Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Markus verbrachte jeden Tag einige Stunden in Alberts Kammer. Es war ihm, als fände er dort alles wieder, was ihm teuer war aus den Erinnerungen seiner Kindheit. Mami war ganz aufgegangen in dem satten, etwas geräuschvollen Behagen der Gegenwart. Sie fand kaum noch Zeit zu einem gemütlichen Plauderstündchen. Immer hing eines der Kinder an ihrem Kleide – daran konnte weder die Wärterin noch Mlle. Cardinal etwas ändern, und sie selbst wehrte nur lachend und träge.

Es war ihr eine Wonne, in die kugelrunden, frischen Gesichter zu sehen, sich die Ohren vor ihrem Lärmen zuzuhalten, ihnen Bilderbücher zu zeigen oder ihnen einen wohlapplizierten Klaps auf die Höschen zu verabfolgen. Selbst wenn sie hochrot vor Ärger war, blitzten ihre Augen heimlich vor Vergnügen.

Das alles vergällte Markus die Erinnerung an seine eigenen Spiele mit ihr. Es war also nichts Besonderes gewesen, nicht ein ganz persönliches Verhalten zu ihm, dem zwar nicht eigengeborenen, aber dem über alles geliebten Kinde. Es war so, weil es in ihr lag, und weil sie mit jedem Kinde so gewesen wäre und immer so sein würde, wenn das Schicksal ihr auch noch sechs andere Kinder schenkte.

»Das sind die einzigen Frauen, die Wert haben«, meinte Enzlehn. »Die undifferenzierten, animalischen Instinkte sind das allein Wertvolle am Weibe. Es sind die einzigen Mütter, die ihren Kindern eine glückliche Kindheit geben.«

»Das war ein schönes Wort«, sagte Markus gerührt.

»Ich weiß.«

Und Enzlehn notierte sich den Ausspruch in seinem Büchlein das er immer bei sich trug.

Aber trotzdem gefiel es Markus, daß Hedwig die vier kleinen Lukasse »die neuen Kinder« nannte.

Darin offenbarte sich ihm die Treue der alten Dienerin in all ihrer konservativen Anhänglichkeit, und wenn er sie bei einem Krankenbesuche an Alberts Lager fand, drückte er ihr jedesmal heftig die Hand.

Einmal fand er sie gedrückt, mit glanzlosem, trostlosem Blick. Ihre Hand hielt fest die Hand des alten Dieners umschlossen.

»Was ist, Hedwig? Steht's schlecht um Albert?« flüsterte er.

Sie nickte.

»Setz' dich, Markuschen«, raunte sie ihm ebenso leise zu.

Er nahm ihr gegenüber Platz und blickte voll ängstlicher Spannung auf das alte, verfallene Gesicht des Kranken, das von weißen Bartstoppeln umrahmt war.

»Kommt denn der Doktor nicht?« fragte er.

»Ja gewiß. Aber was nützt der Doktor, wenn die Zeit um ist? Die ist um, die Zeit ... und bald auch für mich.«

Zum erstenmal trat ihm der Gedanke des Todes nahe. Der Gedanke der Vernichtung, der Verwesung, der Gedanke der Trennung – auf immer.

»Arme Hedwig!«

Ganz unwillkürlich war der Name der alten Dienerin auf seine Lippen gekommen, und nun er ihn ausgesprochen, kam ihm erst zum Bewußtsein, wieviel gerade sie mit diesem Tode verlor.

»Wie lange hat er ... wie lange habt ihr ... seid ihr bei uns?« fragte er scheu.

»An die fünfzig Jahre, Markuschen. Als junges Ding kam ich mit deiner Großmutter hierher, als sie heiratete, weil ich ihre Milchschwester war; und der Albert war schon ein Jahr früher bei deinem Großvater.«

»Und seitdem wart ihr immer zusammen?«

»Immer, Markuschen ... jeden Tag.«

»Hedwig«, stammelte der Kranke.

»Ja ... ja ... Albert ... seien Sie ruhig, ich bin da ... wollen Sie trinken?«

Sie setzte mit zitternder Hand das Glas an seine Lippen, aber er hatte Mühe, zu schlucken, und wendete den Kopf ab.

»Das Bild«, flüsterte er. »Ich möcht' das Bild sehen!«

»Welches Bild?« fragte Markus hastig, um es Hedwig reichen zu können.

Sie winkte verlegen ab.

»Laß nur, Markuschen. Ist ja Unsinn. Er kann ja gar nicht mehr sehen.«

»Das Bild«, wiederholte der kranke störrisch und beinahe laut, indem er Hedwigs Finger krampfhaft umklammerte.

Sie wußte sich nicht zu helfen.

»In der Kommodenschublade, Markuschen, unter dem Album im Kuvert. Is ja Unsinn«, fügte sie hinzu.

Markus holte das Bild hervor:

»Darf ich sehen?«

Es war ein billiges, kaum erkennbares Bildchen, wie sie auf den Jahrmärkten fabriziert wurden. Markus mußte genau hinsehen, um einen schlanken Mann darauf zu erkennen, Arm in Arm mit einem jungen, üppigen Weib. »Da haben wir uns einmal einen Spaß gemacht«, sagte Hedwig und entzog die Photographie hastig Markus' Händen. »Da is das Bild, Albert; na, – aber jetzt wollen wir's wieder ins Kuvert geben.«

»Mein ... Bild ...«

Er hielt es merkwürdig fest in seinen abgezehrten Fingern und starrte es an mit Augen, die doch nichts mehr sahen.

