Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Der Zug rollte unaufhaltsam weiter, und sie vergrub ihr Gesicht schluchzend in der Ecke. Sie sah es nicht mehr, wie zwei kurzsichtige, lichte Augen lange, lange den Windungen des Zuges folgten, mit schmerzlich sehnsüchtigem Ausdruck.

»Nein,« sagte Frau Rykert zu ihrer Tochter, »ich habe keine Freude über dein Kommen.« Sie saß trotz des warmen Aprilmittags bei geschlossenen Fenstern auf dem Sofa im nüchternen Salon des Rykertschen Landhauses, Kamilla ihr gegenüber noch im Reisekleid.

»Du schreibst kein Wort. Niemand ist auf der Bahn, dich zu empfangen. Dann kommst du herausgefahren in geschlossenem Wagen, mit zwei großen Koffern, als wäre es für eine Ewigkeit. Ich kann mich nicht freuen.«

»Markus weiß, daß ich hier bin.«

Kamilla spielte befangen mit den seidenen Quasten der Tischdecke.

»Wissen es deine Schwiegereltern auch?«

Es sprach nicht die geringste Neugierde aus der Frage. Frau Rykert war nie neugierig. Aber diese Frage faßte sie als Pflicht auf.

»Nein«, sagte Kamilla kurz.

Frau Rykert nickte und seufzte schwer auf.

»Das dachte ich mir. Und darum darf's nicht sein, Kamilla, daß du hier bleibst. Du gehörst dorthin – nicht zu uns.«

Ihre Stimme blieb ruhig, ihr Gesicht starr – wie immer. Kamilla krampfte die Hände zusammen und drückte sich fast die Nägel ins Fleisch.

»Herr Lukas hat den Bernhard aufgenommen. Er soll hinüber nach Brasilien mit der ›Fortuna‹!« fuhr Frau Rykert fort.

Kamilla beugte sich über den Tisch. Atemlos fragte sie:

»Bernhard ist hier? Und von meinem Schwiegervater aufgenommen?? – So sage doch ... Mutter, sprich doch!«

Frau Rykert zog einen Wollschal um ihre hageren Schultern und saß ganz aufrecht da.

»Seit gestern weiß ich es erst. Abends kam er, als es schon dunkel war. Ich erkannte ihn gar nicht wieder. Er war krank gewesen in Paris und ohne Mittel. Der Vater mochte ihm wohl nichts mehr schicken ...«

Sie blickte starr vor sich hin. Ein Leben zog an ihrem Geiste vorüber. Sie fröstelte und wickelte sich fester in ihren Schal.

Kamilla sank mit der Stirn auf den Tisch. Ihr Bruder, den sie so liebte, auf dieser Stufe! Wie ein Landstreicher verkommen – bettelnd vor der Tür ihres Schwiegervaters! Aber sie hatte keine Tränen mehr, nur Scham, grenzenlose Scham.

»Erzähl' weiter, Mutter«, bat sie dumpf.

Frau Rykert sprach weiter, langsam, wie ein aufgezogener Automat.

»Er hat gespielt, immer gespielt – und so ist es gekommen. Er sagt, das hätt' er vom Vater! Nur daß der Vater an der Börse spielt und ...«

Sie brach ab.

»Und – – ?« drängte Kamilla.

Frau Rykert warf den Kopf zurück und spannte den Schal fest über die flache Brust.

»Er sprach häßlich vom Vater. Ich kann's nicht wiederholen und hätt' es nicht anhören dürfen. Es ist gut, daß er fortkommt ... weit fortkommt! Aber hier bleiben kannst du nicht, ohne Wissen der Eltern! Ich darf's nicht zugeben jetzt, da ich weiß ...«

Kamilla schüttelte heftig den Kopf.

»Ich geh nicht dorthin ... ich geh nicht ...«

Was war sie dort in dem stillen, vornehmen Patrizierhaus? Das Mitglied einer mißachteten Familie. Der Vater – einer von jenen, die nur »materielle Möglichkeiten« kannten, der Bruder – ein Abenteurer, sie selbst – von ihrem Mann weggeschickt mit harten, verächtlichen Worten  ...

»Ich geh nicht ... ich geh nicht ...«, wiederholte sie wieder und immer wieder, eigensinnig, in Angst und Scham.

Und Frau Rykerts Haltung wurde immer steifer, ihre Augen blickten immer trostloser in die elende Leere ihres Lebens zurück.

»Du mußt ruhen, Kamilla ...«

Sie legte ihren hageren Arm um die Tochter, führte sie in ihr Mädchenzimmer, das in aller Eile zurechtgemacht worden war. Frau Rykert löste ihr die Kleider, half ihr ins Bett, deckte sie bis unter das Kinn mit der leichten, roten Decke zu.

»Willst du nichts essen. Kamilla?«

»Nein ... nur schlafen, schlafen ...«

Ihr blasses Gesicht hatte einen so gequälten Ausdruck, daß Frau Rykert, ohne weiter ein Wort zu verlieren, das Zimmer verließ.

Fast im Stehen nahm sie im Eßzimmer etwas zu sich. Jetzt, wo sie allein war, fühlte sie die Erregung in sich nachzittern von dem unerwarteten Wiedersehen. Es deutete wenig Gutes, aber wenn Schuld vorlag, sollte die Schuld nicht größer werden durch erbärmliche Heimlichkeit.

Sie warf ihr schwarzseidenes Staatskleid über und stieg in die rattrige Karrete mit den steifbeinigen, alten Schimmeln davor.

»In die Stadt zu Herrn Reimar Lukas«, rief sie laut dem alten Kutscher zu, der tagsüber auch Gärtner war und nachts Pförtner, damit es nicht hieß, Rykerts hielten zehn Dienstboten.

Frau Rykert war noch nie im Bremer Patrizierhause gewesen. Der Verkehr, die Verlobungszeit und die Hochzeit hatten sich auf den benachbarten Landsitzen abgespielt, und da unterschied sich das Landhaus der Lukas nur durch größere Ausdehnung und wohnlichere Ausstattung.

