Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Die Zigarre lag ausgeraucht in der Schale. Nur ein blauer Qualm zog noch durch den Raum und führte seine Gedanken weit weg in das düstere Zimmer des Vaters, der weiter schaffte für die Ehre des alten Hauses – einsam und kraftvoll, ohne zu klagen, mit hoheitsvoller Verachtung aller kleinlichen Niedrigkeit.

So hatte er wohl damals die Angst des kleinen Markus vor dem pfeifenden, raschelnden Ungeziefer auf der großen, dunklen Diele verachtet  ...

An diesem Abend ließ sich Markus Lukas das Abendbrot auf sein Zimmer bringen.

Es war nötig, daß er allein mit sich war – auch ohne Arbeit – um in sich Kraft zu finden gegen sich selbst.

Stiller als sonst saß Kamilla ihm am nächsten Tage bei Tisch gegenüber; denn es war etwas in seinem Gesicht, das ihr den Mut benahm, sich unbefangen und scherzend, als wenn nichts vorgefallen wäre, zu geben.

»Du nimmst zu viel von deinem Parfüm«, sagte er beim schwarzen Kaffee. – »Es verursacht Kopfschmerzen.«

Sie sah ihn bestürzt an, und mit leisem Zittern in der Stimme fragte sie:

»Darf ich dir noch eine Tasse Kaffee einschenken?«

»Bitte«, sagte er und mühte sich dabei, die Schroffheit seiner letzten Worte durch ein freundliches Lächeln zu mildern.

Gleichzeitig durchgellte die elektrische Klingel das Haus. Kamilla stellte Markus' Tasse so heftig auf den Tisch, daß der Kaffee über den Rand auf die Untertasse plätscherte.

»Verzeih ...«

»Wie nervös du bist!« sagte Markus beinahe mißbilligend. »Du hast doch keinen Grund, nervös zu sein, nicht wahr?«

»Nein, gar keinen ...«

Sie lächelte befangen. Und dann horchten sie beide auf die fremde Stimme im Entree.

»Papa!« rief Kamilla. »Papa ...«

Sie rannte beinahe den Stuhl um, auf dem sie gesessen hatte und lief ins Vorzimmer.

Markus warf die Zigarette in den Aschenbecher und erhob sich. Ganz unwillkürlich knöpfte er langsam seine doppelreihige, bequeme Hausjoppe zu.

»Herr Rykert ...«

Er kam seinem Schwiegervater kaum drei Schritte entgegen und legte nur die Fingerspitzen in die jovial ausgestreckte Hand des kleinen Mannes.

»Was sagen Sie, Markus, wie sich mein Kind freut? Na, mein Töchterchen – gibt's noch ein Täßchen Schwarzen für deinen Papa? Ganz zerschlagen bin ich von der Fahrt und der Frühlingsluft – bleiben Sie nur sitzen, Markus. Laßt euch nicht stören in der Gemütlichkeit, liebe Kinder.«

Kamilla schob ihm einen Lehnstuhl zu. Aber er klopfte sie auf die Wangen.

»Nein, nein, Kamillachen, ich sitz' auch auf einem gewöhnlichen Stuhl gut. Laß nur, Kindchen. Mach dir keine Umstände. Ein Täßchen Kaffee ... so ... und meine Zigarre darf ich mir doch anrauchen, ja? Na ... also!«

Er biß umständlich die Spitze ab und nahm sich Feuer.

Markus saß sehr gerade und aufrecht, mit beiden Händen auf den Knien und jenem unbeweglichen, eisigen Gesicht, das Kamilla zu fürchten angefangen hatte.

Herr Rykert stieß ein paar Rauchwölkchen vor sich hin und ließ seine Augen durch das Speisezimmer und den angrenzenden Salon schweifen, zu dem die Türen offen standen.

»Hübsch wohnt ihr jetzt ... sehr hübsch, sehr elegant, wenn ich mit meiner Alten so in meinen einfachen, kahlen Zimmern sitze, sage ich immer: Na, die Kinder haben's jetzt gut. Nicht protzig, wie bei Bleichröders, aber fein, gediegen, elegant. Auch der Salon ... sehr schön!«

Er näherte sich dem Salon auf den Zehenspitzen und faßte nach den schweren, gewundenen Säulen des Mitteltisches.

»Sehr gediegen ... hm! Wohl Ihr Geschmack, Markus?«

Dann tänzelte er zurück ins Speisezimmer und ließ sich wieder auf seinen Stuhl nieder.

»Nein, Herr Rykert. Die Wohnung hat Kamilla nach ihrem eigenen Wunsch eingerichtet. Ich habe mich da gar nicht hineingemischt.«

»Ach was, ach was! Sieh mal an, Kamilla, was du für einen guten Mann hast!«

Er senkte bedächtig drei große Stück Zucker in die kleine Tasse. »Sie sind viel zu gut, Markus ... Ich glaube, meine Tochter ist ein bißchen leicht mit dem Geld. Da sollten Sie mal die Hand drauflegen.«

»Es war ein Geschenk, das Sie Kamilla gemacht hatten und das mich nichts anging, Herr Rykert.«

Rykert meckerte vergnügt vor sich hin.

»Übrigens dank' dir schön, Kamillachen, für den Gruß, den du mir mit dem Herrn ... Herrn ... na wie heißt er doch – geschickt hast.«

Kamilla machte ihrem Vater vergeblich Zeichen, zu schweigen, aber er war so mit seiner Zigarre beschäftigt, daß er es nicht merkte.

»Na wie hieß er doch, Kamillachen ... 's ist ja auch ein alter Freund von Ihnen, Markus. Hat mir viele schöne Dinge von Ihnen gesagt ... Treb ... Trebner ... Trebi ...«

»Trebiner«, fragte Markus gedehnt und sah Kamilla ungeheuer erstaunt an.

»Ja ... ich traf ihn ein paarmal in Gesellschaft. Du ... du weißt doch, Markus. Er sagte mir, daß er nach Bremen reist, da gab ich ihm Grüße mit an Papa.«

Sie stand auf und nahm Chartreuse aus dem Büfett. Die kleinen leichten Gläser klirrten auf dem Tablett.