Hedwig trat weg vom Bett und drückte die Stirn ans Fenster. Markus bemerkte, wie sie das Taschentuch einige Male zum Gesicht hob.

Er beugte sich zu Albert.

»Bist du das, Albert, auf dem Bild?«

Der Kranke nickte kaum merklich und bewegte die Lippen. Endlich verstand Markus das Wort: »Hedwig«.

»Du und Hedwig?«

»Schön«, stieß Albert hervor. Und nochmals: »Schön«.

Dann fiel das Bild auf die Bettdecke. Markus hob es mit scheuer Andacht auf.

Hedwig hatte sich gefaßt.

»Gib, Markuschen. Wir wollen's wieder auf den Platz legen.«

»Arme Hedwig«, sagte er nochmals.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist uns gut gegangen. Wir dürfen nicht klagen.«

Markus nahm seinen ganzen Mut zusammen:

»Warum habt ihr nicht geheiratet?«

»Ach, Markuschen, Unsinn. Da hätt' uns die Herrschaft nicht behalten. Und was dann ...? Wir hatten doch nichts anderes gelernt als dienen. Es ist uns gut gegangen, Markuschen. Alles kann der Mensch nicht haben!«

»Das ist abscheulich, Hedwig, abscheulich. Ihr hattet euch gern und durftet nicht heiraten?«

Hatte Albert diesen Ausruf gehört? Verstanden?

Es spielte ein verklärtes Lächeln um sein grauweißes Gesicht.

»Schön!« sagte er noch einmal, sehr deutlich, mit starkem Nachdruck.

Hedwig wurde unruhig.

»Geh', Markuschen, geh', mein lieber Markus!«

Sie schob ihn sanft zur Tür hinaus.

Markus war so erregt, daß er sich durch Enzlehn beim Abendbrot entschuldigen ließ.

Er fühlte einen Haß in sich aufsteigen gegen seinen Vater, gegen dessen Eltern, die er nie gekannt hatte. Er haßte seinen Namen, sein Haus, das ganze »Patriziertum«, das wie ein Ungeheuer alles aufsaugte und vernichtete, was in Abhängigkeit von ihm geriet. Unten arbeiteten müde, freudlose Menschen, mit ausgebleichten Haaren und entzündeten Augen jahraus, jahrein am Wohlstand des Hauses. Stein für Stein schleppten sie herbei auf ihren gebeugten Rücken zu dem Sockel, der dies Haus über andere Häuser erheben sollte. Sie selbst aber blieben alle gleich klein und armselig  ...

Mitten in der Nacht wurde leise an die Tür geklopft.

»Markus, steh' auf, komm zu Albert!«

Es war Mamis Stimme. In einem Nu hatte Markus Beinkleider und Jacke übergezogen, während Enzlehn die Kerze anzündete.

»Soll ich mitkommen, Markus?«

»Nein, nein. Das geht nur mich an!« sagte Markus schroff, fast feindselig.

Er war totenblaß; seine Zähne schlugen hörbar aneinander. Im Gang vor der Tür stand Mami in einem roten Schlafrock, einen Leuchter in der Hand.

»Hedwig bat, ich möchte dich holen.« »Ja natürlich. Ich muß auch da sein, wenn Albert ...«

Er, nur er mußte da sein. Er und Hedwig. Am liebsten hätte er Mami den Eintritt in Alberts Kammer verwehrt. Was hatte sie dort zu suchen, die sich auch den Namen und die Art der »Patrizier« angemaßt hatte? Und auch gleichmütig über all die gebeugten Rücken und gebrochenen Herzen hinwegschritt!

Als erster drängte er sich zur Tür hinein.

Albert saß aufrecht im Bett. Um ihn herum auf der Decke verstreut standen und lagen verschiedene Uhren: seine eigene silberne Taschenuhr, eine kleine Kaminuhr aus Mamis Zimmer, Hedwigs goldene Uhr, die sie an einer langen Kette am Sonntag umzunehmen pflegte, die runde gelbe Küchenuhr und der Wecker aus der Mädchenkammer. In der Rechten hielt er einen Uhrschlüssel und drehte ihn in der Luft herum, während die Linke nach einer der Uhren tastete.

»Sein ganzes Leben hat er die Uhren aufgezogen im Hause. Nun kommt's ihm wieder in seiner letzten Stunde!« sagte Hedwig.

Das war ihr ergreifender als sein Sterben. Sie schluchzte die Worte in ihr nasses Taschentuch hinein, während Mami sie begütigend und tröstend auf die Schulter klopfte.

»Albert«, sagte Markus leise, und es war ihm dabei, als wehe schon Todeskälte von dem noch Lebenden zu ihm herüber.

Die Hand des Kranken fiel auf die Decke herab, und im Auge leuchtete ein letztes Verstehen auf. Da plötzlich verklärte sich sein Gesicht, wie in kindlich seligem Glück, und seine Lippen brachten mühsam einen Laut hervor, dann einen zweiten  ...

»Rei... Reima...«

Und ganz deutlich wiederholte er:

»Reimarchen!« in kraftlos jubelndem Aufschrei.

Markus zuckte zusammen und wendete sich um. Die hohe Gestalt seines Vaters stand auf der Schwelle.