Hier in Bremen sah das alte Haus mit seinen dicken Mauern, dem mit großen Eisennägeln beschlagenen Portal, den dicken Eisenstäben vor den Fenstern der Kontorräume und den Verzierungen in schwerem Barock über Tor und Gesimse – wie ein altes Palais aus, das die Familie zur Dynastie, die Tradition zur Geschichte erhob.

Frau Rykert hatte Sinn für die eherne Sprache dieser Mauern. Sie glättete feierlich ihren schwarzen Scheitel unter dem dunklen Kapotthut mit den langen Seidenenden, und stieg langsam, würdevoll die flachgetretenen, steinernen Stufen hinauf, die zu den Wohnräumen führten.

Der Diener Franz, den sie vom Lande her kannte, öffnete ihr.

»Ich möchte Herrn und Frau Lukas sprechen«, sagte sie fest.

»Ich lasse bitten«, klang die Stimme von Frau Lukas klar und deutlich.

Der Diener öffnete die Tür – Frau Rykert stand im dunkelgetäfelten Speisezimmer, mit den schweren, geschnitzten Möbeln und dem Kronleuchter aus Gußeisen mit den brennenden Kerzen.

Frau Lukas reichte ihr die Hand, kühl, aber nicht unfreundlich.

Ihr waren noch die trostlosen Augen dieser Frau in Erinnerung, bei der Beerdigung ihres Hans.

»Sie wünschen auch meinen Mann zu sprechen, Frau Rykert, – ich habe Franz ins Kontor hinuntergeschickt. Er liebt es freilich nicht, wenn man ihn bei der Arbeit stört, aber ich denke mir, der Fall ist wichtig, wenn Sie selbst kommen.«

»Ja, er ist wichtig«, antwortete Frau Rykert.

Dann setzte sie sich auf den angebotenen Stuhl und blieb regungslos sitzen, steif und gerade, wie es ihre Gewohnheit war.

»Darf ich Ihnen ein Glas Limonade oder Selterwasser anbieten? Sie kommen vom Lande, und es ist wohl warm draußen? Wir merken nicht viel vom Sommer, solange wir hier sind.«

»Nein, danke. Mir ist nie zu warm, und ich komme gerade von Tisch.«

»Da ist mein Mann ...«

Die große vornehme Gestalt des Kaufherrn erschien im Türrahmen. Frau Rykert erhob sich unwillkürlich.

»Was verschafft uns die Ehre?«

Herr Reimar Lukas neigte leicht den weißen Kopf und drückte seine Brille fester an die Schläfen.

Er setzte sich und forderte Frau Rykert mit einer seiner beredten, eleganten Gesten auf, zu sprechen. Durch keine Frage erleichterte er ihr die ersten Worte. Aber das war nur Gewohnheit des alten, vorsichtigen Geschäftsmannes, keine gewollte Erschwerung.

»Ich möchte Ihnen zuerst danken, daß Sie sich unseres – ... meines Sohnes angenommen haben. Möge er Sie nicht enttäuschen.«

»Es kann von keinerlei Enttäuschung die Rede sein, gnädige Frau, da ich nichts erwarte. Seine Schwester ist die Frau meines Sohnes – darum halte ich es für meine Pflicht, ihm die Möglichkeit zu bieten, ein anständiger Mensch zu werden. Wird er das nicht – werde ich meine Handlungsweise nicht bedauern, seine Existenz aber einfach ignorieren.«

»Ja ...«, kam es gepreßt und halblaut von Frau Rykerts Lippen.

Frau Lukas suchte durch einen freundlichen Blick und ein ermutigendes Lächeln die Worte ihres Mannes zu mildern. Aber Frau Rykert achtete nicht darauf.

»Ferner möchte ich Ihnen sagen, daß meine Tochter Kamilla heute, ohne sich vorher anzumelden, bei mir eingetroffen ist. wie sie behauptet, mit Wissen und Zustimmung ihres Mannes.«

Frau Lukas stieß einen kleinen Schreckenslaut aus. Der Kaufherr aber sah Frau Rykert unbewegt und ruhig in die Augen.

»Wenn mein Sohn Kenntnis vom Aufenthalt seiner Frau hat, dann ist es ja in Ordnung.«

»So ...«

Frau Rykert zerrte nervös an den breiten Bindebändern ihres Kapotthutes. Dann murmelte sie leise:

»Ich dachte nur ... nachdem unser Verkehr doch völlig aufgehört hatte, und nachdem ich so manches durch meinen Sohn erfahren habe, was ich bisher ... nicht – wußte ... ich dürfte ohne Ihre Zustimmung Kamilla wohl nicht in unserem Hause behalten ...«

Frau Lukas zwinkerte sehr stark mit den Augen, die sich ein bißchen gerötet hatten, und beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Haarknoten. Der Kaufherr rückte an seiner Brille.

»Es steht mir nicht zu, verehrte Frau, mich in die Ehe meines Sohnes zu mischen. Mein Sohn ist Mannes genug, seine Ehe nach eigenem Ermessen einzurichten, wenn er seine Frau zu Ihnen geschickt hat, wird er wohl seine Gründe dazu gehabt haben. Ich sehe auch nicht ein, warum meine Schwiegertochter nicht ihre Mutter besuchen dürfte, die jetzt allein ist?«

Das war ganz Herr Reimar Lukas: unnahbar, undurchdringlich, höflich und vernichtend.

Frau Rykert erhob sich schwerfällig.

»So war mein Weg überflüssig«, sagte sie leise, mit starrem Blick.

»Doch nicht, gnädige Frau. Er gibt mir Gelegenheit, Sie meines Respektes zu versichern und Ihnen zu sagen, daß ich meine Schwiegertochter bei Ihnen in guten Händen weiß.«

Frau Lukas stellte sich hinter ihren Mann und schob ihren Arm mit leisem Druck durch den seinen.

