Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Markus vergrub sich in seine Arbeit. Nur vier Wochen noch trennten ihn vom Beginn der Prüfungen. Ein ihm bisher fremdes Angstgefühl beschlich ihn, wenn er daran dachte; eine innere Nervosität, der er nicht Herr werden konnte. Es gab Augenblicke, da ihm diese Prüfung als unübersteigbare Klippe erschien, wo alle seine Gedanken sich verwirrten, wenn er sich lebhaft in die Lage des Eraminanden versetzte. Und doch war er ein guter Schüler, mit »persönlicher Auffassung«, wie Dr. Ramin früher zu sagen pflegte. Aber jetzt wurde weniger »persönliche Auffassung«, als gutes Gedächtnis verlangt. Nicht Intelligenz, sondern das Wissen von Tatsachen wurde bewertet.

In einer schlaflosen Nacht schrieb er Kurt einen längeren Brief. »Kann ich für mein Gedächtnis garantieren? Der Gedanke an das Abitur vergällt mir jede Stunde des Tages. Ich erinnere mich nicht, daß Du je diese ›bleiche Furcht‹ gekannt hättest! Ulkend gingst Du zur Schule, und beinahe ist mir, als wärest Du an den Tagen der mündlichen Prüfungen besser aufgelegt gewesen, als an gewöhnlichen Tagen!«

»Nervenfrage«, schrieb Kurt zurück. »Enzlehn war gewiß ein fauler Hund, aber mit guten Nerven wäre auch er durchgeschlüpft. Mir übrigens machen Kampf und Gefahr nur Spaß. Der Examinator ist mein ganz persönlicher Gegner, mit dem ich mich messe, und den ich, wenn es irgend geht, düpiere. Mit guten Nerven und einer Portion Frechheit kommst Du durch dick und dünn. Auf Frechheit ist man bei Prüfungen am wenigsten gefaßt. Habe Deine Züge in der Gewalt, verrate nicht die leiseste Unsicherheit. Sieh ruhig und gelangweilt drein, wenn sich Dir auch Deine Haare vor Entsetzen über Deine Unwissenheit sträuben. Nichts reizt nämlich mehr zur Niederträchtigkeit, als so ein armes, gequältes, schlotterndes Wurm. Der in jedem Machthaber steckende Sadismus feiert dann geradezu Orgien!«

Wenn es eine Nervenfrage war, dann hatte Markus allen Grund, doppelt ängstlich zu sein. Seine Nerven waren durch die Ereignisse der letzten Zeit sehr mitgenommen. Und jeder Tag brachte neue Aufregungen. So die erste klage, die ins Haus geschneit kam: »Blumenhändler Kollert gegen Frau Dr. Labisch.«

Frau Dr. Labisch fing sie noch rechtzeitig auf, um sie vor den Augen ihres Mannes zu verbergen. Aber bald kamen noch andere. Ein Möbelgeschäft in der Potsdamer Straße Klagte auf Innehaltung der Ratenzahlungen von hundert Mark monatlich für gelieferte Möbel.

Diese Zustellung kam, während man bei Tisch saß.

»Was ist das?« fragte Dr. Labisch und nahm dem Mädchen, ehe seine Frau dazwischengreifen konnte, das Papier aus bei Hand.

»Was sind das für Möbel, Irene?« fragte er kopfschüttelnd.

Sie verfärbte sich erst, dann antwortete sie:

»Die Schlafzimmermöbel in deinem Zimmer, du weißt doch.«

»Du sagtest mir – wir hätten Möbel genug. Ich wollte doch nichts Neues kaufen!«

»Ja, ja... aber das war dann alles so kaputt, ich habe doch lieber was Neues dazugenommen.«

Dr. Labisch schüttelte noch immer den Kopf.

»Hundert Mark monatlich? Seltsam, wir haben doch sonst nie etwas auf Abzahlung genommen. Wie hoch ist denn die Summe?«

Sie fuhr mit den Händen durch das Haar.

»Die ganze Summe... ich weiß nicht genau... ich werde nachsehen... ich... Herrgott, was ist denn das für eine Inquisition?«

»Ich meine, es wäre Zeit, unsinniger Verschwendung Einhalt zu tun«, sagte Dr. Labisch, und zwei rote Flecke traten auf seine gelben Wangen.

Es war die erste Auseinandersetzung, der Markus beiwohnte. Seine Hände wurden ihm eiskalt. Er wußte nicht, wo er hinsehen sollte.

Dr. Labisch putzte seine Augengläser, wie immer in Augenblicken großer Erregung.

»Ich muß dir sagen, liebe Irene, daß wir die Eltern nicht mehr in Anspruch nehmen dürfen, wir müssen uns etwas einrichten wir sind immerhin keine Millionäre; und selbst Millionäre – « er streifte Markus mit dem Blick – »müssen in ihren Einnahmen und Ausgaben das Gleichgewicht halten. Du hast mich doch verstanden, liebe Irene?«

Er stand auf und küßte sie auf die Stirn. So entschieden hatte er wohl noch nie mit seiner Frau gesprochen.

»Sieh also dann nach, was die Rechnung bei dem Möbelhändler macht. Ich werde sie bezahlen.«

Sie antwortete nicht. Markus erhob sich gleichfalls.

»Mahlzeit, Tante Irene.«

Dr. Labisch ging in sein Studierzimmer, wo er bei einer Zigarre erst die Zeitung vornahm und dann ein kleines Mittageschläfchen hielt. Sie blieb am Tisch sitzen und schenkte sich von dem Rotwein ein, der immer für sie auf dem Tisch stand. Markus blieb wie angewurzelt stehen.

»Wollen wir nicht ein bißchen spazierengehen, Tante Irene?« schlug er vor.

Sie nickte wie abwesend: »Ja, in einer Stunde.« Aber er drang in sie: »Nicht in einer Stunde. Gleich!«

Er legte den Arm um sie und sprach herzlich auf sie ein. Sie schob ihn von sich, heftig, gereizt.

»In einer Stunde, sag' ich – hörst du? Jetzt will ich schlafen.«

Er atmete erleichtert auf, als sie sich erhob.

»Geh doch nur,« sagte sie, lächelte ihm zu und stellte die Weinflasche ins Büffet.

Und er lachte sie an und wiederholte:

»In einer Stunde!«

Jetzt, da die Flasche im Schrank stand, war er wieder ruhig.

Als er an ihre Türe klopfte und aufmachen wollte, war die Tür verschlossen. Er klopfte nochmals und abermals. Dann hörte er das Rücken eines Stuhles, ein leises gläsernes Klirren, hastige Schritte, wieder Stuhlrücken, dann näherten sich die Schritte der Tür. Mit gerötetem Gesicht und aufgeschwollenen Lippen stand Frau Dr. Labisch vor ihm. Sie lächelte verlegen.

»Siehst du, nun hätte ich wirklich beinahe verschlafen. Einen Augenblick. Gleich bin ich fertig!«

Sie verschwand in ihrem Ankleidezimmer, und Markus blieb eine Weile allein in dem raffiniert ausgestatteten kleinen Salon, in dem früher die Whistpartien stattfanden und in dem jeder Gegenstand von liebevoller, kunstverständiger Wahl sprach. Dr. Ramin hatte manches seltene Stück selbst mit ausgewählt, wenn er Labischs zu den ihm bekannten Antiquitätenhändlern begleitete. Jetzt lag alles wie tot da. Die Sprache, die jeder einzelne Gegenstand gesprochen, war verstummt. Man sah dem Zimmer die liebeleeren Augen an, die auf ihm ruhten.

»So, nun können wir gehen!«

Die dicke Puderschicht ließ die Röte der geschwollenen Lippen nur noch mehr hervortreten, und ein mit unsicherer Hand geführter Stift unterstrich ungeschickt die dunklen Augen in dem schlaff werdenden Gesicht.

»Was siehst du mich so an, Markus?«

Er ertappte sich auf einem ähnlichen Gedanken, wie ihn Enzlehn ausgesprochen hatte: es war ihm peinlich, am Tage an ihrer Seite zu gehen.

Auf der Straße verlangte sie seinen Arm, und er bemerkte, daß sie sich merkwürdig fest an ihn hielt, als wäre sie ihrer Schritte nicht sicher.

Vor einem Juwelierladen in der Tauentzienstraße machte sie halt und bedeutete ihm, draußen zu bleiben.

»Eine kleine Reparatur. Ich bin gleich wieder da.«

Markus schritt mit gesenktem Kopf vor dem Laden auf und ab. Dabei stieß er mit einem Herrn zusammen, so heftig, daß dem andern der Stock vom Arm flog.