»So ... so ist's richtig, Markus. Sehen Sie, meine Tochter ist ein anhängliches Kind. Vergißt ihren alten Papa nicht. Sehr nettes Briefchen hast du mir geschrieben, Kamillachen, sehr nett. Aber deinen Wunsch konnte ich doch nicht gleich erfüllen.«

»Welchen Wunsch, Herr Rykert?«

Markus fragte es ganz ruhig, wie er es vom Vater gelernt hatte, im Geschäftsleben zu fragen.

Kamilla unterbrach. »Aber gar nichts, Markus ... eine kleine Gefälligkeit, die ich ihm nicht abschlagen wollte.«

»Ganz recht, Kamillachen. Du mußt immer nett sein mit den Freunden deines Mannes. Immer liebenswürdig. Sonst sagen sie gleich: die junge Frau Lukas ist eine hochmütige Frau. Wenn man Lukas heißt, das ist ... weißt du, Kamillachen, das ist, wie wenn man ein König wäre; da muß man sich populär machen, nicht wahr? So recht beliebt – , damit man nicht auf eine Sardinenbüchse tritt, die da plötzlich explodiert, verstehst du? Ach, grüne Chartreuse habt ihr? Sehr fein! Ein halbes Gläschen, Kamilla. Ich darf eigentlich keinen Alkohol zu mir nehmen. Na ... eine kleine Sünde vor Karlsbad ... Prost, meine Kinder!«

Markus legte als Antwort seinen Finger auf den Fuß des Kelchglases:

»Also was war das für ein Wunsch, Kamilla?«

Rykert zog mit Behagen seinen dünnen, schmutzig-grauen Schnurrbart ein und lachte lautlos.

»Da können Sie sehn, Markus, was Ihre Frau für eine tüchtige Geschäftsfrau ist. Erst bekomme ich eine Depesche von ihr: »Könntest Du zur Besprechung Berlin kommen. Bedarf Deines Rates.« Aber es ging da gerade nicht. Ich bin ein sehr kranker Mann – jeder Tag ist geschenkt! Und da hatt' ich's mal wieder in den Nieren und in der Leber – der Kuckuck weiß, wie einem da der armselige Leichnam zu schaffen macht. Genug – ich konnte nicht kommen. Vergehen da ein paar Wochen – schickt sie mir den Herrn – wie heißt er – Trebiner? richtig – Trebiner auf den Hals. Übrigens ein ganz patenter Mensch, kluger Geschäftsmann ... tja ... Na also, was sagen Sie, Markus, soll ich da gleich mit hundert Mille in ein Theater einspringen! Frage ich Sie – hundert Mille! Wo ich mir in Bremen überlege, ob ich im Stadttheater Orchester- oder Parkettfauteuil nehme! Hundert Mille! Nun, ich werde mich mit dem Manne doch nicht herumzanken! Ich hab' mir angehört, was er gesagt hat: daß der Kronprinz in das Theater geht, und daß ein erster Berliner Bankier unter den Aktionären ist, und daß ich in der Direktionsloge meinen Stammplatz haben werde. Hunderttausend Mark für einen Stammplatz, wo ich höchstens zweimal im Jahr nach Berlin komme? Ein bißchen teuer! Heute hab' ich jedenfalls um ein Freibillett gebeten per Telephon. Und was sagen Sie, Markus, ich hab's bekommen! Wahrhaftigen Gott ... tja ... Noch dazu Loge. Ist mir sogar peinlich. Ich sitze gern bescheiden. Sogar im Ratskeller in Bremen – immer das dunkelste Eckchen.«

Markus hörte äußerlich gelassen, mit verschränkten Armen, zu.

»Versteh ich recht, Kamilla, es war dein Wunsch, daß dein Vater sich an einem Theater beteiligt ... an welchem?«

Kamilla lehnte am dunklen Ofen und spielte mit den Fingern auf den Kacheln.

»Ich sag' dir ja, Markus, es war eine Gefälligkeit von mir. Trebiner suchte Geld für Enzlehn, und ...«

»Und was hattest du für einen Grund, Trebiner gefällig zu sein?« fuhr Markus in unerschütterlicher Ruhe fort. – »Einen Grund mußt du doch angeben können. Du weißt aus meinen Erzählungen von früher, welche Rolle – Trebiner bei der Gründung des Enzlehnschen Theaters gespielt hat. Du weißt, daß mich mit Enzlehn nurmehr sehr lockere, äußerliche Fäden verknüpfen. Ich wäre dir dankbar, wenn du mir eine Aufklärung geben wolltest.«

»Wie kann man das so tragisch nehmen, Markus. Ich verstehe dich nicht.«

»Ach was, Kamillachen ... du hast deinem Mann gar nichts davon gesagt?! ... Tja ... wie konnte ich das wissen?! Lassen Sie das Kind, Markus. Ich könnte mir was antun, daß ihr durch mich eine Unannehmlichkeit habt ... wirklich!«

Seine verschmitzten Äuglein schossen lauernd und belustigt von einem zum anderen.

»Ich bin doch nicht hergekommen, damit ihr eure erste eheliche Szene habt ... Und wenn Sie nicht wollen, Markus, gebe ich für das Theater keinen Sechser. Nur die Vorstellung sehe ich mir an. ›König Lear‹! Das hat so was Rührendes für mich.«

Markus stand hochaufgerichtet da und sah über den kleinen Mann mit einem kalten, geringschätzigen Lächeln hinweg.

»Was Sie mit Ihrem Geld machen, Herr Rykert, das ist völlig bedeutungslos für mich.«

Rykert tippte gut gelaunt in die Luft mit seinem knochigen Zeigefinger.

»Na ... na ... Markuschen ...!«

»Ich wiederhole es: völlig bedeutungslos!« wiederholte Markus mit erhobener Stimme.

»Und wenn ich mein ganzes Geld nähme und wegschenkte, he? An bedürftige Waisen oder andere Stiftungen, he? Oder in Leibrente anlegte, oder es der Stadt Bremen schenkte, he? Wäre das so bedeutungslos, was?«

»Vollständig. Ich glaube, wir haben Ihnen schon mehr als deutlich gezeigt, daß wir keine Verwendung für Ihr Geld haben.«

»Markus, ich bitte dich ...«

In tödlicher Angst legte Kamilla beide Hände beschwörend auf Markus' Schultern.

»Laß das, Kamilla. Es muß klar werden zwischen deinem Vater und uns.« »So ... so ... klar nennen Sie das?«

Der kleine Mann fauchte wie eine Robbe unter seinem struppigen Schnurrbart, und seine Äuglein funkelten tückisch aus dem aschgrauen Gesicht hervor.

