bedauerte die unerwartete Massregel der deutschen Regierung und betrachtete, als der deutsche Botschafter ihn verlassen hatte, neugierig die Karte von Nordafrika, da er ebenso wie die meisten andern Menschen nicht wusste, was Agadir eigentlich sei.

Es war ein erstes Malheur, dass Deutschland seine Aktion nun gegen ein Kabinett Caillaux richtete und, indem es ihm Zugeständnisse abzuzwingen suchte, für lange Zeit die Position des Staatsmannes schwächte, der, wie wenige neben ihm, die Notwendigkeit einer französisch-deutschen Annäherung begriff. Ganz wie Bülow und Holstein, um das törichte Projekt der Algeciras-Konferenz durchzudrücken, dem etwas zweifelhafteren Verständigungsfreunde Rouvier jede Möglichkeit zur Ausführung seiner betonten Absichten genommen und den enthusiastischen Jaurès durch eisige Abweisung diskreditiert hatten, wurde jetzt Caillaux aktionsunfähig gemacht. Herr von Kiderlen wusste vermutlich von dem neuen französischen Ministerpräsidenten so wenig, wie Holstein von Rouvier gewusst hatte, und im übrigen war der Kabinettswechsel in Frankreich wirklich sehr plötzlich gekommen. Es war ein Fatum, dass die deutschen Regierungen immer denjenigen den Strick reichten, die geeignet und bereit gewesen wären, Verständigungsfäden anzuspinnen. Nicht ein Fatum, aber eine Tradition war es, dass man bei den grössten und wichtigsten Unternehmungen die deutschen Botschafter weder befragte noch benachrichtigte, sie mit der vollzogenen Tatsache überraschte, ihnen keine Gelegenheit, ihre Meinung zu sagen, und keine Möglichkeit zur Vorbereitung und Erforschung der Stimmung gab. Wie Herr von Holstein es in der Tanger-Affäre vorgemacht hatte, machte Herr von Kiderlen es in der Agadir-Affäre nach. Herr von Schoen in Paris erfuhr nur einiges »unter der Hand«, Graf Wolff-Metternich in London ahnte nichts. Die Ungeheuerlichkeit dieser Zustände wird besonders deutlich, wenn man sieht und weiss, wie sorgfältig und gewissenhaft das französische Ministerium des Aeussern die Verbindung mit seinen Botschaftern wahrte, ohne Unterbrechung Jules Cambon in Berlin und Paul Cambon in London zu Rate zog, in Krisenperioden nicht einen Tag lang die Vertreter draussen ohne Instruktionen 37 und ohne Kenntnis von den Vorgängen und Absichten liess. Herrn von Kiderlen-Wächter genügte es, wenn Fräulein Kypke unterrichtet war. Zeitweiliges Entschlummern seines Arbeitseifers war nicht der hauptsächliche Grund dafür, dass die diplomatischen Aussenposten von den Plänen ihrer Regierung ungefähr ebensoviel hörten, wie der Greis Chamissos auf dem kahl aus den Fluten ragenden Felsen Salas y Gomez von den Geschehnissen der Welt erfuhr. Ernst Jäckh konstatiert mit Recht, dass hinter der solide erscheinenden Fassade des Kaiserreiches alles nebeneinander und gegeneinander regierte, zwischen den verschiedensten Instanzen ein Dauerkrieg geführt wurde, in völliger Desorganisation die einzelnen »Ressorts« und die treuen Diener der Krone sich um Macht und Einfluss balgten, während in den demokratischen Ländern einheitliche Ordnung bestand. Der diplomatische Betrieb war unter Kiderlen, genau wie unter Holstein, auch ein fester Hort solcher Anarchie. Herr von Kiderlen sprach von fast allen Botschaftern nur mit Verachtung, Groll und Spott. Wenn man seine Mitarbeiter »Nilpferd« und »Lederzipfel« nennt, ist das Bestreben, in Fühlung mit ihnen zu bleiben, natürlich nicht gross.

Es ist immer reizvoll, bis auf die ersten Ursprünge einer geistigen oder künstlerischen Schöpfung zurückzugehen. Der Plan, ein Schiff nach Agadir zu entsenden, war dem Haupte des Herrn von Kiderlen gewiss nicht fertig entsprungen, aber wie ist er entstanden, wo lagen seine ersten Keime und wie hat er sich allmählich geformt? Die wenigen Sätze, die Jäckh aus den Briefen dieser Periode so sorgfältig und zierlich wie ein Silhouettenschneider herausgeschnitten und den Blicken des Forschenden preisgegeben hat, klären den Vorgang der geistigen Gestaltung nicht auf. Sicherlich hat Fräulein Kypke mehr erfahren, denn sie war voll Teilnahme, wie die Gräfin Terzky, und Herr von Kiderlen war nicht der Meinung, das sei »kein Geschäft für Weiber«, wie Wallenstein. Zuerst sehen wir acht, einem Brief aus Stuttgart entnommene Zeilen, in denen Kiderlen sagt, er werde in Mannheim den alldeutschen Justizrat Class treffen, und »hoffentlich geht es mit Fez nicht schief«. Soll diese herausgerissene und darum schwer verständliche Bemerkung sagen: »Hoffentlich verderben mir die Franzosen nicht durch ein plötzliches Zögern und Zurückweichen mein schönes Projekt?« Kiderlen nennt es dann einen »Blödsinn«, dass die Alldeutschen in einer Marokko-Broschüre nicht nur die Annexion von Marokko, sondern sogar das Rhonedepartement fordern wollen. Er erklärt: »Keines von beiden« und will verhindern, dass das Dokument aus dem Tollhause in dieser Form erscheint. Anfang Mai – ein genaueres Datum wird nicht angegeben – ist sein Plan schon ziemlich fertig, denn er schreibt, diesmal aus Berlin, Deutschland könne, wie Frankreich, seine bedrohten Landsleute schützen, und: »Wir haben grosse deutsche Firmen in Mogador und Agadir!« Deutsche Schiffe könnten sich in diese Häfen begeben, um den deutschen Handelshäusern Schutz zu bringen. Am 11. Mai 38 teilt er der Freundin mit: »Der Kaiser hat mein Marokko-Programm (auch mit Schiffen für Agadir) gebilligt«, alles sei bis jetzt gut gegangen, nur sei leider »der Regenwurm«, Herr von Bethmann, immer mit dabei. In einem Briefe aus Kissingen vom 6. Juni finden sich noch kräftigere Liebenswürdigkeiten über den Reichskanzler und ein froher Ausbruch der Selbstgefälligkeit, ein Vergleich des eigenen Stils mit demjenigen Bethmanns: »Le style – c'est l'homme!« Am 19. Juli kündigt er aus Kissingen den bevorstehenden Besuch Cambons, des französischen Botschafters, an. Anfang Juli – dazwischen liegt das Schweigen – schreibt er, ein nationalliberaler Führer habe ihm zur Sicherung der »Annexion in Marokko« gratuliert. »Ich habe ihm klarmachen wollen, dass wir in Marokko uns wirklich nicht festsetzen wollen. Aber das Rindvieh hat es mir einfach nicht geglaubt!« Ganz wie die Tangerfahrt des Kaisers im Auswärtigen Amte nicht plötzlich beschlossen, sondern in der Stille lange, wenn auch mangelhaft, eingeleitet worden war, war also der Entschluss zur Entsendung eines Kriegsschiffes nach Agadir längst schon reif, als Jules Cambon in Kissingen erschien. Es muss zugegeben werden, dass man bei uns Fehler lange vorbereitete und leichtsinnige Handlungen ohne Ueberstürzung beging.

