Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

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III

Wilhelm II. konnte nicht aufhören, Schiffe zu bauen. Er wollte in der Walhalla des Ruhmes nicht nur einer zwischen vielen und nicht nur ein Erbe sein. Man sollte sagen, eine neue grosse Epoche der deutschen Geschichte habe mit ihm begonnen. Zweifellos konnte er von der Gefälligkeit höfisch gewandter Historiker viel erwarten, aber auch die Gefälligsten brauchen Taten und Geschehnisse, wenn der Lobgesang durch viele Kapitel gedehnt werden soll. Irgend etwas Monumentales musste wie ein Wahrzeichen im Mittelpunkt seiner Herrschaft stehen. Seine Reden allein genügten nicht, und obgleich er die Marmorbilder und Bauwerke, die nach seinem Geschmack geschaffen wurden, für hohe Kunst hielt, war er doch nicht nur ein Hadrian oder sonst ein kaiserlicher Aesthet. Es war sehr schön, ein Friedenskaiser zu heissen, und er wollte sich, mit dem Schwert in der Hand, gern diesen Titel erhalten und den Dank der beschirmten Menschheit gewinnen. Aber die Produkte der staatlichen Erziehungsanstalten verbanden mit dem Wunsche, friedlich leben zu dürfen, die Idee, dass der Adler ein besseres Tier als die Taube sei, und wer ihre volle Bewunderung haben wollte, musste Kraft entfalten und nicht nur den Oelzweig in der Hand tragen, sondern um eine trotzige, kühne Stirn den Lorbeer schlingen. Die Ahnen Wilhelms II. hatten das Land vergrössert, rundherum eroberte Provinzen angefügt. Das Erreichbare war erreicht worden, Wilhelm II. strebte nicht danach, den abgeschlossenen Kreis mit stürmender Hand zu erweitern, und ihn lockten auch nicht die Pläne jener Geistesbrüderschaft, die sich alldeutsch nannte und noch, indem sie immer mehr Gebiete mit fremdsprechenden Elementen in die germanische Karte einzeichnete, die Entdeutschung Deutschlands betrieb. Aber auf dem Meere war noch die alles überstrahlende Tat zu vollbringen. Wer Deutschland aus der europäischen Engigkeit hinausführte, ihm Geltung auf allen Meeren der Welt verschaffte, seine Flagge am Kap Horn und an den fernsten Küsten zeigte, erwarb sich doch gewiss einen Ruhm, neben dem beinahe das Gestirn Bismarcks verblich. Kleinlich und eng in der scheinbaren Weite seiner Politik, von der Zeit und ihren neuen Forderungen längst überholt, hatte Bismarck niemals Sinn und Verständnis für die Fahrt über den Ozean gehabt. Er hatte mit kümmerlichen Bedenken auf England geblickt, und die herrlichsten Flottenparaden hatten keinen Eindruck auf ihn gemacht. Wilhelm II., der Schöpfer der deutschen Flotte, wollte sich von solchen Hemmungen befreien. Auf dem Wasser schaukelte der Kranz der Unsterblichkeit.

 

Dies und nichts anderes war es, was eine Verminderung oder Einstellung der Flottenbauten unmöglich machte, alle Versuche scheitern liess. Der 58 Monarch, dem seine Vorfahren nichts zu erobern übriggelassen hatten, brauchte einen Anspruch auf Ruhm und glaubte jedesmal seinen Sonnenkreis zu erweitern, wenn er beim Stapellauf die Sektflasche gegen die Schiffswand schlug. An dieser Pyramide sollte die Nachwelt ihn erkennen. Tirpitz, ebenso nach der Glorie strebend, war für ihn der unentbehrliche Paladin. Manchmal war es unbequem, dass dieser Paladin sich seiner Unentbehrlichkeit zu sehr bewusst war – und auch über seine heimlichen Gedanken war man sich nicht ganz im klaren –, aber der kaiserliche Herr ging behutsam an diesen schwierigen Stellen vorbei. Tirpitz, kein asketisch strenger Geist, wie der in Arbeit versinkende und mit Undank belohnte Colbert, der Flottenbauer Ludwig des Vierzehnten, besass neben seinen technischen Kenntnissen all die Gaben, die zur Bearbeitung der öffentlichen Meinung und zur Gängelung des Reichstags gehörten – Managertalent, Verständnis für das Wort, dass der Zweck die Mittel heilige, und eine von biederem Barte umrahmte Verschlagenheit. Er verschaffte seinem Herrn nicht nur eine Flotte, sondern gerade die Flotte, die dem kaiserlichen Geschmack entsprach. Grosse Kriegsschiffe, imposante Schaustücke, ausgestattet mit allen Wundern der Stahlindustrie, würdig, in der maritimen Weltkonkurrenz eine goldene Medaille zu empfangen.

Eine Gruppe von Fachmännern wagte es seit einiger Zeit, den Wert dieser Riesenkreuzer anzuzweifeln, und trat für den Bau von Unterseebooten ein. Der Vizeadmiral Galster war der führende Geist in diesen Reihen, der Admiralstabschef, Graf Baudissin, teilte seine Ansichten, der Kapitän Persius und einige liberale Abgeordnete aus den Hansestädten, wie Struve und Leonhart, versuchten rührig und zähe in der Presse und im Parlament die Ideen Galsters zur Geltung zu bringen. Mir, einem Fremdling in dieser Wissenschaft, schien doch Galster der vorschauende Bahnbrecher und seine Tapferkeit jeder Unterstützung wert zu sein. Und jeder, der ein Laie in der Schiffsbautechnik und in den Fragen des Seekampfes war, konnte doch mit einiger politischer Ueberlegung sich sagen, dass das System Galsters den Frieden nicht gefährden würde, während man mit den Flottenidealen des Kaisers und des Herrn von Tirpitz der Katastrophe entgegenging. Im Jahre 1909 stellte ich Galster für seine Kampagne das »Berliner Tageblatt« zur Verfügung, und es war mir eine besondere Freude, dass er dann, unter einem Decknamen – denn er hatte Mitglieder seiner Familie in der Marine und war, wie jeder Gegner des Herrn von Tirpitz, stetigen Schikanen ausgesetzt –, sehr häufig auf diesem Kampfplatz focht. In den Briefen, die seine ausgezeichneten Artikel begleiteten, beurteilte er die politische Situation mit einer Klarheit, die im allgemeinen, solchen Fragen gegenüber, kein besonderes Kennzeichen der Marinementalität war. Die Ereignisse haben gezeigt, dass er mit seinem Ruf nach Unterseebooten und seinen politischen Befürchtungen recht hatte und einen Platz in der Reihe der guten Propheten verdient. Alles, was Tirpitz 59 zur Verteidigung einer imposanten, aber verderblichen Tätigkeit vorbringt, bricht zusammen, weil die harte Sprache der Tatsachen jedem unverstopften Ohre vernehmbar ist. Damals aber streckte Herr von Tirpitz alle seine Widersacher in den Sand. Galster und Baudissin gingen; Unterseeboote, von denen der britische Marineminister Sir John Fischer dem französischen Vizeadmiral Fournier schon 1909 gesagt hatte, sie würden »eine ernsthafte Revolution in den Bedingungen des Seekrieges hervorrufen«, wurden nicht gebaut; die Verständigung mit England wurde verhindert, ein Riesenschiff nach dem andern entstand. Wilhelm II. erhielt die Armada, die seinen Wünschen entsprach. Und am 3. August 1910 konnte ohne schmeichlerische Uebertreibung der Chef des Marinekabinetts schreiben: »Zur Zeit ist in der Regierung des Deutschen Reiches nur ein Mann, der eine feste Position hat, das ist der Staatssekretär des Reichsmarineamts.« Mindestens so sehr wie Tirpitz verabscheute Wilhelm II. alle Warner, die auf die Gefährlichkeit einer so ununterbrochen gesteigerten, so geräuschvoll und reklamehaft inszenierten Flottenpolitik aufmerksam machten und mit griesgrämiger Missbilligung diesen schönen Flug zur Sonne sahen. Den wenigen, die den Mut zu ehrlicher Aeusserung ihrer Gedanken hatten, war die kaiserliche Ungnade gewiss. Als Xerxes durch den Triumph über Hellas unvergänglichen Ruhm zu erwerben hoffte, hörte er gern seinen Vetter Mardonius an, der ihm sagte: »Wer, o König, sollte wohl dir entgegentreten und dich bekämpfen wollen? Sollte ich aber wirklich in meiner Ansicht irren, und sollten jene sich aus Unüberlegtheit verleiten lassen, mit uns in einen Kampf zu treten, so würden sie wohl erfahren, dass wir in allem, was auf den Krieg sich bezieht, auf der Welt die Besten sind.« Dem weisen Artabanus aber, der das Verderben prophezeite, erwiderte der Perserfürst zornig: »Du bist der Bruder meines Vaters, dies wird dich retten, so dass du nicht den verdienten Lohn für so nichtige Reden empfängst. Dafür lege ich dir, weil du feige und mutlos bist, diese Schmach auf, dass du nicht mit mir gegen Hellas ziehst, sondern hier, bei den Weibern zu bleiben hast.« Und später, etwas milder geworden, belehrte er den unbequemen Mahner: wenn die früheren Könige so furchtsame Ratgeber gehabt hätten, so hätten sie nie das persische Reich zu solcher Höhe gebracht. Bei Salamis brach diese Herrlichkeit zusammen.

Wilhelm II. behandelte den Grafen Wolff-Metternich, den deutschen Botschafter in London, noch etwas schlechter, als Xerxes seinen besorgten Paladin. Es wirkt immer wieder überraschend, wenn man auf dem Rande der diplomatischen Akten die kaiserlichen Bemerkungen über diejenigen seiner Mitarbeiter, die er nicht liebte, und besonders über den Grafen Wolff-Metternich liest. In einem einzigen Abschnitt des 31. Aktenbandes kann man beispielsweise unter oder neben den Berichten dieses deutschen Botschafters die folgenden kritischen Glossen von majestätischer Hand finden: »Falsch!« »Blech!« »Was weiss der 60 Zivilist davon!« »Quatsch!« »Hasenfuss!« »Metternich ist hoffnungslos inkurabel!« »Unsinn!« »Unglaubliches Blech!« Es muss nicht sehr angenehm gewesen sein, unter diesem Hagel allerhöchster Invektiven – alles konnte dem Geschmähten nicht verborgen bleiben – dem Reiche zu dienen und nach solchen Morgengrüssen täglich wieder an das diplomatische Geschäft zu gehen. In London gab es einen Herrn, der das volle Vertrauen des Kaisers besass. Dieser Bevorzugte war der von Tirpitz dorthin gesetzte, von ihm mit der Ueberwachung der Botschaft betraute Marineattaché, der Korvettenkapitän Widenmann. Er arbeitete im Einverständnis mit Herrn von Tirpitz gegen den deutschen Botschafter und gegen die Bemühungen der Berliner Zivilstaatsmänner, zu einer Verständigung mit England zu kommen. Seine Tätigkeit bestand, wie Kiderlen-Wächter konstatierte, in »systematischen Verhetzungsversuchen«, er mischte sich, statt bei den technischen Fragen zu bleiben, für die seine Kompetenz ausreichen mochte, unablässig in die Politik. Vergeblich wandte sich Graf Wolff-Metternich mit der Bitte nach Berlin, den Günstling des Herrn von Tirpitz auf das Gebiet der marinetechnischen Beobachtungen zu verweisen, und vergeblich legte Herr von Bethmann-Hollweg in bescheidenen Eingaben dem Kaiser die Unmöglichkeit solcher Zustände dar. Vergeblich forderte der Staatssekretär von Kiderlen, kräftiger als der Reichskanzler, vom Kaiser die Erlaubnis, den Marineattaché von seinen »politischen Spekulationen« abzubringen, und vergeblich erklärte er in dem gleichen Gesuch, durch die Gehässigkeit des Korvettenkapitäns würden die Beziehungen zu England unnötig erschwert. Tirpitz deckte seinen Handlanger, spornte den Eifrigen zur Verdoppelung des Eifers an. Wilhelm II. liess Herrn von Kiderlen antworten, dass ihm die Berichterstattung des Herrn Widenmann »besonders wertvoll« sei. Erfahrene, ruhig wägende Diplomaten, die seit langen Jahren ihre Umgebung studiert hatten und täglich mit den Ministern, Parlamentariern, Finanzleuten des fremden Landes zusammen kamen, galten nichts. Ein durch politische Kenntnisse nicht gehemmter Schiffsoffizier avancierte, weil er fleissig und strebsam das Gewünschte lieferte, zur ausschlaggebenden Autorität. Dieser Personalkonflikt war charakteristisch für das ganze Regime. Was hier im kleinen, im Einzelfall sich zeigte, war nur ein Symptom des grossen Durcheinanders, in dem die Ordnung der Staatsgewalten unterging, die Grenzen der Verantwortung verwischt wurden, keine Möglichkeit planmässigen Regierens blieb. Im Kampf gegen einen Korvettenkapitän erschöpfte das Auswärtige Amt seine Kraft. Deutschland war unter Wilhelm II. ein Land geworden, in dem es keine Regierung, sondern nur Nebenregierungen gab.