»Wenn Sie Klarheit wünschen, Herr Lukas, dann fangen Sie bei sich an ... tja ... Glauben Sie, ich habe Ihnen mein Kind gegeben, damit Sie ihr als Nahrung nur Ihren großartigen Namen vorsetzen?! ... Lukas'! ... Auch was Rechtes! Hier in Berlin gibt's hundert solcher Lukasse, und von denen sind noch größere als Sie klein geworden ... so klein ... tja ... mein Lieber.«

Er knipste Daumen- und Zeigefingernagel zusammen und lief fauchend und pustend im Zimmer umher.

»Ich werde Sie bitten, Ihre Bemerkungen über unser Haus und unseren Namen für sich zu behalten, sonst zwingen Sie mich, zu vergessen, daß Sie sich in meiner Wohnung befinden.«

»Ach bitte, bitte ... hochverehrter Herr ... Sie brauchen mir nicht die Tür zu weisen.«

»Das hoffe ich.«

Markus stellte sich breitbeinig mit dem Rücken zum Tisch und holte seine Uhr aus der Tasche.

»Ich nehme an, Herr Rykert, fünf Minuten werden Ihnen genügen, um Ihrer Tochter Lebewohl zu sagen. Es ist besser für beide Teile, wenn wir auf weiteren Verkehr verzichten.«

»Tja ... für mich wird's besser sein ... Billiger jedenfalls«, krähte Rykert und schlug mit den Knöcheln auf den Tisch.

Kamilla saß zusammengekauert in einer Ecke des Sofas. Ihre grünen Augen schweiften wie die einer Irren von Markus zum Vater. Manchmal öffnete sie den Mund, als wollte sie ein Wort dazwischenrufen, oder streckte beschwörend den Arm aus, dann vergrub sie den Kopf in den Händen und verharrte regungslos in stummem Entsetzen.

»Na, adjö, Kindchen ... nichts für ungut, war hergekommen mit voller Brusttasche und muß wieder so fortgehen. Schade, schade ... Da sieht man, was eine Liebesheirat ist! Aber ein Lukas kann sich das ja leisten! ... Wie lange, ist freilich eine andere Frage!«

»Nun ist's genug, Herr ... da ist die Tür!«

Markus steckte die Uhr ein und streckte gebietend die Hand aus.

»Die fünfzigtausend Mark, die Sie bis jetzt gegeben haben, werden Ihnen zurückerstattet werden, Herr Rykert. Und damit ist wohl die Sache erledigt.«

Kamilla rang nach Atem:

»Markus ... ich beschwöre dich ... Markus ... mir zuliebe!...«

»Gerade dir zuliebe!«

Markus trat zu seiner Frau und legte seinen Arm um ihre Schulter.

»Sei ruhig – es ist besser so.«

»Nein ... nein ... nein ...«

Und das war das einzige Wort, das sie schluchzend in wilder Verzweiflung immer wieder hervorstieß, während Rykert im Vorzimmer den Hut aufstülpte, in seinen Mantel fuhr und mit hämischem Lachen die Tür hinter sich zuschlug.

»Was hast du getan ... Markus, was hast du getan!«

Sie glitt zu Boden, und ihre Nägel gruben sich tief in den dicken Teppich.

»Ich mußte so handeln, Kamilla! Glaube es mir!« Er sagte es bekümmert und mitleidig. Dann versuchte er mit sanfter Gewalt sie vom Boden zu heben. Aber nichts gab nach an ihrem Körper. Ein verzweifeltes, wildes, stummes Sträuben war in ihr. Da richtete er sich auf.

Leise schloß er die Tür ab, die zum Küchenkorridor führte, damit das Mädchen sie nicht plötzlich so fände, schob ein kleines Kissen unter ihren Kopf, fuhr ihr mit der Hand zärtlich über das totenbleiche Gesicht mit den geschlossenen, tiefumränderten Augen und ging hinüber in sein Zimmer.

Dort rauchte er sich wieder eine von den starken Zigarren an, lehnte den Kopf an das offene Fenster und zwang sich langsam zur Ruhe.

Dann ging er an den Schreibtisch und schrieb an seinen Vater.

Als er fertig war, sah er auf die Uhr.

Er hatte zwei Stunden geschrieben.

Er faltete den Brief und schrieb die Adresse in ruhigen, großen Schriftzügen.

Dann ging er zurück ins Speisezimmer.

Es war leer. Er ging in den Salon, von da ins Schlafzimmer – Kamilla war nirgends zu finden.

Er klingelte nach dem Mädchen.

»Werfen Sie bitte in den Kasten«, sagte er und gab ihr den Brief über die Achsel hinweg. »Ist meine Frau hinuntergegangen?« fügte er wie beiläufig hinzu.

»Vor einer Stunde, gnädiger Herr, über die Hintertreppe und in großer Aufregung.«

»Das habe ich Sie nicht gefragt«, schnitt er kurz ab.

Dann war er allein. So blieb er, bis es dämmerte.

Kamilla war nicht zurückgekommen. Er kleidete sich um und ging aus dem Haus. Als er am Spiegel vorbeiging, erkannte er sein Gesicht kaum wieder.

Er sah jetzt aus, wie Herr Reimar Lukas ausgesehen haben mochte, als der Kapitän ihm den Tod seiner jungen Frau mitgeteilt und, auf das kleine Kind deutend, gesagt hatte: »Da es schwächlich war, habe ich die Nottaufe abgehalten und ihm den Namen Markus gegeben.«

Markus war aus dem Hause gegangen, um sich Bewegung zu machen, auf andere Gedanken zu kommen. Aber die Sorge um Kamilla wuchs mit jeder Viertelstunde, obwohl er als sicher annahm, daß sie ins Hotel zum Vater gefahren war.

Er verdachte ihr es kaum, fand es beinahe begreiflich, daß sie in der ersten Aufwallung des Gefühls dem Vater nachgeeilt war. Später mußte er ihr sagen, warum die schroffe Trennung notwendig war. Und sie würde es verstehen – aus der Vornehmheit ihrer eigenen Natur heraus, aus Respekt für ihren Schwiegervater – aus Einsicht.

Er dachte an die gestrige Szene mit dem Brief, und eine heiße Blutwelle schoß ihm zu Kopf.