»Sapperment, so geben Sie doch – ach du bist's, Markus?!«

Enzlehn stand vor ihm, trotz der Unbeweglichkeitspose merklich befangen. Markus reichte ihm die Hand.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Narli.«

»Du machst einem den Verkehr nicht gerade leicht,« sagte Enzlehn wieder in seiner alten spöttischen Art. »Was machst du übrigens hier?«

»Ich warte auf Tante Irene, sie ist beim Juwelier nebenan.«

»So – na, dann verdufte ich lieber!«

»Ja, geh!« sagte Markus ernst. »Es ist besser.«

»Du... Du wirst mich damals mißverstanden haben, Markus«, hub Enzlehn wieder an. »Total mißverstanden!«

»Um so besser, Karli!«

»Tja... das muß ich dir sagen, damit die Beziehungen zwischen uns ungetrübt bleiben. Ich versichere dich, daß ich mich durchaus korrekt benehme, durchaus. Ich muß es auch, da ich bald so exponiert dastehe...«

»Wieso, Larli?«

»Ich übernehme wahrscheinlich von nächster Saison ab ein kleines, ich sage gleich, ein winzig kleines Theater hier, wo ich meine künstlerischen Ideen realisieren werde. Das Geld ist zum größten Teil zusammen. Trebiner hat wieder eine famose Sache auf Lager. Nülber und die Hennings machen auch mit, Kastanien wird mein Dramaturg – du, er wäscht sich schon mit Lilienmilchseife... Also die Sache ist gemacht!«

»Vom wem hast du denn das Geld?!«

»Na Gott – da ist also mal gleich unsere Gönnerin, Frau Dr. Labisch, mit... Ach, Markuschen, erschrick nicht – mit einer Kleinigkeit nur, weißt du – um die andern anzulocken. Das nennt man ›ne Konzertzeichnung‹! Dann hat Bresch Zwanzigtausend rangeholt, um sich bei mir einzunisten. Wir brauchen ja nur ganz wenig! Vor allem wollen wir ein paar öffentliche Vorstellungen herausbringen – das ist die Hauptsache. Na, Servus, ich seh' was Dunkles vor dem Ladentisch drin, komm mal ins Café!«

Zwei Finger an die Hutkrempe, und er sprang auf die vorüberfahrende Elektrische.

In diesem Augenblick trat auch Frau Dr. Labisch auf die Straße hinaus.

»Wen grüßtest du denn da eben, Markus?«

»Einen Schulkollegen«, log Markus.

Sie atmete die klare, den nahenden Vorfrühling kündende Winterluft gierig ein. Sie sah vergnügt aus, und ihre Bewegungen waren wieder sicher und voll Anmut.

»Wir wollen jetzt einen offenen Wagen nehmen und in die Potsdamer Straße fahren. Ich will doch gleich die dumme Möbelrechnung bezahlen. Es war ja nur bodenlose Vergeßlichkeit, daß ich es bis jetzt nicht getan habe.«

Von dort fuhren sie zu Gröhlkes. Es war schon sehr lange her, seit Irene bei ihren Eltern war. Markus drückte ihr die Hand.

»Du, die werden sich freuen, Tante Irene!«

»Das ist noch sehr die Frage, denn ich komme betteln. Aber mir ist heute wieder einmal so froh und leicht.«

Frau Gröhlke kam in einem geblümten türkischen Schlafrock heraus ins dunkle Entree, als sie Irenes Stimme hörte. Sie schob die Brille auf die Stirn herauf und schüttelte verwundert den Kopf. Der Besuch schien sie wirklich mehr zu beängstigen als zu erfreuen. Aber Gröhlke war sehr glücklich. Er machte große Umstände für Irene, wie für einen fremden, vornehmen Gast.

»Einen Kaffee, extra stark« schrie er dem Mädchen in die Küche nach.

Aber Irene bat um Tee mit Rum; sie wäre durchfroren von der Fahrt im offenen wagen.

Es wurde schließlich doch noch ganz nett um den runden Tisch. Gröhltes zeigten Ansichtskarten von Kurt und frischten Erinnerungen aus seiner Kindheit auf.

»Er is 'n reeller Junge,« sagte Frau Gröhlke, »jenau wie sein Vater. Nur energischer. Dem wird de Frau nich uff der Nasenspitze rumtanzenl Dem nich!«

Frau Dr. Labisch erhob sich, faßte den Vater unter den Arm und führte ihn ins Nebenzimmer.

»Ick bin ooch noch da!« rief Frau Gröhlke und wollte nach.

Aber der alte Mann schob sie sanft mit der Hand fort:

»Immer jemütlich, Olle, erst komme ick – der Vater!«

Frau Gröhlke setzte sich mit verbissenem Ausdruck wieder auf ihren Platz zurück. Sie sprach auch nicht weiter, stützte den Kopf auf die runzlige Hand und starrte auf das weiße Tischtuch.

Die Stimmen im Nebenzimmer erhoben sich zeitweise so laut, daß einzelne Worte zu verstehen waren. Dann klang es wie weinen.

Frau Gröhlke lachte kurz und trocken auf.

»Ohne mich is nischt zu machen, und ick jebe meine Einwilligung nich! Für det Theatervolk is mir mein Jeld denn doch zu schade! Hat ooch zu ville Arbeit jekostet!« sagte sie hämisch.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Irene stürzte mit verweintem Gesicht herein.

»Mama, ich bitte dich... ich beschwöre dich... du mußt doch begreifen – ich habe mich verpflichtet!«

»Na denn ent-pflichte dich wieder! Mich jeht det allens absolut nischt an! Deine Mitjift haste aufjebraucht, wie du de feinen Jesellschaften jeden mußtest und dich einrichten, wie 'ne Millionöse. Zwanzigtausend Mark hat der Vater vor sechs Wochen jeschafft, und wenn's Jahr um war, haben wir ooch immer unsere fünf bie sechs Millekens zujeschossen. Und nu machste Schulden?! – Scheen!! Aber uff deine Verantwortung. Ich will mit die janze Sache nichts zu tun haben, verstehste? Nich mit de vornehmen Leute, nich mit's Theater. Det 's alles unreell, verstehste! Allens unreeller Kram!«

Gellend schrie die alte Frau diese« »unreell« in den Raum hinein, wütend, außer sich – –

Gröhlte saß bekümmert auf einem Stuhl neben der Tür.

»Ick sage ja ooch, Ireneken, det jeht nich so weiter! wir können's doch ooch nich aus 'm Boden stampfen. De Zinsen für die Hypotheken fressen mir reene uff!«

Frau Dr. Labisch hatte aufgehört zu weinen. Sie lehnte am Ofen und stierte mit den roten, geschwollenen Augen in die Gasflamme.

»Ich habe mich verpflichtet«, wiederholte sie nochmals, ganz ausdruckslos.

»Wie hoch denn?« fragte Gröhlke leise.

»Warum fragste se noch? Ick kann doch nischt jeden«, schnitt Frau Gröhlke hart ab.

»Du kannst, aber du willst nicht«, sagte Irene in gleichem Tone.

»Det kannst« halten, wie de willst – du!«

»Nich, nich, Olle«, begütigte Gröhlke, und zu Irene gewandt fuhr er leise fort: »Siehste, Ireneken, die Häuser sind überlastet. Wenn ich ooch verkoofe, is nischt zu holen. Und was det Barjeld anlangt, Ireneken, det hat immer Muttern jehört, und wie det so schief jing mit euch, da hat sie't jenommen und in 'ne Leibrente anjelegt, und... det übrige für Versicherungen einjezahlt, damit, wenn wir dot sind, Kurt ooch wat hat.«

Die Worte des alten Mannes fielen immer langsamer, immer leiser von seinen Lippen, fast demütig zum Schluß, als müßte er die Tochter um Verzeihung bitten für das, was er getan hatte.

Frau Dr. Labisch rührte sich nicht, wie eine Säule stand sie an dem lauen, grünen Kachelofen, die Arme im Rücken verschränkt.

»Wollen wir nicht gehen, Tante Irene?« fragte Markus.

Etwa« in seinem Ton ließ sie aufhorchen. Ein tieferer, ungewohnter klang seiner Stimme, etwas Festes, Sicheres, an das sie sich klammerte, wie an einen Halt.

Er reichte ihr das Jackett. Und während sie es automatenhaft zuknöpfte, gab er den beiden Alten die Hand.

»Besuch uns bald wieder, Markuschen«, sagte Frau Gröhlke ruhig.

Ihr Mann aber flüsterte leise:

»Ick komme mal nachfragen, wie 't jeht.«

»Guten Abend, Papa, 'n Abend, Mama,« sagte Irene und verließ, von Markus gefolgt, das Zimmer.

Im Wagen fragte Markus:

»Wem gegenüber hast du dich denn verpflichtet, Tante Irene?«

Sie antwortete, ohne ihn anzusehen:

»Dem Unternehmen.«

»Was für einem Unternehmen?«

»Enzlehn soll das Stück, das bei mir gespielt wurde – «

»Ich weiß«, unterbrach sie Markus. »Also ihm hast du da« Geld versprochen?«

»Ja... das heißt, er hat's zum Teil schon bekommen.«

Markus fühlte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn bat.