Die amtliche Aktensammlung, die in dieser Periode lückenhaft ist, bringt zu der Frage, wie Herr von Kiderlen auf die Agadir-Idee verfallen sei, nur ein einziges Dokument. Es ist eine Denkschrift, datiert vom 3. Mai 1911 und verfasst von Herrn Zimmermann, Dirigent der Politischen Abteilung, und dem Freiherrn Langwerth von Simmern, Marokko-Referent. Diese beiden Beamten haben offenbar nur die ihnen vom Chef des Hauses vorgetragenen Gedanken – das Wort »Richtlinien« wurde erst später gebräuchlich – in eine gefällige Form gebracht. Dass sie den Auftrag nicht griesgrämig und widerstrebend ausführten, besonders wohl Zimmermann eine Freude an so frischer Draufgängerei empfand, merkt man dem Stil ihrer Arbeit an. Die Denkschrift sollte den Kaiser, der bis dahin sich jedes neue Marokko-Abenteuer verbeten hatte, umstimmen, und das dialektische Meisterstück erfüllte den erstrebten Zweck. Das Auswärtige Amt bewies mit der Herstellung dieses Schriftstückes seine Leistungsfähigkeit. Die Notwendigkeit, der »durch die Macht der Tatsachen vollzogenen Wandlung Rechnung zu tragen und eine neue Einstellung unserer Politik in bezug auf Marokko vorzunehmen«, wurde, nach längerem Rückblick, ausführlich dargelegt. Deutsche Schiffe könnten sich zum Schutz deutscher Firmen nach Mogador und Agadir begeben, »dort ganz friedlich stationiert werden«, und man würde dann, »im Besitz eines solchen Faustpfandes«, die weitere Entwicklung der Dinge ruhig abwarten können. »Für die Wahl gerade dieser beiden Häfen, deren grosse Entfernung vom Mittelmeer Schwierigkeiten von seiten Englands wenig wahrscheinlich macht, würde ins Gewicht fallen, dass sie ein äusserst fruchtbares Hinterland besitzen, in dem auch nennenswerte Minenschätze vorhanden sein sollen.« Man sieht: in dem 39 einen Satze wird dem Kaiser die Schiffsentsendung nur als ein Mittel, Verhandlungen zu erzwingen, geschildert, und im nächsten werden Begehrlichkeiten erweckt, wird die Phantasie durch den Hinweis auf die »Minenschätze« angereizt. Das Argument, dass die »grosse Entfernung« der beiden Häfen vom Mittelmeer »Schwierigkeiten seitens Englands wenig wahrscheinlich« mache, wirkt überraschend und man fragt sich, ob Herr von Kiderlen und seine Leute bei diesen Worten ganz ernst geblieben sind. Vielleicht handelte es sich auch hier nur um einen gemütlichen süddeutschen Humorausbruch, um einen Witz.

Herr de Selves, der Minister des Aeussern, war am 1. Juli, nachdem der deutsche Botschafter von Schoen ihm die Entsendung des »Panthers« angekündigt hatte, zu Caillaux, dem Ministerpräsidenten, gegangen und hatte ihm die Nachricht überbracht. Man hatte Delcassé, der jetzt Marineminister war, und den Kriegsminister Messimy – sozialistisch-radikal und durchaus kein Freund militärischer Abenteuer – herbeigeholt und de Selves hatte für eine Politik der grossen Geste, für eine stolze Antwort, für die Entsendung eines französischen Kriegsschiffes nach Agadir plädiert. Caillaux hatte energisch widersprochen und auf die Gefahren, die sich aus der Begegnung der deutschen und französischen Besatzungen ergeben konnten, aufmerksam gemacht. Der Präsident der Republik sollte am 3. Juli, begleitet von Herrn de Selves, nach dem Haag reisen, um der Königin Wilhelmine einen Besuch abzustatten, und es erschien empfehlenswert, bis zu seiner Rückkehr zu warten, ruhig zu überlegen und ohne Ueberstürzung vorzugehen. Die andern Minister hatten diese Ansicht des klugen Caillaux gebilligt und der Gedanke des Herrn de Selves, dass in Agadir die französische Flagge neben der deutschen wehen müsse, hatte keinerlei Begeisterung erweckt. Aber Herr de Selves war in seinem Bedürfnis nach ritterlichen Taten hartnäckig wie Don Quichotte. Er fand seltsamerweise einiges Verständnis für seinen Plan bei dem in Paris weilenden Jules Cambon. Dieser in langen Erfahrungen abgekühlte, jetzt aber durch die Kiderlensche Aktion, die so unerwartet der Unterredung in Kissingen gefolgt war, persönlich gekränkte Diplomat riet ihm, in London anfragen zu lassen, ob man dort bereit wäre, einem französischen Kriegsschiff, das nach Agadir ginge, ein englisches beizugesellen. Eine solche gemeinsame Demonstration würde in Berlin einen grossen Eindruck machen und nachdenklich stimmen. Herr de Selves beauftragte den Botschafter Paul Cambon in London, den älteren der beiden diplomatischen Brüder, diese Frage dem Staatssekretär im Foreign Office, Sir Edward Grey, vorzulegen und auf die Absendung eines englischen Kriegsschiffes zu dringen. Ueber die ablehnende Meinung Caillaux' und die Ministerberatung teilte er dem Botschafter nichts mit. Während er dann mit dem Präsidenten der Republik im Haag weilte, wurde die Antwort Paul Cambons zu Caillaux gebracht, der so, äusserst verwundert und stark empört, ganz zufällig Kenntnis von dem Unternehmen seines 40 Aussenministers erhielt. In dem Bericht Paul Cambons hiess es, dass Grey gesagt habe, er könne allein nicht entscheiden, werde den Ministerrat befragen und bitte zunächst, ihn mit genaueren Informationen über die Pariser Wünsche zu versehen. Caillaux telegraphierte sofort an Paul Cambon, er möge die Engländer nicht drängen, und der Botschafter, der aus dieser Weisung die Situation in Paris erkannte, stellte seine Bemühungen ein. Die britische Regierung verwarf nach einigen Tagen den Vorschlag des Herrn de Selves. Sie erklärte, eine Schiffsdemonstration würde mehr schaden als nützen können. Untätig blieb sie nicht. Schon am 4. Juli erklärte Grey dem deutschen Botschafter, Graf Wolff-Metternich, in dieser Frage, die Marokko betreffe, könne die Haltung Englands »keine desinteressierte sein«, und die britische Regierung sei genötigt, ihre »vertragsmässigen Verpflichtungen gegenüber Frankreich und ihre eigenen Interessen« in Betracht zu ziehen. Die Entsendung eines deutschen Schiffes nach Agadir habe eine neue Situation geschaffen, und England würde ein Uebereinkommen, das ohne seine Mitwirkung zustande gebracht worden sei, nicht anerkennen. Die englische Presse äusserte sich ganz ebenso, in immer stärkeren Tönen, aber das alles wurde im Auswärtigen Amt, in Berlin, nicht für sehr beachtlich gehalten, und es wurden keine aufklärenden Mitteilungen an Sir Edward Grey geschickt.