Wenn man erforschen will, was alles Wilhelm II. bei der Nennung des Namens »England« empfand, so gelangt man zu der Meinung, dass da mindestens so viel Bestandteile wie in einer venezianischen Fischsuppe durcheinander schwammen. Das scheinbar Unvereinbare stiess und 61 berührte sich, plötzlich stieg etwas Unerwartetes an die Oberfläche, aber das Bittere, Scharfe, überwog doch, so dass das andere selten voll zur Geltung kam. Wilhelm II. fühlte sich oft sehr wohl im Verkehr mit Engländern, hatte eine grosse Vorliebe für den Stil des englischen Landlebens, sehnte sich, wenn eine Weile lang die Einladung ausgeblieben war, nach den Regattafesten von Cowes, und selten klangen die Telegramme, die er seinen Kanzlern schickte, so nach guter Laune, wie diejenigen, die er auf dem britischen Inselboden niederschrieb. Acht Tage darauf liess er einen Schwefelregen auf dieses Sodom niedergehen, erkannte er in einer Aeusserung irgendeines Londoner Blattes »die ganze britische Frechheit und bodenlose Unverschämtheit«, gab es für ihn in dem perfiden Albion nur Betrüger, Intriganten und Heuchler und ein schwarzer Schleier schien sich vor seine Augen zu legen, der ihm die liebenswürdigen Bilder verbarg. Die Antipathie, die ihm manche Mitglieder der englischen Königsfamilie zeigten, reizte ihn um so mehr, da er auf diese Verwandtschaftsbande grossen Wert legte und bei jeder Gelegenheit stolz daran erinnerte, dass er »der Enkel der Königin« sei. Solche familiären Unannehmlichkeiten haben in der Geschichte immer eine Rolle gespielt, das Kriegsfeuer ist oft am häuslichen Herd angezündet worden, kleine Privatverstimmungen haben grosse Wirkungen gehabt, alle Orientalinnen wurden gezwungen, das Gesicht zu verschleiern, weil die Frau des Mohammed ihren Propheten hinterging.

Wie in diesem Falle bei Mohammed, war im Verhältnis Wilhelms II. zu England die Eifersucht das Treibende, Beherrschende, der entscheidende Punkt. Wilhelm II. bewunderte England, die englische Weltherrschaft, die englische Flotte und vieles im englischen Leben, aber er konnte nur als Rivale bewundern, und gerade weil er zum Familienkreis gehörte, war es ihm peinlich, auf irgendeinem Gebiete weniger zu glänzen, und erhitzte ihn der Gedanke an den immer fühlbaren – und fühlbar gemachten – Britenstolz. Sein Grossvater, dessen Vermächtnis er angeblich verwaltete, hatte verstanden, dass die Aufgaben der Nationen verschieden sein könnten, und Bismarck hatte das »suum cuique« klug auf die Politik und das Verhältnis zu den andern Mächten angewandt. Wilhelm II. erkannte eine solche Teilung der politischen Betätigung nicht an. Er empfand eine Ueberlegenheit des in langer Tradition entwickelten, durch Reisen und Erziehung in Jahrhunderten herausgebildeten englischen Weltmannstums. Seine innere Unsicherheit litt unter so viel selbstverständlicher, kühler, ungenierter Sicherheit. Er nannte die Engländer verächtlich »Krämer« und hatte, wie alle Liebhaber solchen Wortschatzes, nicht eine Abneigung gegen das Geschäftemachen, sondern gegen denjenigen, der die besseren Geschäfte macht. Wenn seine Eifersucht gestachelt wurde, oder wenn ihm ein englischer Minister seine Erfolge auf dem Gebiete der Marinebauten zu missgönnen schien, hasste er England und die Engländer, und er sah dann 62 in all ihren Reden und ihrem Handeln nichts als die infamste Schurkerei. Er sprach von England dann anders, als von allen andern Völkern, denn den andern gegenüber verspürte er allenfalls Geringschätzung, England aber konnte er mit einer tiefen, brennenden Leidenschaftlichkeit hassen, wenn gerade der Wind so stand. Seine Frau, die Kaiserin, verschärfte diese Stimmung, so oft die Gelegenheit sich bot. Als Tochter jenes Friedrich Christian August, der vergeblich die Herzogtümer Schleswig-Holstein begehrt hatte, bewahrte sie den Dänen einen tiefen Groll – obgleich auf einen Teil dieses Grolls Bismarck Anspruch gehabt hätte – und als Frau hatte sie eine Antipathie gegen die Lady und gegen die englische Familie, gegen den sich vornehmer dünkenden englischen Hof. Oft beurteilte Wilhelm II. Eigenschaften des Engländers sehr treffend, und seine Kenntnis der englischen Sprache half ihm, manchen Nebenlaut zu hören, und manchen nur unabsichtlich angedeuteten Gedanken zu verstehen. Aber er verliess sich auf diese Fähigkeiten zu sehr. »Auf die Engländer verstehe er sich«, sagte er zu Bülow, die sollte man nur ihm überlassen, aber sein Verständnis funktionierte unregelmässig und setzte bisweilen vollständig aus. Alles verflatterte und seine Ansichten wurden schliesslich doch wieder von seinen Wünschen zurechtgebogen und gelenkt. Er unterschätzte nicht immer die englische Gefahr. Er hatte, während Tirpitz lächelnd versprach, die »Gefahrenzone« ohne Unfall zu durchqueren, und der gefällige Marinezuträger Widenmann den englischen »Bluff« verspottete, Zeiten der Klarheit, und wurde mitunter ganz zweifellos von bösen Ahnungen geplagt. Als ihm während der Agadir-Affäre eine Aeusserung Haldanes berichtet wurde: »Es verstände sich ganz von selbst, dass England Frankreich unterstützen müsse, falls Deutschland letzterem den Krieg erkläre«, bemerkte er dazu: »Das ist die Hauptsache, dass dies Faktum aus amtlichem Munde ein für allemal festgestellt ist!« und ähnlich, ohne ungläubiges Achselzucken, nahm er offenbar die vielen gleichlautenden Erklärungen englischer Staatsmänner auf. Sehr oft besagten seine Marginalien, dass er den Engländern das Schlimmste zutraue, und man kann doch nicht gut annehmen, dass die »ein für allemal festgestellten« Tatsachen gleich hinterher wieder seinem Gedächtnis entschwunden seien. Aber welche Folgerungen zog er aus alledem? Genau dieselben, die Xerxes aus den drohenden Zeichen zog.

In England erwies die liberale Regierungsära sich als sehr dauerhaft. Das liberale Kabinett Asquith, das im Jahre 1908 dem liberalen Kabinett Campbell-Bannerman gefolgt war, brauchte die konservative Konkurrenz noch nicht zu fürchten und behauptete ohne besondere Energieverschwendung seinen Platz. Im Mai 1910 war König Eduard gestorben, aber dieses Ereignis hatte auf die politische Führung keinerlei Einfluss ausgeübt. Es zeigte sich, dass dank dem geregelten und niemals stockenden Mechanismus des englischen Verfassungslebens selbst ein begabter und tätiger Souverän doch immer nur ein Mithelfer sein konnte 63 und der Verlauf der politischen Geschäfte unberührt von seiner Persönlichkeit blieb. Wenn in Deutschland ein Kaiser sich zu seinen Vätern versammelte, fürchteten die einen, hofften die andern, wurden über die Ideen, die Neigungen, die Freundschaftsbeziehungen, die Launen des neuen Herrn die Orakel der Hofküche befragt. Das Schicksal eines Landes, und besonders das Schicksal derjenigen, die von der kaiserlichen Gunst lebten, hing vom allerhöchsten Willen und Unwillen ab. Eduard war klüger und weltkundiger als die meisten Throninhaber gewesen und hatte einen unromantischen Verstand, den praktischen Blick. Man hatte, besonders in Deutschland, sehr übertriebene Vorstellungen von seinen Absichten und Taten, aber er war immerhin so aktiv gewesen, wie es für einen englischen König nur eben möglich schien. Als er feierlich zur Gruft geleitet worden war, trat keine Unterbrechung, keine Hemmung, keine Veränderung ein. Der Kronenträger wechselte, das System stand fest, die Staatsgeschäfte wurden am nächsten Tage genau so wie vorher erledigt und niemand konnte behaupten, dass durch das Ausscheiden dieses siebenten Eduard, der doch angeblich wie eine Spinne im Mittelpunkt der Welt gesessen hatte, irgend etwas gewandelt worden sei.

Zu dem Kabinett Asquith gehörten Lloyd George, Churchill und Grey. Die meisten andern waren entweder durch ihre besondern Arbeitsaufgaben an fortlaufender Beschäftigung mit der grossen Politik gehindert, oder sie verzichteten in vornehmer Gewohnheit auf eine öffentliche Einmischung und traten nur in ganz wichtigen Fällen aus der Zurückhaltung heraus. Die Zahl der Minister, die sich nicht nur Friedensfreunde nennen durften, sondern auch eine Politik wirklicher Friedensrettung betrieben zu sehen wünschten, war gerade in diesem Kabinett besonders stark. Einige von ihnen, wie Lord Morley, Lord Loreburn und John Burns, stellten gleich hinter das erste Gebot, das England heisst, das pazifistische Ideal. Asquith war ein sehr gelehrter Premier, genoss Vertrauen und Beliebtheit und verlieh den etwas hausbackenen Ideenschätzen des alternden Liberalismus durch viel rednerische Wärme und liebenswürdigen Humor auch eine gefällige Politur. Lloyd George und Winston Churchill waren die beiden problematischen, vielfarbig glänzenden, von jeder Schablone sich abhebenden, sprunghaften und stets sprungbereiten Persönlichkeiten in der Regierung – Lloyd George mehr Artist, immer im Vordergrund der Bühne, unübertrefflicher, oft hinreissender Improvisator, und Churchill robuster, vollsaftig, zupackend, draufgängerisch, witzig, abwechselnd schleppendes Arbeitstier und davongaloppierendes Rassepferd. Lloyd George war ein überzeugter Anhänger der Verständigung mit Deutschland gewesen, bis er in der Agadir-Affäre an der Möglichkeit dieser Politik zu zweifeln und an die kriegerischen Absichten einer deutschen Militärpartei zu glauben begann. Churchill war schon früher zu den Pessimisten übergegangen. Alle vier, Asquith, Lloyd George, Churchill und Grey, haben ihre 64 politischen Erinnerungen, Eindrücke und Gedanken in Büchern niedergelegt. Asquith und Lloyd George haben ein wenig zu hastig für den Buchhändler gearbeitet, Churchill hat mit seiner »Weltkrise« die breite Memoirenliteratur um ein vielbietendes Werk vermehrt. Die »Fünfundzwanzig Jahre Politik«, die Grey der Welt geschenkt hat, sind eine etwas mühselig verfasste Verteidigungsschrift. Zwei Bände, die schliesslich nur die Ueberzeugung verstärken, dass die staatsmännische Kraft überall unzureichend gewesen ist.