Nein, das durfte nicht so weiter gehn. Das Leben Kamillas war sein Leben. Er wollte nicht blind daran vorbeigehen, wie Dr. Labisch am Leben seiner Frau vorbeigegangen war.

Ihm fiel dabei ein, daß er eigentlich lange nicht in der Uhlandstraße gewesen. Vielleicht war heute sogar Kurt da. Und so beschloß er, ihn aufzusuchen.

»Na, das ist ja schön, daß du kommst«, sagte Dr. Labisch. »Kurt hat sich auch für heute angesagt. Da wollen wir mal so recht gemütlich beisammen sein.«

Die ganze Wohnung roch nach Zigarren und abgestandenem Kaffee. Frau Gröhlke stellte mit dem Mädchen den Skattisch im großen Salon auf.

»Ihr erwartet wohl viel Besuch?« fragte Markus.

»Nee, mein Junge. Aber im kleinen Salon haben wir jetzt einen Pensionär. Die Eltern wohnen im Pommerschen auf einem Gute.« Da kam endlich Kurt an, mit seinem breiten, klugen Hundegesicht und der alles ausfüllenden, schmetternden Stimme.

»Nanu – Markus! Du hier? Willste etwa Skat kloppen? Ich dachte, du wärst bei Ramins?«

»Wie kommst du darauf?«

»Das werde ich dir sagen, mein teurer Freund. Ich habe nämlich im Zentral-Hotel ›dejeuniert‹. Weißte, was man so Dejeuner zu nennen pflegt dort, weil es um zwölfe anfängt und um sieben Uhr noch nicht zu Ende ist. Ein neuer Klient, Kommerzienrat Spohnagel in Wäsche, mit einer bildhübschen Tochter. Du, das wär' so was für meines Vaters einzigen Sohn!«

Er lachte geräuschvoll.

Dr. Labisch aber klopfte ihm auf die Schulter und putzte an seinem Zwicker.

»Na?«

»Nee, nee ... noch is nichts. Nur immer hübsch langsam. Erst muß auch alles stimmen. Sektfrühstücke sind noch kein Beweis. Aber wenn die Mitgift wirklich so rund ist, wie das nette Mädel – Agnes heißt sie – der Vater hat da was von fünfmalhunderttausend verlauten lassen ...«

»Is nich möglich!«

Frau Gröhlke schlug bewundernd die Hände zusammen.

»Ruhig Blut, Großmamachen! Ich habe meinen Prüfstein. Gewinne ich den Prozeß und die Mitgift wird nicht plötzlich kleiner – bon! Dann wollen wir reden!«

Frau Gröhlke stieß Markus leise mit der Hand an.

»Habe ick nich immer jesagt, der Kurt is 'n reeller Mensch, wat?«

Markus fing an, sich sehr überflüssig zu fühlen. Aber Kurt schwenkte mit der ihm eigenen Beweglichkeit wieder ab.

»Ja also, was ich sagen wollte, Markus: Wie ich mich eben verabschiede, sehe ich deine Frau, ein bißchen verweint, die Treppe herunterkommen. Ich gehe auf sie zu, frage nach diesem und jenem, aber sie gibt mir ein bißchen konfuse Antworten und sagt schließlich, sie hätte es sehr eilig, sie müsse zu Ramins. Na schön. Da habe ich sie also in die Droschke gepackt – «

»Und hast dem Kutscher Ramins Adresse gegeben ...«

»Nö – die Adresse vom Papst werd' ich ihm geben. Grunewald, Gillstraße 14. Is doch richtig, was?«

»Ja. Richtig.«

Markus' Stimme klang ganz blank, wie das Aufschlagen eines leichten Metalls auf Stein.

»Na also. Dann sah ich deinen edlen Schwiegervater aus dem Hotel hinausgehen. Du, der könnte sich auch bei Adam einen neuen Mantel kaufen von seinen Millionen!«

»Ja ...«

Markus nickte wie abwesend.

»Ich muß jetzt gehen.«

Er gab jedem steif die Hand – es sah nicht einmal höflich aus. Aber man war zu beschäftigt mit Kurts »Braut«, um darauf zu achten. Kurt brachte seinen Freund ins Vorzimmer.

»Du hör' mal, Markus, du, is was ...«

»Nein. Nichts. Ich muß gehen, leb wohl.«

Fast gewaltsam hielt Kurt ihn am Ärmel fest.

»Hör', mein Junge, ich geh' mit dir, du gefällst mir nich!«

Ungeduldig riß sich Markus los.

»Was sind das für Kindereien, Kurt. Wenn ich dich brauche, dann ... dann werde ich dir's schon sagen. Aber jetzt laß mich los.«

Beinahe wäre Kurt ein Knopf von Markus' Überzieher in der Hand geblieben. Er hörte noch, wie Markus die Treppe hinunterlief, immer zwei Stufen überspringend, und schüttelte den Kopf.

Plötzlich strich er sich mit zwei Fingern über seinen dichten englischen Schnurrbart und kniff die klugen, lebhaften Augen zusammen.

»Ach so ...«

Er nahm nachdenklich eine Zigarre aus seinem Etui, knipste die Spitze ab und rauchte sie langsam an.

»Wo bleibst du denn, Kurt?« rief Dr. Labisch aus seinem Zimmer heraus.

»Ja wohl, ich komme.«

»Wir könnten immerhin anfangen, bis die anderen kommen«, meinte Dr. Labisch fast schüchtern und schielte nach dem Salon hinüber.

»Meinetwegen, fangen wir an, Papachen.«

Kurt setzte sich mit Vater und Großvater an den Skattisch, und bald hörte man nur noch einzelne Ausrufe, wie »Tournee!« – »Grand« – »Null« in dem Raum, dem einst der Geschmack eines Kunstgelehrten, die Worte eines Dichters und die Anmut einer reizvollen und unglücklichen Frau zu vorübergehender, flimmernder Berühmtheit verholfen hatten.

Markus sprang in das erste leere Auto.

»So schnell Sie können!« rief er dem Chauffeur zu.

Es war schon dunkel draußen, die ersten Laternen flammten auf.