»Noch etwas, gnädige Frau. Herr Rykert ist augenblicklich verreist, so daß ich nicht weiß, wohin ich ihm eine persönliche Anweisung über fünfzigtausend Mark, die wir ihm zurückzuzahlen uns verpflichtet fühlen, senden kann. Darf ich Sie bitten, den Scheck entgegenzunehmen?«

Sie atmete schwer auf, und das Papier entfiel ihren zitternden Händen. Frau Lukas beugte sich schnell danach.

»Soll ich quittieren?« brachte Frau Rykert mühsam hervor.

Herr Reimar Lukas hatte nur eine herablassend abwehrende Geste:

»Nicht nötig, gnädige Frau, das kommt auf mein Privatkonto. Sobald mein Sohn geschrieben hat, erhalten Sie weitere Nachricht.«

Die Audienz war zu Ende.

Der Kaufherr machte eine kurze, achtungsvolle Verbeugung und reichte Frau Rykert höflich die Hand. Frau Lukas legte einen Arm um die große, hagere Frau und geleitete sie mit einigen freundlichen, warmen Worten ins Entree, dessen Tür sie aufmachte.

»Auf Wiedersehen, liebe Frau Rykert ...«

Sie sah ihr noch nach, wie sie sehr langsam, mit steifem Nacken die Stufen hinabschritt und sich schwer auf das Geländer stützte, während das faltige schwarze Seidenkleid hart über die Treppe nachrauschte. Dann zog sie leise die Entreetür wieder hinter sich zu und ging zurück in das stille Wohnzimmer mit den brennenden Kerzen im Kronleuchter.

Herr Reimar Lukas stand aufrecht am Tisch und hielt mit schmerzlich verzogenem Mund die Hand auf das Herz gedrückt.

»Was ist dir, Reimar?«

»Nichts, mein Kind. Gib nur ein Glas Wasser, es wird gleich vorübergehn. Manchmal funktioniert die Maschine nicht.«

Frau Lukas hielt ihm das Glas Wasser an die Lippen und mühte sich, sorglos zu lächeln. Aber es war nicht das erstemal, daß »die Maschine nicht funktionierte«.

Sie lehnte ihren blonden Kopf mit den grauen Härchen kindlich an seine Schulter.

»Ich bin überzeugt, unser Markus hat wieder mal seine großen Gefühle spielen lassen, und es steckt gar nichts dahinter.«

Herr Reimar Lukas schüttelte den Kopf:

»Nein, Maria ... die Zeiten sind bei ihm vorüber. Er weiß, was er will, und was er will, ist gut. Stören wir ihn nicht. Er wird uns selbst sagen, was er für nötig hält und was wir wissen müssen. So, mein Kind, jetzt laß mich wieder an die Arbeit ...«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, denn es war eine größere Zärtlichkeit in ihr, seitdem sie ihn manchmal müde und pflegebedürftig sah.

»Sie ist doch eine brave Person, die Frau Rykert, nicht, Reimar?« flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er nickte.

»Sie hat ein schweres Los zu tragen und trägt es mit Anstand. Mehr darf man von keinem Menschen verlangen.«

Er nippte noch einmal von dem Wasser, klopfte seiner Frau auf die Schulter und verließ gerade und aufrecht, nur um einen Schatten bleicher als sonst, das Zimmer. Es wurde Sommer. Rykert war noch immer nicht zurückgekehrt, und Kamilla war bei ihrer Mutter geblieben.

Frau Lukas hatte sie einige Tage nach ihrer Ankunft zu sich ins Bremer Haus abgeholt. Man war dort gütig und beinahe zärtlich mit ihr gewesen, aber es war etwas Scheues und Zurückhaltendes in ihr, als fühle sie sich nicht berechtigt, an dem großen, runden Familientische zu sitzen, als hätte eine andere Hand sie hier einführen müssen und ihr den Platz anweisen.

Sie wußte nicht, was Markus über sie an seinen Vater geschrieben, und fühlte das Demütigende, selbst so wenig von ihrem Manne zu wissen.

Er schrieb ihr selten und immer nur wenige Zeilen. Mit keinem Wort kam er auf den Berliner Winter zurück, nur daß die Einrichtung verkauft und die »geschäftliche Angelegenheit« zufriedenstellend erledigt sei, gab er an. Später schrieb er aus Heidelberg.

Es waren ganz trockene Referate, und sie wagte es nicht, ihm etwas von ihrem Innenleben zu sagen, von ihrer Sehnsucht nach ihm.

Ende Juni meldete Rykert seiner Frau die Rückkehr an, und Kamilla zog nun ganz zu ihren Schwiegereltern. Sie bewohnte dort Markus' Zimmer und fühlte sich ihm da näher, als nur je in der gemeinsamen Wohnung. Er hatte eine ziemlich große Bibliothek, die er dort belassen, weil er nichts hatte fortnehmen wollen aus dem Hause seines Vaters.

In seinen Mußestunden hatte er viel gelesen, und Kamilla fand auf den weißen Feldern der Bücher viele Anmerkungen von ihm, Striche und Zeichen, die ihr Aufschluß gaben über sein Wesen, das ihr erst so kindlich-zutraulich, später so hart und unerbittlich erschienen war. Es war ein langsames Eindringen in seinen Geist, in seine Seele, ein langsames Umfassen seines innersten Seins, ein langsames Verstehen.

»Du sprichst manchmal genau wie Markus«, sagte Mami ihr eines Tages bei Tisch, als eine allgemeine Frage erörtert wurde.

Und Kamilla fühlte, wie sie rot wurde, denn ihr war, als hatte man plötzlich alle Schleier von ihr gerissen. Und auch das Erröten war neu an ihr – eine feinere Sensitivät, die ihr das Haus gegeben hatte, wo die Worte noch schwerer wogen als die Gedanken.

Ihre Briefe an Markus wurden allmählich länger, freier, denn was sie über sich sagte, war wenig, was sie aus sich heraus sagte – viel.

»Die Kamilla weiß nun bald mehr als ich«, sagte Erich manchmal mit dem ganzen eifersüchtigen Hochmut seiner Sekundanerweisheit.

Und Herr Reimar Lukas zog sie zu sich heran und fuhr ihr über das hellbraune Haar.