Man kann finden, dass zwischen Grey und Bethmann-Hollweg eine gewisse Wesensverwandtschaft bestand. Auch Grey hatte die Vorliebe für die Ethik und bemühte sich, Handlungen, die etwas zweifelhafter Natur waren, in eine Beziehung zu einer höhern sittlichen Weltordnung zu bringen. Aber Bethmann war, auch wo er hölzern blieb, doch herzhafter, temperamentvoller als Grey. Beide schwankten zwischen Bedenklichkeiten und Selbstvertrauen, verscheuchten die inneren Zweifel durch die Geste der Bestimmtheit, aber Bethmann-Hollweg führte diese Manöver mit frischer Forschheit aus. Bethmann hatte, trotz allen Sorgen, Vergnügen an seinem Geschäft. Wer die zwei Bände Greys liest, kann sich nicht vorstellen, dass der Verfasser während seiner amtlichen Periode jemals gelacht habe, und auch in den Tagen, wo er noch nicht sein Augenlicht bedroht wusste, war er offenbar schwer bedrückt. Er stöhnt, auf jeder Memoirenseite, unter dem Joch. Es macht beinahe den Eindruck, als hätte er immer nur den einen Wunsch gehabt, die Last loszuwerden, und wäre am liebsten zu seinem Garten, seinen Blumen, seinem Forellenbach entflohen. Man begreift nicht recht, warum dieser Freund des ländlichen Idylls durchaus gezwungen wurde, die auswärtige Politik zu leiten, und das System der Auswahl erscheint, angesichts eines solchen Falles, nicht fehlerfrei. Sir Edward Grey kam nicht aus einem der grossen und reichen Adelshäuser, aber es gab doch den Ausschlag, dass seine Familie seit langem dem Staate ehrenwerte Diener gestellt hatte, sein Grossvater ein Freund und Kollege Gladstones gewesen war. Diese Vorliebe für Geschlechterherrschaft hat sich nicht immer bewährt. Edward Grey, der, dreissig Jahre alt, widerwillig in das Aussenministerium eintrat, wie andere, die gern freieren Berufen sich widmen möchten, nur unlustig das väterliche Warenlager übernehmen, tat fleissig seine Arbeit – immer mit der Sehnsucht nach den Rosen und der Angel – und wurde 1892 von Rosebery zum Unterstaatssekretär und 1905 von Campbell-Bannerman zum Minister gemacht. Der Fleiss war gewiss nicht die einzige nützliche Eigenschaft, durch die er sich auszeichnete, aber wie der Baron in Gorkis »Nachtasyl« sich fragt, wie er eigentlich so heruntergekommen sei, mochte sich Grey bisweilen fragen: wie bin ich eigentlich so weit heraufgekommen? Wenn man nicht den Staatsmann, sondern den Menschen sucht, kann es sympathisch berühren, dass er am Ende seines Buches mit vornehmer Bescheidenheit erwägt, ob nicht ein anderer seinen Platz 65 besser ausgefüllt hätte, und ob es einen Sinn gehabt habe, auf Freiheit und Privatglück zu verzichten und dreissig Jahre in der Knechtschaft des Amtes zu verbringen.

Er hatte den Drang, in der Politik ehrlich zu sein, aber mit der politischen Ehrlichkeit steht es ungefähr wie mit all den Tugenden, von denen La Rochefoucauld gesagt hat, dass sie den Medikamenten gleichen, in deren Mischung ein bisschen Gift selten fehlt. Er wollte nur gerade Wege gehen, hatte die Abneigung des Gentleman gegen jede Unkorrektheit und war gewiss in sehr schlechter Stimmung, wenn er etwas getan oder gesagt hatte, was sich eigentlich mit seinen Moralauffassungen nicht recht vereinigen liess. Dergleichen indessen kam vor. Die Antwort beispielsweise, die er im Frühjahr 1914 im Unterhaus auf die Frage gab, ob Verhandlungen mit Russland über ein maritimes Abkommen stattgefunden hätten, war ein Versuch, das Parlament durch zweideutige, missverständliche Wendungen zu beruhigen, und er musste hinterher die eigene Seele mit der Entschuldigung beschwichtigen, man könne über militärische Massnahmen keine Auskunft geben und an der in Buchstaben nachweisbaren Unwahrheit habe er sich vorbeigedrückt. Oft plagten ihn Zweifel, ob er, in seinen Verabredungen mit Paul Cambon beispielsweise, nicht doch ausgeglitten sei, und solche Fälle betrachtet er dann, wieder ähnlich wie Bethmann-Hollweg, auf sie zurückkommend, von allen Seiten, und er erörtert sie so lange, bis er mit Befriedigung seine völlige Unschuld feststellen kann. Er nennt einmal seine Aufzeichnungen »Betrachtungen eines Moralisten«, und er gelangte bei einem Vergleich zwischen seiner Politik und dem politischen Vorgehen anderer Staaten stets zu der aufrichtigen und tröstlichen Ueberzeugung, er allein habe sich in einer Welt des Egoismus und der Habgier vor jeglicher Befleckung bewahrt. Alle andern Mächte, meinte er, hätten im Orient eine »Politik der Schmach« getrieben und besonders »Deutschland beutete die Situation in Konstantinopel stets zu seinem eigenen Vorteil aus«. England dagegen habe seinen Einfluss und seine materiellen Interessen in der Türkei geopfert, um der Menschlichkeit zu dienen, und nur der »Idealismus« habe all seine Handlungen bestimmt. Man wird das Urteil unterschreiben müssen, mit dem er die andern verfemt. Aber er denkt vielleicht doch ein wenig zu sentimental über England, und ein wenig zu optimistisch über sich selbst. Es stimmt mit so hohen Grundsätzen, die einen Fanatiker der Wahrheit zieren würden, auch nicht ganz überein, dass er in seinem Buche alles, was Frankreich und Russland, oder doch einzelne Personen und Kreise in Frankreich und Russland, belasten könnte, verschweigt und übergeht. Man findet dort kein Wort über die russische Beteiligung am Ausbruch des Balkankrieges, nichts über die französischen Chauvinisten und höchstens wird einmal der tote Iswolski missbilligend erwähnt. Er will nicht ungerecht sein, er macht durchaus achtbare Anstrengungen zur Objektivität, aber er wird durch die Last der Bindungen, Rücksichten 66 und Verpflichtungen bedrückt, hängt an inneren Sympathien und Antipathien und ist weder in seinen Bewegungen noch in seinen Anschauungen frei. Er war weniger als die meisten ein hartgesottener Utilitätspolitiker, wollte nicht jene schlechte Sorte von Realpolitik treiben, die mit bewusster Hinterhältigkeit den Gegner zu übertölpeln versucht, und war ehrlich zornig darüber, dass man das »perfide Albion« argwöhnisch verdächtigte, aber leider verhinderte ihn seine Schwäche, ganz der Mann seines Ideals zu sein.

Er gehörte nicht zu denjenigen Engländern, die mit Bewusstsein, mit klarem Willen, Deutschland feindlich gesinnt waren, aber für die gewiss schwere Aufgabe, den Frieden zu festigen, fehlte ihm die richtige Leidenschaft. Er war mit seinen Gedanken nicht bei kriegerischen Plänen, aber er war mit seinem Herzen nicht bei der Verständigung. Man konnte ihn nicht zu den sogenannten Europäern rechnen, er war ein englischer Landadeliger, der nur zwischen dem englischen Laubgrün und in der englischen Luft, in den englischen Lebensgewohnheiten sich wohl fühlte, und er hatte von der Welt weniger als die Reiselustigen unter seinen Landsleuten gesehen. Wie alle, die zur Gesellschaft gezählt werden, fuhr er über den Kanal, besuchte er Paris und die Riviera, aber Deutschland war ihm vollständig fremd. Er war nicht der einzige Minister des Aeussern, der sein Metier ohne ein halbwegs gründliches Studium der andern Länder betrieb – die meisten europäischen Staatsmänner kannten, wie er, recht wichtige Teile Europas nur aus den Akten, Kiderlen produzierte bei gelegentlichem Aufenthalt in England höchstens ein paar Briefwitze über die ihm unverständlichen »Beefs«, und diese erhabene Kenntnislosigkeit galt offenbar für eine schätzenswerte Eigenschaft. Kaufleute, Bankiers, Ingenieure und alle, deren Berufsinteressen über die Landesgrenzen hinausgingen, suchten einen Einblick in das Leben und die Arbeit der andern Völker zu gewinnen, aber die Personen, die das Schicksal der Nationen lenken sollen, waren wohl der Ansicht, viel eigene Beobachtung verwirre und viel Wissen belaste nur den Verstand. Als Grey Unterstaatssekretär bei Rosebery war, in den Jahren 1892 bis 1895, gab es noch keine deutschen Marinevorlagen, England sah in Frankreich und Russland seine schärfsten Gegner, die fortwährenden Konflikte mit diesen beiden Mächten schufen eine tiefe Erbitterung, und der britischen Staatskunst erschien Freundschaft mit Deutschland, mit dem Dreibunde, trotz manchen Zwischenfällen und Reibungen als erstes Gebot. Der Unterstaatssekretär Edward Grey hatte für diese Politik, die er gehorsam mitmachte, im Grunde wenig Sympathie, war der Meinung, dass Deutschland die Schwierigkeiten Englands in unangenehmer Weise ausnütze und dem mit Frankreich verfeindeten Reiche rücksichtslos einen Vorteil nach dem andern abzupressen versuche, und sehnte einen Umschwung, die Befreiung von den deutschen Fesseln herbei. Der ungeheure Fehler, den man dann vor und nach 1900 in Berlin beging, die Ablehnung der 67 englischen Bündnisangebote, schuf, sicherlich zu seiner Freude, die neue Situation. Im Jahre 1905 fand er, bei der Uebernahme des Ministeramtes, die mit Frankreich abgeschlossene Entente cordiale und völlig veränderte Ideen und Stimmungen vor. Er hatte nun diese Entente zu behüten und zu verstärken, und er nahm sich dieser Aufgabe gern und, soweit ihm das möglich war, mit Wärme an. Wahrscheinlich hätte er sich trotzdem auf eine farblose Geschäftsführung beschränkt, wenn er nicht unter den Einfluss eines diplomatischen Willens geraten wäre, der erheblich stärker als der seinige war.