Markus nahm seinen Hut ab, ohne es zu bemerken, daß der Luftzug ihm das Haar wirr um den Kopf blies. Er war sich seines Tuns überhaupt nicht ganz bewußt. Eine blinde Wut erfüllte ihn. Wie er als Kind Mami vor Wut in die Hand gebissen und später vor ihr auf den Boden ausgespuckt, so hätte er jetzt Kamilla zermalmen mögen.

Es war die rote, sinnlose Wut der ruhigen, blonden Menschen, mit dem Haßgefühl und den Rachegelüsten eines Negers. Eine Wut, die in ihrem Übermaß zur Hilflosigkeit, in ihrer Beherrschung zu kalter Grausamkeit wurde.

Die trotz des schnellen Tempos lange Fahrt nach der Gillstraße, der kühle Abendwind, der ihm sausend um die Ohren blies, trugen mehr dazu bei, seine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen, als es der Zuspruch seines besten Freundes vermocht hätte.

Lautlos glitt das elektrische Auto bis vor das Gitter der eleganten kleinen Villa, vor den Empfangsräumen waren die Holzläden heruntergelassen, da sie jetzt, während der Abwesenheit der Frau Hofprediger abgeschlossen waren; aber im Arbeitszimmer des Professors brannte eine Studierlampe.

»Ist meine Frau da?« fragte er das Mädchen, das ihm öffnen kam.

»Ja ... vor einer Viertelstunde ist die gnädige Frau gekommen.«

»Gut. Sie brauchen mich nicht anzumelden.«

Er wartete, bis das Mädchen sich zurückgezogen hatte, und schritt dann zur Tür des so wohlvertrauten Zimmers, in dem er unvergeßlich schöne und erhebende Stunden verbracht hatte.

Einen kurzen Augenblick zögerte er. Nicht um zu horchen, nur um Atem zu schöpfen – denn es war ihm, als müßte er ersticken.

Er hörte ein leises, unterdrücktes Schluchzen, und dann Ramins Stimme, tiefer und weicher gefärbt, als er sie je gekannt.

Er hätte nachher nicht sagen können, ob er geklopft hatte oder nicht, doch war ihm so, und gleichzeitig war's ihm, als drücke eine andere Hand, als die seine, auf die Türklinke, so daß er beinahe hineinstolperte in das halbdunkle Zimmer und sich taumelnd am hohen, geschnitzten Bücherschrank halten mußte.

Kamilla saß am Schreibtisch. Ihr Kopf lag auf der großen aufgeschlagenen Mappe des Professors, und das Licht der Lampe spielte in kupfernen Reflexen auf ihrem hellbraunen Haar, von dem ihr einzelne lose Strähnen tief in den Rücken fielen.

Ramin hielt ihre Hand wie die eines Kindes an seiner Brust und streichelte ihre Innenfläche. Dabei bückte er sich tief über die in leisem Schluchzen bebende Gestalt, so tief, daß es schien, als berührten seine Lippen ihr schimmerndes, welliges Haar.

Ein unterdrückter Aufschrei, und ein schweres, mit altsilbernen Ecken beschlagenes Buch flog durch das Zimmer, prallte mit einer Ecke an Ramins Schläfe und fiel mit dumpfem Poltern auf den Teppich.

»Markus!«

Kamilla sprang auf in namenlosem Entsetzen und floh in den äußersten dunklen Winkel des Zimmers, die Hände abwehrend und schützend vor ihrem kreidebleichen Gesicht.

An Ramins Schläfen perlten kleine, rote Blutstropfen herunter, daß der Kragen sich rot färbte und wie ein rotes schmales Band den Hals zur Hälfte umschloß. Er nahm ruhig sein Taschentuch und preßte es auf die kleine Wunde.

»Was sind das für wilde Sachen, Markus?!«

Markus lehnte noch immer bleich und keuchend am Bücherschrank, aber er senkte den Kopf nicht, sondern bohrte seine flammenden Augen abwechselnd auf die kleine, rote Wunde und den dunklen Winkel, aus dem Kamillas helles Kleid hervorschimmerte.

»Was hat meine Frau hier zu tun, Herr Professor?« brachte er endlich mit fast übermenschlicher Gewalt heraus. Und da Ramin ihn sehr erstaunt und sehr kalt ansah und ruhig auf einen kleinen Tisch zuging, wo er aus einer Wasserflasche Wasser über das Taschentuch in ein Glas goß, so wiederholte er nochmals, seiner Sinne nicht mächtig, indem er einen Schritt vortrat:

»Wollen Sie mir nicht sagen, Herr Professor, was meine Frau hier bei Ihnen zu tun hat??!«

»Das wüßten Sie schon längst, wenn Sie nicht eine so eigentümliche Art der Einführung gewählt hätten«, entgegnete Ramin schneidend.

»Ich stehe Ihnen deswegen jederzeit zur Verfügung, Herr Professor«, sagte nun Markus ebenso kalt.

Ramins Ruhe hatte sich auch auf ihn übertragen.

Kamilla war in die Knie gesunken und schlug stöhnend die Hände vors Gesicht.

»Und dich, Kamilla, werde ich bitten, hier keine Rührszene aufzuführen, sondern nach Hause zu fahren. Der Wagen steht unten!«

Kamilla sah Markus verständnislos an und rang nach Worten.

»Was glaubst denn du? ... Markus? ... was glaubst denn du um Gottes Barmherzigkeit ...?«

»Ich glaube, wozu du mir seit langem Anlaß gegeben, und was ich jetzt eben mit meinen Augen gesehen habe – nichts anderes!«

»Professor, lieber Professor ... so hören Sie doch! Hören Sie doch, was er sagt! So helfen Sie mir doch ... lieber, guter ... Helfen Sie mir ...!«

Es war das herzerschütternde Schluchzen und Bitten eines Kindes, das keinen Ausweg weiß, das in Todesangst um sein Leben bettelt.

Ramin ging, ohne sich um Markus zu kümmern, auf sie zu, half ihr aufstehen, führte sie zum Sofa, und fuhr ihr begütigend über das Haar.

»Ruhig, mein Kind, ruhig ... Es ist eine harte Strafe, aber beinahe verdient. Naa ... naa ...«

Er schenkte ihr ein Glas Wasser ein, das er ihr brachte.

»Trinken Sie, mein Kind ... so ... und nun Ruhe ... Ruhe!«

»Ich wünsche, daß meine Frau nach Hause fährt«, sagte Markus mit heiserer Stimme. »Dann wollen wir weiter sprechen.«

»Und Sie übernehmen die Verantwortung für Ihre Frau?«

Scharf und grausam schnitten die Worte in die Stille des Zimmers ein, in dem nur ab und zu ein leises Wimmern hörbar war.