Der Vater war ohne Brille. Eine seidene, wattierte, blaue Hausjacke schloß doppelreihig über der Brust, der weiße Kragen des gestickten Nachthemdes fiel breit über die Joppe und ließ den sonst immer im hohen englischen Kragen gefesselten, kräftigen Hals frei.

Markus, der seinen Vater noch nie anders als in steifer, dunkler, bis aufs Peinlichste korrekter Toilette gesehen, – starrte ihn an wie eine fremde Erscheinung.

»Na, mein alter Albert!« Der Kaufherr schob Markus mit einer leichten Bewegung vom Bett zurück und beugte sich über den Kranken.

»Reimarchen«, wiederholte der Alte in seliger Verzückung, und seine Augen weiteten sich, als hätte sich die kleine, enge Kammer plötzlich in einen Palastsaal verwandelt mit tausend Herrlichkeiten, die nicht zu fassen waren.

»Ja ... ja ... mein guter Alter, weiß schon, weiß schon!«

Die elegante, schlanke Hand des Kaufherrn umfaßte die zitternden, knochigen Finger des Sterbenden mit festem Druck. Dann beugte er sich noch tiefer herab:

»Hast du einen Wunsch, Albert?«

Der Kranke nickte.

»Na, was denn?«

Markus vergaß nie die weiche, warme Stimme, die der Vater in diesem Augenblick hatte.

Der Kranke atmete schwer, und abgerissen brachte er hervor:

»Hedwig ... mein Zimmer.«

»Hedwig soll dein Zimmer bekommen? Selbstverständlich! Noch was?« Albert lächelte.

»Noch was?« wiederholte Herr Lukas.

Aber es blieb still. Man hörte nur noch das Ticken der Uhren  ...

Noch tiefer beugte sich Herr Reimar Lukas über den Alten, den Hals weit vorgestreckt, in gespanntem, ernstem Lauschen.

Markus fühlte ein leises, angstvolles Pochen seines Herzens; und es schlug immer heftiger, je länger die Stille dauerte mit dem unheimlichen Ticken.

Endlich erhob sich der Kaufherr. Sein farbloses, starres Gesicht war noch etwas fahler und starrer als sonst. Aber seine Hände zitterten nicht, wie sie sich mit sanftem Druck über die offenen Lider des treuen Dieners senkten.

»Albert«, stieß Markus in jähem Schreck hervor. Denn der Tod traf ihn unerwartet, obwohl er das Sterben von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde gesehen hatte.

»Ruhig, Markus«, gebot der Vater und nahm behutsam die Uhren von der Bettdecke.

In einem Winkel lehnte Hedwig und starrte tränenlos auf die kalten, bleichen Züge.

»Kommen Sie, schlafen Sie bei mir«, sagte Mami und legte den silberhaarigen Kopf wie den eines Kindes tröstend an ihre Brust. »Ja, Hedwig, gehen Sie mit meiner Frau. Das ist jetzt das beste.«

»Ich danke auch schön, gnädiger Herr,« murmelte sie kaum vernehmlich, »danke schön ...«

Sie ließ sich von Mami wegführen, und Markus hörte ihre langsam schlurrenden Schritte, die sie so weit wegtrugen von allem, was ihr eigentlichstes, tiefinnerstes Leben durch fünfzig Jahre hindurch gewesen war ... Herr Reimar Lukas legte seine Hand schwer auf Markus' Schulter.

»Das war ein Mann!« sagte er und deutete auf den Toten.

Das ungewöhnliche, herzbeklemmende dieser Stunde hatte Markus den Kummer geraubt. Er kam nicht zum Bewußtsein des persönlichen Verlustes, so gering schien ihm der Platz zu sein, den er selbst in Alberts Leben eingenommen hatte. Es war wie grollende Eifersucht in ihm – nicht gegen Hedwig – gegen den eigenen Vater. Vor wenigen Stunden hatte er ihn noch gehaßt, weil er glaubte, daß er dem treuen Diener alles schuldig geblieben war, was Mensch vom Menschen fordern durfte – , und nun war Albert mit des Vaters Namen auf den Lippen hinübergegangen – glücklich, fast wunschlos.

Und der Vater sagte: »Das war ein Mann!«

Und Markus hörte es seiner Stimme an, daß es das Größte war, was sein Vater je von einem Menschen sagen konnte.

»Verstehst du mich auch?« fragte Herr Reimar Lukas, ohne seine Hand von des Sohnes Schulter zu nehmen: »Er war ein Mann!«

»Er füllte seinen Platz aus, Markus. Den Platz, auf den ihn das Schicksal gestellt hatte. Und damit leistete er das Höchste, was ein Mensch hienieden leisten kann!«

Der Kaufherr legte seine zweite Hand auf Markus' Schulter und wendete ihn ganz zu sich herum.

»Dasselbe erwarte ich von dir! Hörst du, Markus? Nicht mehr und nicht weniger. Dasselbe!«

Sie waren beinahe gleich groß – Vater und Sohn. Aber doch war sich Markus nie so klein und nichtssagend vorgekommen. Sollte er dem Vater jetzt schon gestehen, wie wenig er sich fähig fühlte, seine Erwartungen zu erfüllen?