Paul Cambon, der Botschafter Frankreichs, hätte für seine Suggestionskünste kein tauglicheres Objekt als Edward Grey finden können. Grey wurde ganz allmählich und mit ganz feinen Fäden umwunden und glaubte immer, das alles bedeute eigentlich gar nichts, verpflichte ihn zu nichts und sei die natürlichste und harmloseste Sache von der Welt. Schon vor dem Beginn der Algeciras-Konferenz, im Jahre 1906, versuchte Cambon von Grey eine Erklärung zu erhalten, die England verpflichten sollte, Frankreich »im Falle eines deutschen Angriffes bewaffnete Unterstützung zu gewähren«, und als Grey entgegnete, die englische Aktion müsste »von den Umständen abhängen, unter denen es zum Bruche kam«, riet der Botschafter, immerhin einen »inoffiziellen Gedankenaustausch« zwischen den beiden Admiralsstäben und Generalstäben stattfinden zu lassen, und Grey bemerkt darüber in einem Briefe : »Ich widersprach dem nicht.« In seinem Buche begründete er diese stille Zustimmung: »Wenn die militärischen Pläne nicht vorher entworfen wären, würden wir nicht in der Lage sein, Frankreich rechtzeitig zu Hilfe zu kommen«, und »hätten praktisch unsere Freiheit, Frankreich zu helfen, nicht gewahrt«. Am 31. Januar 1906 teilte er dann dem wieder drängenden Cambon mit, er habe dem deutschen Botschafter Graf Metternich erklärt, dass im Falle eines deutschen Ueberfalls auf Frankreich, Marokkos wegen, die Erregung der öffentlichen Meinung in England es jeder britischen Regierung unmöglich machen würde, in der Neutralität zu verharren. Abermals sagte er zu Cambon, dass »viel davon abhängen würde, auf welche Weise der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausbräche« – und er versichert in seinen »Fünfundzwanzig Jahren«, stolz auf seine Festigkeit, dass er, so oft auch diese gleiche Frage dann später noch an ihn herantrat, »niemals auch nur um Haaresbreite« von diesem Standpunkt abgewichen sei. Während der Agadir-Krise fand Asquith, der Premier, die militärische Intimität doch etwas weitgehend, aber er beruhigte sich bald.

Immer mehr gerieten damals auch pazifistische Mitglieder des Kabinetts in eine Stimmung hinein, in der sie nichts anderes mehr sahen als die Bedrohung durch die deutschen Flottenrüstungen, die unberechenbaren Ausbrüche der kaiserlichen Politik, die Pläne einer deutschen Kriegspartei und, fatalistisch, einen unaufhaltsam herannahenden Orkan. So gestatteten sie Grey am 22. November 1912, dem französischen 68 Botschafter die früheren Erklärungen in einem Schriftstück zu bestätigen, in dem es hiess, alle militärischen Vorbesprechungen sollten für den Fall dienen, dass eine der beiden Regierungen »schwerwiegende Gründe« habe, einen »nicht provozierten Angriff einer dritten Macht« zu befürchten, und alle Verabredungen seien »unter der steten Voraussetzung« getroffen worden, »dass solche Beratungen jeder der beiden Regierungen für alle Zukunft volle Freiheit der Entscheidung liessen, ob sie der andern Waffenhilfe leisten wolle oder nicht«. In dem vom ganzen Kabinett gebilligten, von Grey unterzeichneten Dokument befand sich auch der merkwürdige Satz: »Zum Beispiel basiert die Verteilung der französischen und britischen Seestreitkräfte im gegebenen Augenblick nicht auf einer Verpflichtung zum Zusammenwirken im Kriegsfalle« – und dieser Satz sollte die These unterstützen, man sei durch nichts gebunden, habe die Hände frei. Aber Churchill hatte bereits mit der französischen Marine verabredet, dass im Kriegsfalle die Flotte Frankreichs das Mittelmeer, die englische die Nordsee schützen sollte, und die Entschlussfreiheit hörte also, allerdings für beide Staaten, an einem sehr wesentlichen Punkte auf. Wenn beim Ausbruch eines Krieges die deutsche Flotte die französische Nordküste angreifen wollte, mussten nun doch die englischen Dreadnoughts Calais verteidigen, da die französische Flotte ins Mittelmeer verwiesen worden war? Kein Brite hätte dulden wollen, dass Calais von den Deutschen besetzt werde, und wenn also Deutschland sich nicht verpflichtete, der französischen Küste fernzubleiben, war doch für England der Zwang zum Eingreifen da? Es ist schwer zu verstehen, dass auch John Morley und John Burns, die konsequenten Gegner jeder kriegerischen Einmischung, nicht erkannten, was der Satz über die »Verteilung der Seestreitkräfte« in sich barg. Man hatte ihnen wohl nichts Genaueres über diese Verteilung gesagt. Was Sir Edward Grey betrifft: er fürchtete keinen Fischer und kein Netz. Er brauchte sich so wenig zu fürchten, wie die Dame, die in die Wohnung eines hoffenden Anbeters geht und an der Tür sagt: »Wenn ich will, kann ich immer noch zurück.« Während ihr der Freund die Handschuhe aufknöpft, ermutigt sie sich: »Ich kann ihm alles verweigern, wenn ich will.«

Wenn man ein Urteil über das Tun und auch über das Unterlassen Sir Edward Greys gewinnen will, muss man sich zuvor klar darüber werden, was vom englischen Standpunkt aus erlaubt, berechtigt und notwendig war. Die geistige Verwirrung war leider so gross, dass nur wenige selbständig und unabhängig über diese Dinge nachdachten, und mancher durchaus friedfertige Bürger, der von chauvinistischer Mentalität weit entfernt zu sein glaubte, ahnungslos die schiefen Schlagworte annahm und weitergab. Natürlich war es das Recht Englands, mit Frankreich, wie mit andern Ländern, Freundschaftsverträge zu schliessen und Verpflichtungen zu übernehmen und einzuhalten, die mit solchen Verträgen verbunden sind. Deutschland hätte das Bündnis mit England haben können, die englischen Staatsmänner hatten Jahre hindurch immer wieder die Deutschen zu solchen Abmachungen aufgefordert, und da man in Berlin diese Angebote abgelehnt, den Flottenzauber vorgezogen hatte, war der englischen Regierung, wenn sie aus der Isolierung heraus wollte, gar nichts anderes übriggeblieben, als die Verständigung mit Paris. Die englischen Minister, Chamberlain und Landsdowne, hatten mehrmals und bis zuletzt ganz loyal und offen der deutschen Reichsleitung mitteilen lassen, sie würden nach der Zurückweisung ihrer Vorschläge genötigt sein, eine Verbindung mit Frankreich einzugehen. Sie hätten dem neuen Freunde gegenüber nicht ehrlich gehandelt und hätten der Behauptung, dass das perfide Albion jeden im Stiche lasse, Geltung verliehen, wenn sie sich geweigert hätten, in den marokkanischen Angelegenheiten, an denen sie sogar durch Verträge beteiligt waren, den Franzosen beizustehen. Die Treue ist schliesslich auch dort nicht tadelnswert, wo sie nicht »Nibelungentreue« heisst. Und Grey, der in der Agadir-Affäre der französischen Regierung empfahl, sich zu umfangreichen Kompensationen zu entschliessen, ist nicht so weit gegangen, wie die Leitung der deutschen Politik, die in der bosnischen Affäre die österreichischen Ansprüche ohne jede Einschränkung vertrat. Frankreich war für England auf dem Meere kein Konkurrent. Einst, in den Tagen Louis Philippes, im Januar 1840, hatte Thiers im Parlament erklärt: »Unsere wahre Grösse ist auf dem Kontinent.« Seither hatte sich vieles geändert, der Kolonialgeist war in Frankreich wieder erstarkt, neue ferne Besitzungen, von denen Thiers nichts hatte wissen wollen, waren gewonnen worden, aber die französische Marine blieb, soviel auch die Boulevard-Zeitungen gegen solche Vernachlässigung eiferten, hoffnungslos schwach. Deutschland, schon die stärkste, die beherrschende Militärmacht, baute mit ungeheurem Kraftaufwand und zuviel Begleitmusik immer mehr Schiffe, die Flottenvereinler sandten ihre herausfordernden Rufe zu den Inselkrämern hinüber – wie konnte da ein Engländer, der an die Sicherheit und Zukunft seines Landes dachte, die Entente lockern oder schwächen lassen wollen, in der schliesslich doch die einzige Garantie gegen eine spätere Ueberwältigung oder politische Ausschaltung Englands lag? Wahrung des Gleichgewichtes in Europa war, was auch Herr von Bethmann-Hollweg lehrhaft dagegen vorbringen mochte, angesichts der deutschen Flottenrüstungen für England eine Lebensnotwendigkeit. England konnte nicht Frankreich zertrümmern oder bis zur völligen Ohnmacht ausbluten lassen, es musste, wenn es die eigene Zukunft nicht preisgeben, sich nicht, nach einer Besiegung Frankreichs, der deutschen Hegemonie bedingungslos unterwerfen und nicht den überhitzten Flottennationalismus über sein Schicksal bestimmen lassen wollte, sogar entschlossen zum Kämpfen, zum Kämpfen an der Seite des französischen Bundesgenossen sein. Ein Zurückweichen vor der Gefahr, ein Bruch der Freundschaft konnte seinen moralischen Kredit zerstören, und die Situation, in die 70 dann nach einer Niederlage Frankreichs – wie immer die Friedensbedingungen ausgesehen hätten – England geraten wäre, ist ohne Zweifel jedem so deutlich sichtbar, dass man sie nicht weiter auszumalen braucht. Und da man eine englische Politik verstehen muss, die solche Eventualitäten erwog und im Kriegsfall dem militärischen Zusammengehen mit Frankreich nicht ausweichen wollte, so könnte es, wäre nur sonst das Nötige geschehen, auch nicht allzu tadelnswert erscheinen, dass Grey und die andern Minister den Meinungsaustausch der Generalstäbler gestatteten und ungefähr das tun liessen, was auf der andern Seite, in Deutschland und Oesterreich, von jeher üblich war. Grey betrog sich selbst, verschloss die Augen vor der Wahrheit, wenn er immer wieder behauptete, er habe trotz alledem die Hände freibehalten, und diese Beteuerungen hinterlassen den Eindruck einer seelischen Zwiespältigkeit. Aber seine eigentliche Schuld lag anderswo.