Markus zuckte geringschätzig die Achseln.

»Ich nehme an, daß sie ihre Selbständigkeit auch weiterhin beweist, und werde ihr keinerlei Vorschriften noch Vorwürfe machen, wenn sie über sich nach ihrem Belieben verfügt. Ich bedauere, mich zu einer unüberlegten Handlung haben hinreißen lassen und bin zu jeder Genugtuung bereit. Mehr kann ich nicht sagen. Andrerseits können Sie es mir nicht verdenken, Herr Professor, wenn ich darauf bestehe, daß meine Frau Ihr Haus sobald wie möglich verläßt. Es ist das einzige, was ich von ihr verlange!«

»Gehen Sie, mein Kind!«

Ramin nahm Kamilla bei der Hand und hüllte sie sorglich in ihren Mantel, der auf einem Stuhl lag.

Sie ließ alles mit sich geschehen, ohne ein Wort zu sprechen, und befestigte mühsam, mit zitternden Fingern ihren Hut auf dem halbaufgelösten Haar.

»Ich würde Ihnen raten, Ihre Frau selbst bis an den Wagen zu bringen. Die Küchenfenster im Souterrain gehen auf die Straße hinan«. Wir wollen Dienstboten doch keinen Anlaß zu Kommentaren geben.«

Markus nickte stumm und ließ Kamilla an sich vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Auf der obersten Stufe der kurzen Treppe taumelte sie leicht.

»Halt' dich am Geländer«, sagte er kurz.

Dann half er ihr höflich beim Einsteigen.

Als sie saß, faßte sie leidenschaftlich erregt nach seiner Hand.

»Markus ... glaub' mir, es ist doch ganz etwas anderes, ganz etwas anderes ... glaube mir...«

Er zog seine Hand ruhig und bestimmt aus ihrer Umklammerung.

»Es mag sein, was will – der weg zu meinem Zimmer ist näher, als der hierher. Chauffeur, Savignyplatz 5.«

Er sah noch, wie ihr Kopf zurückfiel in die Polsterung des Wagens, wie sie ihr Taschentuch zu den Augen hob, dann entschwand das Auto mit quäkendem Tuten um die nächste Ecke.

Das Zimmer des Professors war leer, als Markus zurückkam.

Das silberbeschlagene Buch war vom Boden aufgenommen und lag wie früher auf der vorspringenden, schmalen Platte des Bücherschrankes. Über der Lehne des Schreibstuhles hingen noch Kamillas lange, stark duftende Handschuhe, und auf dem Tischchen neben dem Sofa stand das Glas Wasser, aus dem sie getrunken hatte.

Mechanisch griff Markus danach, um die fieberheißen Lippen zu netzen, aber gleich stellte er es wieder zurück.

Ramin kam endlich herein. Er hatte einen frischen Kragen umgelegt, und ein längliches Heftpflaster bezeichnete die Stelle, wo das Buch ihn an der Schläfe getroffen. »Es ist gut, daß Ihre Frau uns allein gelassen hat«, hub er an und machte Markus ein fast gebietendes Zeichen, Platz zu nehmen. »Ich hoffe in Ihrem Interesse, daß sie vernünftig ist. Nicht alle Frauen sind es in einem solchen Falle ...«, fügte er leise, wie zu sich selbst, hinzu. – »Und nun, mein Herr Lukas, zur Aufklärung. Vorher erlauben Sie mir wohl ein paar Fragen.«

»Bitte«, sagte Markus gepreßt.

Das »Herr Lukas« war doch noch ärger, als der Wurf mit dem silberbeschlagenen Buch.

»Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie mir die Ehre angetan, eifersüchtig zu sein auf mich?«

»Ich glaubte, Grund zu haben«, antwortete Markus sehr knapp.

»Darf ich fragen, welchen?«

Markus zögerte. Dann brach das Ehrliche und Offene seiner Natur durch.

»Es lag zum Teil in der Bewertung Ihrer Persönlichkeit, Herr Professor, die bei einem Vergleich mit mir – meiner Frau weit eindrucksvoller erscheinen mußte. Es kamen dazu noch verschiedene kleine Symptome, die meinen Argwohn bekräftigten, und gestern schließlich wurde dieser Argwohn beinahe Gewißheit, als meine Frau einen Brief, den Sie ihr geschrieben hatten, statt mir zu zeigen, wie ich sie bat, in kleine Stücke riß. Als ich nun heute nach einer peinlichen Auseinandersetzung mit dem Vater meiner Frau durch einen Zufall erfuhr, daß meine Frau bei Ihnen hier ist, und ich beim Eintreten in dieses Zimmer Sie so nahe neben ihr stehen sah, da ... verlor ich die Besinnung. Und ich glaube, daß ich nicht der einzige bin, dem es in diesem Falle so gegangen wäre.«

»Ihre lebhafte Phantasie hat Ihnen wieder einmal einen losen Streich gespielt, mein ... junger Freund. Aber ich will Ihnen alles Beleidigende, was darin für mich liegt, verzeihen, um der schweren Stunden willen, die Sie selbst durchgemacht haben, und weil ich immerhin eine gewisse Schuld auf mich geladen habe, indem ich Ihnen nicht früher die Möglichkeit gab, Ihre Frau von einer Leidenschaft zu retten, die vielleicht noch gefährlicher hätte werden können, als eine kleine Schwärmerei für mich.«

»Was meinen Sie, Herr Professor?«

Markus verfärbte sich derart, daß Ramin ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

»Ich will Ihnen nur vor allem, wenn nicht die Kopie, so doch den ersten Entwurf jenes Briefes zeigen, der Sie in so arge Aufregung versetzt. Ich änderte ihn dann einiger allzu scharfer Ausdrücke wegen ab. Aber er wird Ihnen alles erklären.«

Markus empfing mit bebender Hand den silbergrauen, beschriebenen Briefbogen, den der Professor ihm reichte. Es waren nur wenige Zeilen, aber groß geschrieben, so daß sie zwei Seiten füllten:

»Mein liebes Kind, Sie haben Ihr Wort nicht gehalten, das stumme Wort, das ich aus Ihrem Händedruck entnahm. Sie haben gestern wieder gespielt, und auch vorher noch oft gespielt, wie ich hörte. Ein skrupelloser Herr, der unter dem Spitznamen ›der Pokerschakal‹ in allen Salons bekannt ist, wo leichtsinnige Frauen ein kleines Vermögen im Hasardspiel lassen, hat Ihnen Geld geborgt, damit Sie Ihre Schulden zahlen können und – vielleicht noch mehr in Schulden geraten. Wenn Sie Ihrer unglücklichen Leidenschaft nicht entsagen, werde ich Ihrem Manne davon Mitteilung machen. Längeres Schweigen wäre ein Frevel an Ihnen und an ihm. Ihr treu ergebener Ramin.« Die Adern auf Markus' Stirn schwollen bläulich an, wie Stricke, und kleine Schweißtropfen perlten am Haaransatz und an den Schläfen auf.