»Woher hattest du denn das Geld, Tante Irene? Du mußt mir alles sagen, hörst du – alles. Dann kann ich dir vielleicht helfen.«

»Mein lieber kleiner Markus...!«

Sie fing wieder an zu weinen, dann sagte sie:

»Ich habe mir Geld verschafft – auf Wechsel.«

»Von wem?«

»Ich weiß nicht ... Trebiner hat die Sache gemacht. Es hat nur ein paar Tage gedauert. Es ging ganz glatt. Aber nun muß ich in acht Tagen den ersten Wechsel bezahlen: fünftausend Mark. Und in vier Wochen den zweiten: wieder fünftausend. Der zweite sollte ja von den Einnahmen bezahlt werden. Gott, Markus, es war ja gar nicht schlimm. Nur die ersten fünftausend Mark machen mir Sorge, nur die... warum sagst du nichts, Markus? ... Du... warum sagst du nichts?«  ...

»Laß nur, Tante Irene, laß nur. Ich muß erst überlegen.«

Der Wagen hielt; sie stiegen aus.

»Bitte, Tante Irene, schick' mir das Abendbrot auf mein Zimmer, ich habe zu arbeiten.«

Er konnte jetzt nicht mit ihr zusammensitzen, wie sonst – –

Am nächsten Morgen während der Stunde fuhr ihn Dr. Labisch an. Er wäre unaufmerksam, er solle doch an sein Abiturium denken – in dem Winter wäre überhaupt nichts mit ihm los.

Markus wurde etwas blaß. Aber er ließ den merkwürdigen Zornesausbruch, ohne mit der Wimper zu zucken, über sich ergehen. In der Pause wurde er zum »Direktor« beschieden. Es war das erstemal, daß Markus von Dr. Labisch »offiziell« als Schüler behandelt wurde. Bisher hatte Doktor Labisch etwaige Rügen zu Hause erteilt. Aber es war selten Gelegenheit dazu gewesen. Markus – der Musterschüler – gab wenig Anlaß.

Erstaunt und beklommen betrat er den wohlbekannten Raum, der zu Dr. Ramins Zeiten wie ein Ministerkabinett, jetzt wie ein verqualmtes Vereinszimmer wirkte.

»Du wünschest, Onkel?«

Dr. Labisch ging mit großen Schritten erregt im Zimmer auf und ab. wieder brannten große rote Flecke auf den gelben Wangen.

»Hier bin ich der ›Herr Direktor‹, verstanden?!« fuhr er Markus an.

Markus verharrte an der Tür und sah noch verwunderter drein als vorher. Dr. Labisch lief immer an Markus vorbei und gab nur fauchende, zischende, unartikulierte Laute von sich. Endlich blieb er stehen und bearbeitete seinen Zwicker.

»Unerhört! Einfach unerhört!« brachte er nur hervor.

»Was ist denn unerhört?« fragte Markus leise. »Ich verstehe nicht.«

»So? Wirklich nicht?«

Dr. Labisch versuchte einen beißend ironischen Ton anzuschlagen, aber es kam doch nur wütend heraus. Endlich saß ihm der Zwickel wieder auf der Nase, und während seine Hand noch die Hälfte des Gesichts beschattete, polterte er:

»Man hat dich gesehen, wie du mit Theaterleuten und auffallenden Personen in später Nachtstunde von Hiller herausgekommen und dann mit wüstem Lachen und Lärmen mit den Leuten ins Café gezogen bist! Du sollst dich kaum auf den Füßen gehalten haben, so betrunken warst du, wie du aus dem Restaurant kamst! Ein Skandal! Pfui!«

Dr. Labisch nahm seine Wanderung wieder auf. Er wiederholte dabei immer wieder: »Ein Skandal! Ein Skandal!« Und in neuaufflammender Erregung erhob sich sein etwas heiseres und schleimiges Organ zu neuer Kraft:

»Weißt du, daß man einen Schüler daraufhin relegieren kann? Ein Schüler, der sich mit zweideutigen Weibern nachts in trunkenem Zustande in öffentlichen Lokalen und auf der Friedrichstraße herumtreibt, der hat in der Schule nichts mehr zu suchen, der ist nicht wert unter seinen Mitschülern zu bleiben, der ist ein ganz... ein ganz verkommenes Subjekt, verstanden?!«

»Nein«, sagte Markus scharf und fest.

Dr. Labisch hielt mitten im Gehen inne, griff in mechanischer Bewegung nach dem Zwicker und blinzelte hilflos mit seinen runden, ausdruckslosen Glotzaugen.

»Nein?! ... Wieso nein?!«

Er fragte nicht, er wiederholte nur die in der Schuldisziplin einzig dastehende Antwort und faßte es nicht, daß sie gegeben werden konnte. Markus, der regungslos auf seinem Platze verharrt war, richtete seine leicht vornübergeneigte Gestalt hoch auf und fuhr ebenso scharf und fest fort:

»Nein. Ich verstehe nicht, daß man sich das Recht nehmen darf, mich ein ›verkommenes Subjekt‹ zu nennen, für etwas, was ich drei Monate später tun dürfte, ohne auch nur Anstoß in der guten Gesellschaft zu erregen. Bei den Studenten gilt das Trinken sogar als eine Eigenschaft. Übrigens war ich an jenem Abend nicht betrunken, ich war auch nicht in Gesellschaft zweideutiger...«

Er stockte plötzlich.

»Aha! ... Na Gottlob, du erniedrigst dich wenigstens nicht durch eine Lüge!«

Dr. Labisch war merklich ruhiger geworden.

»Ich würde dir raten, lieber ehrlich dein Verfehlen einzugestehen, den Verweis einzustecken und Besserung zu geloben, als dich mit mir in große Auseinandersetzungen hier einzulassen darüber, was dir jetzt verboten und später gestattet ist! Du mußt nicht auf ein Ausnahmeverhältnis in der Schule pochen, weil du ein Mitglied meines Hauses bist. Ich hasse jegliches Protektionswesen! Was ich errungen, habe ich durch eigene Kraft und eigenes Verdienst erreicht, und dasselbe verlange ich von allen anderen. So, Markus, nun weißt du, was ich davon halte! Wenn du dich aber im Recht glaubst und Entschuldigungsgründe anführst – so zwingst du mich, eine strenge Untersuchung einzuleiten, deren Ergebnis vielleicht noch ernstere Folgen für dich haben könnte. Entscheide dich – – Also?«

Markus schwankte keinen Augenblick. Nur so lächerlich kam ihm die ganze Szene vor, so lächerlich und traurig zugleich. Er fühlte wieder mal all das Äußerliche übernommener Begriffe und zugleich all die Gefahr, die ein ehrliches Bekenntnis in sich bergen konnte.

»Es wird nicht wieder vorkommen,« sagte er ruhig.

Das unerwartet schnelle, offene Zugeständnis, das in diesem Versprechen lag, reizte Dr. Labisch mehr, als es ihn beruhigte. Es schien ihm beinahe zynisch.

»Aha... Du gibst also zu?! Skandal! ... Ich habe keine Worte dafür! ... Ich kann nur annehmen, daß du verleitet worden bist, und ich werde meine Frau bitten müssen, dich im Hause strenger zu überwachen, da du ihre Güte mißbrauchst und unser vertrauen so wenig rechtfertigst!«

Die Komödie wurde zur Groteske. Aber der Mann mit dem stumpfen Blick, für den das Leben sich auf wenigen altbewährten Grundsätzen aufbaute, tat Markus leid. Er hatte mehr als Beschränktheit, er hatte auch Güte von dem Manne gesehen, und dieser empfundenen, miterlebten Güte beugte er sich.

»Bitte, nur Tante Irene nichts von dem allem zu sagen. Ihr zuliebe. Es wird wirklich nicht mehr vorkommen«, wiederholte Markus.

Und der Mann mit dem stumpfen Blick, der Bierfettschicht über den Nerven und dem Autoritätskoller eines deutschen Schulphilisters, war bezwungen durch den einfachen Appell an das Gefühl für seine Frau.

»Schon gut! Geh'! Ich will dir glauben.«

Markus war entlassen.

Zu Hause erwartete ihn Frau Dr. Labisch mit bleichem, übernächtigtem Gesicht. Sie hatte keine Sorgfalt auf ihr Haar verwendet und auch den Morgenrock nicht gegen das Kleid vertauscht, wie sonst immer zu Tisch.

»Wir wollten doch sprechen, Markus – nicht wahr?

Er drückte ihr flüchtig die Hand.

»Ja, Tante Irene, aber laß mir etwas Zeit. Morgen ist Sonntag, da will ich sehen. Nur eines versprich mir – – «

»Ja?«

Sie blickte ihn verstört an.