Wilhelm II. hatte sich gegen den »Coup von Agadir« wie gegen die Reise nach Tanger gesträubt. Jedesmal, wenn es sich um Marokko handelte, zeigte sein Instinkt ihm die Gefahren und die ermüdende Aussichtslosigkeit. So oberflächlich er in andern Fällen urteilte und eine »Weltpolitik« proklamierte – er wurde klarsehend und vorsichtig, sobald man zur Aktivität in Marokko drängte, und hatte keine Neigung, sich an dieser Tür noch einmal die Finger zu klemmen. Es war, als erinnerte er sich dann an die Lehren Bismarcks, die der turbulente Schwarm der schlechten Bismarckschüler achtlos in die Johannisfeuer warf. Er hatte nach dem Abschluss des Marokko-Vertrages von 1909 gern sich in den Glauben hineingeredet, nun endlich sei dieser widrige Konfliktsstoff ausgetilgt. Im November 1909 hatte er gewünscht, dass in der Thronrede die kaiserliche Befriedigung über das Abkommen und die Haltung der französischen Regierung ausgesprochen werde, und in sehr energischen Randbemerkungen Herrn von Bethmann-Hollweg zurechtgewiesen, der »eine Anerkennung aus allerhöchstem Munde« ungewöhnlich fand und aus Rücksicht auf andere Länder die besondere Erwähnung Frankreichs für bedenklich hielt. Rücksichten auf andere Länder gebe es dabei überhaupt nicht, »die haben niemals in ihren gegenseitigen Beziehungen Rücksichten auf uns genommen. Wie wir mit den Franzosen stehen, und sie behandeln, ist lediglich unsere Sache und geht niemand was an! . . . Und der Zweck, den Galliern zu schmeicheln und eine Freude zu machen, ist gut! Das Marokko-Abkommen ist Mein eigenstes persönliches Werk, von Mir trotz der 41 Verschleppung und des Kleinmutes Meiner Beamten durchgebracht, und hat zum Wohl beider Länder sich bewährt«. Am 22. April 1911, als die ersten Nachrichten über die Bedrohung der französischen Kolonie in Fez zum kaiserlichen Hoflager auf Korfu kamen, telegraphierte Wilhelm II., ahnungsvoll und besorgt, aus dem Achilleion an Herrn von Bethmann: »Falls sich Nachricht bewahrheitet, werden Franzosen wohl, wie Cambon Ihnen schon andeutete, grössere militärische Expeditionen nach Fez unternehmen müssen. Uns kann es nur recht sein, wenn Franzosen sich mit Truppen und Geld tüchtig in Marokko engagieren, und ich bin der Ansicht, dass es nicht in unserem Interesse liegt, dies zu verhindern. Verstossen die Franzosen gegen die Bestimmungen der Algeciras-Akte, so können wir es zunächst den andern Mächten, vor allem Spanien überlassen, dagegen zu protestieren. Vermutlich wird bei uns wieder der Wunsch nach Entsendung von Kriegsschiffen laut werden. Mit Kriegsschiffen können wir aber, da Tanger nicht bedroht ist, sondern das Aktionsfeld im Innern liegt, nichts ausrichten. Ich bitte Sie daher, einem etwaigen Geschrei nach Kriegsschiffen von vornherein entgegenzutreten.« Man sieht, wie er schnell und heftig alle Gründe, sehr gute und etwas wacklige, die ihm gerade einfielen, vorschickte, um die übereifrigen Projektemacher, deren Geschäftigkeit er in der Ferne ahnte, zum Schweigen zu bringen. Herr von Bethmann-Hollweg antwortete alleruntertänigst, er werde, der allergnädigsten Weisung entsprechend, »etwaigen diesbezüglichen Wünschen von vornherein entgegentreten«, habe aber von einem solchen Wunsche bisher nichts gehört. Vier Tage später, am 26. April, liess Wilhelm II. durch seinen diplomatischen Begleiter, den Gesandten Freiherrn von Jenisch, an das Auswärtige Amt telegraphieren: »Ist ganz egal, ob sie einmarschieren, damit sind wir sie an unserer Westgrenze etwas los.« Am 30. April berichtete Jenisch an den offenbar schon drängenden Kiderlen, der Kaiser wolle absolut nicht, dass man die Franzosen hindere, sich in Marokko ernstlich zu engagieren, und wir würden doch nur das Nachsehen haben, denn wir wollten doch Marokkos wegen keinen Krieg. Aber es lag in der Natur Wilhelms II., dass er gerade dort, wo er instinktiv das Richtige erkannte, dann schwach wurde, seine bessere Meinung preisgab und, achselzuckend in sein Zelt sich zurückziehend, den Vertretern der schlechteren das Feld überliess. Jedesmal in solchen Fällen folgte der bestimmten und herrischen Betonung seines eigenen Willens ein plötzliches Sichdreinergeben – und immer hielt der Ueberwundene sich dann bereit, bei einem Misserfolge zu sagen, er habe abgeraten und die Verantwortung laste nicht auf ihm. Unzweifelhaft bereitete es ihm mitunter eine primitive Freude, so den Beweis seiner Ueberlegenheit führen zu können. Das söhnte ihn dann, nach einem ersten Zornesanfall, mit den Fehlern seiner Ratgeber aus. Am 5. Mai überreichte Herr von Bethmann-Hollweg in Karlsruhe dem von Korfu heimkehrenden Monarchen jene Denkschrift, die von 42 Zimmermann und dem Freiherrn Langwerth von Simmern stilisiert war und so einleuchtend die Notwendigkeit der Schiffsentsendung bewies. Am folgenden Tage gab Herr von Kiderlen-Wächter dem Kaiser noch nützliche Erläuterungen, und gleich nach diesem Vortrage konnte an Fräulein Kypke die Mitteilung abgehen, Wilhelm II. habe nun dem Agadir-Plan zugestimmt. Der Monarch glich den Trojanerinnen im zweiten Teil des »Faust«. Die Chorführerin sagt von ihnen: »Vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung.«

Indessen, so plötzlich der Politik des Herrn Kiderlen die kaiserliche Sonne leuchtete, so plötzlich trat diese Sonne wieder hinter die Wolken zurück. Als die Verhandlungen zwischen Herrn von Kiderlen und dem Botschafter Cambon nur langsam begannen, um noch langsamer weiterzugehen, und immer nur ganz allgemein von möglichen Kompensationen am Kongo gesprochen wurde, schrieb Wilhelm II., am 10. Juli, an den Rand eines Kanzlerberichtes viele ärgerliche Tadelsworte: »Damit sind Wir schon seit Wochen beschäftigt! – Also gar nichts effektuiert! – Diese Art von Diplomatie ist für Mein Gehirn zu fein und zu hoch!« Am 15. Juli bemerkte der Reichskanzler in einem Telegramm an den gerade wieder nordlandfahrenden Kaiser, Kiderlen habe nach einer Unterredung mit Cambon den Eindruck gehabt, dass »wir jedenfalls noch sehr kräftig auftreten müssten«, um zu einem günstigen Resultat zu kommen. Wilhelm II. versah diese unvorsichtige Mitteilung mit einem Ausbruch äusserster Aufregung: »Dann muss ich sofort nach Hause. Denn ich kann meine Regierung nicht so auftreten lassen, ohne an Ort und Stelle zu sein, um die Konsequenzen genau zu übersehen und in der Hand zu haben! Das wäre sonst unverzeihlich, und zu parlamentarisch! Le Roi s'amuse! Und derweilen steuern wir auf die Mobilmachung los! Ohne Mich darf das nicht geschehen!« Am Schlusse folgte eine scharfe Rüge für den Reichskanzler und das Auswärtige Amt. Man habe Monate ungenützt verstreichen lassen, inzwischen habe England sich eingemischt – das öffentliche und jede Illusion beendende Hervortreten Englands kam erst ein paar Tage später – und habe seinen Alliierten den Rücken gestärkt. Herr von Bethmann schickte beruhigende Depeschen nach Balholmen, dem kaiserlichen Standquartier, und versicherte, eine Drohung an Frankreich sei in keiner Weise erfolgt und er könne »bis jetzt auch keinen Anlass zu einer solchen erkennen«. Herr von Kiderlen aber schrieb dem Reichskanzler, dass er seinen Abschied erbitte – mehr könne Seine Majestät nicht verlangen. Die Franzosen würden »sich zu einem annehmbaren Angebot nur entschliessen, wenn sie ganz fest überzeugt sind, dass wir andernfalls zum Aeussersten entschlossen sind«. Wir müssten den ganzen französischen Kongo haben, ein Nachgeben würde die Franzosen so übermütig machen, »dass wir über kurz oder lang sie doch koramieren müssten«, und einen befriedigenden Abschluss »erreichen wir nur, wenn wir bereit sind, die letzten Konsequenzen zu 43 ziehen«. Er, Kiderlen, glaube, jede Phase der Aktion gewissenhaft abgewogen zu haben, und da Seine Majestät seinen Modus procedendi missbillige, bitte er, einen andern Unterhändler zu ernennen. Nachdem er das allerhöchste Vertrauen verloren habe, könne er nicht mehr so energisch auftreten, wie es nötig sei. Bethmann antwortete, er wolle das Rücktrittsgesuch noch nicht dem Kaiser übersenden, und wenn Kiderlen auf seinem Wunsche bestehe, werde er gleichfalls gehen. Am nächsten Tage, dem 19. Juli, war Herr von Kiderlen immer noch sehr beleidigt, tat immer noch sehr demissionslustig, erklärte, es sei zwar von ernster Sprache »bis zu direkten Drohungen noch ein weiter Weg«, aber im Notfall müssten wir nicht nur den Franzosen erklären, wir seien zum Aeussersten entschlossen, sondern wir müssten dann »auch innerlich dazu entschlossen sein«. Wilhelm II. gab abermals nach. Am 21. Juli ermächtigte er den Reichskanzler telegraphisch, »Verhandlungen in bisher befohlener Weise fortzuführen«, und Herr von Kiderlen begnügte sich mit diesem nicht ganz eindeutigen Orakelspruch.

Die Aeusserungen des Herrn von Kiderlen-Wächter, über die Wilhelm II. mit Recht in Erregung geriet, zeigen den Geist einer gewissen Art von Diplomatie. Herr von Kiderlen hatte, begleitet vom Schatten des Reichskanzlers, eine fehlerhafte Politik gemacht, denjenigen, die an die Existenz Englands erinnerten, leichtfertig gesagt: »Was geht das England an?« und sich, schlimmer noch als seine viel kritisierten Vorgänger, auf gefährliche, ungangbare, nicht weiterführende Wege verirrt. Was tat er, als er den Misserfolg kommen sah? In der Furcht, das Spiel und sein Prestige zu verlieren, und, wenn man den psychologischen Fall vergrössern will, nun auch das unüberlegt eingesetzte deutsche Prestige bedroht glaubend, rief er nach der »Entschlossenheit bis zum Aeussersten«, verlangte er, dass das deutsche Volk sich im Notfalle in einen Krieg stürze, um ihn und seine verfehlte Politik herauszuhauen. Wollte er das alles wirklich, war sein Gebaren echt? Alle, die ihn gekannt haben, bestreiten das, wenn man sie befragt, und sagen aus, er sei gar kein Kriegsheld gewesen, habe im Laufe der Verhandlungen eifrig nach jedem Strohhalm gegriffen und mit seinen bisweilen etwas ordinären Kraftworten nur seine unsichere Seele beruhigen wollen. Zweifellos, Herr von Kiderlen-Wächter gefiel sich, als er jene kriegerischen Worte schrieb und es für die Pflicht des deutschen Volkes erklärte, zum Schutz diplomatischer Unfähigkeit auf dem Schlachtfelde zu sterben, nun in einer historischen Pose und seine »Entschlossenheit bis zum Aeussersten« war im Grunde nicht ernst. Aber diese Pose war ungemein gefährlich und es kann geschehen, dass man den Rückweg verfehlt. Herr von Kiderlen-Wächter fand den Rückweg noch. Weil er sich dann mit einem kümmerlichen Resultat begnügte, der Friedenswille des Kaisers feststand und auf der Seite der Gegner noch niemand da war, der auf einen entscheidenden Fehler der deutschen Politik wartete und bereit stand für die grosse Gelegenheit.