Es war, als würgte ihn etwas an der Kehle, und plötzlich fiel er mit dem Kopf auf die Tischplatte nieder, und ein heftiges Zucken und Beben, wie verhaltenes Schluchzen, ging durch seinen Körper.

»Ich dachte es mir schlimmer, als es ist, Markus. Gerüchte übertreiben immer. Ihre Frau hat in letzter Zeit kaum noch gespielt. Sie hat immer auf ihren Vater gewartet und gehofft, von seinem Gelde ihre Verpflichtung gegen Trebiner los zu werden. Als Sie nun ihren Vater aus dem Hause wiesen, und er sie dann im Hotel, wohin sie ihm nachgefahren war, höhnisch abfertigte, da kam sie in ihrer Verzweiflung zu mir, weil sie es nicht wagte, Ihnen ihr Geständnis zu machen. Das ist alles, Markus. Es ist schlimm genug für Sie, aber nichts, worüber ein Mann, der seine Frau liebt, nicht hinwegkommt!«

Ramin hätte noch zwei Stunden so sprechen können. Markus hörte es kaum mehr.

Die tolle, sinnlose Eifersucht hatte seine Liebe zu Kamilla nicht ertötet, hatte ihr Bild in seinen Augen nicht verzerrt, hatte nur eine maßlose Wut in ihm aufgewühlt und den Entschluß, sie weit weg zu führen aus dem Bereiche des Mannes, der sie ihm nehmen konnte.

Jetzt war etwas wie erstorben in ihm. Die Erniedrigung, in der er Kamilla sah, machte sie ihm fremd.

»Kamilla Rykert«, sagte er langsam, halblaut vor sich hin. Bruder und Schwester – eine Art!...

»Es geht immer etwas vom Vater auf die Kinder über«, hatte Herr Reimar Lukas geschrieben.

Und daran mußte er jetzt denken. Müde erhob er sich.

»Sie werden doch vernünftig sein, Markus?«

»Ja ... ich werde Trebiner bezahlen«, sagte er tonlos. – »Ich habe es schon einmal getan. Ich dachte nicht, daß es noch schwerer kommen könnte ...«

Ramin streckte Markus die Hand entgegen, in die er matt die seine hineinlegte.

»Sagen Sie, Markus, ist das wahr, daß jene ... Leute sie in den Tod gehetzt haben?« fragte er sehr leise.

Markus hob müde die Achseln.

»Ich weiß nicht ... Der Ekel wird's wohl gewesen sein, der Ekel...«

»Weißt du noch, Markus, wie du mir den Brief von ihr gebracht hast?«

Ganz unwillkürlich war ihm das »Du« der früheren Jahre wieder auf die Lippen gekommen, und es fiel Markus nicht einmal auf, so natürlich schien es ihm.

»Weißt du noch, wie ich zu spät zum Zuge kam?«...

»Ja ... ich weiß. Ich weiß alles, als wenn es heute wäre, und weiß, daß Sie's absichtlich taten.«

»Ja ... aus Achtung vor der Familie, aus Achtung vor dem Manne, der sie so stark und blind liebte. Wenn ich nicht kam, dann galt es als Zeichen, daß es aus sein sollte für immer. Aber ihr Gesicht, das wollte ich noch einmal sehen ... nur ihr Gesicht sehen!... Und da konntest du denken, Markus, konntest glauben, daß ein paar Kugeln alles wieder ausgleichen? Kugeln sind keine Argumente ...«

»Nein ...«

Sie standen noch eine Weile Hand in Hand, stumm, jeder in seine eigenen Gedanken verloren.

»Ich werde jetzt gehen«, sagte Markus.

»Ich begleite Sie ein Stück!« Und sie gingen Seite an Seite durch die dunklen, stillen einsamen Wege. Aber keiner von ihnen sprach ein Wort.

Ramin dachte an die Vergangenheit – Markus an die Zukunft.

Und doch dachten sie beide an dasselbe, denn sie liebten ein und dieselbe Frau, wenn die eine auch Irene Labisch, die andere Kamilla Lukas hieß.

An der Halenseebrücke trennten sie sich.

»Vielleicht hören Sie das Sommersemester in Bonn oder Heidelberg, Markus. Ich werde Ihnen Empfehlungen mitgeben.«

»Danke. Ich werde sie mir holen kommen.«

Sie drückten einander die Hand.

Nicht nur wie Lehrer und Schüler. Wie zwei Männer, zwischen die das Leben mit seinem breiten, schweren Flügelschlag getreten war.

Markus verbrachte die Nacht in seinem Zimmer, ohne zu schlafen, mit Sichten von Papieren. Gegen halb sieben klopfte es leise an seine Tür, und gleich darauf trat Kamilla ein. Sie war zum Ausgehen angezogen, in einem glatten englischen Kleid.

»Du wünschest?« fragte er kühl.

Auch in ihrem Gesicht sah man die Spuren schlafloser Stunden. Etwas Müdes und Resigniertes lag über ihrer ganzen Gestalt.

»Ich wollte wissen, was nun werden soll, Markus?«

Er schob eine Lade zu und blätterte einige Quittungen und Rechnungen durch. Ohne zu antworten oder sie anzusehen, fragte er:

»Wie hoch ist der Wechsel – ich nehme an, du hast einen Wechsel unterschrieben – ?«

»Viertausend Mark.« Seine Mundwinkel zogen sich herab, und er glättete die Papiere mit dem Handrücken.