»Bleib' zu Hause, Tante Irene. Ich bitte dich, bleib' zu Hause, sonst kann ich nichts in Ordnung bringen.«

Sie nickte.

»Ja, mein kleiner Markus, wie du willst ... ganz, wie du willst! Du mußt immer nur sagen, was ich tun soll.«

Enzlehn bewohnte, wie Markus aus dem Adreßbuch ersah – es widerstrebte ihm, Frau Dr. Labisch zu fragen – eine kleine Gartenwohnung in der Fasanenstraße. Immerhin ein Wohnen, daß Markus nicht im Einklang mit den ihm bisher bekannten Einkünften Enzlehns zu stehen schien; betroffen war er auch von der ganz modernen, vornehm eleganten Einrichtung.

Ein in grau gehaltenes Arbeitszimmer mit einfarbigem, grauem Teppich, der über den ganzen Raum gespannt war; die Flügeltüren zu einem mit beinahe weiblicher Koketterie ausgestatteten Schlafzimmer aus hellem Holz standen offen. Gelbe Stores wehrten dem allzu grellen Licht der märzlichen Morgensonne. In beiden Zimmern schwebte ein angenehmer Duft von starkem Parfüm und seinen Zigaretten. Im bequemen Klubsessel neben dem peinlich geordneten Schreibtisch räkelte sich Trebiner, während Kastanien auf der Chaiselongue saß.

Trebiner schenkte sich aus einem geschliffenen Kristallfläschchen blutroten Curaçao in ein langstieliges kleines Glas und sagte gerade:

»Ich kenne einen Maler, dem der Herrgott selbst den Pinsel in die Hand gedrückt hat. Für ein Stück trocken Brot schafft der uns Meisterwerke. Wir müssen ihn nur auf Jahre binden!«

Da trat Markus an Enzlehns Seite herein. Beide waren etwas bleicher als sonst, und Enzlehn sagte: »Ich bitte euch, zieht euch ins Schlafzimmer zurück. Aber setzt euch nicht auf mein Bett, das kann ich nicht vertragen.«

Kastanien nahm ein paar Bücher mit und Trebiner seinen Curaçao. Enzlehn schloß die Flügeltüren und setzte sich dann vor seinen Schreibtisch mit seinem mädchenhaften und grausam ruhigen Gesicht.

»Nimm Platz, Markus.«

Er zeigte auf den Klubsessel und rauchte sich eine Zigarette an.

»Rauchst du? Nein? – Schade. Du solltest dir's endlich mal angewöhnen! – Nun?«

Der vertraute Jugendfreund schien Markus plötzlich wie auf tausend Meilen entrückt. Die vornehm ruhige Umgebung, in der sich Enzlehn so selbstsicher und vertrauenerweckend gab, schüchterte ihn beinahe ein.

»Ich komme in einer sehr ernsten Angelegenheit, Karli«, sagte er endlich.

Enzlehn lächelte spöttisch.

»Das kann ich mir denken. Man braucht dich nur anzusehen. Du trägst noch immer deinen innerlichen Menschen als Aushängeschild herum.«

»Laß das, Karli ... Es handelt sich jetzt nicht um mich, sondern um eine Frau, die dir ... um Tante Irene.«

Enzlehn blies gelangweilt ein paar Rauchwolken vor sich hin:

»Ja ... und – ?«

»Tante Irene hat sich an eurem Unternehmen mit größeren Summen beteiligt ...«

»Pardon, Markus, die Summe ist nicht der Rede wert.«

»Aber für sie ist sie groß«, rief Markus hastig. »Sie kann ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, verstehst du?« Enzlehn schüttelte den Kopf.

»Ich begreife nicht, Markus, sie hat ja schon eingezahlt – warum regst du dich auf?«

»Weil sie Schulden gemacht hat, um einzuzahlen, verstehst du? Und nun muß sie die Wechsel einlösen und kann nicht.«

»Tz – tz – tz ... dumme Geschichte das! Ja aber – was soll ich dabei tun?«

Markus mußte beinahe lachen und fiel auf einen Augenblick zurück in seinen kindlichen Ton.

»Wie dumm du fragst, Karl! – herausgeben mußt du das Geld natürlich.«

Enzlehn meckerte leise vor sich hin.

»Ach, du bist nicht recht klug«, antwortete er ruhig. – »Ich soll achttausend Mark herausgeben?«

»Zehntausend, Karli.«

»Nein, achttausend hat sie eingezahlt.«

»Aber sie muß doch zwei Wechsel à 5000 Mark bezahlen!«

Enzlehn zuckte die Achseln.

»Tja, das weiß ich nicht.«

Markus sprang auf. Sein Gesicht rötete sich. Er wies mit der Hand nach der Schlafzimmertür:

»Dann frage gefälligst Trebiner!«

»Lächerlich!«

»Frage ihn ...«

Keuchend stand Markus da, mit geballter Hand, als müsse er gleich losschlagen. Enzlehn zuckte wieder die Achseln und klopfte mit dem großen Elfenbeinzahn auf die Holzkante des Tisches:

»Trebiner ... einen Augenblick!«

Trebiner öffnete einen Türflügel und lehnte sich faul an die Türrippe.

»Ja ... was ist?« »Trebiner, haben Sie Frau Dr. Labisch einen Geldmann empfohlen?«

Trebiner dachte nach.

»Empfohlen? Nee ... Eine Adresse habe ich ihr genannt.«

»Sie haben das ganze Geschäft gemacht ... vermittelt oder was?« fiel Markus heftig ein.

Trebiner maß den impertinenten Gymnasiasten mit einem seiner napoleonischen Blicke.

»Na, seien Sie so gut, glauben Sie etwa, ich hätte mir Provision zahlen lassen, ja? Die Sache verhält sich so: Frau Dr. Labisch wollte durchaus eine öffentliche Aufführung meines Stückes durchdrücken. Darauf sagte ich ihr, daß das Geld kosten würde. Etwa acht- bis zehntausend Mark. Zu zehntausend Mark würde sie sich verpflichten, sagte sie, wenn Enzlehn die Leitung übernähme. Schön, sagte ich. Und darauf meinte sie, sie hätte augenblicklich kein Geld flüssig. Da sagte Enzlehn ...«

»Schon gut«, unterbrach Enzlehn.

Er winkte Trebiner ab und warf ihm eine Zigarette über das Zimmer zu, die jener geschickt auffing.

Sie waren wieder allein.

»Du siehst, daß Frau Dr. Labisch ganz freiwillig Geld angeboten hat.«

»Du wärest verpflichtet gewesen, dich vorher genau zu erkundigen, ob sie über so viel Geld verfügen kann!«

»Wieso verpflichtet ...?«

»Erstens, weil ...«

Markus brach ab, und eine dunkle Blutwelle schoß ihm ins Gesicht. Hastig fuhr er fort:

»Vor allem, weil du schon als Kind im Hause verkehrt hast ... mit ihrem Sohn befreundet bist ...« Enzlehn wehrte mit einer eleganten Geste seiner kleinen, feinen Hand ab.

»Bitte, Markus, nur keine Kinderstubenreminiszenz – die ist gerade hier sehr übel angebracht. Sehr übel. Ich habe dir schon einmal – wenn auch lebhafter, als es sonst meine Gewohnheit ist – angedeutet, wie ich über diesen Fall denke.«

Markus biß sich die Lippe fast blutig. Je ruhiger er Enzlehn sah, desto mehr verlor er die Herrschaft über sich.

»Aber das hast du mir nicht – angedeutet, wie du zu deiner großartigen Lebensweise, zu deiner Wohnung gekommen bist, zu den Möbeln ... woher hast du so viel Geld? – Wer gibt dir das alles? Vielleicht fliegt dir alles zum Fenster herein oder durch den Schornstein?! Du bist imstande, mir das einzureden, weil du mich, scheint's, für einen dummen Jungen hältst! Aber ich bin kein dummer Junge mehr, hörst du? Hörst du?«

»Du schreist es laut genug«, sagte Enzlehn mit eisiger Kälte. »Ich halte dich übrigens gar nicht für dumm, sondern nur für unerfahren in allen ... sagen wir: geschäftlichen Transaktionen. Um dir nun die notwendigsten Begriffe davon zu geben, will ich dir also folgendes sagen: Frau Dr. Labisch hat in mir aus sehr anerkennenswerter Kunstbegeisterung und aus einem nicht abzuleugnenden Kunstverständnis heraus den Mann gesehen, der fähig ist, an der Spitze einer neuen Bewegung zu schreiten. Ganz unabhängig von ihren persönlichen Empfindungen für mich – die ich hier überhaupt auszuschalten bitte – hat sie dieser Meinung insoweit Ausdruck gegeben, als sie mir die Mittel zur Verfügung stellte, mich selbständig zu machen, eine Theaterdirektion zu übernehmen. Dasselbe wiederholt sich täglich auf den verschiedensten Gebieten. Der eine hat das Talent, der andere schafft die Möglichkeit, dieses Talent zu verwerten. Es ist eine durchaus korrekte Assoziation, nur dir unverständlich, weil du kein dummer, aber – verzeih' mir das harte Wort – ein kleiner Junge bist, der noch mit der Nase in den Schulbüchern steckt und keine Ahnung von dem hat, was üblich ist unter erwachsenen Menschen!«

Markus fiel wie vernichtet zurück in den Sessel.