44 Jetzt gab die englische Regierung, noch immer ohne Mitteilungen aus Berlin, ihren Standpunkt in sehr deutlicher Weise zu erkennen. Was nun geschah, konnte in Berlin nur deshalb überraschen, weil man sich nicht bemüht hatte, irgend etwas vorher zu sehen. Am 21. Juli bat Sir Edward Grey den deutschen Botschafter Graf Wolff-Metternich um eine Zusammenkunft. Er fragte ihn : »Was tut Deutschland in dem Hafen von Agadir und in seinem Hinterland?« Er sei über die Absichten der deutschen Regierung nicht im mindesten informiert. Die Agadir-Frage berühre auch englische Interessen, und wenn die deutsch-französischen Verhandlungen scheitern sollten, könnten die Tatsachen, denen er sich gegenübersehen würde, ihn zu einer Stellungnahme zwingen. Daraus würde eine noch schwierigere und ernstere Lage entstehen. Wolff-Metternich verteidigte die Berliner Politik, ohne, wie er betonen musste, Gang und Stand der Verhandlungen zu kennen. Am gleichen Tage hielt der Schatzkanzler Lloyd George bei einem Bankett der Citybankiers eine grosse politische Rede, in der er sagte, er würde für die Bewahrung des Friedens gern Opfer bringen. »Aber sollten wir gezwungenermassen in eine Lage versetzt werden, in der der Friede nur durch Preisgabe der angesehenen Stellung erhalten werden kann, die sich Grossbritannien im Laufe jahrhundertelangen Heldentums errungen hat, und sollte Grossbritannien, wo es um seine Lebensinteressen geht, behandelt werden, als wenn es im Rate der Völker keine Bedeutung hätte, so sage ich nachdrücklich, dass ein Friede um diesen Preis für unser grosses Land eine Erniedrigung darstellen würde, die wir nicht ertragen können.« Lloyd George hatte vor kurzem noch zu der Gruppe im liberalen Kabinett gehört, die entschieden pazifistisch gesinnt war, die immer engere Bindung an Frankreich mit Misstrauen und Unbehagen betrachtete und jeden Schritt, der weiter von Deutschland fortführen konnte, unglückselig fand. Jetzt, unter dem Eindruck der Agadir-Aktion und der Berliner Heimlichkeitstaktik, war er, und gleich mit der Verve, die er diplomatischem Säuseln vorzog, von den Lords Morley und Loreburn zu Winston Churchill und Grey übergegangen.

Die englischen Blätter erklärten, Lloyd George habe den Deutschen eine notwendige Warnung erteilt. Die französische Presse war sehr erfreut über Lloyd George, den sie nicht immer mit dieser Liebe behandelt hatte, und ein neuer Wind liess die nationalistischen Segel schwellen. In Berlin war man, je nach der natürlichen Veranlagung, verlegen oder zornentflammt. Kiderlen telegraphierte an Metternich, die Rede Lloyd Georges habe in hohem Grade verstimmt. Wenn England Wünsche habe, so hätte es sie auf dem üblichen Wege nach Berlin übermitteln sollen. Es sei schwer, die Gründe für öffentliche Erklärungen zu erkennen, »welche zum mindesten als eine Warnung an die deutsche Adresse gedeutet werden könnten und tatsächlich von englischen und französischen Blättern als eine an Drohungen grenzende Warnung gedeutet worden sind«. Das alles möge Metternich Sir Edward 45 Grey sagen, und zwar »ohne Verzug«. Vielleicht werde Grey behaupten, die Presse habe die Rede falsch ausgelegt, aber dann müsse die deutsche Regierung eine öffentliche Erklärung in diesem Sinne verlangen. Am folgenden Tage, dem 25. Juli, neues Telegramm Kiderlens an Metternich, diesmal scharf gegen Frankreich und wieder zur Uebermittlung an Grey bestimmt. »Nach den vielen Provokationen von seiten Frankreichs« gebiete es uns unsere Stellung als Grossmacht, eventuell »mit allen Mitteln, und, falls notwendig, auch allein bei Frankreich die volle Achtung vor unsern vertraglichen Rechten« zu erzwingen. Graf Wolff-Metternich führte die empfangenen Weisungen aus. Es scheint, dass diesen sonst so einsichtsvollen und ruhig wägenden Botschafter die Rede Lloyd Georges auch ein wenig aus der Fassung gebracht hatte, denn statt das rauhe Diktat Kiderlens durch eine leichtere Vortragsweise zu mildern, sprach er mit jener Würde, die, nach dem Worte des Dichters, die Vertraulichkeit entfernt. Grey – der, wie er versichert, die Rede Lloyd Georges »in keiner Weise angestiftet, aber begrüsst« hatte – antwortete dem deutschen Botschafter, der Ton der Kiderlenschen Mitteilung mache es ihm unmöglich, irgendwelche Erklärungen abzugeben – das lasse die Würde von Seiner Majestät Regierung nicht zu. So steht es in Greys und Churchills Aufzeichnungen, während der Bericht Metternichs die Ablehnung, aber nicht ihren Wortlaut wiedergibt. Nach dieser Unterredung empfing Grey seine Kabinettskollegen und sagte: »Der deutsche Botschafter hat mir soeben eine so steif-förmliche Erklärung abgegeben, dass man auf einen sofortigen Angriff auf die Flotte gefasst sein muss. Ich habe MacKenna« – damals Erster Lord der Admiralität – »gewarnt.« Wirklich, die britische Regierung sah in der Prosa des Herrn von Kiderlen das Vorwort zu kriegerischen Handlungen und rüstete sich. »Nun flogen«, sagt der immer etwas dichterische Churchill, »die drahtlosen Telegramme zu den hohen Masten der Schiffe hin.« Bis zum 22. September, erzählt Harold Nicolson, erwartete man den Ausbruch von Feindseligkeiten und die Tunnels und Brücken der South Eastern Bahn wurden bei Tag und Nacht bewacht. Nicolson, der Vater, Staatssekretär des Foreign Office, schrieb an Lord Hardinge, seinen Vorgänger: »Ich kann Ihnen im Vertrauen mitteilen, dass die Vorbereitung zur Landung von vier bis sechs Divisionen auf dem Kontinent bis ins Kleinste ausgearbeitet worden ist.« Am 27. Juli erschreckte der Polizeipräsident, Sir Edward Henry, bei einer Gartengesellschaft Churchill durch die Bemerkung, die Flottenmagazine in Chattendam und Lodge Hill würden nur durch wenige Polizeibeamte beschützt. Churchill fragte, »was wohl geschehen würde, wenn zwanzig entschlossene, gut bewaffnete Deutsche dort plötzlich in zwei oder drei Autos erschienen«, und der Polizeipräsident entgegnete : »Dann könnten sie tun, was ihnen beliebt« . . . »Ich verliess die Gesellschaft eiligst«, schreibt Churchill, »und wenige Minuten darauf rief ich von meinem Amtszimmer aus die Admiralität telephonisch an.« Es war niemand da, 46 nur ein stellvertretender Admiral, und er wollte keine Seesoldaten nach Chattendam und Lodge Hill schicken, weil der Befehl des »Heimatministers« Churchill für ihn nicht verpflichtend sei. Aber Churchill, tapfer und tatendurstig, machte nun telephonisch das Kriegsministerium mobil. »Ein paar Stunden später waren die Truppen unterwegs und vom nächsten Tage an waren die Reserven der Flotte in Sicherheit.« Grey sagt einmal von Churchill: »Sein Feuergeist fühlte sich nur in der Atmosphäre von Krisen und grossen Ereignissen wohl.« Diesmal indessen blieb der Krieg, den der phantasievolle Churchill führte, nur ein Krieg am Telephon.