 

Dass er sich, wie andere auch, für den Kriegsfall vorbereitete, war sein gutes Recht. Aber was hat er in all den Jahren getan, um den Krieg zu vermeiden, und mit welchen Mitteln hat er versucht, die heranziehende Gefahr abzuwehren, die Furien zu fesseln, die Mächte, deren Zusammenprall er befürchtete, zur Vernunft zu bringen? Man kann vielleicht sagen, er habe, durch seine in der Agadir-Krise nach Paris gesandten Ratschläge und durch seine Konferenztätigkeit während der Balkanwirren, zweimal solche Versuche unternommen. Leider wirkte er immer nur als Friedensstifter, wenn ein besonderer Anlass sich bot. An Tagen, wo die Kriegsgefahr nicht akut war, liess er die Dinge gehen. Er liess sie gehen und half von Zeit zu Zeit, ohne sich Böses dabei zu denken, anspornend nach. Wusste er nichts davon, dass in Paris der »neue Geist«, der Geist der »Renaissance latine«, trommelnd und trompetend durch die Strassen schritt? Bemerkte er nicht, dass dort regierende Personen, einflussreiche Politiker, Militärs und Intellektuelle sich eifrig bemühten, das friedliche Volk zu einer andern, weniger friedfertigen Gesinnung zu erziehen? Entging es seinem Scharfblick völlig, dass in Russland aus der Bitterkeit der erlittenen Niederlagen eine zornige Reizbarkeit entstanden war? Dass auch dort das mordlustige Untier, zum Sprunge bereit, auf der Lauer lag? Er hat das chauvinistische Fieber steigen lassen, hat nicht abgekühlt, nicht gedämpft. Mit einem entschiedenen Wort, einer energischen Geste hätte er – denn alle hingen von seiner Gunst ab – die Aufgeregten und die kalten Rechner in den Winkel verweisen können. Dass auch die halben Versprechungen, mit denen er Cambon beschenkte, und vor allem, wie Asquith kopfschüttelnd konstatierte, die militärischen Verabredungen den Wagemut mancher abenteuerfrohen Schicksalsmacher höchst bedenklich steigern mussten, sah er wohl ein. Da diese Wirkung vorbereitender Massregeln unvermeidlich war, hätte er um so vorsichtiger anheizende und anreizende Worte und Winke vermeiden müssen, 71 zu denen nichts ihn zwang. Jedesmal aber, wenn er dem deutschen Botschafter erklärt hatte, dass England hinter Frankreich stehe, teilte er mit ausserordentlicher Eile dem freudig bewegten Cambon seine Aeusserungen mit, überreichte er sie ihm noch warm zur Weiterbeförderung. Am 24. September 1912 sagte er, seinen eigenen Aufzeichnungen zufolge, zu Sasonow, der ihn in Balmoral besuchte, Englands Teilnahme am Kriege würde davon abhängen, »wie der Krieg zustande käme«, und es unterliegt keinem Zweifel, dass der russische Aussenminister aus der breiten Behandlung des Themas – denn Grey hatte es gründlich erörtert – wertvolle Schlüsse zog und mit den besten Erwartungen nach Hause fuhr. Sir Edward Grey war ein aufrichtiger Friedensfreund. Aber er arbeitete, ohne es zu wollen, gegen den Frieden, weil er immer so sprach und so handelte, als ob der Krieg kommen müsse, gar nicht zu verhindern sei. Er hätte eine grosse, die rettende Aufgabe vollbringen können, aber er sah sie nicht, er sah sie zu spät, erklärte sich bereit zu ihr und rief, als die Mauern schon einstürzten, vergeblich die versäumte Gelegenheit zurück. Er konnte der Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich sein – nicht um sie in einer unmöglichen Allianz zu vereinigen, aber um sie einander näherzubringen. Rechtzeitig, nicht erst in der Periode höchster Erhitzung, als das Richtige erkannt und begonnen, brauchte ein solcher Versuch nicht aussichtslos zu sein, denn die französische Politik musste unter allen Umständen ein Abschwenken Englands vermeiden, und man weiss, dass die Versöhnung mit Frankreich die Lieblingsidee Wilhelm II. gewesen ist. Und wenn das Unternehmen missglückte, so hatte doch der Staatsmann, der ihm seine Kraft gewidmet hatte, mit klarem Sinn und reinem Herzen für die Erhaltung des Völkerfriedens gearbeitet und stand in der Stunde des Unheils fern von denjenigen, die man die Gemeinde des Pontius Pilatus nennen kann. Aber der Gedanke, die beiden getrennten Nationen zusammenzuführen und so den europäischen Frieden zu sichern, war zu absonderlich für Sir Edward Grey, der ohne Plan und mit wenig Phantasie an jedem Wochentage fleissig die Geschäfte erledigte und den Strom der Zeiten nicht mit dem gleichen liebevollen Verständnis beobachtete, wie am Sonntag seinen Forellenbach.

 

Nachdem mit dem kaiserlichen Beistand Herr von Tirpitz, der eigentliche Sieger von Agadir, die Parole ausgegeben hatte, die britische »Herausforderung«, die Rede Lloyd Georges, müsse mit einer neuen Flottennovelle beantwortet werden, verstärkte er seine Bemühungen nach dem Misserfolg der deutschen Marokko-Diplomatie, dessen Bedeutung er, wie man gesehen hat, frohlaunig noch nach Möglichkeit übertrieb. Schon am 27. August kündigte Wilhelm II. bei einem Bankett in Hamburg eine neue Flottenverstärkung an und versicherte, mit dem üblichen schaumgeborenen Optimismus, »wir würden dann sicher sein können, dass uns niemand den uns zustehenden Platz an 72 der Sonne streitig machen wird.« Der Kaiser, aufgedreht, sprach nun, wie auch sein diplomatischer Begleiter, Freiherr von Jenisch, aus Rominten an Kiderlen berichtete, »sehr viel über diese kommende Flottennovelle«, und die »allerhöchste Stimmung gegen England« war, dem gleichen Bericht zufolge, »sehr gereizt«. Er schrieb, man stehe »an einem entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte unseres Vaterlandes« – was allerdings zutraf – und es müsse »eine nationale Tat geschehen«. Der Botschafter Graf Wolff-Metternich, der auch der Meinung war, dass man an einem Wendepunkt der deutschen Geschichte stehe, warnte mit unerschütterlichem Mut. Herr von Tirpitz, der immer den Eindruck zu erwecken versucht, als sei seine Marinepolitik vorteilhaft für die Sicherung des Friedens gewesen, schrieb an den Vizeadmiral Capelle: »Wollen uns aber die Engländer die Novelle verbieten, dann haben wir den Kriegsgrund, der jedermann in Deutschland verständlich wäre, und alsdann müssen wir dem Schicksal seinen Lauf lassen« – aber wer es unternehmen würde, die Widersprüche in den Büchern, Briefen, Berichten des Herrn von Tirpitz zusammenzustellen, würde schneller ermüden als einer, der die Windungen des Aals zählen oder überraschende Drehungen, Sprünge und Schliche des Wiesels zu beschreiben versucht.

Wolff-Metternich, richtig beobachtend und gut informiert, erkannte, dass in England nach den gefährlichen Aufregungen der Agadir-Krise noch einmal der Wunsch sich regte, die herannahende Katastrophe abzuwehren und zu einer Verständigung mit Deutschland zu kommen. In der Tat, es gab in England nach dem Blick in den Abgrund und nach Stunden, in denen man das ferne Hufgedröhn der apokalyptischen Reiter vernommen hatte, eine der Aussöhnung günstigere Stimmung und die Friedensfreunde im Kabinett und im Parlament, wenig zufrieden mit Greys Politik, drängten zu einem neuen Versuch. Die Lords Morley und Loreburn und der Kolonialminister Harcourt waren die Eifrigsten und wurden von Lloyd George und diesmal auch von Churchill unterstützt. Churchill schreibt, Lloyd George sei der Meinung gewesen, dass man Deutschland versöhnen, zu einer Einigung über die Flottenrüstungen gelangen und einen kolonialen Preis zahlen müsse, und er fügt hinzu: »Ich stimmte mit dieser Ansicht überein.« Etwas tragisch Spannendes liegt in dem Gedankenaustausch, der in dieser Periode zwischen Wolff-Metternich und Bethmann-Hollweg hin und her ging – in den Briefen des Botschafters, der für die Verständigung und gegen die neue Flottennovelle kämpfte, und in den Antworten des Reichskanzlers, der ganz diese Auffassungen teilte, es aber unmöglich fand, bei Wilhelm II., Tirpitz und der Marinepartei mit der Sprache der Vernunft durchzudringen. »Es gehört moralischer Mut dazu, aus Pflichtgefühl die Rolle eines unbequemen Warners zu übernehmen«, schrieb Metternich, und Bethmann entgegnete verzweifelt: »S. Majestät ist so fest entschieden, dass er bei Weigerung 73 der Einbringung der Novelle wahrscheinlich einen Regierungswechsel vornehmen wird.« Der Botschafter war überzeugt, ohne Verzicht auf die Flottennovelle würde alles Verhandeln vergeblich sein. Herr von Bethmann-Hollweg, aus der rauhen Wirklichkeit in die liebliche Sphäre der Illusionen entfliehend, dozierte, dass man England zunächst zu einem »Political Agreement«, zu »einer Art Neutralitätsabkommen« bewegen müsse, und phantasierte sich, wie ein Unglücklicher Trost im Rausch sucht, in diese weltfremde Idee hinein.

Immerhin bot Herr von Bethmann all seine Kraft auf, um den Marineleuten wenigstens einen Teil ihrer Vorlage abzuringen. Er bewies in dieser Zeit eine zähe Hartnäckigkeit, die, weil sie einem grossen politischen Ziele galt, nicht mit dem pedantischen Eigensinn seiner schlechteren Tage zu verwechseln ist. Seine Bemühungen blieben nicht ganz ergebnislos. Drei Ersatzpanzerkreuzer wurden aus dem Entwurf gestrichen, an neuen Schiffsbauten wurden nur noch die drei Linienschiffe verlangt. Da das Prinzip der Flottenvermehrung weiter bestand, die Novelle auch noch anderes, und besonders Forderungen für die Vermehrung der Mannschaft, enthielt, war die politische Bedeutung der erreichten Zugeständnisse gering. Herr von Bethmann-Hollweg war infolgedessen nun vor allem bestrebt, die Einbringung der Novelle zu verzögern, um für die erhoffte Aussprache mit England Zeit zu gewinnen. Wenn Wilhelm II. in den Londoner Berichten las, oder von seinem Reichskanzler hörte, dass England zum Verhandeln bereit sei, war seine Antwort regelmässig: »Erst die Novelle!« – »es bleibt bei der Novelle!« und immer fuhr er zornig gegen Metternich los, der nicht einmal verstehe, dass die fremde »Ingerenz in deutschen Marinefragen für den obersten Kriegsherrn und Kaiser unerträglich, für unser Volk eine Demütigung« sei. »Kolonien«, schrieb er am 8. Januar unter einen Bericht Kühlmanns, »haben wir genug! Wenn ich welche haben will, kaufe ich sie oder nehme ich sie ohne England!« – und er beeilte sich, zu beteuern, das alles ändere an seiner Flottenvorlage »nicht ein Haar«. Am 11. Januar setzte er eigenhändig eine Denkschrift auf. Er erklärte darin, eine Kolonialgrossmacht müsse zugleich Flottengrossmacht sein, und Spanien habe, weil es seine Flotte vernachlässigt habe, sein ganzes Kolonialreich und zuletzt Kuba eingebüsst. Bekanntlich verlor Spanien Kuba in einem Kriege mit Amerika, das den deutschen Marinefachleuten als eine sehr minderwertige Flottenmacht galt. Und ob ferne Kolonialgebiete durch Kriegsschiffe erfolgreich verteidigt werden können, erscheint nach allen Erfahrungen einigermassen zweifelhaft. Aber in der kaiserlichen Denkschrift gab es, als Hauptstück, noch ein besonders effektvolles und überraschendes Argument. Wilhelm II. versicherte, man wolle uns nur ein Kolonialreich in Afrika vorspiegeln, um uns »von der Weltpolitik«, das heisst von Asien, abzulenken und »die grosse asiatische Frage ohne uns lösen« zu können. »Auf die Lösung der asiatischen Frage mit uns ist«, erläuterte der Verfasser der 74 Denkschrift, »meine ganze Politik auch der Marine und meine militärische Konzentration in Europa aufgebaut.« Diejenigen, die von so weitgehenden staatsmännischen Plänen nichts geahnt hatten, lasen gewiss mit einiger Verblüffung dieses Dokument, das den Rüstungen zu Wasser und zu Lande einen ganz neuen Sinn verlieh. Vielleicht aber sagten sie sich einfach, die Verweigerung der Flottenbeschränkung solle als Frucht einer politischen Ueberlegung hingestellt werden, der es gegeben sei, vorausschauend den Erdkreis zu umspannen. Und darum müsse nun Asien heran.