Er senkte tief den Kopf, und seine, blaue Äderchen schwollen ihm auf Stirn und Schläfen zu blutigen Streifen auf. Enzlehn sah ihn an mit einem fast mitleidigen Lächeln.

»Ich glaube, lieber Markus, wir wollen die Akten über dies Thema schließen, und ich will zu vergessen suchen, was du deinen Worten Beleidigendes unterstellt hast.«

Markus sprang wieder auf, von dem kalten, überlegenen Ton Enzlehns wie von Peitschenhieben getroffen.

»Nein, Enzlehn. Die Akten sind nicht geschlossen. Du belügst dich und mich. Es handelt sich hier um etwas ganz anders als um eine ... wie nanntest du das – geschäftliche Transaktion! warum hast du denn diese 'Transaktion' nicht mit einem Manne gemacht? Warum denn mit einer Frau, die für dich ... die dich ... die du in dich verliebt gemacht hast? Ihr habt sie ausgenützt, habt alles von ihr genommen, und da sie selbst nichts mehr hatte, und die Eltern nichts mehr hatten, da habt ihr sie zu einem Wucherer geschickt, und ... und jetzt überlaßt ihr sie ihrem Schicksal! Fein ist das! Ihr baut euch eure reinen Kunsttempel auf eurer nichtsnutzigen, niederträchtigen Gemeinheit auf, jawohl – auf der Ehre einer Frau ...«

Enzlehn, kreidebleich im Gesicht, rückte den Stuhl ab und murmelte: »Du bist ja albern.«

Markus wischte sich die großen Schweißtropfen von der Stirn und zerrte an seinem zerknitterten Kragen. »Ich bin lieber albern, als ein Lump! Stünde nicht ich hier, sondern Kurt – du bekämst weniger zu hören, aber desto mehr zu – zu fühlen!«

»Das geht zu weit, Markus! Mach', daß du rauskommst!«

»Rühr' mich nicht an, du!« schrie Markus außer sich und packte den schmächtigen, kleinen Enzlehn wie schon einmal am Handgelenk – »rühr' mich nicht an, oder ich kenn' mich nicht mehr!«

Die Flügeltüren gingen auf, und Trebiner und Kastanien stürzten herein, dem gefährdeten Freund zu Hilfe.

»Was sind das nur für wilde Sachen!« sagte Kastanien mißbilligend und klopfte Markus auf die Schulter.

Markus schleuderte Enzlehns Hand weit von sich, so daß sie an die Kante des Schreibtisches flog und Enzlehn mit einem unterdrückten Wehlaut zurückprallte.

»Und das war mein Freund ... mein ›Freund‹ ...!« wiederholte Markus.

Seine Lippen, seine Hände, sein ganzer Körper bebte.

»Mein Freund!« wiederholte er nochmals, und ein leises hysterisches Schluchzen blieb ihm in der Kehle stecken.

Trebiner hatte ein Glas Wasser aus dem Schlafzimmer geholt und setzte es an Markus' Lippen.

»So machen Sie doch keine Geschichten, Herr Lukas!«

Der Name seines Vaters, der klar und deutlich aus Trebiners Munde kam, brachte ihn plötzlich zu sich.

»Ich danke«, sagte er zu Trebiner und setzte das Glas, ohne daran zu nippen, auf den Tisch.

»Ich meine, man könnte sich einigen«, hub Kastanien an.

»Enzlehn muß die zwei Wechsel einlösen – eine andere Einigung gibt es nicht. Dr. Labisch darf von den Schulden seiner Frau nichts erfahren. Erstens, weil er sie in dieser Höhe augenblicklich nicht bezahlen könnte, und dann ...« Trebiner fuhr sich mit der Hand durch sein borstiges schwarzes Haar.

»Wenn ich zu dem Kerl gehe, setze ich vielleicht eine Prolongation von vierzehn Tagen durch. Aber die kostet gewiß auch Geld!«

»Nicht prolongiert – eingelöst müssen die Papiere werden«, wiederholte Markus.

Die drei wechselten einen hilflosen Blick. Selbst Enzlehn hatte nichts mehr von seiner überlegenen Pose.

»Wieviel haben Sie denn noch auf der Bank, Enzlehn?« fragte schließlich Kastanien, der der Älteste unter ihnen war.

Enzlehn griff nach einem Notizbuch.

»So genau weiß ich's im Moment nicht ... Viertausend vielleicht ...«

Markus rechnete.

»Schön. Viertausend, von den Einnahmen zahlt ihr die anderen fünftausend, macht neuntausend. Bleiben tausend, die werden die Eltern vielleicht hergeben – «

»Halt, halt,« unterbrach Kastanien – »nicht so schnell. Die fünftausend sind doch nicht sicher!«

»Wieso nicht sicher? Frau Dr. Labisch sagte mir, Enzlehn hätte versprochen, ihr fünftausend Mark aus den Einnahmen zurückzuerstatten!«

»Ich habe nichts versprochen,« warf Enzlehn mit harter und doch zitternder Stimme ein, »das ist nicht richtig. Ich habe eine beiläufige Kalkulation aufgestellt. Und in dieser Kalkulation nahm ich an, daß wir bei stets halbem Haus einen Reinertrag von siebentausend Mark haben würden, wovon fünftausend ...«

Markus blinzelte Enzlehn nach Art kurzsichtiger Leute an.

»Da hast du ihr also etwas vorgeschwindelt oder wie ...?« »Nein, nein, das nennt man wirklich Kalkulation«, sagte Trebiner ernst. – »Das weiß jeder.«

»So – na also, Frau Dr. Labisch weiß nichts davon. Sie ist kein Geschäftsmann, sie hat euch nur aus der Klemme helfen wollen, weil ihr gesagt habt ...«

»Ich war gar nicht dabei«, wehrte Kastanien ab.

Markus beachtete ihn nicht und fuhr mit erhobener Stimme fort:

» – daß ihr die fünftausend Mark sicher wären!«

» ›So gut wie sicher‹ haben Sie gesagt, Enzlehn,« warf Trebiner ein.

Enzlehn nickte müde.

»Ja natürlich, ›so gut wie sicher‹, von irgendeiner Verpflichtung konnte da nicht die Rede sein.«

Markus lachte laut und höhnisch auf.

»Ja, was denkt ihr denn? Willst du mir das nicht sagen, Enzlehn? Du weißt doch sonst immer so gut Rat! Und Rat mußt du jetzt schaffen – dir bleibt kein Ausweg. Suche dir neues Geld. Es wird doch in ganz Berlin nicht bloß eine Frau Dr. Labisch geben!«

Markus schlug in blinder Wut, in wahnsinniger Angst vor der Unmöglichkeit, einen Ausweg zu finden, mit geballter Hand auf den Tisch, daß zwei langstielige Likörgläser umfielen und in seine Scherben brachen.

Kastanien klopfte sich an die Stirn, zog eine alte Stahluhr aus der Weste und sagte langsam fragend:

»Wenn Bresch – – ?«

Enzlehn und Trebiner riefen beide wie aus einem Munde:

»Ja ... natürlich, wenn Bresch ...« In diesem Augenblicke klingelte es. Trebiner stürzte ins Entree. Eine Sekunde später trat er mit Dr. Bresch ein.

»Viktoria! Perfekt!!« Mit diesen Worten schwenkte Bresch ein beschriebenes Blatt Papier, wie eine Fahne in der Luft.

Eine fast minutenlange Pause trat ein.

»Wieviel?« fragte Enzlehn leise.

»Fünfundzwanzigtausend, Herr Direktor, zu dienen.«

Kastanien und Trebiner sanken einander in die Arme und sprangen wie die besessenen im Zimmer herum.

»Hurra! Bresch soll leben! Hurra! Das künstlerische Theater soll leben ... Hooch! ... Hooch! ... Hooch! ...«

Enzlehn richtete seinen Schlips und zog die Manschetten heraus. Dann setzte er sich wieder vor den Schreibtisch und nahm sein großes Elfenbeinmesser zur Hand. Die Hand zitterte noch, aber sein Gesicht nahm wieder den kühlen, hochmütigen Ausdruck an, der ihm zur zweiten Natur geworden war.

»Erzählen Sie, Doktor – du gestattest einen Augenblick«, wendete er sich höflich an Markus.