»Du hast also im Laufe dieses Winters viertausend Mark verspielt?«

Sie schwieg.

»Hast du sonst noch Schulden?«

»Nicht viel. Einige hundert Mark bei den Lieferanten.«

»So ...«

Eine kleine Pause folgte, dann fragte er weiter, leidenschaftslos, wie ein Richter:

»Du rechnetest also auf das Geld deines Vaters, obwohl du wußtest, daß ich sein Geld nicht in Anspruch nehmen wollte?«

»Ich wußte das nicht so bestimmt, Markus. Ich dachte, es wäre nur aus Feinfühligkeit ...«

»Und da machtest du schnell Spielschulden, um meine Feinfühligkeit zu schonen, und unterschriebst einen Wechsel als Kamilla Lukas?«

»Du kannst glauben, Markus, ich bereue tief...«

»Reue beweist gar nichts«, unterbrach er sie hart.

Und mit zitternder Stimme fragte sie wieder:

»Was soll nun werden?«

Er stand auf und fuhr mit der Hand einige Male über das Kinn. Es wurde ihm schwerer, als er gedacht, und er hielt die Worte zurück, die er ihr sagen mußte. Sein Mund blieb fest geschlossen, und die Lippen legten sich in festen, harten Strichen aneinander.

Sie griff nach der Türklinke; denn sie stand noch immer am Eingang, und die Knie zitterten ihr so, daß sie umzusinken fürchtete.

»Du siehst, Markus, ich bin bereit. Um acht Uhr geht der Zug.« Wie ein Hauch drangen die Worte an sein Ohr. Er nickte.

»Ja ... so meinte ich es.«

Er trat ans Fenster und preßte die heiße Stirn gegen die Scheibe. Die Sonne leuchtete über dem Platz, spiegelte sich in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser, glitzerte auf den Dächern, auf den zarten Blättern der jungbelaubten Linden. Kinder mit Schultaschen schlenderten, hüpften und liefen die Häuserreihen entlang, schwere Lastwagen rollten langsam über das Pflaster, und schnaubend lief ein Stadtbahnzug zur Haltestelle ein.

All das hatte für Markus nichts Ungewohntes, nichts Reizvolles, und doch war es, als könnte er seine Augen nicht losreißen von dem vertrauten Anblick.

»Markus ...«

Und noch einmal:

»Markus ...«

Ein zitternder, ängstlicher Ton.

Er trat wieder zurück in die Tiefe des Zimmers, und seine Augen fielen auf Kamilla, wie sie verschüchtert, zaghaft mit ihren Blicken an ihm hing.

»Ja ... ich werde dir Geld geben.«

Sie löste sich los von der Wand und verschränkte die Hände auf der Brust.

»Markus ... ich wollte dich bitten ... meine Mutter ist ganz allein jetzt ... ganz allein. Auf dem Lande, kein Mensch braucht zu wissen, daß ich bei ihr bin. Laß mich zu ihr! Ich könnte jetzt nicht im Hause deines Vaters sein ... ich bitte dich. Hab' Mitleid ...«

Er sagte bitter:

»... Zu uns zieht es dich nicht!«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »So meine ich es nicht, Markus ... aber ich kann jetzt nicht ... fühlst du das nicht ...?«

»Mach' dich fertig«, sagte er kurz.

Sie saßen im Wagen nebeneinander, schweigend, den Blick geradeaus gerichtet, als fürchteten sie, einander in die Augen zu sehen.

Kurz vor dem Bahnhof sagte Markus:

»Vor Mitte Mai ziehen meine Eltern nicht aufs Land und kommt wohl auch dein Vater nicht zurück. So lange haben wir Zeit, einen Entschluß zu fassen. Die Wohnung hier gebe ich jedenfalls auf.«

Ihre Lippen wurden weiß.

»Es wird von dir abhängen, ob du das Leben an meiner Seite in meinem Sinne fortführen willst. Ich werde keinen Zwang auf dich ausüben. Wo ich meine wissenschaftliche Karriere später aufnehme – das weiß ich heute noch nicht. Vielleicht in einer mittelgroßen – vielleicht auch in einer ganz kleinen Universitätsstadt wie Jena. Das alles wird sich später ergeben.«

Große Tränen rollten langsam über ihre Wangen. Aber sie antwortete nicht. Sie wußte, – in diesem Augenblick war ihr ganzes Wesen, all ihre Liebe doch machtlos über ihn.

Er brachte sie ans Kupee, reichte ihr Tasche und Plaid hinein.

»Du brauchst mir nicht zu schreiben. Laß mich zur Ruhe kommen und alles erledigen. Ich kann und will meinen Vater nicht abermals in Anspruch nehmen, – so wird sich das alles nicht ohne Schwierigkeiten abwickeln lassen. Ich brauche freien Kopf.«

Da sie allein im Kupee war, riß sie in heftiger Aufwallung seine Hand an sich.

»Ich hätte es nicht getan, Markus, ich schwöre es dir, wenn ich nicht glaubte, auf meinen Vater rechnen zu dürfen!«

Er entzog ihr die Hand mit abwehrender, hochmütiger Geste.

»Du hast mich noch immer nicht verstanden, Kamilla. Innerer Anstand hat nichts mit materiellen Möglichkeiten zu tun. Materielle Möglichkeiten sind nur der Maßstab unseres Vermögens, nicht unseres inneren Wertes.«

Die Kupeetüren wurden zugeschlagen. Er hatte nicht mehr Zeit, ihr die Hand zu reichen.

Ihr bleiches Gesicht, mit den tränenumflorten, grünen Augen, lehnte am offenen Fenster.

Der Kummer, die Aufregung der letzten Tage hatten allen ruhigen, herben Stolz ausgelöscht. Es war ein armes, trauriges, süßes Kindergesicht geworden, vergrämt und verschüchtert, mit trostlos fragendem Blick.

Markus mußte an Frau Dr. Labisch denken, als er sie am Eisenbahnfenster hatte lehnen sehen am Tage jener unvergeßlichen Abreise, und er mußte sich abwenden, weil ihm die Augen heiß wurden, und das Herz in unruhigen Schlägen bis in den Hals hinauf klopfte.

So sah Kamilla bis zuletzt nur die feine, strenge Linie seines Profils, mit dem tiefen Mundwinkel, und die Umrisse einer schlanken, leicht vornübergebeugten Gestalt.


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