»Das schadet nichts, wenn sie dabei schön und gut bleibt.«

Zu Weihnachten kam Markus nach Bremen.

Herr Reimar Lukas hatte wollen, daß Kamilla allein ihn von der Bahn abhole, aber da Markus selbst keinen solchen Wunsch geäußert, bat sie, ihr die Jungens mitzugeben. Und so hatte sich das Wiedersehen in äußerer Ruhe vollzogen, mit einem warmen Händedruck und einer flüchtigen Umarmung.

Markus war stärker und breiter geworden, auch seine Züge hatten sich verschärft, waren denen des Vaters ähnlicher geworden. Nur seine Augen konnten manchmal aufleuchten wie früher, und sein Lächeln milderte die strenge Nachdenklichkeit seines Gesichts.

Mit der Rücksichtslosigkeit ihrer Jahre hingen sich die beiden Ältesten in den Bruder ein, Kamilla ging seitwärts und mußte Fritz Reimar tausend sehr wichtige Fragen beantworten – bis schließlich Markus die Jungens abschüttelte, Kamilla in den Wagen half und an ihrer Seite Platz nahm.

Sie sprachen vernünftig von alltäglichen Dingen, wobei er es vermied, ihren Augen zu begegnen. Aber bevor sie ankamen, sagte er:

»Ich glaube, wir werden unseren Wohnsitz in Leipzig aufschlagen. Es eröffnet sich mir dort die Möglichkeit einer großen und schönen Tätigkeit.«

Ihr Herz schlug fast hörbar unter der dicken Krimmerjacke. Es war das erstemal, daß er von ihrer Wiedervereinigung gesprochen.

»Wolltest du nicht erst reisen?« fragte sie, nur um zu antworten.

»Nein, vorläufig nicht. Die Reisen muß ich mir doch erst verdienen. Verdienen – in jedem Sinne, vor allem durch Leistungen.«

Dann stiegen sie aus.

»Mami! Meine gute, liebe, kleine Mami«

»Mein großer, lieber, alter Junge!«

Er hielt sie in seinen Armen und küßte ihre Wangen und sah die grauen Fäden in ihrem Haar.

»Meine arme, liebe Mami!«

»Nicht reden, mein Junge. Jetzt hab' ich ja dich ...«

Es war wie in Kindertagen, wenn er zu den Ferien nach Hause kam: der große Napfkuchen auf dem Tische, und das alte schwere Familiensilber, und die brennenden Kerzen im Kronleuchter, und hinter einer Stuhllehne Mademoiselle Cardinal, noch etwas älter, noch etwas häßlicher und noch etwas kleiner  ...

Und als der Vater hereinkam, stand alles auf, wie es immer gewesen in diesem Hause, und Herr Reimar Lukas umschloß beide Hände seines Sohnes und sagte:

»Willkommen zu Hause, mein Junge.«

Nur eines war anders. Zu Markus' Rechten saß seine Frau, Kamilla Lukas geborene Rykert.

Man blieb lang zusammen an diesem Abend um den runden Tisch.

Aber als die jungen Lukasse schlafen gegangen und Mademoiselle Cardinal wie eine Ente in das Dunkel der Diele untergetaucht war, da erhob sich auch Kamilla und ließ den Sohn allein mit den Eltern.

Und da kramte er hervor aus seinem jungen arbeitsreichen und arbeitsfrohen Leben. Die Augen leuchteten, wenn er von seiner Zukunft sprach, den engen Pfaden und weiten Ausblicken seiner herrlichen Wissenschaft, und er merkte es nicht, wie Kamilla leise einen Seufzer unterdrückte und Herr Reimar Lukas immer stiller wurde und ernster.

Als er endlich hinaufging, fand er gleich im ersten Zimmer sein Bett aufgeschlagen, seine Sachen sorglich hergerichtet. Die Tür zum Nebenzimmer war zu.

Erleichtert atmete er auf und schlief lange und traumlos in den späten Morgen hinein.

Er sprach mit den Eltern nicht über seine Frau, aber er sah es an der Art, wie sie mit ihr verkehrten, daß sie sich ihren Platz erobert hatte in ihrem Hause und ihren Herzen.

Und so kam es, daß er am Weihnachtsabend, ohne daß mehr zwischen ihnen gesprochen worden wäre, als was alle im Laufe des Tages hörten, den Arm um sie legte und sie an sich zog in stummem, tiefen Vergeben, in wortlosem Bekennen seines eigenen Fehlens.

Doch erst am Abend vor seiner Abreise fiel die letzte Schranke zwischen ihnen, und sie fanden sich in der jungen Leidenschaft einer geläuterten und edleren Liebe  ...

»Bleib wie du bist«, waren die letzten Worte, die Markus seiner Frau beim Abschied zurief.

Und sie nahm diese Worte mit sich in das dunkle, stolze Patrizierhaus, das nun auch ihr Haus geworden war durch diese Worte ihres Mannes.

Ein Jahr später, am 8. November, traf in Bremen eine Depesche ein:

»Bin morgen bei Euch.

Doktor Markus Lukas.«

Die jungen Lukasse verlangten energisch Champagner und Plumpudding, dessen Tradition Mami erhalten hatte. Mami selbst verlor ein bißchen den Kopf und fing ganz unnötigerweise an zu weinen, Herr Reimar Lukas aber reichte seiner Schwiegertochter die Hand und sagte:

»Es war eine schwere Zeit für dich, Kamilla – du hast tapfer ausgehalten.«

Daß es auch eine schwere Zeit für ihn gewesen, und daß sie für ihn noch nicht zu Ende war – verschwieg er. Einige große Handelshäuser, mit denen das Haus Lukas seit mehr als hundert Jahren in geschäftlicher Verbindung gestanden, hatten sich aufgelöst, denn eine neue Generation war herangewachsen, die gleichgültig war für die Tradition ihrer Familie, eine Generation, der das Firmenschild ihrer Ahnen nicht mehr bedeutete, als eine Visitenkarte.