Im Januar 1912 nahm Sir Ernest Cassel seine Bemühungen, die durch die Agadir-Affäre und, infolge davon, durch den Marineruf nach der »nationalen Tat« unterbrochen worden waren, wieder auf. Winston Churchill war Erster Lord der Admiralität geworden und Cassel schrieb, nach einer Unterhaltung mit ihm, an Ballin, wenn es möglich wäre, in der Flottenfrage »etwas zu tun, das Deutschland nicht gefährdet und den Alp von der englischen Brust wegnimmt, dann, glaube ich, würde man hier sehr weit gehen, um deutschen Wünschen entgegenzukommen«. Es war also eigentlich nicht ganz überraschend, dass dann am 29. Januar Sir Ernest Cassel, von Ballin geleitet, mit einem Angebot in Berlin erschien. Und überraschend konnte man es, nach der immer wiederholten Erklärung, es dürfe erst nach der Einbringung der Novelle verhandelt werden, nur finden, dass der Kaiser den Gast und seine Mitteilungen ohne Herbheit und sogar mit unverkennbarer Befriedigung empfing.

Grey sagt, Mitglieder des Kabinetts, die als besonders verständigungsbereit galten, seien zunächst darüber informiert worden, dass der deutsche Kaiser den Besuch eines englischen Ministers begrüssen würde, und er habe »nie erfahren, ob die erste Anregung aus einer britischen oder deutschen Quelle kam«. Immerhin habe er geglaubt, dass es sich um einen Wunsch des Kaisers handle, und deshalb seine Zustimmung nicht verweigert, aber er habe die Aussichten skeptisch beurteilt und wenig Hoffnung auf ein günstiges Ergebnis gehabt. Wilhelm II. erzählt in seinen »Ereignissen und Gestalten«, dass er »nicht wenig erstaunt« gewesen sei, als am 29. Januar Ballin ihm im Berliner Schloss mitteilte, Sir Ernest Cassel sei in besonderer Mission eingetroffen und bitte um Empfang. Der Kaiser fragte, warum nicht, bei einer politischen Sendung, der englische Botschafter die Audienz vermittle, und erklärte, er würde, wenn es sich um politische Fragen handeln sollte, »als konstitutioneller Herrscher« genötigt sein, sogleich den Reichskanzler hinzuzuziehen. Ballin entgegnete, dass man in London »die amtlichen diplomatischen Stellen mit der Angelegenheit nicht zu befassen wünsche«, und holte, nachdem Wilhelm II., wie er selbst sagt, sich zum sofortigen Empfang bereit erklärt hatte, den englischen Abgesandten herbei. In dem sonst so dürren Buche Wilhelms fällt die Schilderung dieser Besuchsszene durch einen flotten, frischen Ton angenehm auf. Man empfängt den 75 Eindruck, dass der Monarch an jenem Januartage wirklich in besonders heiterer Stimmung gewesen sein muss, und dass noch ein Abglanz davon die Erinnerung durchstrahlt.

Wenn Sir Ernest Cassel so warm begrüsst wurde, so war das zunächst Ballins Verdienst. Indessen, ganz allein schuf natürlich die kluge Einführertätigkeit Ballins die gute Stimmung nicht. Wilhelm II. hatte wohl ein Gefühl des Triumphes, oder doch des Stolzes, als er vernahm, die britische Regierung habe einen solchen Schritt unternommen und einen Parlamentär zu ihm geschickt. Das war wie eine Verbeugung vor seiner kaiserlichen Macht. Zu einem solchen Entschluss hatte, die Grösse des Nebenbuhlers anerkennend und die deutsche Flotte fürchtend, das hochmütige England sich durchgerungen. Wilhelm II. erinnerte sich nicht mehr daran, dass England dreizehn Jahre vorher, als die deutschen Flottenbauten noch gar nicht begonnen hatten, noch weit dringlicher und sogar mit einem Bündnisantrag an Deutschland herangetreten war. Er glaubte in seinem Frohgefühl bereits, wie immer sanguinisch einem Eindruck sich hingebend, dass es ihm gelingen könnte, mit geringen Kosten eine grosse politische Tat zu vollbringen, und überschätzte das englische Angebot, das nun der herbeigeholte Cassel ihm übergab.

 

»Ich las«, sagt er in seinen »Ereignissen«, »den kleinen Bogen durch und erstaunte nicht wenig, als ich ein formelles Neutralitätsangebot für den Fall künftiger kriegerischer Verwicklungen Deutschlands in Händen hielt.« In Wahrheit lautete der englische Vorschlag: »Austausch von Erklärungen, welche beide Mächte hindern, sich an aggressiven Plänen oder Kombinationen zu beteiligen, die gegen eine derselben gerichtet sind.« Er erzählt weiter, dass das »Neutralitätsangebot« von »gewissen Beschränkungen auf dem Gebiete des Flottenbaus abhängig gemacht« worden sei. Aber in dem englischen Schriftstück hiess es wörtlich: »Gegenwärtiges deutsches Flottenprogramm wird nicht ausgedehnt, wenn möglich vertagt und eingeschränkt.« Ausserdem stand noch darin, England sei zu einer Aussprache über deutsche Kolonialwünsche bereit. Das war alles, und wer aus der Note mehr herauslas, der legte eben mehr in sie hinein. Der Kaiser und Ballin beschlossen, Herrn von Bethmann-Hollweg herbeirufen zu lassen, und dann wurde gemeinsam eine Antwort verfasst. Wilhelm, als guter Kenner des Englischen, schrieb sie nieder, die andern korrigierten daran herum und Herr von Bethmann »mit seiner philosophisch prüfenden, tief forschenden Gründlichkeit« bereitete dem kaiserlichen Schreiber »manche grammatikalische und stilistische Pein«. Offenbar waren sie alle angenehm erregt. Einer, der nicht bei ihnen war, fasste die Sachlage nüchterner auf. Graf Wolff-Metternich war nicht nur ein guter Kenner des Englischen, sondern auch Englands, und betrachtete die Dinge noch anders als mit philosophisch prüfender Gründlichkeit. Als ihm am Tage nach der Schlossszene der Reichskanzler das englische Angebot telegraphisch mitteilte, 76 antwortete er mit einem Achselzucken in Depeschenform. Die Streichung des Wortes »aggressiv« und ein wirkliches Neutralitätsabkommen würden, erklärte er, höchstens durch Verzicht auf die Flottennovelle zu erreichen sein. Hier war, scheint es, auch der Nüchterne noch nicht nüchtern genug, denn eine für alle Fälle gültige Verpflichtung zu wirklicher Neutralität war überhaupt nicht zu erlangen.

Am 8. Februar kam nun der englische Kriegsminister Haldane nach Berlin. Natürlich wurde Haldane für diese Mission ausersehen, weil er nichts mit der Marine zu tun hatte und darum sagen konnte, dass er zu sofortigen bindenden Erklärungen nicht imstande sei. Er hatte auch in Göttingen studiert, liebte Goethe und Schopenhauer und galt, obgleich er für die Verbesserung des Heeres mehr als irgendein anderer leistete, den englischen Chauvinisten so sehr als Deutschenfreund, dass sie später den grossen Bann über ihn verhängten, während ihre deutschen Geistesgenossen nur noch einen Spion in ihm sahen. Kein anderes Ereignis aus der Zeit vor dem Kriege ist so eingehend dargestellt, von soviel Lichtbringern beleuchtet worden, wie die Mission Haldanes, und zu keinem andern ist der Zugang so sehr durch das Gestrüpp einer widerspruchsvollen und oft zänkischen Geschichtsschreibung erschwert. Haldane selbst hat Aufzeichnungen gemacht, Churchill und Grey haben ihre Gedanken niedergeschrieben, Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg haben sich ausführlich geäussert, einiges in dem Kiderlen-Buch ist wichtig, Huldermanns Ballin-Buch ist noch weit wichtiger, die amtlichen deutschen Akten sind eine gewaltige Materialquelle und Herr von Tirpitz hat in dicken Bänden all das veröffentlicht, was ihm zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens geeignet erschien. Es ist schwer, da durchzukommen, und fraglich kann es sein, ob zur Erfassung dieser Episode die Ueberwindung eines so ungeheuren Papierberges sich wirklich lohnt.

Haldane wurde zuerst von Bethmann-Hollweg empfangen. Der Reichskanzler war voll feuriger Begeisterung für das Neutralitätsabkommen, das ihm, ein schönes Wahngebilde, vorschwebte, während Haldane sich hauptsächlich für die deutsche Flottennovelle interessierte, und, wie Herr von Bethmann später erzählte, bedrückt durch den Gedanken an diesen Marinezuwachs war. Herr von Bethmann versuchte, den englischen Gast davon zu überzeugen, dass es auf ein paar deutsche Dreadnoughts mehr oder weniger nicht ankomme und das Wichtigste doch die deutsch-englische Verständigung sei. Da man in England eine Verständigung nur dann für möglich hielt, wenn die deutsche Flotte nicht noch weiter vermehrt würde, und sich auch nicht dazu verpflichten wollte, im Falle eines Krieges Frankreich im Stich zu lassen, so war das alles natürlich nur eines jener Wortgeplänkel, in denen jeder sich durch advokatorische Beredsamkeit auszeichnet und keiner etwas erreicht. Nach einem Frühstück im Schlosse fand eine lange Unterredung zwischen Wilhelm II., Tirpitz und Haldane statt. Anscheinend hat der 77 englische Gast dem Kaiser Hoffnung auf Angola, Sansibar und Pemba – gegen Abtretung der letzten Bagdadbahnstrecke – gemacht. Wilhelm II. erklärte, auf die Novelle könne er nicht verzichten, aber ein langsameres Bautempo zugestehen. Nach der Unterhaltung schrieb er an den »lieben Ballin«, dass Haldane »sehr nett und verständig« gewesen sei, und beurteilte das Ergebnis des Besuches mit fröhlicher Zuversicht. Er neigte zu einer solchen Selbsttäuschung in Fällen, wo er selber die Aktion führte und sein Verhandlungstalent in die Waagschale warf. Die Enttäuschung pflegte um so bitterer zu sein, wenn er sich wieder auf der harten Erde befand.

