Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Gegen Ende Februar starb der alte Direktor.

Da man den Fall vorausgesehen hatte, war der Vertreter bald an Ort und Stelle. Es war ein jüngerer Mann, dem man großes Wissen und große Energie nachrühmte. Er hatte mehrere kunstgeschichtliche Werke geschrieben, die selbst in Lehrerkreisen als sehr bedeutend galten.

Dr. Labisch, der unter dem alten Direktor eine Ausnahmestellung gehabt hatte und seiner innersten Natur nach jeder Neuerung feindlich gesinnt war, ging seit Wochen mit finsterem Gesicht herum.

Es war eine gereizte Stimmung in der Schule und in den Lehrerhäusern. Die Frauen sagten beruhigend:

»Neue Besen kehren scharf!«

Die Redensart war ihnen geläufig und die Quintessenz ihrer häuslichen Erfahrung. Nur Irene hatte ein größeres, persönlicheres Interesse für den neuen Mann.

»Wir werden ihn zum Speisen laden«, sagte sie.

»Ja. ja, natürlich.«

Dr. Labisch pries wieder einmal das Geschick, das ihm solch eine kluge, reiche Frau gegeben. Er hielt sehr viel von ihren gesellschaftlichen Talenten. Sie würde es schon verstehen, feine, persönliche Beziehungen zu dem neuen Direktor anzuspinnen.

Kurt war es, der ihr die ersten wichtigsten Einzelheiten über den neuen »Direx« gab.

»Wie soll ich dir sagen, Mama: ein sehr großer, scheußlich häßlicher Kerl, mit sehr klugen Augen und sehr leiser Stimme. Angenehm? Nee ... Sehr höflich. Ich glaube, ein Tadel von dem ist wie eine Backpfeife. Er hat irgendwo einen Prinzen erzogen, sagt Enzlehn – im Hessischen, glaube ich. Seitdem wird er sehr protegiert. Verheiratet ist er nicht.«

Das war mager. Aber immerhin besser als nichts. Irene rüstete sich zu dem Diner, das sie dem neuen Vorgesetzten gab, wie zu einer Schlacht. Sie hatte noch drei Lehrer gebeten, aber ohne ihre Frauen. Der »Prinzenerzieher« hatte es ihr angetan. Ihr war, als ströme etwas Hofluft zu ihr herein.

Kurt sollte nur »Guten Abend« sagen und nach fünf Minuten verschwinden, Markus war zu jung und brauchte gar nicht zu erscheinen.

Dr. Labisch war sehr nervös und hatte gegen seine Gewohnheit seine Rede ausgearbeitet und aufgeschrieben.

Irene dachte lange über ihre Toilette nach. Sie entschied sich endlich für ein resedafarbenes Tuchkleid, das leicht ausgeschnitten war und ihren seinen Kopf mit dem rötlich schimmernden gefärbten Haar besonders vorteilhaft rahmte. Kurt ging mit Kennermiene um sie herum.

»Fein,« erklärte er endlich. »Du stehst aus wie eine Prinzessin oder eine Schauspielerin.«

»O, Kurt! und ich sollte doch aussehen wie eine Lehrersfrau.«

»Na, Mamachen, das wird dir nicht so bald gelingen.«

Da klingelte es schon, und das Hausmädchen ging öffnen. Dann meldete sie:

»Herr Dr. Ramin. Er ist beim Herrn im Zimmer.«

Kurt bemerkte noch, wie sich seine Mutter einen Ruck gab und dann überhastig das Zimmer verließ.

Knapp vor Haustorschluß kam Gröhlke den hinteren Aufgang herauf und zu Kurt herein, der noch Aufgaben machte.

»Na, Junge, was gibt's Neues? Ist euer Direx gekommen?«

Markus wachte im Nebenzimmer auf und verlangte, daß Papa Gröhlke hereinkäme.

Der joviale alte Konditor brachte die frische Winterluft mit seinem Pelz herein. Kurt stellte eine Lampe auf den Nachttisch, der zwischen seinem und Markus' Bett stand.

»Da hast du 'was zum Naschen,« und Gröhlke schüttete den Inhalt einer Pralinétüte vor Markus auf die blaue Steppdecke aus.

Es dauerte nicht lange, so öffnete sich die Tür, und Frau Dr. Labisch trat herein.

Sie sah bildhübsch aus, ihre Augen leuchteten dunkel aus dem Weiß ihres feinen Gesichts hervor. Sie sprach schnell, mit einem weichen, glücklichen Unterton.

»Also, er gefällt dir, unser Neuer?« fragte Kurt, indem er mit Markus um die wette Pralinés vertilgte.