»Na, lieber Freund und zukünftiger Herrscher, da gibt's nicht viel zu erzählen. Erzählt habe ich ›Jenner‹. Zwölf Bogen hab' ich geredet – mindestens! Endlich hatte ich sie so weit. fünfundzwanzigtausend Mark bar und dafür einen Jahreskontrakt mit zweihundert Mark monatlich, sowie übliche Verzinsung.«

»Selbstschuldnerisch?«

»Nee. Nich mal das! A, fonds perdu. Sie ist ein herzerquickendes Schaf.«

Trebiner ließ seinen Jubel an einem Sofakissen aus, das er mit den Fäusten bearbeitete, während Kastanien in der Erregung an seinen kurzgebissenen Nägeln feilte.

In Markus stieg es auf wie ein frommes, stilles Gebet. Er krampfte die Finger ineinander und wartete mit verhaltenem Atem auf die nächsten Minuten, die das Ende aller Qual bedeuten sollten.

Enzlehn hatte seine ganze Ruhe wiedergefunden:

»Wann wird das Geld eingezahlt?«

»Liegt schon da. Deutsche Reichsbank. Solche Damen sind überaus vorsichtig – im Kleinen. Sie können von morgen ab jede Summe bis zur Höhe von 25000 Mark ziehen!«

»Wir werden das Geld an die Deutsche Bank überweisen lassen«, sagte Enzlehn mit einem Ton, der jede Widerrede im Keim erstickte. – »Ich arbeite gern mit meinen Leuten.«

Er machte eine kleine Kunstpause, dann wendete er sich an Markus. Mit spöttisch übertriebener Höflichkeit wies er auf den Klubsessel:

»Willst du nicht deinen alten Platz einnehmen, lieber Markus? Ich will nur einen Scheck ausschreiben. Zehntausend Mark macht's, nicht wahr?«

Er sprach jetzt etwas leiser, während sich Bresch und Kastanien, lebhaft gestikulierend, in das Schlafzimmer zurückzogen,

»Zehntausend«, sagte Markus fest, ohne sich zu setzen.

Trebiner beugte sich über Enzlehns Schulter:

»Man wird doch handeln können, schreiben Sie neuntausend.«

Enzlehn streifte ihn mit einem sehr vornehmen Blick:

»Lassen Sie das, Trebiner, das verstehen Sie nicht. Das sind Ehrenschulden!«

Trebiner lachte.

»Ehrenschulden, die vom Gelde der Rhoden bezahlt werden! So was läßt die sich auch nicht träumen!«

Enzlehn verzog ironisch den Mund und füllte einen Scheck mit seiner feinen, eleganten Schrift aus.

Markus war es, als schliche sich plötzlich eine eiskalte Welle durch seine Adern, die seine Glieder erstarren machte. Es war ihm, als höre sein Herz zu schlagen auf, als perlten tausend kleine, kalte Schweißtropfen zwischen seinen Haaren.

»Von wem ist das Geld?« fragte er heiser und stockend.

»Von einer Schauspielerin Mela Rhoden. Sie soll nichts können, das ist ja auch bei dem Geld nicht nötig, und große Rollen kriegt sie sowieso nicht!«

Enzlehn machte den kurzen harten Schlußstrich unter seinen Namen und überreichte Markus den Scheck.

»So, Markus, und nun wäre die Angelegenheit erledigt, und du sorgst dafür, daß ich nicht mehr ... verfol ... aufgesucht werde. Das habe ich mir mit dem Gelde hoffentlich erkauft.«

Markus rang nach Luft. Sein kreidebleiches Gesicht war völlig verzerrt.

»Mit solchem Gelde kann man sich nichts erkaufen ... nichts, als Schande und Schmach!«

Er stieß die Worte hervor, seiner Sinne kaum mächtig, dann riß er das Papier, das seine wie erstarrten Finger umklammert hielten, in tausend Fetzen.

»Adieu!«

Er stürzte ins Entree, riß Mütze und Mantel so heftig vom Riegel, daß der Nagel aus der Wand herausfiel, öffnete die Entreetür und lief wie von Furien gepeitscht die Treppe hinunter.

Luft ... Luft  ...

Er mußte sich an die Häuserwand lehnen, sonst wäre er umgefallen.

Luft ... Luft  ...

In welchen Sumpf hatte er sich verirrt ... was waren das für Menschen, was waren das für Begriffe ... was war das für ein Leben ...?! Luft ... reine, klare Luft!

Der kühle Märzwind fegte ihm die wirren Haare aus der Stirn und peitschte ihm das Blut in die fahlen Wangen. Dann stürzte er weiter, dem Winde entgegen, daß sein lose umgeworfener Mantel sich aufblähte und um ihn herumflatterte, wie ein großer schwarzer Vogel  ...

Es war Markus unmöglich, nach Hause zurückzukehren. Er telephonierte, daß er einen Schulkollegen getroffen und aufgefordert worden sei, einen kleinen Ausflug zu machen. Er wollte gerade abhängen, als Frau Dr. Labisch an den Apparat kam.

»Du kommst wirklich nicht, Markus?«

Es klang namenlos traurig und enttäuscht. Er antwortete hart und geschäftig: »Nein, es geht nicht!« – Und dann fügte er dringlich hinzu: »Vergiß nicht, was du mir versprochen hast!«

»Was?« klang es zurück.

Am Telephon hatte er Mut, und der Eingebung des Moments folgend, sagte er:

»Du darfst Enzlehn nicht mehr kennen. Unter keinen Umständen! Ich will es selbst nicht mehr, und er ist es auch nicht wert.«

Sie telephonierte zurück:

»Was weißt du von ihm? Hat er dir das gesagt ...?«

Ihre Stimme klang plötzlich ganz rauh. Und Markus antwortete heftig, brutal:

»Ja. Er selbst hat mir das gesagt. Er selbst!«

Es klang wie ein leiser Aufschrei. Dann Pause.

»Bist du da, Tante Irene?«

Keine Antwort. »Tante Irene, bist du noch da?«

»Ja ...«

Es war wie ein Hauch.

»Und die Geldsache wird geordnet. Hast du gehört? ... Die Geldsache wird geordnet! ...«

Abermals ein: »Ja.« Ebenso leise, fast vergehend.

»Na auf Wiedersehen, Tante Irene. Und noch eins: wenn ich nach Hause komme – wir wollen nicht mehr darüber sprechen.«

»Nein.«

»Kein einziges Wort, Tante Irene. Du versprichst mir's.«

»Ja.«

Er lauschte noch einen Augenblick. Es blieb alles still. Er hing ab.

So, fürs erste war jede Katastrophe vermieden. Er löste ein Billett nach Schlachtensee und kehrte in das Restaurant am Wasser ein. Die Natur forderte ihr Recht. Mit Heißhunger stürzte er sich auf das Schnitzel, das er sich hatte braten lassen, dann bestellte er eine Tasse Kaffee – »recht stark«, und als er die getrunken, kam allmählich wieder Ruhe und Klarheit über ihn.

Er überdachte noch einmal die ganze Szene bei Enzlehn. Nicht Zorn, nur Ekel war alles, was ihm davon zurückgeblieben. Aber was nun?

Weder konnte er sich Dr. Labisch noch Kurt anvertrauen. Professor Ramin? Der Gedanke durchfuhr ihn blitzschnell. Aber neben der hohen Gestalt des Professors sah er die liebenswürdige, süßliche Frau Hofprediger. Nein ... Er schüttelte den Kopf. Wenn er auch noch wenig Ahnung vom Wert des Geldes hatte – so viel wußte er, daß man nicht so leicht zehntausend Mark von jemandem verlangen durfte, wer blieb da noch übrig – – ? Sein Vater? ... Sein Vater war reich genug, diese Summe ohne weiteres zu verschmerzen. Es fiel ihm eine schwere Last von der Seele.

»Ich komme wieder«, rief er dem erstaunten Kellner zu und rannte hinaus an den See.

Die Dämmerung senkte sich herab, als Markus langsam die Treppe zum Restaurant wieder hinaufschritt. Das Exaltierte, Suchende war völlig aus seinem Gesicht verschwunden. Er hatte das einzig Mögliche gefunden, den einzigen Weg, auf dem der Vater vielleicht entgegenkommen würde. Es war der Weg von – Mann zu Mann.

Im Gastzimmer brannten trübe ein paar Gasflammen. Er ließ sich Briefpapier, Feder und Tinte geben. Dann schrieb er, ohne mehr lange nachzudenken, schrieb, was die letzten Augenblicke unten am See ihm eingegeben hatten:

»Lieber Vater! Ich komme heute mit einer sehr großen und ungewöhnlichen Bitte zu Dir. Wenn ich den Mut dazu finde, so ist es nur, weil ich glaube, durch diese offene Bitte, an die ich keine Erklärung knüpfen darf, ein ernstes Unglück zu verhüten. Ich bin ohne mein persönliches Zutun und Verschulden in Verhältnisse gekommen, die mir eine umgehende Zahlung von zehntausend Mark beinahe zur Pflicht machen. Diese zehntausend Mark sind es, um die ich Dich jetzt angehe. Zugleich bitte ich Dich aber auch, mich der Ehre Deines Vertrauens würdig zu halten und keine Frage an mich in betreff des Zwecks und der Bestimmung dieses Geldes zu richten. So wahr ich ein Mann in Deinem Sinne zu werden hoffe, so fest hoffe ich, daß Du mich nicht im Stich läßt.