Im Berliner Auswärtigen Amt entwarf man Neutralitätsformeln, Bethmann und seine Geheimräte modelten und schliffen die Worte, und es war eine Art Geduldspiel oder auch ein Versuch, möglichst viel so zu verpacken, dass der fremden Post das Paket nicht zu schwer erschien. Nach der letzten Fassung sollte jeder der beiden Vertragschliessenden in dem Falle, dass der andere in einen Krieg verwickelt würde, »ihm gegenüber zum mindesten eine wohlwollende Neutralität bewahren« und sich um die »Lokalisierung des Konfliktes« bemühen. Aber am 14. Februar erklärte Haldane, der inzwischen nach London zurückgekehrt war, dem deutschen Botschafter, die englische Regierung könne die deutsche Neutralitätsformel nicht annehmen, denn sie wolle »ihr freundschaftliches Verhältnis zu Frankreich und Russland nicht in Frage stellen«, und nur die von ihr selbst vorgeschlagene Fassung, die eine Beteiligung an »aggressiven Plänen oder Kombinationen« ausschloss, erscheine ihr annehmbar. Würde aber jetzt eine Flottennovelle eingebracht und würde England durch neue deutsche Flottenbauten genötigt werden, das Doppelte zu bauen, so würde auch ein Abkommen in dieser Form auf starke Gegnerschaft stossen und das englische Volk würde nicht bereit sein, auch noch territoriale Opfer zu bringen. Am 24. Februar äusserte Grey in einer Unterredung mit Wolff-Metternich, dass es für England schwierig sein könnte, Pemba und Sansibar im Austausch für die Endstrecke der Bagdadbahn abzutreten, denn die Einigung über diese Strecke hänge auch noch von der Zustimmung der türkischen Regierung ab. Die Verständigung über die Novelle aber bleibe die Hauptsache, und bevor man da nicht klar sehe, könne man auch nicht zu einer Einigung über die Kolonialfragen gelangen. Beim Empfang dieser Meldungen schrieb Wilhelm II. entrüstet an den Rand : »Haldane und ich, wir sind total desavouiert!« Er übersah, oder hatte überhört, dass Haldane sogleich die Befürchtung ausgesprochen hatte, das ihm anvertraute Zugeständnis, die Hinauszögerung der Schiffsbauten, werde nicht genügen und er selber sei – dies bestätigt Tirpitz – nur nach Berlin geschickt worden, um Informationen einzuziehen. »Ich lasse mich auf nichts dergleichen ein. Meine Verhandlungsbasis ist die mit Lord Haldane abgemachte, dessen Programm seinerzeit – auf sein ausdrückliches Betonen – vom englischen Gesamtkabinett 78 gebilligt war.« Kiderlen erhielt den Auftrag: »Es ist dem Botschafter zu eröffnen, dass ich sehr erstaunt bin und Mein Missfallen erregt hat, dass er eine solche unerhörte Zumutung weitergegeben hat.« Diese seelische Krise steigerte sich noch, als Metternich berichtete, dass Haldane ihm gesagt habe, infolge der Novelle würde vielleicht »eine stärkere Konzentrierung der Flotte durch Heranziehung von Schiffen aus dem Mittelmeergeschwader« erforderlich sein. »Ich bitte, bestimmt zu erklären, in London an Metternich und durch ihn an Haldane, dass ein Heranziehen des Mittelmeergeschwaders nach der Nordsee von uns als Kriegsfall angesehen und mit der verstärkten Novelle in alter Fassung und der Mobilmachung beantwortet werden wird.« Glücklicherweise wurden diese kaiserlichen Weisungen nicht befolgt, war das alles nur Erdbeben auf unzugänglichen Inseln, Sturm auf wohlverwahrtem kaiserlichem Papier.

Was nun weiter geschah, war nur noch die Liquidierung des Unternehmens und ein letztes Ringen des Reichskanzlers, ein hoffnungsloses Endgefecht. Aber es gab noch einen dramatischen Zwischenfall. Wilhelm II. berichtet in seinem Buche, am 22. März sei ihm im Charlottenburger Schlosspark Herr von Bethmann-Hollweg entgegengetreten und habe ihn um seine Entlassung ersucht. Nach eingehender Aussprache habe der Reichskanzler dieses Gesuch zurückgenommen. Der ehemalige Kaiser, der übrigens im Datum sich irrt – denn das Abschiedsgesuch ging ihm am 6. März zu und die Aussprache in Charlottenburg fand am 9. März statt – erzählt den Vorfall so, als ob das Entlassungsgesuch durch die Enttäuschung über die Haltung des englischen Kabinetts verursacht worden sei. Seine Darstellung stimmt nicht ganz mit den Tatsachen überein. Hätte er den Hergang richtig wiedergeben wollen, so hätte er auch mitteilen müssen, dass er jenen zuerst im Anschluss an einen Bericht Metternichs vom 1. März niedergeschriebenen Befehl, in London mit der Mobilmachung zu drohen, am 5. März in einem Telegramm an den Reichskanzler wiederholt hatte und gleichzeitig, an demselben Tage, diese Weisung telegraphisch auch dem Grafen Wolff-Metternich direkt zugehen liess. Er muss an diesem 5. März in Wilhelmshaven, wo er sich inmitten seiner Marineoffiziere befand, besonders erregt gewesen sein, denn er verfasste kurz nacheinander drei Telegramme, befahl auch, mit dem Ruf: »Meine und des deutschen Volkes Geduld ist zu Ende«, am nächsten Tage die Wehrvorlagen zu veröffentlichen, und erklärte, falls das nicht geschehe, würden der Kriegsminister und der Staatssekretär der Marine diesen Befehl vollziehen. Herr von Bethmann-Hollweg telegraphierte ihm am nächsten Tage, am 6. März: »Ein schriftlicher Bericht über die Konsequenzen, die aus den Anordnungen Ew. Majestät in dieser Sache und aus der telegraphischen Instruktion sich ergeben, die Ew. Majestät gestern nacht dem Grafen Metternich erteilt haben, wird morgen früh in Ew. Majestät Händen sein.« Er schrieb dann sein Entlassungsgesuch nieder, 79 in dem er erklärte, dass er die Verantwortung für die Politik, die der Kaiser führen wolle, nicht übernehmen könne, »und jedenfalls dann nicht, wenn Ew. Majestät den Entschluss über so einschneidende Massregeln, wie die etwaige Mobilmachung, einem Botschafter direkt mitteilen, ohne mich vorher angehört zu haben«. Weiter sagte er: »Wird uns ein Krieg aufgenötigt, so werden wir ihn schlagen und mit Gottes Hilfe nicht dabei untergehen. Unserseits aber einen Krieg heraufbeschwören, ohne dass unsere Ehre oder unsere Lebensinteressen tangiert sind, würde ich für eine Versündigung an dem Geschicke Deutschlands halten, selbst wenn wir nach menschlicher Voraussicht den völligen Sieg erhoffen können.«

In dem Gartengespräch am 9. März liess Bethmann sich bewegen, im Amte zu bleiben, und die Veröffentlichung der Wehrvorlagen wurde vertagt. Tirpitz, in dem »Aufbau der deutschen Weltmacht«, behauptet, der Kaiser habe im Charlottenburger Schlosspark sogar versprochen, dass man in der Flottennovelle für alle drei Schiffe den Bautermin offen lassen werde, um ihn in den Verhandlungen mit England als Pressionsmittel verwerten zu können. Sollte Bethmann freudig ein solches Versprechen seines Monarchen davongetragen haben, so musste er bald einsehen, dass dieses Kaiserwort wenig Wert besass. Denn nachdem Herr von Tirpitz gleichfalls, nach alter Gewohnheit, mit seiner Demission gedroht und sich mit der Kaiserin Auguste Viktoria besprochen hatte, war Wilhelm II. wieder entschlossen, alle drei Schiffe nach dem frühern Plane zu bauen. Tirpitz wurde, wie er berichtet, am 11. März von ihm mit den Worten empfangen : »Wir haben gesiegt«, und mit der Mitteilung, die Kaiserin sei zum Reichskanzler gefahren und habe ihm erklärt, ein Zurückweichen vor England gebe es nicht. »Der Reichskanzler müsse eben pathologisch genommen werden«, aber man müsse ihn behalten, da er »eine Vertrauensperson des ganzen Auslandes« sei. »Ich küsste«, erzählt Herr von Tirpitz, der Kaiserin »im Namen Deutschlands die Hand.« Aus dieser ganzen höfischen Szenenfolge ist zurückzubehalten, dass im März 1912 eine Kriegsgefahr deshalb vermieden blieb, weil die von Wilhelm II. »pathologisch« genannten Persönlichkeiten sich weigerten, das zu tun, was ihnen ihr Herr befahl. Dass England die Ankündigung einer deutschen Mobilmachung mit gleicher Geste beantwortet hätte, ist um so mehr anzunehmen, da man ja die draufgängerische Natur der britischen Marine aus frühern Vorgängen her kennt. Alle Kenner der kaiserlichen Psyche sind überzeugt, dass der Kaiser nicht wirklich das Schwert zücken, sondern nur seiner Umgebung, seiner Gattin und sogar noch dem jüngsten Rat im Auswärtigen Amte hat imponieren wollen. Es war diesmal ganz so wie in allen ähnlichen Fällen, aber der kaiserliche Darsteller spielte mit den scharfen Waffen etwas dicht an den Köpfen des Publikums. Sancho Pansa, der Mann aus dem Volke, hätte, wenn ihm das alles bekanntgeworden wäre, gewiss gesprochen, wie im 18. Kapitel 80 des unvergleichlichen Romanes sein älterer Bruder: »Die Abenteuer, die wir suchen, werden uns am Ende und zu guter Letzt noch tief ins Unglück bringen, so dass wir nicht mehr wissen werden, wo unser rechtes Bein eigentlich ist.« Und wenn nun eines Tages die Gegner entschlossen sein sollten, dem Kaiser den Rückzug abzuschneiden, ihn zur ernsten Vollendung einer schauspielerischen Geste zu zwingen?

 

Die Flottennovelle wurde dem Reichstag am 15. April zugestellt. Bis dahin hatte Bethmann noch mit einer verdienstlichen, wenn auch etwas pedantischen Hartnäckigkeit, die Veröffentlichung hinauszuschieben und Zeit zu gewinnen versucht. Erwähnenswert ist eine am 25. März eigenhändig aufgesetzte kaiserliche Zensur für das Auswärtige Amt, in der die schmeichelhaften Sätze standen: »Meine Diplomatie . . . legte mir in Ausübung meiner Befugnisse und Pflichten als Kaiser und oberster Kriegsherr – in Vertretung der Wehrhaftigkeit und Verteidigungsfähigkeit meines Volkes – fortdauernd die schwersten Hindernisse in den Weg, in der trügerischen Hoffnung des Abschlusses eines Agreement! . . . Ich hoffe, dass sich meine Diplomatie hieraus die Lehre ziehen wird, in Zukunft mehr auf ihren Herrn und seine Befehle und Wünsche zu horchen als bisher, besonders wenn es gilt, mit England etwas zuwege zu bringen, das sie noch nicht zu behandeln versteht.« Erstaunlich erscheint immer wieder, dass die hohen Reichsbeamten, Reichskanzler, Staatssekretäre und Diplomaten diese Rügen geduldig hinnahmen, dass keiner um seine Entlassung bat. Sie hingen entweder allzusehr an ihren Posten, oder sie waren durch ein Gefühl der Unterwürfigkeit, das sie mit schönen Namen für eine Tugend ausgaben, gefesselt, und zu ihrer Entschuldigung sagten sie dann, sie nähmen den Kaiser und seine Aeusserungen nicht ernst. Nur einer schied aus dem kaiserlichen Dienste aus. Graf Wolff-Metternich, der deutsche Botschafter in London, der klügste und charakterfesteste Ratgeber, wurde nun von Tirpitz und seinem Gehilfen Widenmann zur Strecke gebracht. Am 18. März forderte der Kaiser von dem Reichskanzler die Abberufung Metternichs, den der in London installierte Marineagent »ein nationales Unglück« genannt hatte, und Mitte April wurde der Botschafter in Konstantinopel, Freiherr von Marschall, zum Botschafter in London ernannt. Nach Konstantinopel setzte Wilhelm II. den Gesandten von Wangenheim. Der Graf Wolff-Metternich durfte von sich sagen, was in einer Fabel Florians zu dem vertriebenen Philosophen die Eule sagt, der das schreiende Volk der Krähen und Dohlen die Federn ausreisst und mit spitzigen Schnäbeln das Fleisch zersticht. »Mein einziges Verbrechen ist, dass ich in der Nacht klar sehe« – »Mon seul crime est d'y voir clair la nuit.«