»Gefallen ist nicht das Wort. Er ist so ganz anders als alle die anderen Lehrer. Er ist sehr klug, und dabei hat er wundervolle Manieren. Es würde mich freuen, Kurt, wenn du dich diese letzten Jahre noch recht zusammennähmst! Denn ich glaube, wir werden in ziemlich regem Verkehr bleiben, Wir wollen alle vierzehn Tage einen Whistabend arrangieren. Er spielt so gerne Whist.«

»Nanu? Papa kloppt aber doch nur Skat«, meinte Kurt. »Das ist kein Grund. Man kann's doch lernen!«

Übrigens war der Übergang in der neuen Leitung weniger schroff, als man anfänglich annahm.

Dr. Ramin war zu sehr Diplomat, um nicht ganz allmählich vorzugehen. Man merkte es kaum in den ersten Wochen, daß er die gelockerten Zügel straffer anzog, und als man endlich fühlte, daß man in einem anderen Fahrwasser schwamm als bisher – da gab man sich stillschweigend zufrieden.

Frau Dr. Labisch weigerte sich jetzt auch oft, Kurt ins Theater mitzunehmen.

»Warte, bis du aus der Schule raus bist. Ich weiß, es wird nicht gern gesehen. Und du mußt ja jetzt auch wirklich mehr studieren, deinen Geist nicht zerstreuen.«

Kurt, der solche Worte bei seiner Mutter nicht kannte, blickte sie überrascht an, sagte aber nichts.

Frau Dr. Labisch wußte, daß er an manchem Abend heimlich mit seinem Schulfreunde Enzlehn Theater besuchte. Er hatte Taschengeld genug, um sich, so oft er wollte, einen billigen Platz zu kaufen; und gemeinsame Arbeit mit dem oder jenem Kameraden diente ihm als Vorwand, den Abend außer dem Hause zu verbringen.

Eines Abends sah Kurt von der Galerie eines Theaters herab seine Mutter mit Dr. Ramin und dessen Mutter in einer Loge sitzen.

Enzlehn stieß ihn an und sagte:

»Du, ich glaube, der Direx ist in deine Mutter verschossen.«

»Halt den Mund«, antwortete Kurt, ohne ihn anzusehen.

Und Enzlehn wußte nicht, sagte es Kurt, um kein Wort von den Vorgängen auf der Bühne zu verlieren, oder weil es ihm peinlich war, so etwas über seine Mutter hören zu müssen.

Als die Osterferien herannahten, betrieb Frau Dr. Labisch die Abreise mit seltsamer Emsigkeit.

Sie wollte, daß die Knaben noch am Tage des Schulschlusses Berlin verließen.

»Verkürzt eure Ferien nicht.«

»Hast du es eilig, uns los zu sein?« fragte Kurt.

»Komm doch mit zu uns, Tante,« schlug Markus vor.

Aber Irene wehrte heftig ab. Sie berief sich auf Klumpchen. Sie konnte doch Klumpchen nicht allein lassen, und dann wäre sie auch nicht eingeladen, und dann ... nein, was den Jungens nur für dummes Zeug einfiele! –

Sie hatte einen Unterton zitternder, nervöser Erregung, der sogar Dr. Labisch aus seiner Bierruhe riß.

»Kinder, quält sie doch nicht. Übrigens kann sie wirklich nicht uneingeladen nach Bremen kommen. Und vielleicht machen wir mit Dr. Ramin und seiner Mutter einen kleinen Ausflug nach der Sächsischen Schweiz, oder ich schicke Mama allein mit, wenn ich nicht abkömmlich bin ...«

Dr. Labisch hatte ein Grauen vor Reisen. Kurt wußte bestimmt, er würde nicht abkömmlich sein.

Am Abend vor der Abreise der Knaben fand der übliche intime Whistabend statt, zu dem nur Dr. Ramin und seine Mutter erschienen, die in ihrer Jugend Hofdame bei einer mecklenburgischen Prinzessin gewesen war und den Hofprediger Dr. Ramin geheiratet hatte.

Es war eine sehr vornehme alte Dame, mit silberweißem Scheitel. Sie liebte ihren einzigen Sohn abgöttisch und hatte nur eine Angst, er möchte sich verheiraten. Man sagte von ihr, sie protegiere gern seine gelegentlichen Flirts mit verheirateten jungen Frauen.

Unter den Lehrergattinnen war ihr bisher noch keine so geeignet erschienen, ihren Sohn von Heiratsgedanken abzulenken, wie Frau Dr. Labisch. Sie zog die junge Frau auffallend viel in ihr Haus und freute sich der schwärmerischen Verehrung, die Irene für ihren Sohn zeigte.

Irenens fast übertriebene Aufmerksamkeit wurde von Dr. Labisch nicht als ungehörig, sondern als klug empfunden, genau wie sich bei Hofe eine Dame nichts vergibt, wenn sie sich vor dem regierenden Herrn demütig bis zur Erde verbeugt.

Irene Labisch war achtunddreißig Jahre alt, blickte auf ihr bisheriges Leben wie auf eine öde Sandwüste zurück und stand innerlich völlig einsam in Verhältnissen, über die sie sich nicht erheben konnte, weil ihr dazu die Fähigkeiten und das Wissen abgingen, und mit denen sie sich nicht zu verschmelzen vermochte, weil ein angeborener Geschmack sie nach einer ganz andern Richtung zog.