»Ich will's versuchen«, sagte er mit schwankender Stimme. Und dann – in plötzlich erwachendem Mut:

»Aber glaubst du nicht, Vater, daß wir auch das Recht haben, uns einen Platz zu suchen, den wir ausfüllen können?«

Der Kaufherr runzelte die Stirn:

»Wer – wir?« fragte er mit scharfer Betonung.

Eine Welt schied ihn von den Suchenden. Ein ganzes Jahrhundert geheiligter Tradition.

»Wir haben nur die eine Pflicht: zu erhalten, was unsere Vorfahren geschaffen! Unsere Wege sind vorgezeichnet. Pfadsucher heißt bei uns Abenteurer werden. Merke dir das, mein Junge!«

Eine leidenschaftliche Erregung bemächtigte sich Markus', eine entsetzliche Angst vor grauem, fesselschwerem Leben.

»Und dann so sterben, Vater, in Verzicht auf alles, was uns Glück wäre?«

Reimar Lukas trat an die Leiche seines alten Dieners, und ein schöner, stolzer Ausdruck legte sich über seine ernsten Züge.

»Ja, Markus, so sterben! Und jeden Tag bereit sein, so zu sterben, in rücksichtsloser Pflichterfüllung, in strenger Selbstzucht, in freiwilligem Verzicht auf alles, was die glatte, gerade Bahn verwirrt! Ich wünsche mir und dir keinen besseren Tod! Und nun geh', mein Junge, laß mich allein.«

Noch einmal umfing Markus das kleine Zimmerchen, die Bilder an den Wänden, die ihm die Geschichte seines Hauses erzählt hatten, mit seinem Blick, noch einmal ruhte sein Auge auf den teuren, bleichen Zügen des alten Dieners. Die Tränen würgten ihn im Hals, brannten ihm in den Augen. »Gute Nacht, Vater«, murmelte er.

Dann wandte er sich zum Gehen und zog leise die Tür hinter sich ins Schloß.

Er wankte die Treppe hinauf und hinein ins Zimmer. Es war dunkel, Enzlehn atmete in ruhigem Schlaf.

Auf dem Bahnhof in Berlin schüttelte Enzlehn Markus die Hand.

»Es war sehr nett, Markus. Nun laß mir ein paar Tage Zeit, mich zu häuten. Zwischen fünf und sieben findest du mich jedenfalls im Café des Westens, wenn du mich brauchen solltest.«

Enzlehn zweifelte keinen Augenblick daran, daß Markus seiner bedurfte. Aber Markus nickte nur zerstreut.

»Jawohl, Karli, natürlich ...«

Markus konnte es sich nicht erklären, daß Tante Irene nicht auf den Bahnhof gekommen, und war beunruhigt. Unterwegs siedelte er mit seinem Handkoffer aus dem Taxameter in ein Auto über. Endlich war er oben in der zweiten Etage und klingelte.

Dr. Labisch öffnete ihm. Er hatte noch den Zylinder auf dem Kopf und schwarze Handschuhe über den Fingern.

Markus stockte das Blut.

»Was ist geschehen?«

»Nichts ... nichts ... Klumpchen ...«

Und noch lange Zeit mußte Markus an dieses »nichts, nichts, Klumpchen« denken. Es war so grausam, so furchtbar, wie der eigene Vater das sagte. Und doch auch so natürlich.

Gröhlkes saßen im Speisezimmer in feierlichem Schwarz und hatten jeder ein Glas Wein vor sich. »Tja ... nu is nischt mehr zu wollen. Meine Tochter hat sich 'n bißchen schlafen jelegt, Markus. Inzwischen hab'n wir den Sarg wegjebracht.«

»Aber wie kam denn das?«

»Willst du ein Glas Wein, mein Junge? Wer weiß, wann wir Abendbrot bekommen«, meinte Dr. Labisch.

»Nein, Onkel, danke ... Aber wie kam denn das?«

Gröhlke zuckte die Achseln.

»Herzschlag, meinte der Doktor. Jott – die Ursache – det's doch wurscht. Gestern abend is er plötzlich vom Stuhl jefallen.«

»Wie'n Blümeken«, sagte Frau Gröhlke. »Und wie de Wärterin kam, war et schon dot!«

»Meine Frau hat ihm noch wenige Minuten vorher die Milch gebracht«, sagte Dr. Labisch. »Na, für das arme Kind ist es jedenfalls eine Erlösung.«

»War denn niemand im Zimmer, als es starb?« fragte Markus.

»Doch. Du hörst ja: meine Frau. Er hatte gerade die Milch ausgetrunken, und sie war im Begriffe, die Tasse in die Küche zurückzutragen, als er umfiel. Meine Frau rennt 'raus, ruft die Wärterin, stolpert über die Schleppe, die Tasse geht in tausend Scherben – noch ein Glück, daß sie sich nicht das Gesicht zerschnitten hat!«

»Ick sage ja ... mit die dummen Schleppen im Hause« – brummte Frau Gröhlke.

Dann sagte niemand mehr etwas. Die Herren hatten eine Zigarre angesteckt. Frau Gröhlke fuhr sich ab und zu mit dem Taschentuch über die Augen.

»Vielleicht ist etwas in der Milch gewesen ...?« sagte Markus plötzlich.

Und dann erschrak er über das, was er gesagt hatte, und wußte nicht, warum er erschrocken war. Aber er wurde leichenblaß und mußte sich setzen.

»Beste Bollesche Milch! Wat soll denn da drin sind?« rief Frau Gröhlke strafend.