Es war nicht seine Art, die Sorge des Kontors ins Familienzimmer zu tragen, und nur er wußte, was ihn die äußere, kraftvolle Ruhe an schweren Kämpfen in einsamen Stunden kostete. Der Abschluß von Markus' Studien bedeutete für ihn selbst den Verzicht auf ihn, als Mitglied des Hauses Lukas. Er war nur noch ein Mitglied der Familie, mit gesonderten Interessen, gesonderten Pflichten.

So kam es, daß der Kaufherr dem ersten Dr. Lukas die Hände beglückwünschend, herzlich – und doch fremder reichte als bisher.

Markus bemerkte das nicht. Für ihn tat sich das Leben auf, mit allem, was es für ihn Beglückendes und Erstrebenswertes hatte. Und er glaubte sich über jeden Zwiespalt erhaben durch das Bewußtsein innerer und äußerer Berechtigung zu seinem Beruf.

Herr Reimar Lukas führte ihn hinunter in die Kontorräume, und von den Pulten klang es Markus entgegen:

»Guten Tag, Herr Doktor! – Habe die Ehre, Herr Doktor! – Mein Kompliment, Herr Doktor! ...«

Auch die jungen, bleichen Gesichter dort unten waren älter geworden, müder ... Zugleich aber auch ruhiger, sicherer, im Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit mit dem Hause ihres Chefs, der ihre Kraft sich nutzbar machte, ihr Alter aber sicherstellte.

Markus besuchte den Disponenten und die zwei Prokuristen in ihren Bureaus, von denen der Ältere als erster Buchhalter einst Herrn Reimar Lukas in das Geschäft eingeführt hatte.

Der erste Prokurist strich sich mit der alten Hand über den langen weißen Bart und sah seufzend auf seinen Chef.

»Jetzt heißt's noch weiter arbeiten, lieber Dohnert, bis wir den nächsten flügge kriegen ...«, sagte der Kaufherr.

»Aber den behalten wir dann doch im Nest, Herr Lukas? Das war ein rechter Streich, den uns der Herr Doktor gespielt hat«, fügte er hinzu und drohte Markus in scherzendem Vorwurf mit dem Federhalter. »Wie lange wird's denn noch dauern, bis Erich dich etwas entlasten kann?« fragte Markus, als er dann wieder dem Vater allein im rauchigen Privatkontor bei einer starken Havanna gegenüber saß.

»Zehn Jahre mindestens«, antwortete der Kaufherr sehr langsam.

Und es war, als erschrak er selbst darüber, und als dehnten sich diese zehn Jahre zu einer Ewigkeit.

»So lange?«

Markus verschränkte die Arme über der Brust und blinzelte mit seinen lichten, kurzsichtigen Augen durch den Qualm der Zigarren, über den Lichtkreis der grünverhängten Lampe in die vornehmen, blassen, scharfgeschnittenen Züge des Vaters.

»Ja, mein Junge. Deine Brüder gehören beinahe einer neuen Generation an, mit anderer Entwicklung, mit einer langen, einer sehr langen Kindheit und der glücklichen Blindheit des Kindes. So mochte mein Vater gewesen sein, der mit vierzig Jahren heiratete und mit fünfundzwanzig noch eine Ohrfeige vom Großvater bekam, weil er lieber ›Volant' spielte, als die Monatsbilanz aufstellte. Er ist dann doch ein guter Kaufmann geworden, aber später, als ich es wurde, und viel später, als du es hättest werden können. Mein Urgroßvater begründete unsere Firma mit zwanzig Jahren. In deinem Alter hatte er zwei Kinder und baute sich schon das Haus, das wir bewohnen, und das einer alten Bestimmung nach Eigentum des jeweiligen Chefs der Firma wird. Eine ebenso alte Bestimmung ist es auch, daß der älteste Sohn, der aus einer Ehe des Chefs hervorgeht, das Geschäft nach dem Tode des Vaters zu übernehmen hat. Ich habe zwei älteste Söhne ...«

Ein kaum merkliches Lächeln huschte um die schmalen Lippen des Kaufherrn. »Dieser Bestimmung verdankst du es also, mein lieber Markus, daß ich dich deinen Weg ziehen lassen durfte, ohne daß dir dadurch ein Verlust an Recht und Vermögen erwuchs.«

»Vermögensfragen würden für mich in keiner Lebenslage bestimmend sein«, warf Markus scharf ein.

»Sondern?«

Der Kaufherr zeichnete mit seinem Bleistift geometrische Figuren auf gelbliches Konzeptpapier, das stets auf seinem Schreibtisch lag. Markus konnte es nicht sehen, wie zitterig die einzelnen Linien waren, er hatte nur die ungebeugte, schlanke Gestalt vor sich und den scharfgeschnittenen Kopf mit den schmalen, strengen Lippen.

»Pflichtfragen!« sagte er ernst.

Herr Reimar Lukas zeichnete weiter, und Markus blies still den Rauch seiner Zigarre vor sich hin.

Mit einem Worte war alles klar zwischen ihnen, was Jahre der Trennung vielleicht verwirrt hatten.

Nach einer Weile hub Markus an:

»Was ich noch sagen wollte, Papa ... Das von dir ausgesetzte Jahrgeld war für Berlin vielleicht nötig und für den Anfang einer unerfahrenen Hausführung. In Leipzig und mit Kamilla, wie sie jetzt geworden ist – komme ich reichlich mit der Hälfte aus. Du brauchst dem Hause nicht so viel zu entziehen, Papa, wirklich.«

Ein Blitzen ging über des Kaufherrn Gesicht, er schlug mit dem Bleistift hart auf den Tisch und schnellte empor.

»Zum Donnerwetter, Junge, glaubst du, das Haus kann das nicht aushalten?«

Markus lächelte und wurde rot.

»Ich meinte nur ...« Sie reichten einander die Hand über den Tisch, und lachten leise – kopfschüttelnd der Alte, verlegen der Junge. Es war dieselbe schlanke, elegante Gestalt bei beiden, dasselbe Gesicht mit den scharfen, vornehmen Linien, derselbe durchdringende und dann wieder kurzsichtig blinzelnde Blick – ein Fleisch, ein Blut, ein Geist.