Wäre Dr. Ramin nichts als eine bedeutende Persönlichkeit gewesen, sie hätte kaum dauerndes Verständnis für ihn gehabt, aber es umgab ihn ein kleiner Nimbus höfischer Vergangenheit, noch verstärkt durch die Anwesenheit seiner Mutter, die weit mehr als er selbst in dieser Vergangenheit wurzelte – und dieser Nimbus war es, der in der Tochter des Bäckermeisters Gröhlke eine Bewunderung erweckte, die sich allmählich in romantische Verliebtheit und später in heiße Leidenschaft wandelte.

Markus begriff nicht, warum Kurt so unlustig seinen Handkoffer packte. Beinahe war ihm dadurch die übermenschliche Freude an der Heimkehr genommen. Diese Freude war ohnehin nicht ohne einen kleinen bitteren Beigeschmack.

Schon daß er Kurt nicht jeden Winkel seines Hauses schildern konnte und selbst erst wie ein Fremder herumgeführt werden mußte, beeinträchtigte seinen Jubel.

In Bremen war es auch eine Enttäuschung, daß Mami nicht auf der Bahn war. Zum Glück stand Albert da in seiner dunkelblauen Livree und hielt den Hut hoch in die Luft, um den Sohn seines Herrn zu begrüßen.

»Wo ist denn Mami?« war Markus' erste Frage.

»Die gnädige Frau war heute nicht ganz wohl. Aber es ist schon wieder gut,« beruhigte Albert, als er das erschreckte Gesicht sah. »Brauchst keine Angst zu haben, Markuschen, und Hedwig hat einen Napfkuchen gebacken – so groß! Und gnädige Frau wartet am Kaffeetisch.«

Na also!

Markus stellte vor:

»Mein Freund Kurt!«

»Ja... ja, ich weiß. Heute sind die letzten Möbel von Herrn Kurts Zimmer gekommen. Mein Gott, war das eine Wirtschaft all die Monate! Aber jetzt ist gottlob alles wieder sauber.«

Markus hörte es dem alten Diener an, wie gräßlich ihm all der Trubel gewesen sein mochte.

»Schade um die Diele, was, Albert?« raunte er ihm leise zu.

Mami stand unten im Treppenflur gerade vor dem Schilde Lukas & Co. Sie hatte ein dunkles Kleid an und darüber ein Tuch geworfen, denn es war infolge der vorgeschrittenen Jahreszeit empfindlich kühl in den alten Steinmauern. Ihr liebes rundes Gesicht strahlte:

»Na, da seid ihr ja!«

Sie reichte Kurt herzlich die Rechte, während sie mit der Linken Markus an sich heranzog.

Markus wollte an ihr emporklettern, aber sie wehrte erschrecken ab.

»Nicht, nicht, Markus... Du bist zu groß!«

»Na denn 'rauf, Mami!«

Und er packte sie bei der Hand und wollte sie, wie er es sonst tat, im Laufschritt mit sich die Treppe emporziehen, aber sie wehrte sich auch diesmal.

»Nicht doch ... ich kann nicht laufen. Komm, gehen wir hübsch langsam!«

Langsam die Treppe hinaufgehen, wenn seine Ungeduld überhaupt nicht mehr zu zähmen war!  ...

»Na, dann lauf' ich allein!«

Und immer drei Stufen überspringend, war er oben und fiel der alten Hedwig um den Hals.

»Markuschen – wie bist du groß geworden!« Sie küßte ihm das Gesicht und die Hände.

»Markuschen, ich dachte schon, du würdest gar nicht kommen!«

»Ach, Quatsch!«

Die alte Hedwig nahm diese Antwort mit beruhigtem Lächeln entgegen, Markus aber stieß die Tür zum Speisezimmer auf.

Da brannten die herrlichen Kerzen über dem wundervoll gedeckten Tisch mit dem alten schweren Silber und dem Riesennapfkuchen in der Mitte. Es duftete himmlisch nach Kaffee und warmem Wachs.

Eine kleine bucklige Person war gerade beim Einschenken.

»Ah – Monsieur Markus!«

»Mademoiselle Cardinal!«

Und ehe sich die kleine Französin umsah, hatte auch sie ihren Kuß weg.

»Das ist fein, daß Sie da sind! Kurt – das ist Mademoiselle Cardinal – j'aime, tu aimes, il aime ...«

Kurt war zum Glück über alles und alle in dem Bremer Hause so genau orientiert, daß er keinen Augenblick ein fremdes Gefühl hatte. Mademoiselle Cardinal schob Mami den Stuhl zurecht und stellte eine Tasse Kaffee vor sie hin.

»Mächtig sein!« dachte Markus und wollte Mami in plötzlich erwachter Galanterie das Tuch abnehmen. Aber sie winkte ab.