Auch die Entrüstung in Deutschland war nicht berechtigt, denn Herr von Kiderlen-Wächter hatte durch seine Nonchalance, sein Uebersehen des Wichtigsten, seine burschikose Manier, achselzuckend Selbstsicherheit zu spielen, den Affront heraufbeschworen und wie Don Juan das Erscheinen des steinernen Gastes provoziert. England, das den Marokko-Vertrag mit Frankreich abgeschlossen hatte, in Hafenfragen und Kolonialdingen nicht gleichgültig war und eine immerhin beachtenswerte Weltstellung einnahm, musste selbstverständlich über die Absichten, die Deutschland mit seinem Agadir-Trick verfolgte, aufgeklärt werden, und da das nicht geschehen, mit keiner andeutenden Silbe geschehen war, durfte man sich nicht darüber wundern, dass ein englischer Staatsmann gegenüber einem so theatralischen Mysterium öffentlich den Standpunkt und die Interessen seines Landes unterstrich. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Herr von Kiderlen-Wächter, den zwischen Tatfrische und Bekümmernis schwankenden Bethmann hinter sich herschleifend, die Agadir-Aktion begann, ohne sich auch nur im mindesten nach der englischen Seite hin zu sichern, die englischen Besorgnisse zu dämpfen, die englische Empfindlichkeit zu beruhigen, und dass er so, mit der gleichen Nachlässigkeit wie die Tanger-Diplomatie verfahrend, genau die gleiche Situation noch einmal schuf. Dieser schwäbische Humorist mochte in den Briefen an die Herzensdame sich über die ihm fremden englischen Sitten und Eigenschaften lustig machen, aber er hätte nicht vergessen dürfen, dass in der Politik England gewissermassen ernst zu nehmen war. Waren nur Fahrlässigkeit und die für »bismärckisch« ausgegebene Dickfelligkeit – wie sorgfältig war Bismarck in der Vorbereitung und Ueberlegung seiner Handlungen! – die Gründe, aus denen sich das Versehen des Herrn von Kiderlen-Wächter ergab? Nein, eine üble Neigung zum Versteckspiel, zu einer ironischen Listigkeit, zu einem blinzelnden Schlautun, verleitete hier wie in andern Fällen manche Führergestalten der deutschen Diplomatie. Leute, denen weder die weltmännische Kühle der Angelsachsen noch die romanische Glätte eigen war, glaubten, man müsse vor allem eine recht geheimnisvolle Miene machen, um ein vollendeter Schüler des Machiavelli zu sein. Unglücklicherweise überschätzten die andern mitunter dieses Gebärdenspiel und vermuteten wirklich diabolische Pläne 47 hinter einer Maske, die in Wahrheit nichts verbarg als eine innere Unsicherheit.

Wenn gefragt wird, ob während dieser Agadir-Affäre eine wirkliche Kriegsgefahr bestanden habe, so muss man diese Frage bejahen. Niemand wollte einen Krieg, weder Kiderlen noch Wilhelm II., weder die französische noch die englische Regierung, aber darauf kommt es bekanntlich nicht an. Man schlidderte über das Eis und wenn man nicht ausglitt, so verdankte man das eher einer glücklichen Fügung als dem eigenen Verstande oder einer besondern Geschicklichkeit. Wie Kinder, die ahnungslos am Dachrande schaukeln, wurden die Völker noch einmal von Engeln behütet, aber es wäre übertrieben, zu behaupten, dass die Staatsmänner die sorgsamen Schutzengel des Friedens gewesen seien. Die Katastrophe hätte schon eintreten können, als Herr de Selves seinen Wunsch, ein französisches und ein englisches Kriegsschiff nach Agadir fahren zu sehen, in London mitteilen liess. Damals beseitigten die Weigerung der britischen Regierung und das Eingreifen Caillaux' die Feuersgefahr. Aber nach dem Besuch Wolff-Metternichs glaubte Grey und glaubten das englische Kabinett und die englische Admiralität, dass man »auf einen sofortigen Angriff auf die Flotte gefasst sein« müsse, und bereiteten sich gegen diesen Angriff, der nicht beabsichtigt wurde, nun selber vor. Tirpitz hat wiedergegeben, was später der englische Marineattaché in Rom dem deutschen Korvettenkapitän von Rheinbaben über diese kritischen Stunden erzählt hat, der englische Generalstabschef, Sir Henry Wilson, und andere englische Memoirenschreiber haben diese Mitteilungen ergänzt und der englische konservative Abgeordnete Kapitän Faber hat im November 1911, in einer Rede, die gewaltiges Aufsehen erregte, die Kriegsrüstungen und die Verabredungen, die zwischen den englischen und französischen Militärs für einen Kriegsfall getroffen wurden, ausführlich und mit allen Einzelheiten dargestellt. Allerdings, es handelte sich immer nur um Abwehr, um Defensive, um Schutz gegen einen etwaigen Ueberfall. Aber ganz abgesehen davon, dass diese militärischen Unterhaltungen die Vertragslust der französischen Diplomatie vermindern und so die Situation verschärfen konnten, schuf doch hier die Furcht wieder die Gefahr.

 

Wenn die deutsche Marine und der deutsche Generalstab im Juli 1911 all das gewusst hätten, was im November 1911 der Kapitän Faber enthüllte, und was schliesslich Churchill, Wilson und andere bestätigten, dann hätten sie doch ohne Zweifel Gegenmassregeln ergriffen, und der allgemeine und allgemein berechtigte Wunsch, bereit zu sein und sich nicht überraschen zu lassen, hätte sehr leicht zum Konflikt, zum Zusammenstoss führen können. Das Völkermorden brach vielleicht nur deshalb nicht los, weil im Juli 1911 der Umfang der englischen »dienstlich-technischen Vorbereitungen« den militärischen Beobachtungsstationen in Deutschland verborgen blieb.

48 Auch in andern Momenten wurde auf dem Olymp unvorsichtig mit dem Blitz umgegangen. Dies geschah im Monat August, einem freilich sehr heissen Monat, in Wilhelmshöhe, wo sich das kaiserliche Hoflager befand. Am 4. August telegraphierte der Botschafter von Schoen, sein »Mittelsmann« – der Financier Fondère – habe ihm berichtet, Frankreich und England würden in einer Woche Kriegsschiffe nach Agadir schicken, wenn die Verhandlungen nicht schneller vorwärts gingen. Die Fassung des Telegramms konnte die Meinung entstehen lassen, Caillaux habe den Herrn Fondère mit einer solchen Ankündigung zur deutschen Botschaft geschickt. Bekanntlich hatte gerade Caillaux, genau einen Monat vorher, die von Herrn de Selves, seinem Minister des Aeussern, geplante Entsendung eines Kriegsschiffes vereitelt und es ist sehr möglich, dass er jetzt Herrn Fondère nur gesagt hatte, durch das lange Hinauszögern einer Einigung werde ihm der Widerstand gegen diejenigen, die eine solche Massregel verlangten, sehr erschwert. Jedenfalls wusste man, dass unter allen französischen Staatsmännern Caillaux am wenigsten zu einer Kriegspolitik neigte, und deshalb hätte man, falls man der Erzählung eines »Mittelmannes« überhaupt eine grosse Bedeutung beilegen wollte, sich mit einer kühlen Antwort begnügen können. Dass Herr von Kiderlen den Fall für die Verbesserung seiner Situation ausnutzte, die Zurücknahme der nicht bewiesenen Drohung forderte und erklärte, bis dahin die Verhandlungen nicht weiterführen zu wollen, kann man verstehen. Aus den diplomatischen Akten ist aber auch zu ersehen, dass bereits der Admiralstab mit der Angelegenheit befasst wurde, und dass der Kaiser sich »Vorschläge betreffend beschleunigter Zusammenziehung der Flotte« unterbreiten liess. Wilhelm II. war offenbar über die Beleidigung, die Caillaux angeblich ihm persönlich zugefügt hatte, geradezu fassungslos. Er gebrauchte am Rande eines Kiderlenschen Berichtes nur Worte wie »Unverschämtheit«, »Frechheit«, und befahl in aufgeregtem Deutsch: »Der Mittelsmann hat umgehend Herrn Caillaux aufzusuchen und ihm klarzumachen, dass binnen vierundzwanzig Stunden er um Verzeihung gebeten hat, Mich in der frechen Weise behandelt zu haben, sonst breche Ich die Verhandlungen ab!« Als er am nächsten Tage die Bitte um Verzeihung noch nicht in Händen hatte, telegraphierte er an Kiderlen und verlangte »die uns gebührende Réparation d'Honneur«. Er sei, erklärte er, nicht gewillt, die behagliche Art Schoens in der Behandlung einer Ehrensache länger mit anzusehen, empfinde die kolossale französische Unverschämtheit als eine Ohrfeige und ordne an: »Schoen hat sofort den Mittelsmann an Caillaux per Auto oder Zug nachzusenden und binnen vierundzwanzig Stunden die Antwort von ihm zu erwirken, dass 1. er diese Drohung zurücknehme, 2. um Verzeihung bitte und 3. sich verpflichte, uns endlich festes Angebot zu machen, damit Verhandlungen zum Abschluss zu bringen sind.« Inzwischen hatte Caillaux durch den Mittelsmann dem deutschen Botschafter mitteilen lassen, die ganze Geschichte beruhe 49 auf einem Missverständnis, er habe nur Herrn Fondère gesagt, dass Hitzköpfe nach der Schiffsentsendung schreien könnten, und auch die Ueberbringung dieser Bemerkung an die Botschaft habe er ganz und gar nicht gewünscht. Wilhelm II., auf die eben noch geforderte Abbitte und die »Réparation d'Honneur« verzichtend, nahm diese Erklärung zur Kenntnis und beendete den Ehrenhandel mit der kurzen Randnotiz: »Er zoggt.«