»Heut schmeckt die Arbeit wieder. Geh', mein Junge, geh' zu deiner Frau.«

»Zu meinen Frauen, meinst du, Papa! Ich habe sie jetzt immer beide an meiner Seite – Mami rechts, Kamilla links!«

»Daß du sie mir aber nicht mehr links liegen läßt, du!«

Markus schüttelte froh lachend den Kopf:

»Ex est!«

Der Kaufherr nickte.

»Jetzt glaub' ich's selber.«

Als Markus die Tür hinter sich zugezogen hatte, stand Herr Reimar Lukas auf, dehnte sich kurz und legte sich auf ein schmales, hartes Ruhebett, das in einer dunklen Ecke des Zimmers stand.

Er hatte es ungesehen von allen in sein Privatkontor eingeschmuggelt. Man brauchte nicht zu wissen, wie es um ihn stand.

Es war ein schönes Fest gewesen, dieses zweite gemeinsame Weihnachtsfest im Hause Lukas. Und der Kaufherr hatte die Seinen reicher als sonst bedacht, hatte länger als sonst mit ihnen in das stille Glimmen und Flimmern der duftenden Wachskerzen gestarrt.

Die andächtige Stimmung aus Markus' Kindertagen zog mit leisen Fittichen durch den Raum, und ein Brief Bernhards aus Brasilien, der sich längst zum Hilfsleiter auf einer Plantage heraufgearbeitet hatte, nahm auch Kamilla den letzten bitteren Tropfen aus ihrem vollen Glückskelch. In der ersten Neujahrswoche sollte die Übersiedelung des jungen Ehepaares nach Leipzig stattfinden.

Es war ein Tag vor der Abreise. Die kleine Bücherkiste, die Markus' notwendigste Handbücher enthielt, war zugenagelt, die Koffer standen offen und halbgepackt in den großen traulichen Mansardenstuben, die nun auf lange Zeit wieder verwaisen sollten.

Mami setzte sich ans Fenster und verschnürte einige kleine Schachteln.

Langsam und schwerfällig ratterte ein Wagen durch die enge Straße.

Markus sah mechanisch zum Fenster hinaus.

»Du ... da ist ja ... kommt deine Mutter vielleicht Abschied nehmen, Kamilla?«

»Nein ... ich weiß nichts davon. Ich wollte dich aber bitten, mich heute zu ihr zu lassen.«

Frau Lukas preßte die Stirn an die Scheibe.

»Ja ... zwei Schimmel. Es ist euer Wagen, Kamilla, und er hält vor unserem Tor. Ich kann nur nicht sehen, wer aussteigt.«

»Gehen wir hinunter«, sagte Markus.

Von unten herauf hörte man das Läuten der Entreeglocke.

Sie waren plötzlich still geworden und schritten langsam die gewundene Treppe hinab, die zur Diele führte.

»Soll man nicht zu Papa hinunterschicken?« fragte Kamilla.

»Papa ist jetzt auf der Börse«, sagte Frau Lukas.

»Laßt nur, ich bin ja da.«

Markus trat als erster ins Wohnzimmer.

»Herr Rykert«, flüsterte der Diener verstört und schlich, ohne eine Antwort abzuwarten, an der Wand entlang zurück ins Entree.

»Es ist besser, ich gehe fort«, sagte Kamilla hastig.

»Bleibe nur«, gebot Markus. »Er soll uns zusammen sehen.«

Frau Lukas zog Kamilla mit sich in die äußerste Ecke, da wo auf einer hohen Etagere die Dorésche Bibel lag, aus der Markus lesen gelernt hatte.

»Sei doch ruhig, Kamilla, was kann uns denn geschehen, wenn wir zusammen sind?!«

Dann stand Herr Rykert im Zimmer, in seinem schäbigen Winterpelz, den er nicht abgelegt hatte, die Mütze in der Hand.

»Sie wünschen?«

Markus maß den kleinen Mann von oben bis unten mit dem Blick, und er war ihm heute fast unheimlich mit seinem aschfahlen Gesicht, wie es Bleikranke vor dem letzten Stadium ihrer Erkrankung zu haben pflegen. Seine blauweißen Lippen bewegten sich einige Male, ohne einen Ton hervorzubringen, dann sagte er, abgerissen, heiser, mit eigentümlich glucksenden Tönen in der Kehle:

»Ihr Vater ... hat auf der Börse ... einen Anfall gehabt. Als er umfiel, stand ich gerade neben ihm. Ich habe ihn aufgefangen, und habe ihn ... ja ... dann habe ich ihn ... weil meine Tochter Ihre Frau ist... habe ich ihn hergebracht.«

Frau Lukas glitt lautlos zu Boden.

»Mami, liebe Mami!«

Kamilla stürzte in die Knie, ihr zur Seite, und umfing ihren Kopf mit zitternden Armen. – »Markus, Mami!!«

Markus hörte nicht.

»Wo ist mein Vater?« Er raste zur Entreetür hinaus, die Treppe hinunter bis zum Wagen, um den sich fast das ganze Kontorpersonal versammelt hatte, ohne es zu wagen, die Tür zu öffnen, hinter der ein Schutzmann, ein fremder Herr und eine lange Gestalt mit einem Tuch über dem Kopf zu sehen waren.

Als Markus, bleich wie der Tote selbst, aus dem Haustor stürzte, traten alle zurück. Die Wagentür wurde nun von innen geöffnet, und Markus riß das Tuch herunter, das die Züge des Vaters deckte.

»Doktor Lblsmnnn – – «, stellte sich der fremde Herr vor. Markus verstand den Namen nicht, hörte gar nicht hin, »ich war sofort zur Stelle, als das ... geschah. Ich konnte nur den Tod konstatieren. Herzlähmung.«

»Wir wollen ihn ins Haus tragen«, sagte Markus und warf behutsam, mit steifen Fingern, das Tuch zurück über das bleiche, ernste Gesicht. – »Wir wollen ihn ins Haus tragen«, wiederholte er tonlos.