»Laß nur, Markus, mir ist noch kalt ...« worauf Markus erklärte:

»Mami, in dem Tuch siehst du aus wie ein altes Weib, da kann ich dich gar nicht liebhaben!«

Da geschah das Ungeheuerliche, daß Mami den Schal trotzdem nicht abnahm.

Kurt wunderte sich, wie ganz anders Markus sich in seinem Elternhause gab. Das war nicht der wohlerzogene, etwas schüchterne Knabe, das war der kleine Rowdy, wie es alle rechtschaffenen Jungens zwischen zehn und vierzehn Jahren zu sein pflegen.

Markus selbst war nicht befriedigt, vor allem war Mami anders.

Sie tollte nicht mehr herum, sondern sprach beständig mit Mademoiselle Cardinal – und nicht einmal Französisch! Was brauchte sie überhaupt die Cardinal – wenn er da war!

Einmal zwickte er die alte Französin im Vorbeilaufen in den Arm – voller Wut. Das gab eine große Szene. Mami nannte ihn einen dummen, abscheulichen Jungen, er streckte ihr die Zunge aus, sie wollte ihm eine Ohrfeige geben, aber er lief um den Tisch herum und rief halb wütend, halb lachend:

»Versuch's doch, wenn du kannst!«

Mademoiselle Cardinal hob entsetzt beide Arme empor:

»Oh, le méchant garçon!«

Aber Markus spuckte auf den Boden aus.

»So, das ist meine Meinung!«

Und großartig ging er aus dem Zimmer.

Kurt, dem er die Sache erzählte, schüttelte bedenklich den Kopf.

»Du – Junge – Junge, ... wenn sie petzt... kriegst du Senge von deinem Alten.«

An diese Möglichkeit hatte Markus nicht im entferntesten gedacht.

»Glaubst du, daß sie die Gemeinheit hat?«

»Wer kennt die Weiber!« bemerkte Kurt tiefsinnig.

Markus fiel ihm um den Hals –

»Ach, du bist doch mein einziger Freund. Ich will auch nie einen andern Freund haben als dich... Nie, nie! Und mit den Weibern lasse ich mich überhaupt nicht mehr ein.«

Kurt versprach, die Sache zu ordnen.

Und so wurde eine Katastrophe vermieden.

Abends sagte Kurt: »Man muß den Frauen immer was zugute halten, wenn sie in Erwartung eines Kindes sind.«

»Wa – as?«

»Na haste denn das nich gemerkt, du Kaffer?«

»Also doch?«

»Was?«

»Nichts.« – –

Markus fuhr gern zurück nach Berlin. Er wußte, selbst das große Heimweh würde sich nicht einstellen. Im Sommer sollte er mit der Familie Labisch nach Sylt fahren.

Mami hatte ihm das sehr schonend mitteilen wollen, aber es war gar nicht nötig gewesen. Er sehnte sich gar nicht mehr danach, zurückzukommen. Mit verbissenem Trotz hatte er Abschied genommen. Und als Mami ihn wieder voll Wärme ans Herz zog, da hatte er mannhaft alle weichen Regungen unterdrückt. Er hatte sogar »Mama« gesagt, aber so undeutlich, daß sie es wohl nicht verstanden hatte, was ihn noch nachträglich ärgerte, so daß er von Berlin aus einen Brief mit übermäßig großer Überschrift: »Liebe Mama!« abschickte.

Übrigens fand Markus bei Frau Dr. Labisch immerhin ein Teil der Zärtlichkeit, nach der er sich unbewußt sehnte.

»Deine Mutter, Kurt, ist übrigens viel hübscher als Mami, Mama« – verbesserte er sich rasch.

Sein Groll war so stark, daß er jetzt absichtlich alles zuungunsten seiner Stiefmutter verglich. Und er umgab Frau Dr. Labisch mit einer zarten, schmeichelnden Bewunderung, die ganz seltsam von der kurzen, etwas ruppigen Art abstach, in der Kurt jetzt mit seiner Mutter verkehrte.

Zwischen Ostern und Pfingsten hielt Dr. Ramin im Architektenhaus kunstgeschichtliche Vorträge. Frau Dr. Labisch saß immer in der ersten Reihe zwischen ihrem Manne und der Frau Hofprediger.

Es war eine interessante Zuhörerschaft: einige Gelehrte, viele Künstler, Schriftsteller und einige aristokratische Damen, die überall »dabei« waren und ein lebendiges Bindeglied bildeten zwischen ihren Kreisen und der Künstlerwelt.

Irene fiel durch ihre Eleganz und ihren aparten Reiz auf. Die Frau Hofprediger fand ein Vergnügen darin, sie zu protegieren, ein bißchen Vorsehung zu spielen.

»Sie sind ganz dazu angetan, einen Salon in Berlin zu haben,« sagte sie zu Irene. »Lassen Sie es nur meine Sorge sein. Ich werde Sie mit den richtigen Elementen bekannt machen.«

Irene war es, als wüchsen ihr Flügel, und als schwebe sie plötzlich hoch hinauf durch den blauen Äther. Der Sommer auf Sylt befestigte, was der Winter begonnen hatte.