»Ach wo. was soll denn in der Milch gewesen sein?« sagte Dr. Labisch. »Ich kam ja gerade dazu, wie Irene die Milch aus der Kanne in die Tasse goß! Ich wollte mir eine Schachtel Streichhölzer holen. An Waschtagen ist immer der Deibel los im Hause, da kann man nie seine Ordnung haben! Meine Frau hat doch selbst die Milch in die Tasse eingeschenkt, während die Wärterin den Mädchen den Kaffee in die Waschküche brachte. Ich hab's doch selbst gesehen ... Was ist dir, Markus?«

»Ich möchte mir nur das Gesicht und die Hände waschen, nach der Reise ...«

»Gut, mein Junge ... Und dann erzähl', wie's zu Hause war. Daß der arme Albert gestorben ist, hat uns leid getan. Na, ich kannte ihn ja noch in seiner Blüte – ein Prachtkerl. Und 'n hübscher Mensch war's.«

Aber Markus hörte nicht mehr.

In seinem Zimmer brannte heute nicht wie sonst das Gas. Nur von der Straße herein warf eine Laterne ihren gelblichen Schein auf die hellen Wände. Das leise Grauen, das Markus seit Alberts Tode nicht verlassen hatte, umfing ihn hier mit doppelter Macht. Und so lähmend war das Grauen, daß er nicht den Mut fand zur einfachsten Handlung, den Mut, ein Streichholz zu entflammen und das Gas anzuzünden.

Er fiel auf einen Stuhl nieder, der am Fenster stand, stützte die Ellenbogen auf das breite Fensterbrett, preßte den Kopf zwischen beide Hände und hielt sich die Ohren zu, als wollte, als könnte er sich schützen vor den tosenden, brausenden Tonwellen, die sein Hirn erfüllten.

Ein leises, klirrendes Geräusch hinter seinem Rücken entriß ihm einen Ausruf des Schreckens.

»Was ist dir, Markus? Ich klopfte zweimal vergeblich.«

Frau Dr. Labisch stand mitten im Zimmer und stellte ihren zierlichen Doppelleuchter auf den Tisch.

Ein glatter, weißer Flanellschlafrock fiel in tiefen Falten an ihrer überschlanken Gestalt herab. Das auffallend flammende Rothaar lag kunstlos aufgesteckt im Nacken. Ihr kleines, feines Gesicht, aus dem die Augen übernatürlich groß hervorleuchteten, war noch eingefallener als sonst und ließ die harte Linie der Backenknochen hervortreten.

»Was ist dir, Markus? Warum bist du so erschrocken?«

»Nein, Tante Irene ... gar nicht.«

Sie ging auf ihn zu und nahm seine Hand. Ihre Finger waren eiskalt.

»Ich bin so froh, daß du wieder da bist«, sagte sie leise.

Sie ließ sich erschöpft auf denselben Stuhl nieder, auf dem er bisher gesessen, und blickte zu ihm auf, wie ein zu Tode betrübtes kleines Mädchen.

»Ich war immer so allein, Markus. Und dann kam noch – – das!«

Ein unsagbares Gemisch von Mitleid und Grauen schnürte Markus den Hals zu.

»Ja ... ich weiß«, sagte er dumpf.

Sie fuhr fort:

»Es kam so unerwartet und in all meine Traurigkeit hinein.«

Hart fragte er:

»Warum warst du denn traurig, Tante Irene?«

Sie sah ihn an, mit ihren großen, trostlosen Augen, erstaunt und befremdet. »Wie merkwürdig du fragst, Markus! So hast du früher nie gefragt!«

Aber ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort:

»Es war so schrecklich – wie es umfiel. Und ich lief hinaus und schrie um Hilfe, statt zu helfen. Aber ich hätte doch nichts machen können, sagte der Arzt. Und ich hab's auch nicht mehr sehen mögen nachher!«

Markus antwortete nicht, und es war ganz still zwischen ihnen.

Sie atmete schwer auf und hub dann wieder zu sprechen an:

»Es hat eigentlich wenig Raum eingenommen in meinem Leben, und doch scheint mir der Tag jetzt noch länger und leerer.«

»Lieb gehabt hast du's wohl nie«, sagte Markus.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Markus – lieb nicht. Und je größer es wurde, – desto weniger. Unheimlich war es mir. Manchmal, wenn ich mich überwand und ihm einen Kuß gab, dann hielt es sich an meinem Halse fest, so fest – – daß ich glaubte, es wollte mich erwürgen. Ich hatte manchmal Angst vor ihm, Markus ...«

»Du bist froh, daß es tot ist?«

Irene streckte die Arme weit von sich und warf den Kopf zurück. Ihre Augen waren geschlossen, und die dunklen Wimpern warfen weiche, tiefe Schatten auf ihre Wangen.

Markus fühlte eine ungesunde, bösartige Neugier in sich aufsteigen.

»Hat der Arzt die Milch untersucht?«

Sie zuckte die Achseln.