Es grüßt Dich in tiefer Ergebenheit

Dein Sohn

Markus.«

So!... Es war ihm eine Erleichterung, als er den Brief in den Umschlag gesteckt und adressiert hatte. Zugleich aber fühlte er, wie ein Gewicht unsichtbarer Fesseln ihn bedrückte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Vater seine Bitte erfüllen würde, ebensowenig aber konnte er sich verhehlen, daß er sich durch diese gewährte Bitte in endgültige Abhängigkeit vom Willen des Vaters begab.

Dieser Brief bedeutete einen vorläufigen Verzicht auf alle persönlichen Zukunftswünsche. In diesem Augenblick kamen ihm allerdings die Wünsche nicht so stark, der Verzicht nicht so groß vor.

Zum ersten Male sehnte er sich aus Berlin heraus  ...

»Bist du nun ruhig?« fragte Markus acht Tage später, als er Frau Dr. Labisch die zerrissenen beiden Wechsel über je fünftausend Mark brachte.

Sie nickte und lächelte stumpf.

Markus hatte sie glauben lassen, daß Enzlehn selbst die Summe zurückerstattet hatte. Er brauchte ihr Geld nicht mehr, er hätte so viel anderes!  ...

»Lösegeld!« murmelte sie bitter.

Aber sonst sprach sie nicht mehr darüber. Sie schien stumpf geworden oder sich stumpf zu stellen, um den nagenden Kummer leichter zu verbergen.

Markus arbeitete den ganzen Tag. Abends schlich sie sich manchmal zu ihm herein, mit einem Glase starken Grog. Denn sie fror immer und konnte sich selbst nach dem dritten Glase nicht erwärmen. Markus war der Groggeruch unerträglich, aber er sagte nichts, weil sie gar so trostlos dasaß und das heiße Getränk still, Löffel auf Löffel, Schluck auf Schluck zu sich nahm, ohne die gierige Freude am Trinken zu zeigen oder ihn gar selbst dazu aufzufordern.

Sie verließ das Haus nicht mehr und zog sich nicht mehr an. Das Stubenmädchen versteckte eines Tages ihren dunklen Morgenrock, um sie zu zwingen, ein Kleid anzuziehen. Sie fing an zu weinen.

»Ich kann mich nicht anziehen, ich mag nicht ... Mir tut alles weh.«

Man brachte ihr den Schlafrock und sie wurde wieder ruhig.

Das Stubenmädchen bemerkte, daß die Schwämme tagelang trocken blieben und die Seife nicht zu Ende ging.

Dr. Labisch war es zufrieden. Am Aussehen seiner Frau fiel ihm nichts anderes auf, als daß »sie sich's bequem machte«.

»Recht so, liebe Irene, das tut dir gewiß gut«, sagte er, als sie sich die ersten Male wegen des Schlafrockes bei Tische entschuldigte.

Später entschuldigte sie sich nicht mehr, und er nahm keinen Anstoß daran.

Die Prüfungen gaben ihm viel zu tun, hielten ihn den ganzen Tag vom Hause fern. Abends erholte er sich im Restaurant von den Mühen des Tages oder eilte in seine Vereine. Er war jetzt ruhig. Es war alles so friedlich im Hause, so bürgerlich – wie er es liebte. Er brauchte sich nicht in den Frack zu zwängen, brauchte nicht zwischen dem unausführbaren Wunsch, seine Zigarre zu rauchen, und der Angst, einer Dame auf die Schleppe zu treten, den – liebenswürdigen Wirt zu spielen. Er konnte seiner Frau nach Tisch einen schallenden Kuß geben, ohne einen strafenden Blick zu befürchten. Er durfte auch mal in der Sofaecke einschlafen und versehentlich schnarchen, ohne daß er gleich geweckt wurde.

Gröhlkes kamen dafür öfters, und zwar jedesmal die Vordertreppe herauf. Man saß lange am unabgeräumten Tisch. Der Kaffee kam in großen, »gemütlichen« Tassen auf den Tisch. Frau Gröhlke legte ab und zu eine Patience ... Gewöhnlichkeit drang ein durch alle Ritzen und legte sich wie eine graue Staubwolke über all den flimmernden Glanz vergangener Tage.

Einmal saß Frau Dr. Labisch wieder neben Markus, während er arbeitete, und las die Zeitung. Plötzlich entfiel ihr das Blatt, ihr Kopf sank zurück auf die Lehne des Stuhles, und große Tränen rollten tropfenweise ihre Wangen entlang auf den häßlichen, alten Schlafrock.

»Was ist dir, Tante Irene?« fragte Markus erschrocken.

Sie antwortete nicht, nur ihr Finger wies auf die Rubrik »Kunst und Wissenschaft«. Zwei ganz kleine Notizen standen da, wie durch Zufall untereinander. Die erste lautete:

»Wie wir erfahren, hat sich Dr. Ramin, Professor für Kunstgeschichte an der hiesigen Universität, mit einer Dame aus der ersten norwegischen Gesellschaft, Fräulein Gunhild Hjortenskjold, verlobt. Die Vermählung dürfte bereits im Mai stattfinden.«

Und darunter:

»Die erste öffentliche Vorstellung des ›Neuen künstlerischen Theaters‹ findet am 10. April statt. Zur Aufführung gelangt eine Dramatisierung des mystisch-symbolischen Romans des Grafen Adrian ›Der Garten der Erkenntnis‹ von J. Trebiner. Das Werk hat zu Beginn des Winters bei Gelegenheit einer Privataufführung im Hause einer kunstsinnigen Berliner Dame Aufsehen erregt.«

Von Kurt traf zwei Tage später eine Karte ein: »Gratuliere meiner kleinen Mama zum Erfolge ihres Mäcenatentums.«

Markus unterschlug die Karte mit ruhigem Gewissen. Die Prüfungen waren dem Abschluß nahe. Markus kam sich wie ein gehetztes Wild vor, das der Jäger zur Strecke bringen will.

Dr. Labisch schien seine Unparteilichkeit, auf die er so stolz war, durch verdoppelte Strenge betonen zu wollen, vielleicht war ihm auch noch ein kleiner Bodensatz Ärger geblieben, für den er sich unbewußt rächte.

Die mündliche Prüfung kam Markus vor wie eine Abart mittelalterlicher, zweckloser Folter.

Wie ein nichtiges, grausames Kinderspiel dünkte ihm dies alles gegen die schwere Wissenschaft des Lebens, die sich ihm so unheimlich früh, so unheimlich nahe offenbart hatte.

Und das gab ihm eine seltsame, starre Gleichgültigkeit für das Ergebnis des grausam-kindischen Folterspiels all dieser sehr ernsten, sehr klugen, sehr strengen Herren  ...

In diesem Gleichmut siegte er. Ohne Freude am Sieg, kaum mit dem Bewußtsein des Sieges, beinahe erstaunt, daß er durchs Ziel gekommen war mit so vielen anderen  ...

Aber Dr. Labisch strahlte.

Nach langer Zeit wieder reichte er Markus die Hand.

»Gratuliere, Markus! Ich freue mich, daß du bestanden hast, in Ehren und mit Ehren bestanden, wir wollen vergessen, was sich in letzter Zeit entfremdend zwischen uns gedrängt hat. Ich sehe – daß du brav und tüchtig geblieben bist – trotz allem, was eine kurze Verirrung war, soll dir nicht zum bleibenden Vorwurf werden.«

Es war so ehrlich gemeint, es klang so warm und herzlich durch all die konventionelle Lehrerrhetorik hindurch, daß Markus doch ein leises Brennen in den Augen verspürte.

»Ich danke dir, Onkel, für alles!« sagte er warm.

Und er empfand wirklich echten, warmen Dank für das Haus, das ihn Elternliebe kaum hatte vermissen lassen. Einen kurzen Augenblick drückte Dr. Labisch seinen Schüler an die Brust, wie er wohl mit Kurt getan haben mochte an diesem Tag.

»Und nun, mein Junge, geh voraus und melde meiner Frau das Ergebnis. Nach Tisch – laß ein paar gute Flaschen Mosel kalt stellen – telegraphieren wir deinem Vater!«

Er nickte Markus mit seinem ergrauten Kopf freundlich zu und wendete sich zu den Lehrern, die einer nach dem andern noch zu einer kurzen Besprechung eintraten.

Markus hatte wohl noch nie die Frühlingsluft mit so freiem, frohem Gefühl eingeatmet.