Die Familie Labisch knüpfte neue und interessante Beziehungen an. Irene war unleugbar die Saisonschönheit. Die Huldigungen, die ihr von allen Seiten dargebracht wurden, beglückten sie, weil Dr. Ramin Zeuge davon war. Sie war so unaussprechlich froh in diesem Sommer, daß ihr Wesen all die nervösen Kanten verlor, die es sonst oft unleidlich machten.

In ihren fußfreien, weißen Flanellkostümen mit der Sturmhaube sah sie fast aus wie ein Backfisch, und da Klumpchen mit der Wärterin bei den Großeltern war, so störte nichts das Harmonische ihres Empfindens.

Sie war am Ausgang ihrer Jugend und fühlte sich zum erstenmal ganz, ganz jung, wie erfüllt von bräutlicher Erwartung.

Kurt und Markus hatten eine Burg aus Sand gebaut, die eine Sehenswürdigkeit am Strand war.

Dr. Labisch lag tagelang in stumpfem Behagen auf dem heißen Sand, während Frau Hofprediger irgendeine ganz zwecklose Stickerei zwischen ihren kaum gebräunten Fingern hielt, Irene mit Dr. Ramin lange Spaziergänge am Strande machte und Markus mit Kurt und den jungen Enzlehns, die ebenfalls auf Sylt waren, auf den Krabbenfang ging.

Der junge Enzlehn verabredete mit Kurt eine Schülervorstellung für den nächsten Winter. Seine beiden Schwestern schwärmten ebenfalls fürs Theater und versprachen, jede Rolle zu übernehmen, die man ihnen anvertrauen würde. Die älteste, Annie, nahm übrigens Gesangunterricht und sollte sich zur Konzertsängerin ausbilden, die jüngste, Claire, – sie war um zwei Jahre älter als Markus – deklamierte Monologe der Lady Macbeth.

Sie deklamierte, wenn Sturm war, immer ganz laut am Strande und suchte das Getöse der Wogen mit ihrer zarten Stimme zu übertönen. Ihr Bruder Karli säuselte feine, unverständliche Gedichte, die er zum Teil selbst verfaßte.

Markus war voll Bewunderung für diese kunstsinnigen jungen Leute und fand alles großartig. Er nahm sich vor, auch zu deklamieren, stellte sich eines Tages auf die Düne und brüllte los:

»Sein oder Nichtsein...«

Kurt kugelte vor Lachen die Düne herunter, Karli aber sagte:

»Wir werden später Freunde sein!«

»Wann später?« fragte Markus.

Claire meinte schnippisch:

»Bilde dir nichts ein, Markus. Das sagt Karli zu jedem! Er will sich's als zukünftiger Mime mit niemand verderben.«

Auf den Krabbenfängen wurde viel von den Eltern gesprochen.

Die Enzlehnsche Jugend war mit der Mutter nicht zufrieden, Karli war sehr erbost darüber, daß sie so verächtlich vom Theater sprach, da doch ihr Bruder, der berühmte Jan Diako, Berlins beliebtester und elegantester Schauspieler war und jährlich vierzigtausend Mark verdiente.

»Zu Weihnachten darf sich der Onkel mit allen möglichen Paketen einstellen, und Billetts darf er schicken, und Rechnungen darf er auch für uns bezahlen – ich glaube sogar, daß er den Sommeraufenthalt hier für uns blecht, aber sonst ist Theater – Sumpf!«

»Lächerlich!« meinte Claire, indem sie das »r« rollte, »Wenn ein Mädchen kein Geld hat und weder Lehrerin noch Telephonistin werden will, muß sie doch zur Bühne, um halbwegs anständig leben zu können!«

Markus legte seine Hand auf den Arm seines »zukünftigen« Freundes.

»Es ist wohl sehr schlimm, wenn man kein Geld hat?«

»Scheußlich!« platzte Enzlehn heraus.

Am nächsten Tage brachte Markus seinem zukünftigen Freunde ein Zehnmarkstück.

»Nimm nur, Karli. Ich brauch's nicht, ich habe genug.«

Er war sehr rot, und seine Worte überhasteten sich.

Karli blickte sich um:

»Aber Markus, das ist ja Unsinn, das hab' ich doch nur so gesagt.«

»Nein... nein... du mußt es nehmen. Wenn ich dein Freund werden soll, dann mußt du es nehmen.«

»Dank' schön, Markus, ich geb's dir wieder, wenn ich's habe... nur gerade jetzt bin ich im Druck!«

Und errötend wie ein kleines Mädchen ließ er das Geldstück in die Hosentasche gleiten.