»Wir haben ja alle von derselben Milch getrunken!« Markus ballte beide Hände in den Taschen seiner Jacke und warf gleichmütig hin:

»Ich meine den Rest der Milch, der vielleicht noch in der Tasse war?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Tasse war ja entzwei, Markus. Und ich habe doch die Milch selbst eingegossen, wenn in der Tasse etwas gewesen wäre, so hätte ich es doch sehen müssen!«

Ihre Worte fielen immer langsamer von ihren Lippen, müde und widerwillig. Dann fügte sie hastig hinzu:

»Ich bin froh, daß ich es war, die ihm die Milch gegeben. Sonst wären wir vielleicht nicht um Unannehmlichkeiten herumgekommen! O, das wäre entsetzlich gewesen! Meine Nerven sind ohnehin so krank ... ich fühle mich so elend. Komm, Markus, gib mir die Hand, sag' mir, daß du froh bist, wieder hier zu sein, wir wollen viel spazieren gehen zusammen, nicht wahr? Und Musik wollen wir hören – es sollen noch ein paar gute Konzerte in dieser Saison stattfinden, und ein paar Vorlesungen will ich besuchen ... So wird die Zeit am besten vergehen bis zum Sommer, nicht wahr, Markus?«

»Ja, Tante Irene«, antwortete er dumpf. – – –

Am nächsten Morgen kam Frau Hofprediger kondolieren. Sie umarmte Irene mit mütterlicher Zärtlichkeit.

»Mein liebes, mein armes Kind ...«

Sie sprach von den Prüfungen, die der Herr den Seinen auferlegt, und fand das »gute, liebe Kind« so elend! ... Sie müßte diesen Sommer unbedingt in ein Bad, unbedingt!

»Nicht wahr, Markus, die arme Tante wird noch ernstlich krank, wenn sie sich nicht schont? Ihre Angehörigen, Ihre Freunde, liebes Kind, müssen darauf bestehen, daß Sie etwas für sich tun. Das sind Sie uns allen schuldig!« Irene lebte unter den warmen Worten auf. Sie küßte der alten Dame die Hand.

»Aber, aber, liebes Kind ...«

Sogar ein Whistabend wurde verabredet – der erste nach wochenlanger Pause.

»Natürlich, gern, liebes Kind. Obwohl – wie Sie ja wissen – mein Sohn jetzt keinen freien Augenblick hat. Seine Berufung zur Professur ist ziemlich sicher. Und da gibt es noch viel abzuwickeln im Gymnasium. Ich glaube, ich glaube, kleine Frau, Sie werden bald ›Frau Direktor‹ werden!«

Dafür hatte Irene nur ein blasses Lächeln.

»Sie sollten mich nach Norwegen mitnehmen,« sagte sie leise.

Es klang wie ein verlegener Scherz, aber Markus hörte einen verzweifelten Notschrei heraus.

Frau Hofprediger fuhr mit den Fingerspitzen leicht über das bleiche Gesichtchen:

»Aber, liebes Kind, wo denken Sie hin? Diese Strapazen bei dem Zustand! Nein, das werde ich nie erlauben – auch wenn Ihr lieber Mann so unvernünftig wäre, nachzugeben. Nein, nein ... ein stiller, ruhiger Sommer tut Ihnen not, damit wir Sie gekräftigt wiederfinden! Ja ... und bei der Whistpartie bleibt's! Mein Sohn muß sich einfach frei machen. Nicht wahr?«

Sie lachte gutmütig, aber gedämpft, wie es sich in einem Trauerhause, das nur einen Tod, aber keinen Verlust erlitten hatte, wohl schicken mochte.

»Adieu, Markus! Gute Ferien gehabt? Du siehst beinahe wie ein kleiner Lord aus!«

Und leise zu Irene gewendet, aber doch so, daß Markus es hören konnte, fügte sie hinzu:

»Es geht doch nichts über alte Kultur!« – – Der Whistabend fand doch nicht statt. Frau Dr. Labisch wurde krank. Akut herzkrank. Der alte Sanitätsrat empfahl selbst, eine junge Kapazität hinzuzuziehen, und berief eine schwarze Schwester zur Pflege.

Es wurde niemand in das Krankenzimmer zugelassen. Dr. Labisch durfte nur durch den Türspalt einen Blick auf das Bett werfen.

Gröhlkes saßen jeden Tag stundenlang im Speisezimmer, ohne ein Wort zu sprechen. Auch Frau Hofprediger kam ab und zu. Einmal traf sie die alten Leute.

»Meine Schwiegereltern,« stellte Dr. Labisch vor, »Frau Hofprediger Ramin.«

Frau Hofprediger leitete mit Anmut ein liebenswürdig-teilnahmsvolles Gespräch ein. Aber Frau Gröhlke guckte sie immer nur eigentümlich feindlich von der Seite an und berlinerte in ihrer Erregung ärger denn je.

»Wie meinen Sie?« fragte Frau Hofprediger, der der Berliner Dialekt immer noch fremd geblieben war, einigemal.

Und Gröhlke übersetzte die Worte seiner Frau. Es klang nicht viel besser.

Markus setzte sich dann zu Frau Gröhlke und streichelte ihr die Hand. Dr. Labisch machte zehnmal den ganz unnötigen Weg vom Speisezimmer zur Küche. Er sah ganz ratlos aus.

»Ich glaube, man wird uns bald Tee bringen«, sagte er. »Oder – darf ich mit einem Glas Wein aufwarten?«

Aber weder brachte man den Tee, noch stellte er eine Flasche Wein hin.

Dann empfahl sich Frau Hofprediger, und er begleitete sie nicht einmal ins Vorzimmer.