In dieser Episode hatte die Sprache Wilhelms II. etwas vom Ton der Verse, die in Grillparzers »König Ottokars Glück und Ende« aus dem königlichen Munde kommen. »Die Ehre eines Königs – Steht nicht um tausend Menschenleben feil.« Ohne Zweifel, Wilhelm II. wünschte nicht eine blutige Reinwaschung der angeblich beleidigten Majestät. Aber wie ein Korpsstudent redete er sich in einen Ehrenhandel hinein und er konnte sehr leicht den nicht ernsthaft gewollten Konflikt heraufbeschwören, indem er nach Genugtuung rief. Solange die kaiserliche Forderung nach Abbitte und »Réparation d'Honneur« nicht überbracht wurde oder geheim blieb, war alles gut. Aber man denke sich, die Kunde davon wäre in die Oeffentlichkeit gedrungen! An demselben 9. August, an dem der Kaiser seine Befehle von Wilhelmshöhe losschmetterte, traf in Berlin bereits das Telegramm des Herrn von Schoen mit den Erklärungen des französischen Ministerpräsidenten ein. Wenn Caillaux, der sich bis dahin in der Provinz befand, vierundzwanzig Stunden später nach Paris zurückgekehrt wäre, hätte der Botschafter ihm wahrscheinlich die Forderungen Wilhelms II. bekanntgeben müssen, und die befriedigende Beilegung dieser Ehrenaffäre – unter einer brausenden nationalistischen Begleitmusik auf beiden Seiten – hätte dann einige Mühe gemacht. In den Akten steht nichts davon, dass der Reichskanzler oder Herr von Kiderlen dem Souverän besänftigende Ratschläge dargereicht hätten, aber vielleicht hat die Zeit dafür gemangelt und sie haben sich gesagt, der Vulkan bleibe im allgemeinen nicht lange in Tätigkeit. Immerhin ist es ein Schönheitsfehler, dass man in dem diplomatischen Sammelwerk vergeblich nach ihren warnenden Worten suchen muss.

Man kann auch hier wieder entschuldigend sagen, dass Wilhelm II. nur zudringlicher Beeinflussung unterlag. Ob das aber wirklich eine Entschuldigung ist und nicht die Schwächen der Persönlichkeit noch mehr hervorhebt, ist doch zweifelhaft. Der byzantinische Applaus steigerte in ihm den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit. Die aufhetzenden, stacheligen Spottverse und die Tadelsworte chauvinistischer Kraftschwätzer wirkten so auf den Beifallsbedürftigen, dass er mitunter die ruhige Ueberlegung verlor. Friedrich Thimme hat in einer Fussnote der Aktensammlung ein paar solcher Tiraden, die im August 1911 in Hardens »Zukunft« erschienen, kurz erwähnt. Aus der gleichen Quelle floss allwöchentlich der Hohn auf das allzu friedliche gekrönte Haupt herab. Wilhelm II. hatte in einer solchen Nummer gerade gelesen: 50 »Hier fiel ein König, aber nicht im Streit«, als er die Nachricht von dem angeblichen Vergehen Caillaux' erhielt. Er stand, wie der Gesandte von Jenisch aus Wilhelmshöhe berichtete, ganz unter dem Eindruck dieser Lektüre und wollte in hitziger Aufwallung zeigen, dass er kein lammherziger Feigling sei. Vielerlei schrieb er, über den Arbeitstisch hinweg in den Spiegel blickend, mit kühnem Bleistift auf den Aktenrand. »Sie (die Franzosen) bieten jetzt sofort was Annehmbares an, oder wir nehmen uns noch mehr, und das gleich!« Dann wieder schwelgte er in Worten wie diesen: »Die Franzosen müssen so oder so über den Graben springen, oder die Sporen kriegen« – eine politische Stallmeisterphantasie. Das alles, nachdem nicht lange vorher dieselbe kaiserliche Hand Mahnungen niedergeschrieben hatte, die eine sehr vernünftige Abneigung gegen Sporn und Graben bewiesen, und der Reisebegleiter von Treutler nach Berlin gemeldet hatte, es werde schwer sein, Seine Majestät für solche Schritte zu gewinnen. Als die diplomatischen Verhandlungen endlich abgeschlossen waren, forderte im Auftrag Wilhelms II. der Gesandte Freiherr von Jenisch das Auswärtige Amt auf, ein Weissbuch herauszugeben, der Oeffentlichkeit darin mit aller Deutlichkeit den Anteil zu zeigen, den der Monarch an der Marokko-Frage genommen habe, und so der fälschlichen Ansicht entgegenzutreten, »Allerhöchstderselbe« habe »gekniffen« oder im Verlaufe der Ereignisse geschwankt. Kiderlen, der sich offenbar sagte, dass die Hofporträtisten schon genug leisteten, lehnte die Herausgabe eines solchen Heldenepos ab.

Ueber die einzelnen Etappen, das Hin und Her der Verhandlungen, findet man in dem 29. Bande der »Grossen Politik«, der die Agadir-Akten enthält, nicht gerade viel. Thimme selbst, der Herausgeber, weist auf diese Lücken hin. Herr von Kiderlen machte sich nach seinen Gesprächen mit Jules Cambon einige Notizen, und diese Erinnerungszettel waren für die Westentasche, nicht für das Archiv geeignet und bestimmt. Ein paarmal liess der Staatssekretär Herrn von der Lancken nach Berlin kommen, um sich zu informieren, und sonst verfuhr er beinahe wie Holstein, der die Einzelheiten seiner Aktionen vor dem Wissensdrang des Auswärtigen Amtes verborgen hielt. Reicheres Aktenmaterial über diesen mit allen Finessen geführten Kampf zwischen zwei Diplomaten wäre auch eine überflüssige Belastung, und wir brauchen nicht jedes Wort zu wissen, das der eine oder der andere sprach. Es genügt, im allgemeinen den Verlauf dieser zähen Auseinandersetzung zu kennen, in der Herr von Kiderlen zuerst das ganze französische Kongogebiet forderte, Togo dafür hergeben wollte, dann diese deutsche Gegengabe – weil das Kolonialamt sich widersetzte – zurückziehen musste, lange noch für jeden Kilometer des Stromufers und für ein Fleckchen der Küste sein starkes Ringertalent aufbot und schliesslich ein umfangreiches afrikanisches Landstück von zweifelhafter Güte, ein paar kurze, voneinander getrennte Strecken am Kongo und eine Bucht am Meere 51 nahm. Frankreich erhielt in diesem Afrika einige Austauschobjekte, aber es gewann nun die volle Bewegungsfreiheit in Marokko und fügte so diesen ungeheuer wertvollen Besitz endgültig in sein Kolonialreich ein. Am 1. Juli 1911 hatte Herr von Schoen in Paris die Entsendung des »Panthers« nach Agadir mitgeteilt, am 4. November wurde der Vertrag unterzeichnet, genau vier Monate hatte man herumgetastet, einander behorcht, gedroht, geblufft und gefeilscht. Jules Cambon hat in einem Buche, »Le Diplomate«, einer Frucht seiner Altersmusse, erzählt, dass einmal während der Verhandlungen Kiderlen, den er auf die Ungeduld der öffentlichen Meinung aufmerksam machte, ihm erwidert habe: »Wir beide, Sie und ich, wollen zu einem Resultat kommen, aber man muss zunächst »user les amours-propres« – was auf deutsch etwa besagt, man müsse den Stolz und die Empfindlichkeit auf beiden Seiten sich abnutzen lassen, und dazu gehöre Zeit. »Was gestern unmöglich war, und heute schwierig sein würde, wird morgen mit Aufatmen begrüsst werden«, habe Kiderlen hinzugesetzt. Das ist eine diplomatische Lebensregel, die gewiss in manchen Situationen nützlich sein kann und befolgt werden muss. Aber hier wurden in vier Monaten die Empfindlichkeiten nicht abgenutzt, sondern immer mehr verschärft, und am Schlusse blieb das Auftamen aus.