Seit diesem Tage hatte Markus das Gefühl, ein nützliches Mitglied des Freundeskreises zu sein, in dem er bis jetzt seiner Jugend wegen nur gelitten war. Und zum erstenmal empfand er die Bedeutung des Geldes und freute sich, einen reichen Vater zu haben. – –

Enzlehn plumpste durch das Abiturientenexamen. Seine Mutter bestand darauf, daß er noch ein Jahr in der Prima blieb.

Aus Wut und Verzweiflung darüber machte er einen Selbstmordversuch. Ungeschicklichkeit oder Feigheit – die Kugel streifte nur die Schläfe, und in wenigen Tagen war er wiederhergestellt.

Markus war tieferschüttert und wich in seiner freien Zeit nicht vom Krankenbett des Freundes.

Irene hatte jetzt wirklich einen »Salon«. Leute von Ruf und Namen gruppierten sich um ihren Tisch, und die Frau Hofprediger verstand es, ihren Sohn zum Mittelpunkt dieser Abende zu machen. Dr. Ramin hatte wohl kaum eine Ahnung davon, welchem Zweck die Geselligkeit im Hause Labisch diente.

Er arbeitete auf eine Professur an der Universität hin, da er in der Schulmeisterei wenig Befriedigung fand, und der Erfolg seiner Vorlesungen ihm immer klarer seinen Weg wies. Er war der Typus des weltmännischen Gelehrten, voll eiserner Selbstdisziplin und doch geschmeidig wie ein Hofmann.

Er hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, mit welch abgöttischer Verehrung Irene an ihm hing; hätte kein Mann sein müssen, um nicht schließlich dem Zauber ihrer Persönlichkeit zu erliegen.

Aber sie zu seiner Geliebten zu machen, war ihm undenkbar. Er wäre nicht fähig gewesen, dem Mann seiner Geliebten die Hand zu drücken, ebensowenig freilich einem Skandal die Stirn zu bieten und das geliebte Weib offen an seine Seite zu reißen.

So war er denn sorgsam darauf bedacht, die schwierige Situation nicht durch eine etwaige Unbesonnenheit zu komplizieren. – Auch entging es ihm nicht, daß Kurt mit seinen klugen, hellsehenden Augen das eigentümliche Verhältnis durchschaute.

Der gewandte Hofmann war diesem jungen Menschen gegenüber oft seltsam ungeschickt. Es kostete ihn jedesmal Überwindung, mit Kurt zu sprechen, und seinem Einfluß war es hauptsächlich zuzuschreiben, daß Kurt so früh und nicht in Berlin sein Freiwilligenjahr abdienen sollte. Kurt war ungewöhnlich entwickelt für sein Alter, so daß Irene ihn ohne Sorge ziehen ließ, und das Restchen mütterlicher Zärtlichkeit, das ihre Leidenschaft ihr gelassen hatte, auf Markus übertrug, der ein begeisterter Anhänger des »Direx« war.

So wenig, wie Kurt sich jetzt zu Hause wohl fühlte, so wenig behagte es Markus in Bremen. Als er das letztemal dort war, erwartete Mami – er nannte sie noch so aus Gewohnheit, aber ohne mehr dem Namen die tiefere Bedeutung zu geben – ihr drittes Baby. Markus fand keinen Platz mehr in dem großen Hause. Immer hieß es:

»Ne faites pas de bruit, Markus, Baby dort!«

Oder: »Geh doch spielen, Markus! Mußt du immer alles hören, was man spricht?!«

Dann ging er, wie ehemals, in die Küche hinaus. Aber Albert und Hedwig hatten auch nur mehr ein Gnadeneckchen am Ofen und stippten ihre Semmeln stumpfsinnig in den stets warmen Kaffeetopf.

Der Vater ließ sich jetzt öfters zu einem Gespräch mit Markus herab. Aber ein Gespräch war es eigentlich nicht. Der Vater allein sprach, und Markus hörte zu und durfte mal auf eine wiederholte Frage: »Hast du mich verstanden?« oder: »Verstehst du mich?« mit »Ja« antworten.

Der Vater suchte in ihm das Bewußtsein des ältesten der jungen »Lukas-Erben« zu wecken, aber diese Lukas-Erben waren Markus höchst gleichgültig. Auch das »Haus Lukas« war für Markus noch ein leerer Schall; allenfalls verband er damit die Vorstellung von einem verrauchten Kontor, in dem unendlich viel Tinte und unendlich viel Papier verschrieben wurde, und von traurigen, müden Menschen.

Markus hatte Mami in den ersten Tagen seines Zuhauseseins von Enzlehns Selbstmordversuch erzählt. Er kam sich dabei ziemlich wichtig vor und war gefaßt darauf, mit neugierigen Fragen bestürmt zu werden, hörte bereits alle Ausrufe des Entsetzens, Staunens, Mitleids – aber nichts davon kam.

»So ein infamer Bengel«, sagte Mami. »Der verdiente wirklich Prügel, aber so ordentliche, daß er acht Tage nicht sitzen kann...«

Markus war in tiefster Seele empört. Nein, mit Mami war wirklich gar nichts mehr los. Schade um jeden Versuch einer Verständigung!