Nur Gröhlke erhob sich schwerfällig und sagte:

»Unser armer Schwiegersohn is janz aufjelöst. Na, det hilft nu mal nischt!« »Des Herren Wege sind unerforschlich«, meinte Frau Hofprediger, und drückte dem braven Konditor so innig die Hand, daß ihre Handschuhnaht platzte. – –

Dr. Labisch konnte stundenlang in seinem Zimmer auf und ab gehen. Seine feisten Wangen hingen schlaff und gelb über dem graumelierten Bart. Manchmal rief er Markus zu sich herein. Er mußte jemand haben, der ihm zuhörte.

»Sollte Kurt nicht kommen?« fragte Markus einmal.

Dr. Labisch wehrte heftig ab.

»Warum? Warum soll Kurt kommen? Hat's der Arzt gesagt?«

Er riß angstvoll die Augen auf:

»Nein, Onkel. Nur ich selbst dachte ...«

Dr. Labisch schnauzte ihn an.

»Du brauchst nicht zu denken ... Es ist gar nicht nötig ... Du bildest dir Dummheiten ein. In deinem Alter spielt man mit der Gefahr ... Sie ist interessant, nicht wahr? ... Eine Sensation, was? ... Wie kannst du nur daran denken, Kurt zu erschrecken? Wozu? In ein paar Tagen ist ja alles gut.«

Und grollend pendelte er weiter im Zimmer auf und ab.

Das Zimmer war grau vom Zigarrenqualm. Dr. Labisch ließ seit der Erkrankung seiner Frau die Zigarre nicht mehr aus dem Mund.

»Ich denke so: sie hat sich Vorwürfe gemacht, daß sie dem Kinde nicht Mutter genug gewesen. Ist ja Nonsens, aber bei feinorganisierten Naturen kann so etwas zur fixen Idee werden! Das Kind hat gewiß nichts vermißt, gar nichts ... Nur meine Frau macht sich Gedanken. Sie hat's ja immer schwerer empfunden als ich, das Unglück mit dem Kind. Hat immer alles schwerer genommen – ihre Pflichten und alles. Ohne das Kind wäre sie vollkommen glücklich gewesen, vollkommen glücklich! Und dich hat sie auch lieb, als wärst du ihr eigener Sohn ... Das weißt du doch, Markus? Nicht wahr, das weißt du?«

Markus senkte den Kopf.

»Ja, das weiß ich ...«

Die Reden Dr. Labischs wurden ihm unerträglich. Er faßte sich an die schmerzende Schläfe.

Einmal hörte Markus, wie der Direktor zu Dr. Labisch sagte:

»Wollen Sie sich nicht für ein paar Tage vertreten lassen? Es wird Ihnen vielleicht zu schwer jetzt?«

Dr. Labisch schüttelte den Kopf.

»Nein, lassen Sie nur. Das tut mir gut. Die Schule zerstreut mich, denn ich kann's nicht begreifen, begreifen kann ich's nicht, wie diese entsetzliche Herzkrankheit so plötzlich, so ...«

Markus sah noch, wie Dr. Ramin die schmalen Lippen fest aufeinanderdrückte und mit harter Stimme einwarf:

»Ihre Frau war immer hypernervös, eine unbeachtete Herzneurose kann ohne jeden Grund ganz plötzlich ausarten ...«

Markus raffte hurtig die Hefte zusammen, die er aus dem Direktionszimmer holen sollte, und war mit zwei Sätzen aus der Tür.

Die ungewöhnlich harte Stimme des Direktors hatte ihn wie ein Messer verwundet, hatte all seine warme Liebe zu Tante Irene wieder erweckt. Die arme, arme Tante Irene ... Noch nie hatte er den Weg nach Hause so schnell zurückgelegt.

Dort ging's etwas besser.

Markus öffnete weit beide Fenster seines Studierzimmers, daß die sonnige Frühlingsluft in warmen Strömen hereinflutete. Es war ihm wundersam wohlig zumute. Er schwang sich aufs Fensterbrett und baumelte mit den Füßen wie ein kleiner Junge.

Die Tür ging auf, und Dr. Labisch trat herein.

»Weißt du schon. Markus?«

»Ja, freilich, es geht besser. Die Schwester hat mir's gesagt.«

Dr. Labisch nahm den Zwicker ab, den er sorgfältig putzte:

»Heute an meinem Geburtstage, da muß es ihr ja auch besser gehen!«

Markus streckte ihm die Hand entgegen:

»Verzeih, Onkel, das hatte ich ganz vergessen, in all der Trauer.«

Dr. Labisch lächelte unbeholfen.

»Ja, in der Trauer hätt' ich's auch vergessen, aber jetzt ...«

Er fuhr sich wie zufällig mit dem Tuch über die Augen.

»Ein wundervolles Wetter ist das heute, Markus ...«

»Ja, wundervoll!«

»Wollen wir uns einen guten Tag machen und nach Wannsee 'raus?«

Markus war mit Vergnügen dabei. Zum erstenmal fühlte er sich frei von dem schweren Druck, der seit Wochen auf ihm lastete. Eine Sehnsucht nach Wärme und Güte erfüllte ihn.

Als sie auf dem kleinen Bahnhof ausstiegen, wehte ihnen lauer, langentbehrter Kiefernduft entgegen, der Markus die Tränen in die Augen trieb.

Es war doch so herrlich zu leben, die Sonne zu fühlen, das Rauschen der Bäume zu hören, den warmen Werdebrodem der jungen Natur einzuatmen, fern von all den düsteren Mahnern der Vergänglichkeit und Unvollkommenheit.