Rykert stand da mit ausgestreckten kurzen Armen, um das Haupt des Toten zu stützen.

»Lassen Sie – – «

Markus fegte die ausgestreckten Arme achtlos beiseite und stellte sich seitwärts vor die Wagentür.

»Bitte!«

Es war nur eine Augenbewegung dahin, wo das ganze Personal dichtgedrängt Kopf an Kopf stand, mit den beiden Prokuristen und dem Disponenten an der Spitze. Und es begab sich etwas Ungewöhnliches, Großes, was den letzten Einzug des Herrn Reimar Lukas in die Werkstätte seiner Väter als unvergeßliche Erinnerung Hunderten von Menschen einprägte.

Das Personal stellte sich lautlos in zwei Reihen einander eng gegenüber, die Jüngsten des Hauses dem Wagen am nächsten. Und je vier Mann reichten die mit einem Mantel zugedeckte Gestalt den nächsten vieren und so fort, bis endlich Markus mit den drei Ältesten des Hauses Lukas oben vor der Wohntür den Vater in Empfang nahm und bis in das Zimmer trug, das ihm als Schlafraum gedient hatte.

Kein lautes Wort in der ganzen Straße, die schwarz war von Menschen; nur ein leises, dumpfes Murmeln, das gleich fernem Orgelton den letzten Aufstieg des Kaufherrn Reimar Lukas auf den Armen seiner Leute begleitete.

Und die Menge verharrte still und dichtgedrängt beieinander, so lange wie die breiten Torflügel offen blieben und die steifbeinigen Schimmel davorstanden, mit der alten Karrete.

Niemand kümmerte sich um den kleinen aschfahlen Mann im schäbigen Winterpelz, der mit kurzen hastigen Schritten auf und ab lief in der dunklen Einfahrt. Niemand sah es, wie er zögernd drei Stufen der ausgetretenen Treppe hinauf- und dann wieder hinunterging, mit scheuen, blinzelnden Augen. Niemand bemerkte es, wie er endlich herausschlich aus dem Dunkel und dem grauhaarigen Kutscher ein Zeichen machte, wegzufahren.

Noch langsamer, als sie gekommen war, ratterte die alte Karrete zurück, und unbeachtet schlüpfte Herr Rykert zwischen den schweigenden Menschen hindurch, hinaus aus der engen, kleinen Gasse, die ihren großen Toten barg im alten Patrizierhause.

Die Beisetzung des Herrn Reimar Lukas im Erbbegräbnis der Familie, das zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt Bremen zählte, fand wie üblich am dritten Tage statt. Es war eine Zeremonie, die vier Stunden gedauert hatte, und deren schweres, offizielles Gepränge die Verzweiflung und den Schmerz der Hinterbliebenen langsam einlullte.

Dr. Markus Lukas stand zwischen Mutter und Frau, umgeben von den drei jungen Brüdern, auf einem Erdhügel, während man den Sarg in die Tiefe senkte, und es ergab sich von selbst, weil er der Größte unter ihnen war, daß sie alle sich in diesem furchtbaren Augenblick an ihn anklammerten, und er sich feststemmen mußte gegen die Erde und sich hoch aufrichtete, um nicht heruntergedrückt zu werden von ihren trost- und schutzsuchenden Armen.

Und da sie ihn so ruhig sahen und gefaßt, kam auch ihnen der Glaube, daß sie sich noch zurechtfinden könnten im Leben, wenn er sie führte.

Mit keinem Wort hatte Mami die nächste Zukunft berührt, mit keiner Andeutung den stillen, inneren Kampf ihres Sohnes gestört. Die Koffer standen noch immer halbgepackt in den Mansardenzimmern. Kamilla war nur um Frau Lukas beschäftigt gewesen, Markus nur mit der Erledigung aller äußeren Formalitäten.

Die Mahlzeiten waren bisher nicht gemeinsam eingenommen worden. Mademoiselle Cardinal war den ganzen Tag mit rotgeweinten Augen von einem zum anderen gelaufen, ihm etwas Nahrung aufzuzwingen.

»Ich komme zur Kaffeestunde zu euch herauf«, sagte Markus, als er Mami und Kamilla nach der Beerdigung aus dem Wagen half. – »Jetzt laßt mich unten allein.«

Mami zog heimlich und rasch seine Hand an die Lippen.

»Mein Markus!«

Es war wie ein Aufschrei. Kamilla sah ihn mit ihren grünen Augen ernst und fragend an. Er nickte.

»Bring die Mutter nach oben, Kamilla, und laß dir von ihr sagen, welche Zimmer wir fortan bewohnen oder ob es bleiben soll, wie bisher.«

Es war ein kaum merkliches Lächeln in seinen Augen, wie er den beiden Frauen nachsah, die fest aneinandergeschmiegt die Treppe hinaufschritten. Dann zog er den Drücker aus der Tasche seines Überziehers und öffnete die Tür zum Kontor.

Alle saßen bereits an ihren Plätzen und arbeiteten mit der eisernen Disziplin eines durch nichts aus seinem Gefüge zu bringenden Organismus.

Niemand blickte auf, als er eintrat.

Er ging hinüber in das Privatkontor des Vaters, wo die Lampe brannte mit dem grünen Schirm und sonst noch alles lag, wie der Vater es vor seinem letzten Gang zur Börse verlassen hatte.

Er legte ab, warf die schwarzen Handschuhe in den mit Flor umspannten Zylinder. Dann setzte er sich vor den Schreibtisch und drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel.

Ein Diener erschien.

»Ich lasse Herrn Dohnert herbitten, den zweiten Herrn Prokuristen und den Herrn Disponenten«, sagte er kurz.

Dann wartete er, das Kinn in die Hand gestützt, und zeichnete mit dem Bleistift unbewußt geometrische Figuren auf das gelbliche Konzeptpapier.

»Herein«, rief er, als es leise klopfte.

Die drei alten Herren traten über die Schwelle. Markus erhob sich leicht von seinem Sessel und bot ihnen mit einer stummen Bewegung Platz an.