Und er schrieb am selben Abend einen überschwänglichen Brief an Karli, in dem er sich über den unerträglichen Stumpfsinn der Seinen beklagte.

So begrüßte es Markus stets mit Freuden, wenn es hieß, daß er die Ferien über bei Labischs bleiben dürfte.

Er dachte sogar mit Grauen an die Zeit, da er vielleicht für immer in Bremen bleiben müßte, als jüngerer Chef des Hauses Lukas, und ganz allmählich reifte in ihm der Entschluß, lieber allem zu entsagen, als sich, wie er es nannte, »einkerkern« zu lassen.

Enzlehn bestärkte ihn darin.

»Du darfst dich nicht vergewaltigen lassen, Markus!«

Der Ausdruck gefiel ihm ausnehmend gut. Nein – er ließ sich nicht vergewaltigen – um keinen Preis! Er war es sich und seinem Freunde Enzlehn schuldig, Charakter zu zeigen.

Enzlehn sollte Theologie studieren, und Markus wunderte sich, daß Karli so ohne weiteres darauf einging.

»Willst du denn wirklich Pastor werden?« fragte er voll Entsetzen.

»I wo, Markus! Ich warte nur, bis du so weit bist und wir zusammen etwas unternehmen können. Wie ich die Wartezeit ausfülle, ist ja egal.«

Bis Markus so weit war! Das heißt, bis er seinen Kampf mit dem Vater ausgekämpft hatte und im Besitze eigener Mittel war. Markus fühlte bereits eine gewisse Verantwortung.

Kurt schrieb kurz und drastisch:

»Dein großer Schwefel über Enzlehn ist ja ganz schön, aber ich halte den Jungen für'n faulen Kopp, der sich dir auf den Geldbeutel legen wird. Sei vorsichtig, Junge! Wenn du partout nicht zu deinem Alten zurück willst – meinetwegen! Geld haste ja genug, um dir die Welt anzusehen. Aber ansehen mußt du sie dir – nicht gleich an der ersten Straßenecke kleben bleiben!«

Markus fand es sehr häßlich von Kurt, daß er so über Enzlehn sprach, wo er doch bestimmt wußte, daß Kurt bis über beide Ohren in Claire verschossen gewesen war, und sie in ihn. Seit Magdeburg hatte Kurt aber kein Wort an Claire geschrieben, und als Markus, halb aus eigenem Antrieb, halb in Claires Auftrag, leise anfragte, warum, da hatte Kurt geantwortet: »Es war ja alles sehr nett, aber über zwecklose Kindereien bin ich hinaus!«

Markus schrieb voller Empörung sechs lange Seiten. »Wieso zwecklos? Warum heiratest du Claire nicht?« Darauf schickte Kurt nur eine Postkarte, auf der mit roter Tinte in großen Buchstaben das eine Wort »Idiot« stand.

Als Markus darauf das erstemal bei Enzlehns war und Claire mit allerhand Fragen in ihn drang, erinnerte er sich irgendeiner Phrase aus irgendeinem Stück und sagte pathetisch:

»Vergessen Sie ihn, er ist Ihrer nicht wert!«

Er war überzeugt, die feinste und vorsichtigste Form gewählt zu haben, und stand ganz ratlos da, als Claire laut schluchzend in eine Sofaecke fiel.

Dann sprang sie auf und verlangte, Markus solle ihr sagen, woher er wisse, daß Kurt ihrer nicht wert sei. Markus war so verschüchtert, daß er ohne weiteres gestand, Kurt gefragt zu haben, warum er Claire denn nicht heiraten wolle.

»Darauf habe ich dann folgende Antwort bekommen,« und er zeigte das höhnische, rotgrinsende Wort »Idiot« auf der Postkarte.

Claire zerriß die Postkarte, fiel wieder in die Sofaecke und erhob sich schwankend, um dem verblüfften Markus ins Gesicht zu schleudern:

»Sie sind wirklich ein Idiot! Wie können Sie eine so grobe, taktlose Frage stellen? Ich habe Sie behandelt wie einen Erwachsenen! Sie sind aber wirklich nur ein kleiner Junge, der die Nase in seine Bücher stecken sollte und nicht in so heikle Angelegenheiten!«

Sprach's und schlug heftig die Tür hinter sich zu.

Markus blieb in tödlichster Beschämung zurück, während Karli leise vor sich hin meckerte.

»Ich dachte, wenn man liebt, heiratet man«, sagte Markus ehrlich.

Enzlehn schüttelte bekümmert den Kopf.

»Komisch, Markus. Du bist immer noch wie ein Kind. Nu sage doch bloß, wie oft man heiraten müßte, wenn man jedesmal heiraten sollte, wenn man liebt!«

»Ja, wozu liebt man denn dann?«

Karli zuckte die Achseln.