In Deutschland war die Unzufriedenheit ziemlich allgemein. Die Freunde einer vernünftigen Politik hatten mit tiefer Verstimmung gesehen, wie in diesen vier Monaten eines Kongo-Fetzens wegen die Leidenschaften immer mehr erhitzt wurden, und die grossen Kraftmenschen waren unendlich enttäuscht. Die Kolonialkenner schilderten, offenbar wahrheitsgetreu, den neuen Besitz am Kongo als ein Land, in dem ausser der Schlafkrankheit wenig zu holen sei. Herr von Lindequist, der Staatssekretär des Reichskolonialamtes, der vergeblich dieser Erwerbung widersprochen hatte, trat von seinem Posten zurück. Genau wie nach Algeciras, nur noch stärker, empfand man den Ausgang des grossartig eingeleiteten Unternehmens als eine Schlappe, mindestens als einen Misserfolg. Dieses Gefühl, nach so lauten Trompetenstössen wieder unterlegen zu sein, war sicherlich nutzbarer für den Nationalismus als für eine Politik der Beruhigung. So stellte das befreiende Aufatmen sich in Deutschland dar. Und bei den andern Beteiligten, in der Nachbarschaft?

Die Franzosen hätten Ursache gehabt, sich über den Geschäftsabschluss zu freuen. Sie hatten nun Marokko, und sie gaben nur etwas fort, was von ungleich geringerem Werte und ihrem Auge und ihrem Geiste so fern und fremd gewesen war, wie der europäische Norden den Griechen zur Zeit des Vaters Herodot. Aber wenn man in Berlin der Meinung gewesen war, eine solche Einigung müsste eine günstige Stimmung gegenüber Deutschland schaffen, ganz wie der französisch-englische Vertrag vom Jahre 1904 den französischen Hass gegen England beseitigt hatte, so bewies das nur wieder, wie wenig der eine den andern 52 kannte und wie oberflächlich man das notwendigste Studium der Völkerpsychologie betrieb. Die Verständigung, zu der man nach vier Monaten gelangte, konnte nicht heilsam wirken, weil die Franzosen den »Panther« in Agadir sahen und den Eindruck hatten, dass sie nicht frei verhandelt, nicht freiwillig ihre Zustimmung gegeben hätten, sondern gezwungen worden seien. Hätte das deutsche Volk in ähnlicher Lage sehr viel anders gedacht und gefühlt? Die Staatsmänner und diejenigen, die man so nennt, sollten wenigstens gewisse psychologische Grundregeln beachten, die für alle Völker in gleicher Weise gelten, und sollten sich mit einem verkannten Vertreter des Rechtsgedankens, mit Shylok, sagen, dass einer so gut wie der andere blutet, wenn man ihn sticht. Im Glauben, in der Phantasie der Völker gewinnt ein sumpfiges, verpestetes Kolonialgebiet eine nationale Bedeutung, sobald es unter dem Druck einer Drohung gefordert wird. Ebenso zornig, wie er ein Lamm verteidigt, geht der Schäferhund los, wenn man ihm einen elenden, abgenagten Knochen entreissen will. Die Franzosen empfanden nicht die volle Befriedigung darüber, dass diesmal die marokkanische Feuersgefahr wirklich ausgetilgt worden war. Sie dachten nicht daran, dass ihre eigenen Chauvinisten, die Musikanten des Marsches nach Fez, die deutsche Politik zu irgendeiner Abwehr genötigt hatten, sondern sahen in dem Theatercoup von Agadir ein Glied in einer Kette von Herausforderungen und glaubten, statt an die Beendigung, an die Steigerung der Gefahr.

Am 10. Januar 1912 wurde durch eine Agadir-Debatte in der Senatskommission Caillaux zum Rücktritt gezwungen. Sein Vorgänger Pichon leitete den Angriff, sein Minister des Aeussern, de Selves, versetzte ihm jenen unschönen Schuss, den man in Frankreich nach dem Orte, bei dem einst der Herzog von Condé verräterisch getötet wurde, den »Coup de Jarnac« nennt. Scheinbar warf man Caillaux nur vor, er habe über den nicht sehr bedeutenden Kopf seines Aussenministers hinweg Verhandlungen mit den deutschen Vertretern geführt. In seinem Buche »Agadir« hat Caillaux durchaus einleuchtend bewiesen, dass ihm gar nichts anderes übriggeblieben sei. Hatte Herr de Selves nicht das Kriegsschiff nach Agadir senden wollen und hatte er in dieser Angelegenheit nicht nach London telegraphiert, während Caillaux und Delcassé der Meinung sein mussten, der gefährliche Plan, den sie so entschieden abgelehnt hatten, sei eingesargt? Hatte nach solcher Erfahrung der Ministerpräsident nicht die Pflicht, »die Handlungen des Aussenministers« – den er in diesem Augenblick nicht beseitigen durfte – »sehr genau zu überwachen, immer zum Eingreifen bereit zu sein, an seine Stelle zu treten und das in der richtigen Stunde mit aller nötigen Entschiedenheit und Energie zu tun?« Aber Caillaux musste in Wahrheit ja gar nicht des Herrn de Selves wegen gehen. Man wollte ihn nicht mehr in der Regierung dulden, weil er, um Marokko zu gewinnen und zugleich den Konflikt mit Deutschland friedlich zu 53 beenden, ein Stück vom französischen Kolonialgebiet geopfert hatte, und weil die »Ehre Frankreichs« darunter litt. Er war eine bis zur letzten Grenze der Rücksichtslosigkeit gehende Herrennatur, von hochmütiger Gleichgültigkeit gegenüber unsauberer Nachrede, elegant und scharf wie ein Florett, höchst reizbar wie ein Coriolan. Dieser aristokratisch verfeinerte, selbstbewusste Erbe der reichen Grossbourgeoisie aber stand mit all seinen Ideen bei den Republikanern der Linken, wollte das mächtige Kapital und die übermässigen Einkommen nicht schonen, verlangte gerechtere Steuerverteilung und galt deshalb als ein Protektor der Revolution. Der Jubel seiner Gegner war gross, als er fiel. Gewiss wurde in dem frühern wilden Westen ein erbeuteter Skalp selten mit ähnlicher Freude begrüsst.

Nichts hatten die Leiter und Ausleger der deutschen Politik von dem klugen Grundsatz Bismarcks zurückbehalten, dass die friedensfreundlichen Elemente in Frankreich zu unterstützen und zu stärken, die chauvinistischen nach Möglichkeit von der Fruchternte auszuschliessen seien. Bismarck hatte Thiers, Jules Ferry, Waddington und alle, die Verständnis für eine ruhige Realpolitik zeigten, offen und im geheimen begünstigt, auch versucht, mit Gambetta anzuknüpfen, und immer, soweit es irgend in seiner Macht lag, diesen Regierungen, abseits von den ehemaligen Kampfplätzen, zu Erfolgen verholfen, ihnen den Weg zu neuen Kolonialerwerbungen von Hindernissen befreit. Er wollte 1884, wie er an den Botschafter in Rom, Herrn von Keudell, schrieb, nicht den sehr eifrig vorgebrachten italienischen Marokko-Wünschen seinen Segen geben, denn es schien ihm falsch, den Franzosen als Entschädigung für die verlorenen Provinzen überseeischen Zuwachs zu missgönnen. Er erklärte, man dürfe nicht durch dauernde Verhinderung aller französischen Bestrebungen die Partei der Revanche in Frankreich kräftigen, und zweifellos wirkte auf seine sehr entschiedene Haltung die Tatsache ein, dass um jene Zeit Jules Ferry an der Spitze der französischen Regierung stand. Seine Nachfolger, unbeeinflusst durch solche Erwägungen, machten keinen Unterschied zwischen den Guten und den Schlechten, denn die deutsche Politik, die ehemals durch eine Verbindung von Kraft und Ueberlegung sich ausgezeichnet hatte, war jetzt, sobald sie einen Anlauf zur Tat nahm, vor allen Dingen »forsch«. Unter Bülow und Holstein waren Rouvier und Jaurès, war die Partei der freidenkenden Annäherungsfreunde den klerikal-nationalistischen Gegnern ausgeliefert worden, und unter Bethmann und Kiderlen verlor Caillaux Einfluss und Macht. In seinen beiden Büchern, über Agadir und seine neun Monate lange Gefangenschaft, hat Caillaux, natürlich auch ein wenig von der Absicht geleitet, die Anklagen seiner nationalistischen Verfolger zu widerlegen, aber doch wahrheitsgetreu, auseinandergesetzt, warum er manches Projekt zurückwies, das in Deutschland besonders beliebt war, und weder zu Abmachungen über die N'goko-Sangha, noch zur Teilung der marokkanischen 54 Eisenbahnverwaltung, noch zur Zulassung deutscher Wertpapiere an der Pariser Börse seine Zustimmung gab. Er hätte auch auf einige Unternehmungen hinweisen können, wo er ein deutsch-französisches Zusammengehen ermöglichte, und ich will als Beispiel erwähnen, dass mit seinem Rat und Beistand im Jahre 1909 die Société Centrale pour l'Industrie Electrique gegründet wurde, an der, mit fast allen französischen Grossbanken, die deutsche Gesellschaft für elektrische Unternehmungen beteiligt war. Aber entscheidender als sein Verhalten in Einzelfragen war, dass Caillaux über die grossen Fragen der allgemeinen Politik, über Krieg und Frieden, Völkertrennung und Völkervereinigung, ganz genau wie Jaurès dachte, und dass er allein den Mut und die Kraft besass, sich dem heranstürmenden Nationalismus entgegenzustemmen. Die Staatsmänner Wilhelms II. starrten nur auf die begehrten Kongo-Sümpfe, fanden es offenbar gleichgültig, wer in Frankreich regiere und wie die Entwicklung in Frankreich sich gestalte, und glätteten den Boden für den Triumph Poincarés. Spöttisch schrieb Wilhelm II. auf den Rand des Berichtes, der den Sturz des Ministerpräsidenten ankündigte: »Er liegt bereits im Graben«, und man spürt, wie er, auch in der Aussenpolitik, sich durch die Abneigung gegen den Radikalsozialisten, den Linksrepublikaner, beeinflussen liess. Und diesen Mangel an Reife des Urteils zeigt noch ein anderer Vorfall, der manchem bald bekannt wurde, aber den man bis zu der Stunde, wo man ihn in den amtlichen Akten verzeichnet fand, für kaum glaubhaft hielt. Wilhelm II. hatte, ohne befragt zu sein, in Paris mitteilen lassen, dass es ihm angenehm sein würde, Delcassé wieder als Minister des Aeussern zu sehen. Als der Botschafter von Schoen zaghaft und noch zweifelnd meldete, man »flüstere« in französischen Regierungskreisen, dass eine solche kaiserliche Aeusserung vorliege, fügte der Monarch ein herzhaftes »Richtig!« hinzu. So hatten Wilhelm II. und seine Ratgeber kein Bedenken, Brücken für Poincaré und Delcassé zu bauen. Der Dank blieb aus.