Im Vorübergehen kaufte er einen großen, losen Busch duftloser, heller Frühlingsblüten für Frau Dr. Labisch, wie er als kleiner Junge Mami mit Schneebällen geworfen, so wollte er Tante Irene jetzt mit Blumen bestreuen und sie so lange necken und Unsinn mit ihr treiben, bis sie selbst mitlachte und einstimmte in das kindische Spiel und alles Trübe und Drückende der letzten Zeit vergaß.

Im Speisezimmer war der Tisch, wie immer um diese Stunde, bereits gedeckt.

»Wo ist Tante Irene?« fragte Markus das Mädchen.

»Gnädige Frau ist noch nicht aus ihrem Ankleidezimmer herausgekommen.«

»Schön. Ich werde mal anklopfen. Herr Doktor läßt sagen, Sie möchten ein paar Flaschen guten Mosel kalt stellen«, fügte er mit einiger Bedeutsamkeit hinzu.

Das Mädchen lächelte:

»Ach so! Gratuliere, Herr Markus!«

»Danke, danke, Anna!«

Er freute sich doch über den Glückwunsch und lachte das Mädchen vergnügt an. Dann ging er in Frau Dr. Labischs Salon:

»Tante Irene ... Du – Tante Irene ...!«

Da sie nicht antwortete, klopfte er an die Tür.

»Tante Irene ... Du ... !«

Sie antwortete nicht. Leise drückte er die Klinke nieder. Das Zimmer war leer. Auf einem kleinen Tisch neben der Frisiertoilette stand eine Flasche schweren Portweins, über die Hälfte geleert, nicht zugekorkt. Markus stockte der Atem, er sah sich unwillkürlich um, als müßte er Frau Dr. Labisch, in schweren Weinrausch versunken, in einem der Sessel finden.

»Tante Irene ...«

Es klang nur noch leise, zaghaft.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war nur angelehnt. Auf den Zehenspitzen schlich er sich näher, drückte den Kopf durch den Türspalt, immer noch den Strauß in der Hand – trotz aller Sorge und Befürchtung zum auslösenden Schabernack bereit.

Da – auf dem Bett erblickte er sie. Der Kopf lag mit dem Gesicht in den Kissen. Eine Hand hing über den Bettrand, die andere faßte in krampfhaft verzerrter Bewegung die Bettdecke.

Sie lag da in ihrem alten, häßlichen Schlafrock. Das Haar breitete sich in zerzausten Strähnen um ihre Schultern und auf dem Kissen aus.

»Tante Irene,« flüsterte Markus. Dann beinahe ärgerlich, mit gezwungener Lustigkeit lachte er laut auf:

»Aber Tante Irene, wirst du wohl aufwachen!«

Er warf den ganzen Blumenbusch nach ihr, daß die weißen, duftlosen Blüten in leichtem, anmutigen Wirbeltanz auf sie niederfielen.

Und wieder blieb es still.

Markus' erste Bewegung war Flucht. Dann besann er sich, gab sich einen Ruck, kehrte um, trat langsam ganz nahe ans Bett heran, an die Seite, wo ihre Hand frei über den Bettrand hinweghing. Mit den Fingerspitzen, angstvoll, tastend berührte er sie.

Sie war starr und kalt – – –

Und tote Eiseskälte stieg von den Kissen auf und kroch lebentötend den Wänden entlang über das ganze Zimmer.

Markus fiel in die Knie, wildes, verzweifeltes Schluchzen durchrüttelte seinen jungen Körper.

»Tante Irene ... liebe – arme Tante Irene!«

Am sechsten Tage erst wurde Frau Dr. Labisch zur letzten Ruhe geleitet.

Man hatte auf ihrem Nachttisch ein Zettelchen gefunden, auf dem die Worte standen: »Ich mag nicht mehr.« Eilig mit Bleistift hingekritzelt. Und daneben war ein Schächtelchen mit Digitalis. In ihrer Krankheit hatte sie Digitalis in starker Dosis bekommen, und das Rezept war ihr geblieben.

Die ärztliche Untersuchung rekonstruierte das alles mit spielender Leichtigkeit. Auch daß die Tat in »geistiger Umnachtung« begangen worden, – wurde klar bewiesen, schon nach der Bekundung des Dienstmädchens, die umständlich und sensationslüstern alle die Phasen physischer Vernachlässigung ihrer Herrin schilderte.

Es war alles ganz klar.

Nur Dr. Labisch hatte noch immer nichts verstanden. Er hatte auch noch nicht geweint. Er stierte nur immer mit seinen runden, verquollenen Augen ins Leere, und sein ergrauter Kopf pendelte pagodenhaft von links nach rechts und von rechts nach links. » Ich mag nicht mehr.«

Das Wort war so furchtbar, so einfach und doch so unfaßlich.

Sie mochte nicht mehr, warum mochte sie nicht mehr? Seit wann mochte sie nicht mehr? Es war ja gerade so schön geworden  ...

Manchmal fragte er nur:

»Markus, verstehst du's?«

»Nein«, log Markus.

Er fragte die Schwiegermutter: »verstehst du's?«

Sie antwortete nicht, aber in ihrem angegilbten Gesichte lag mehr verbissener Zorn als wehe Trauer.

Er fragte Kurt, der übernächtigt und verstört in die Wohnung trat:

»Verstehst du's?«

Und niemand konnte oder wollte es ihm erklären.

Nicht einmal Herr Reimar Lukas, der zur Beerdigung nach Berlin gekommen war und dem Gefährten seiner Jugend erschüttert die Hand drückte.

Es war ein naßkalter, regnerischer Aprilabend, an dem man die Leiche in der Kirchhofskapelle einsegnete.

In der Kapelle waren eigentlich nur die Lehrer erschienen, und meist ohne Frauen. Im letzten Augenblick kam noch ein Wagen: er brachte Professor Ramin und seine Mutter.

Kurt übernahm die Vorstellung.

Der Professor sah bleich und ergriffen aus, und Frau Hofprediger weinte bei der Rede des Geistlichen viel in ihr Taschentüchlein und betete das Vaterunser andächtig und gewissenhaft mit.

Ein feiner, nieselnder Regen kürzte die Rede des Geistlichen am offenen Grabe wohltuend ab.

»Liebe Tante Irene ...«, sagte Markus zum letztenmal, während er die handvoll Erde vorsichtig aus den Fingern auf den Sarg niederrieseln ließ.

Dann riß ihn Kurt vom Erdhügel herunter.

»Komm«, sagte er mit erstickter Stimme.

Professor Ramin verabschiedete sich bald. Doch hatte er noch Gelegenheit gefunden, mit dem Bremer Kaufherrn ein paar Worte zu wechseln.

»Sie nehmen Markus also mit nach Bremen?«

»Ganz recht, Herr Professor, wir sind alte Kaufleute – bei uns ist es Sitte, früh anzufangen mit der Arbeit. Und ich hoffe, du kommst gern mit, mein Junge, wie?«

»Ja«, sagte Markus ehrlich, ohne den erstaunten Blick des Professors bemerken zu wollen.

»Übrigens bleibt ja jetzt Kurt in Berlin bei »Onkel Labisch«, fügte er hinzu.

Es war beinahe halb acht, als Dr. Labisch, Herr Reimar Lukas, Kurt und Markus am Potsdamer Platz ausstiegen. Gröhlkes waren in der Trauerequipage bis nach Hause gefahren.

»Sie müssen jetzt eine Kleinigkeit essen, lieber Doktor«, sagte der Kaufherr.

Dr. Labisch nickte blöde.

»Ja ... essen. Drüben gibt's ja gutes Bier.«

Dann erschrak er über das, was er gesagt hatte und was so unpassend schien in diesem Augenblick. Aber Herr Lukas fand nichts Unpassendes in seinen Worten. Er faßte ihn unter.

»Kommen Sie, lieber Doktor!«

Kurt und Markus folgten in einiger Entfernung. Langsam, schweren Schrittes. Zahllose Wagen mit eleganten Damen und Herren im Frack und Smoking bogen in die Bellevuestraße zum Künstlerhaus ein. ist denn da los heute – – ach so, richtig – Enzlehns Theater. Es heißt, man baut ihm ein eigenes Haus in der Friedrichstadt.«

»So? ...« gab Markus tonlos zurück.

Kurt fuhr sich ein paarmal über seinen kurzen, starken Schnurrbart.

»Hab' ich nicht recht behalten – ist er nicht ein praktisches Bürschchen geworden, he?«

»Hör' auf von ihm zu reden ... hör' auf. Ich kann es heute nicht vertragen.«

»Na, schön. Hol' ihn der Deubel!«

Sie traten zu dem Tisch, an dem die Väter Platz genommen hatten.

Und drüben, kaum hundert Schritt von ihnen entfernt, ging die Morgenröte einer reinen Kunst auf – über dem Golgatha der Verstorbenen. – – –


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