Die Unterhaltung über die Kolonien wurde in London fortgesetzt. Freiherr von Marschall verhandelte darüber in den wenigen Wochen, die ihm das Schicksal noch liess. Am 5. August schon musste er einen 81 Erholungsurlaub antreten und am 24. September überwand ihn in Baden-Baden der Tod. Ein Staatsmann verschwand, dessen orientalische Politik nicht ohne Irrtümer, dessen Persönlichkeit aber so stark, so anerkannt und so gefestigt in ihrer Autorität gewesen war, dass man in Berlin niemals gewagt hatte, sie bei wichtigen Entscheidungen achtlos zu übergehen. Die Besprechungen betrafen nun, nachdem der von England erhoffte Marinepreis ausgeschaltet war, nicht mehr die grossen, kostbaren und sofort verfügbaren afrikanischen Objekte, und als einziges Thema blieb, neben der Bagdadbahn, die zukünftige Verteilung der von ihrem Besitzer noch gar nicht aufgegebenen portugiesischen Kolonien. Man darf der Ansicht sein, dass die Bedeutung eines solchen Geschäftes von den beteiligten deutschen Diplomaten ein wenig überschätzt wurde, und ich vermag auch nicht der Auffassung des Fürsten Lichnowsky und Kühlmanns mich anzuschliessen, dieser Eventualvertrag, der die früher von England mit Portugal getroffenen Abmachungen gar nicht einmal aufhob, hätte auf die politische Atmosphäre wohltätig einwirken können. »Wenn Lieb' erkrankt und schwindet«, sagt Brutus zu Lucilius, »nimmt sie gezwungene Höflichkeiten an.« Diese kolonialen Verhandlungen waren doch nur ein Höflichkeitsrest, mit dem man sich, während die Scherben hinausgetragen wurden, kümmerlich behalf.

Herr von Bethmann-Hollweg hat in keinem andern Abschnitt der Friedenszeit so hartnäckig, so mit voller Hingabe gekämpft, wie in der Periode, die vor dem Berliner Besuch Sir Ernest Cassels begann. Mag seine Energie in ihren äussern Zügen etwas Schwerfälliges gehabt haben – es ist nicht zu leugnen, dass hier ein von der Sorge getriebener Mann beinahe verzweifelt mit den gefahrbringenden Mächten rang. Sein letzter Fehler in diesem Teile der Tragödie war, dass er nach seiner Niederlage im Amte blieb. Der Grundfehler seines ganzen Versuches war, dass er alles vom Zustandekommen einer Neutralitätsformel abhängig gemacht und nicht die Unmöglichkeit begriffen hatte, mit solchem Ziele eine Einigung zustande zu bringen. Seit die unglückselige Idee, vorsichtiger, mit besserer Abwägung des Möglichen und Unmöglichen und mit der treffenden Bemerkung, dass derartige Abmachungen »doch immerhin mehr oder weniger ein Stück Papier bleiben«, in Kiderlens Denkschrift vom September 1909 hin und her gedreht worden war, hatte Herr von Bethmann sich nicht mehr von ihr getrennt. Der Wunsch, so, durch die Verschiebung aufs diplomatische Gebiet, die Marinespezialisten aus den Verhandlungen herauszuhalten, vereinigte sich in ihm mit der Hoffnung, er werde für eine so grosse, die Weltlage ändernde Politik den Kaiser begeistern, ihn zum Verzicht auf Liebhabereien und Theaterlorbeeren bewegen können. Dies gelang ihm nicht. Hier wie in England mussten seine Bemühungen misslingen. Hatte er gar nicht beachtet, dass in jeder deutsch-französischen Krise, in den Tagen von Tanger, von Algeciras, von Agadir, alle englischen Minister, auch die Unverdächtigen, immer wieder in öffentlicher Rede 82 und in intimen Gesprächen bestimmt, ohne jede Einschränkung, erklärt hatten, beim Ausbruch eines Konfliktes könne England nicht Frankreich im Stiche lassen, nicht neutral sein, müsse es im Interesse seiner eigenen Zukunft, seiner eigenen Sicherheit, Frankreich vor Zerschlagung und unheilbarer Schwächung bewahren und schützend hinter ihm stehen? Indem er diesen politischen Grundsatz als Angriffspunkt wählte, ihn dem Kaiser als Angriffspunkt zeigte, rollte er sich nur selbst ein unbezwingliches Hindernis in den Weg. Und welchen Wert hätte dieses »Stück Papier« gehabt? Um den Einfluss auf die Pariser Politik nicht zu verlieren, hätte England nach der Unterzeichnung eines solchen Abkommens den Franzosen wahrscheinlich andere Freundlichkeiten erwiesen und der »moralische Gewinn«, den man in Berlin erwartete, wäre bald genug zerronnen. Und was hätte selbst ein wirklicher, echter, ganz nach den deutschen Wünschen abgefasster Neutralitätsvertrag beim Ausbruch eines Krieges genützt? Davon, dass England bei einer Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland die Neutralität wahren werde, stand doch auch in den Berliner Vertragsentwürfen nichts?

Wofür also, könnten die Schildhalter der Marine sagen, hätte man auf die Vermehrung der Flotte verzichten sollen? Wenn doch unter keinen Umständen die englische Neutralität zu haben war, so war es wohl richtiger, die maritimen Verteidigungsmittel zu verstärken und recht viele Schiffe zu bauen? Das ist eine etwas zu einfache und darum falsche Schlussfolgerung. Ja, die englische Neutralitätserklärung für den Kriegsfall konnte man nicht erlangen, aber man musste sich ohne sie über die Flottenfrage einigen, um, ohne Formel, ein Freundschaftsverhältnis zwischen Deutschland und England zu schaffen, den Krieg zu verhindern, die Friedenschancen so sehr wie irgend möglich zu erhöhen. Ganz ohne reale, sichtbare, zu Hause vorzeigbare Gegengabe, und gewissermassen nur mit Vertrauen und Gefühlsschwärmerei? Durchaus nicht, denn man konnte dann wirklich Sansibar und manches andere sich zulegen, und ob ein solcher Handel, auch wenn man das Allgemeinpolitische gar nicht mitrechnete, sehr ungünstig gewesen wäre, dürfte manchem wohl zweifelhaft sein. Und in dem Augenblick, wo die englische Politik und das englische Volk von der Sorge befreit gewesen wären, die ihnen das Anwachsen der deutschen Flotte bereitete und bereiten musste, hätten die aufrichtigen Freunde deutsch-englischer Verständigung im liberalen Kabinett freiere Bahn gehabt. Sir Edward Grey, zu fest mit Cambon verstrickt und seit langem schon von den pazifistischen Liberalen mit Kopfschütteln beobachtet, wäre wahrscheinlich zu seinem Blumengarten heimgekehrt und ein weniger von Nicolson beeinflusster, nicht immer nur nach Paris blickender Mann hätte die Leitung der äusseren Angelegenheiten übernommen. Selbstverständlich hätte niemand die »Entente« und die andern Abmachungen zerschnitten oder auch nur sichtbar geritzt. Aber all die hinter den Büschen in 83 Europa hervorspähenden, die Kriegsgelegenheit erlauernden Wegelagerer wären in den Graben geschleudert worden und jene unheimliche Schwefelluft, jener erstickende, stinkige Dunst von Furcht und Misstrauen hätte sich zerteilt, der auf den Völkern lastete, manche Staatsmänner in krankhafte Ueberreizung versetzte und die Elemente katastrophaler Entladung in sich trug. Es braucht wahrhaftig nicht mehr bewiesen zu werden, wieviel die Flottenfrage für die Beziehungen zwischen Deutschland und England, und damit auch für den europäischen Frieden, bedeutete, und es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass man, wenn man diese Frage nicht löste, nur Brücken aus Strohhalmen baute oder feine Seidenfäden spann. »Immer seit der Restauration«, schreibt Macaulay, »waren die Gemeinen, selbst wenn sie am missvergnügtesten und kargsten waren, freigebig bis zur Verschwendung gewesen, sobald das Interesse der Flotte beteiligt war.« Byron verhöhnt im ersten Gesange des »Don Juan« den Prinzregenten, später Georg IV., der sich die allgemeine Abneigung zuzog, weil er, die Tradition durchbrechend, das Landheer begünstigte und Nelson vergass. Und war es nicht begreiflich, dass die Bewohner der Insel alles daran setzten, ihrer Flotte eine Macht, eine Vormacht, zu erhalten, die allein ihnen das Gefühl der Sicherheit, der Unabhängigkeit gab? Auch diejenigen, die nie eine Zeile von Shakespeare gelesen oder gehört hatten, mussten doch unbewusst in irgendeinem Winkel ihrer Gedankenwelt den in unvergängliche Verse geprägten Spruch bergen: »Dies Bollwerk, das Natur für sich erbaut . . . dies Kleinod, in die Silbersee gefasst . . .« Was war, fragte sich der Engländer, in der neuen, modernen Zeit das Bollwerk, wenn es einer fremden gewaltigen Flotte gelang, die Zufahrtsstrassen zu sperren, und was wurde aus dem Kleinod, abgeschnitten von der übrigen Welt?

Es bleibt noch einiges zu erwähnen, was sich in dieser Zeit in Paris begab. Am 13. Januar hatte ein Ministerium Poincaré das gestürzte Kabinett Caillaux abgelöst. Zu Iswolski bemerkte Poincaré, die französische Regierung würde eine Annäherung zwischen Deutschland und England nur begrüssen können. Paléologue, der politische Direktor im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, sagte sieben Monate später, am 9. August, »betrüblicherweise« scheine »gar keine Aussicht auf Besserung« des deutsch-englischen Verhältnisses vorhanden zu sein. »Aber« – erzählt Poincaré in seinen Erinnerungen – »am 27. März besuchte mich Sir Francis Bertie«, der englische Botschafter in Paris, »und sagte mir: wollen Sie mir, lieber Präsident, gestatten, einen Augenblick zu vergessen, dass ich Botschafter bin?« Und nach dieser Einleitung erklärte Sir Francis Bertie, Frankreich dürfe sich nicht einlullen lassen, das von Deutschland geforderte Neutralitätsabkommen könnte doch noch eines Tages bewilligt werden, Grey sei von Kollegen umgeben, die eine Verständigung mit Deutschland wünschten, und die französische Regierung müsse, statt Zufriedenheit zu zeigen, in London 84 mit Festigkeit sprechen, damit die englische verhindert werde, den gefürchteten Fehler zu begehen. Sir Francis Bertie war, wie aus den seither in London veröffentlichten amtlichen Dokumenten hervorgeht, kein intriganter Kriegstreiber, sondern ein vorsichtig und kühl beobachtender Mann. Wenn er mit solcher Ermahnung zu Poincaré gegangen ist, muss man annehmen, dass er von Nicolson oder von andern heimatlichen Gegnern der liberalen Pazifisten beauftragt worden war. Poincaré folgte dem Wink, liess in London mit Festigkeit sprechen, machte Sir Edward Grey darauf aufmerksam, dass eine Neutralitätsformel die Zerstörung der Entente cordiale bedeuten würde, und klopfte sogar, allerdings vergeblich, wegen eines Allianzvertrages an. So griff auch er in die Handlung ein, und so kamen viele und vieles zusammen. 85

 


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