 

Schon am 14. Februar, einen Monat nach dem Sturze des Kabinetts Caillaux, schickte der Geschäftsträger in Paris, Freiherr von der Lancken, ein sehr unerfreuliches Stimmungsbild nach Berlin. Die chauvinistisch-patriotische Bewegung, die von der Marokko-Krise des vergangenen Sommers ihren Ausgang nahm, greife immer mehr um sich, die Clémenceau, Pichon und Konsorten bliesen kräftig ins Feuer, um sich gegenüber der »schwächlichen, an Verrat grenzenden« Haltung Caillaux' in ein günstiges Licht zu setzen, man rede sich immer mehr und mehr in eine gewisse fatalistische Entschlossenheit hinein und diese Bewegung werde offenbar von der Regierung selbst gestärkt. Schon fünf Tage vorher hatte Herr von der Lancken die zutreffende Ansicht ausgesprochen, Poincaré rechne auf die Präsidentschaft der Republik. In dem gleichen Bericht hatte er, ebenfalls zutreffend, gesagt, »nach dem Urteil vorausschauender Politiker« könne nur ein politisches Ereignis 55 »eine kräftige und nachhaltige Abkühlung« bringen. Wenn die »englischen Bestrebungen einer Annäherung an Deutschland zu einem sichtbaren Ergebnis führen sollten«, würde in Frankreich die Abkühlung kommen. Alles hing von einer deutsch-englischen Verständigung über die Flottenbauten ab. Herr von Bethmann-Hollweg und Herr von Kiderlen-Wächter hatten diese Verständigung für notwendig gehalten und ihre Ideen in schönen Denkschriften niedergelegt. Was hatten sie für die Verwirklichung dieses Planes, der die Grundlage ihrer ganzen Politik sein sollte, durch ihre Agadir-Aktion erreicht?

 

Herr von Kiderlen-Wächter hatte am 9. Juli 1909 an seine Freundin über Tirpitz geschrieben: »Ein falscher Streber und eine schwere Belastung unserer auswärtigen Politik – wegen seiner Flottenpolitik.« Herr von Tirpitz hat, ohne gerade diese liebenswürdige Beurteilung seiner Persönlichkeit und seiner Taten zu kennen, sich für die Gefühle, die er ahnte, revanchiert. In seinen »Erinnerungen« hat er an der deutschen Agadir-Politik eine Kritik geübt, der man nur zustimmen kann. Das ganze Unternehmen sei verfehlt gewesen und Herr von Kiderlen habe »durch saloppe Geschäftsführung Schaden gestiftet, indem er die britische Regierung, welche nach dem Zweck fragte, mehrere Wochen lang ohne Antwort und im unklaren liess«. Das deutsche Ansehen habe in der ganzen Welt einen Stoss erlitten, Deutschland habe seit Bismarck die erste schwere politische Niederlage erlebt. Hierin irrte sich Herr von Tirpitz, denn die politische Niederlage von Algeciras war auch schon recht schwer. Herr von Tirpitz war der Meinung, man dürfe nicht die »Ohrfeige einfach einstecken«, nicht »die erlittene Abfuhr verschleiern«, sondern es sei – natürlich – zur Wiederherstellung des Prestiges notwendig, eine neue Flottenvorlage einzubringen.

 

Und Herr von Tirpitz ging kräftig und ohne Zögern auf sein Ziel los, nützte die Situation gründlich aus, stellte befriedigt den »diplomatischen Echec«, den Misserfolg des Auswärtigen Amtes, schon fest, als die Marokko-Verhandlungen noch im Gange waren, und gewann ohne Mühe den Kaiser für seinen Plan. Wilhelm II. hatte schon nach der Rede von Lloyd George in höchster Erregung nach neuen Kreuzern gerufen, dann zahllose Male auf dem Rande der Akten – inmitten einer grossen Auslese von bösen Worten, die abwechselnd den Engländern und den abmahnenden deutschen Diplomaten galten – den Befehl erteilt, »energisch« Schiffe zu bauen, und Herr von Tirpitz brauchte sich also bei Hofe nicht sehr anzustrengen. So endete Agadir. An allen Zielen, die erstrebenswert schienen, hatte man vorbeigetroffen, überall hatte man dabei die Wände zerschossen und dem kaiserlichen Schiffstäufer und seinen Gehilfen hatte man einen neuen Grund, ihr Werk fortzusetzen, in die Hände gespielt. Herr von Tirpitz strich sich den meergöttlichen Bart. Sein Stern leuchtete hell im Dunkel der diplomatischen Nacht.

 

56 Was in diesem Sommer 1911 sich begab, war keine Episode, die sich mit andern Episoden vergleichen lässt. Man würde auch bei weitem zu wenig sagen, wollte man es einen diplomatischen Konflikt oder eine Krise nennen. Es war ein gewaltiger Stoss. Alles wurde vorwärts bewegt, die Menschen und Dinge standen nun an einer andern Stelle als zuvor. Es war die Wiederholung von Tanger und Algeciras, aber es bedeutete im Effekt eine enorme Steigerung. Noch eine Wiederholung, und die Wirkung musste sich abermals um ein Vielfaches steigern – bis zum höchsten Gefahrenpunkt. Auch diejenigen von uns, die aus der Agadir-Affäre die giftigen Dämpfe aufsteigen sahen, dachten damals nicht, sie sei ein vorletzter Akt. Rückblickend erst erkennt man, dass sie viele Merkmale eines solchen vorletzten Aktes trug und dass von da ab dem Frieden der hippokratische Zug aufgeprägt war. Das soll durchaus nicht heissen, dass nun alles einen vorgezeichneten Weg gehen musste und keine Möglichkeit des Entrinnens blieb. Napoleon sagte in Erfurt zu Goethe, als die Unterhaltung das Theater berührte, Schicksalsstücke hätten einer dunkleren Zeit angehört und das Schicksal sei die Politik. Wer die Politik zu meistern versteht, mit wachen Sinnen, Klugheit und Kaltblütigkeit begabt ist, bleibt noch frei in seinen Entschliessungen, wenn schon alles zusammenzubrechen droht. Es wäre kindlich, einzuwenden, eines Tages habe das auch Napoleon nicht mehr gekonnt. Im Sommer 1911 wurde die Schwelle zwischen Krieg und Frieden sehr schmal. Nach soviel unglücklichen Bewegungen war es ratsam, auf starke, grosse Schritte zu verzichten, denn man konnte sonst schnell hinüber gelangen. »Il ne reste plus une faute à commettre« hatte 1867 in Frankreich Thiers erklärt. Es gibt bis zur Katastrophe immer noch einen letzten Fehler, der begangen werden kann. Erschreckend ist es, wenn Fehler, die in langer Reihe aufeinanderfolgen, völlig gleichmässig sind. Sie erinnern dann an die Meilensteine auf der Chaussee, die nach Sedan oder einem andern Orte führt. 57

 


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