»Vor allem, meine Herren, danke ich Ihnen für Ihre treuen Dienste, die Sie meinem Vater und unserem Hause geleistet haben, und bitte Sie zugleich, Ihr Vertrauen, das sich bis jetzt an den Namen Lukas geknüpft hat, auch ein wenig auf meine Person zu übertragen. Sie werden mir dadurch meine schwere Stellung als Nachfolger eines Mannes, wie mein Vater es war, wesentlich erleichtern.«

Der alte Dohnert senkte den Kopf und hielt sein Ohr hin, als fürchtete er, sich verhört zu haben.

»Verstehe ich recht, Herr Doktor, Sie wollen wirklich das Geschäft übernehmen?!«

Die alte Stimme zitterte merklich, und die zwei anderen rückten erregt ihre Stühle.

»Ja, meine Herren, ich halte das für meine Pflicht. Es müßte denn sein, daß mein Vater Bestimmungen getroffen hat, die die Regierung – solange sie auch dauern mag, in andere Hände legen.«

»O nein, Herr Doktor. Es ist uns eine letztwillige Verfügung Ihres Herrn Vaters bekannt, die ich selbst beim Notar deponierte – kaum vier Wochen alt – , laut der er Ihnen anheimstellt, Chef des Hauses Reimar Lukas zu werden, wenn ›Ihr Pflichtgefühl‹ es Ihnen gebietet.«

»Das ist jetzt der Fall, meine Herren.«

Die drei alten Herren erhoben sich wie auf einen Ruck und streckten Markus die Hand entgegen, die sie ihm in heftiger Bewegung drückten.

»Ich leugne nicht, meine Herren, daß ich damit einen Lebenstraum begrabe, Etwas, was mir seit meiner Kindheit beinahe als das erstrebenswerteste Ziel vor Augen schwebte. Aber wenn ich durch dieses Opfer im Sinne meines Vaters und im Geiste unseres Hauses handle, so entschädigt mich dies Bewußtsein für manches, worauf ich verzichten muß.«

»Sie sind ein ganzer Mann, Herr Dr. Lukas, wie Ihr unvergeßlicher Vater. Erlauben Sie jetzt, daß ich Sie zu mir herüberbitte, damit Sie sich in unsere Geschäftschronik einschreiben, wie es Sitte ist in diesem Hause, wenn der neue Chef die Leitung übernimmt?«

»Bitte.«

Der Disponent öffnete respektvoll die Tür, der alte Prokurist ging voran. Ihm folgte Markus, dem sich die zwei anderen Herren anschlossen.

So bewegte sich der kleine Zug langsam durch die drei großen Kontorräume, die das Privatkontor des Chefs vom Bureau der Prokuristen trennten.

Dort angelangt, erschloß der zweite Prokurist die Tür des großen eisernen Schrankes, und Dohnert entnahm ihm ein dünnes, in Schweinsleder gebundenes Büchlein, auf dessen erster Seite in goldenen Buchstaben geschrieben stand:

»Geschäftschronik des Hauses Lukas.«

»Auf der rechten Seite stehen die jeweiligen Chefs vom Begründer an. Auf der linken jene Angestellten des Hauses, die fünfundzwanzig Jahre im Hause gearbeitet haben. Bitte, Herr Doktor!«

Und Markus schrieb unter den Namen seines Vaters den seinen: Dr. Markus Lukas. Seine Hand bebte leicht, und der große Schlußstrich versagte. Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Das tut nichts, Herr Doktor, so scheint es allen gegangen zu sein, die sich hier eingeschrieben haben. Es war doch immer ein großer Augenblick. Und nun das Datum, bitte – Danke, Herr Doktor.«

Er löschte vorsichtig die feuchten Zeilen und gab das Buch wieder seinem Kollegen, der es in den Schrank zurücklegte.

Markus fuhr sich mit dem Taschentuch über die feuchte Stirn. Es war ihm doch noch anders zumute, als da er sein Doktordiplom empfangen hatte.

Wieder traten die Herren aus dem Zimmer heraus, in derselben Reihenfolge. Und mit merkwürdig starker und sonorer Stimme rief der alte, weißhaarige Dohnert, so daß es durch die drei großen Kontorräume schallte:

»Meine Herren – hier sehen Sie unsern neuen Chef, Herrn Dr. Markus Lukas!«

Ein Stuhlrücken, Pulteklappen, und plötzlich stand alles auf wie ein Mann. Nur die Köpfe neigten sich in lautloser Stille.

»Sprechen Sie ein Wort«, flüsterte Dohnert Markus ins Ohr.

Aber diesmal war Markus' Ergriffenheit zu stark.

»Meine Herren ...«

Er wiederholte nochmals:

»Meine Herren ... ich danke Ihnen für alles Vergangene und bitte Sie, mit mir weiterzubauen an der Größe unseres Hauses!«

Darauf ließen sich alle wieder auf die Plätze nieder und beugten ihre Köpfe noch tiefer über die Pulte als vorher  ...

»Und nun wollen wir an die Arbeit«, sagte Markus und schritt seinen Begleitern voran in sein Privatkontor.

– Um fünf Uhr klopfte der Diener Franz an, um dem Herrn Doktor zu melden, daß der Kaffee serviert sei.

»Schön, ich komme.«

Er warf die halb angerauchte Zigarre in den Aschenbecher, tauchte seine Hände in ein kupfernes Wasserbecken, das nahe dem Ruhebett stand, und ging dann hinauf in die Wohnung.

Als er langsam und nachdenklich, mit seinem Sinne noch halb bei der Arbeit, aus dem Dunkel des angrenzenden Raumes in das Speisezimmer trat, saß die Familie wie immer um den Tisch, und es war eine natürliche Bewegung, daß alle aufstanden und Kamilla ihm entgegenging. Sie führte ihn an den Platz, an dem Herr Reimar Lukas immer gesessen, und Mami stellte die goldene Tasse vor ihn hin.

Dann setzten sich alle wieder unter den alten Kronleuchter mit den flammenden Kerzen, und die drei jungen Lukasse glaubten beinahe, der Vater weile noch unter ihnen.


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