»Wenn erst meine liebe Frau so weit wäre!« seufzte Dr. Labisch.

Markus nickte lustig.

»Du wirst sehen, Onkel, das dauert nicht mehr lange! Bald führen wir sie heraus!«

Er war voll eifrigen Bemühens, Dr. Labisch fest und zuversichtlich zu stimmen.

Dr. Labisch hatte beide Hände auf die Krücke seines Stockes gestützt und lächelte.

»Nächstes Jahr werden es fünfundzwanzig Jahre, daß ich, mit meiner Frau verheiratet bin. Es waren sehr glückliche Jahre, mein lieber Markus, und ich wünsche, daß Kurt und dir solche Jahre beschieden sein mögen.«

Er griff nach der Kaffeetasse, als wäre es ein Bierglas, besann sich aber gleich darauf und tat, als hätte er nur den letzten Zuckerrest daraus leeren wollen.

Markus bohrte unterdessen sein Stöckchen immer tiefer in den feuchten Boden.

Ein ungeheures Mitleid stieg in ihm auf für den Mann, zu dem er bisher eigentlich nie ein rechtes Verhältnis hatte finden können. Mit der frühreifen Intuition, die ihn auszeichnete, hatte er ihn unbewußt, aber sehr energisch, als einen ganz unbedeutenden Menschen innerlich abgetan. Dr. Labisch hatte eigentlich nie für ihn existiert. Er war ihm ein Lehrer, wie jeder andere, mit kleinen Lächerlichkeiten mehr denn jeder andere behaftet; denn sie waren ihm lebendiger vor Augen durch den häuslichen Verkehr.

Aber in diesem Augenblick dünkte ihn dies alles klein und nichtssagend. Die große, kritiklose Liebe zu seiner Frau, die aus Dr. Labischs Worten sprach, schien ihm wieder etwas von dem köstlichen und Besonderen zu bergen, das ihm das Leben so wundersam geheimnisvoll und wissenswert machte.

»Du bist schon ganz blaß, mein Junge. Es wird kalt. Das beste ist, wir gehen jetzt,« sagte Dr. Labisch, rief dem auf und ab pendelnden Kellner und zahlte.

Schweigend legten sie den Fußweg um den See herum bis zum Bahnhof zurück.

Der Himmel umzog sich langsam mit der grauen Farblosigkeit der Dämmerung, feuchte Nebel stiegen aus dem Grase und legten sich um die Glasscheiben der hell aufflackernden Laternen. Der See lag ruhig und schwer, wie flüssiges Blei, und nur der Dampf einer Lokomotive dehnte sich lang über die schwarzen Baumwipfel. –

Frau Dr. Labisch ruhte in einem weißen Schlafrock, eine blauseidene Decke über den Knien, am offenen Fenster auf der Chaiselongue ihres Salons.

Ihr sonst flammendes Rothaar war schmutzig gelb und weiß rings um die Schläfen.

»Ich bin schon mit vierundzwanzig Jahren ergraut«, sagte sie zu Markus, der eine Bewegung nicht zu unterdrücken vermochte, als er sie so wiedersah.

Ihre Stimme zitterte: »Es ist schrecklich für eine Frau, wenn sie aufsteht, sich im Spiegel erblickt und sich sagen muß, daß sie alt ist!«

Markus küßte ihre mageren, durchsichtigen Hände.

»Dann warst du auch mit vierundzwanzig Jahren alt, Tante Irene«, sagte er und lächelte matt.

»Ja, Markus, vielleicht ...«

»Nein, nein, Tante Irene. Das wirst du schon wieder in Ordnung bringen und schön und jung werden!«

»Ja, Markus. Aber bis dahin darf kein Besuch angenommen werden. Niemand – hörst du – niemand!«

»Nein gewiß, niemand! Ich lasse keinen zu dir! Auch Onkel nicht?« fügte er mit einem Versuch, zu scherzen, hinzu.

Sie lächelte eigen.

»Der sieht weder die roten, noch die weißen Haare, Markus!«

»Ja, Tante Irene. Das glaube ich. Er liebt dich, wie immer du aussiehst.«

Frau Dr. Labisch ließ ihre Augen lange, in seltsamem Ausdruck auf Markus ruhen.

»Ich bin wohl sehr lange krank gewesen, Markus?«

»Ganze sechs Wochen.«

Sie nickte.

»Da verändert sich vieles«, murmelte sie vor sich hin.

Sie erkundigte sich, wer alles nach ihrem Befinden gefragt hatte, und ließ sich von Markus die gehäufte Visitenkartenschale herüberreichen.

»Von wem sind die herrlichen Rosen, Markus?«

Sie stützte sich auf den Ellbogen und zeigte mit der abgemagerten Hand erregt auf einen großen Blumenkorb, der vor dem Kamin auf einem kleinen Tischchen stand.

»Mami hat sie dir geschickt, heute früh sind sie gekommen. Onkel hat sie noch selbst mit Wasser bespritzt, obwohl es gar nicht nötig war.«

Irene fiel zurück in die Kissen, mit matten, erloschenen Augen.

»Ja ... so ... ich danke, das war lieb.«

Und Markus hörte die trostlose Enttäuschung aus ihrer Stimme und wagte es kaum, sie anzusehen.


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