»Um sich das Leben aufzuputzen, um nicht zu verkommen vor Langeweile und Stumpfsinn... Gott, Markus, tu doch nicht so dumm!«

»Aber wirklich, Karli...«

Enzlehn nahm den Freund beim Knopf seiner Weste und zog ihn zu sich heran.

»Was glaubst du, warum liebt deine Frau Doktor den Direx? He – was? was meinst du?«

»Tante Irene den – den Direx?«

Markus blinzelte verständnislos vor sich hin.

»Quatsch, Karli!«

Enzlehn zuckte die Achseln.

»Die ganze Schule spricht davon, nur du weißt natürlich nichts!«

Markus ballte energisch die Hand, und rief zornig:

»So eine Gemeinheit!! Du, Karli, nimm dich in acht und lüge nicht!!«

Und ohne ein Wort der Entgegnung abzuwarten, lief er ins Entree, warf den Mantel um, stülpte die Mütze auf und rannte nach Hause.

»Schon zurück, Herr Markus?« fragte das Mädchen erstaunt.

Er aber stieß sie beiseite und stürmte in den kleinen Salon.

Um den Whisttisch herum saßen in friedlicher Eintracht Dr. Labisch, seine Frau und Dr. Ramin. Frau Hofprediger, die augenblicklich kiebitzte, blickte über Irenes Schulter in die Karten.

»Treff ist Atout,« sagte Dr. Labisch, indem er eine Karte umschlug. – »Na nu, mein Junge, schon zu Hause? Wenn der Herr Direktor es erlaubt, kannst du dich zu uns setzen. Aber Mund halten! – Du spielst aus, Irene.«

Irene warf eine Karte auf den Spieltisch und machte Markus ein Zeichen, sich an ihre andere Seite zu setzen.

Frau Hofprediger nickte ihm liebenswürdig zu und legte den Finger an die Lippen.

Es war ein feines, elegantes Spielen; die Karten flogen in leichten Bogen über das grüne Tuch. Man hörte nur das Knipsen der einzelnen Stiche auf dem Tisch, ein leises knistern, wie von einem stramm gesattelten Pferde, wenn Dr. Ramin sich bewegte, und das diskrete Rascheln von Irenes seidenem Kleid, wenn sie aus dem Stuhl rückte.

Markus sah Tante Irene zum ersten Male an – wie er ein junges Mädchen seiner Bekanntschaft ansehen würde. Sie kam ihm sehr hübsch vor, fast so hübsch, wie Mami ihm in der Erinnerung vorschwebte, wenn sie sich früher zu ihren Ausfahrten ins Konzert rüstete. Er hatte Mami immer so gerne hübsch gesehen. Und auch jetzt machte es ihm Vergnügen, das zarte weiße Gesichtchen mit den großen dunklen Augen und dem flammenden Rothaar zu betrachten.

Diese Freude mußten die anderen doch auch haben...

Es fiel ihm zum ersten Male auf, wie dick und unbeholfen Dr. Labisch neben seiner Frau aussah, und wie scharf und bedeutend sich Dr. Ramins Kopf über den etwas hohen, hageren Schultern erhob, wenn Frau Dr. Ladisch den Direx liebte, dann...

»Bist du hungrig?« fragte Irene, indem sie die Karten mischte, »Wir essen gleich. Herr Direktor erlaubt gewiß, daß du mit uns zu Abend speist. Einmal ist keinmal.«

»Und Markus verdient eine Extrabelohnung für seinen letzten Aufsatz!«

Markus sprang auf, ganz rot und verwirrt. »Ja, wirklich, Herr Direktor?«

»Jawohl, sehr brav, Markus, sehr brav. Immer weiter so. Wenn's nur mit der Mathematik auch so ginge, aber da hapert's. Will sie denn gar nicht rein in den Schädel, hm?«

Dr. Labisch klopfte sich mit der flachen Hand auf den Magen: »Immer dieselbe Sache! Literatur, Geschichte, Sprachen Nr. l, Geographie, Mathematik und Physik schwach!«

Bald darauf ging man zu Tisch.

Markus beobachtete, daß Frau Dr. Labisch auffallend rasch hintereinander einige Glas Wein hinuntertrank, worauf sich ihre bleichen Wangen röteten und ihre Augen lebhafter und mutvoller glänzten.

Nach Tisch zeigte Dr. Labisch der Frau Hofprediger ein neues illustriertes Werk, das der Buchhändler ihm zugeschickt hatte. Irene stand mit Dr. Ramin im Erker ihres künstlerisch eingerichteten Salons, in dem sich noch der offene Whisttisch befand, mit den halb abgebrannten Kerzen in den schönen getriebenen Leuchtern, und sprach leidenschaftlich auf ihn ein.

Markus konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur die eigentümlich vorgebeugte Halslinie und die roten Haare, die im Schein der Gaskrone Funken sprühten. Aber er sah das scharfgeschnittene Gesicht des Dr. Ramin, sah, wie seine schmalen geradlinigen Augenbrauen zuckten und sich sein vorgeschobener breiter Unterkiefer fest gegen die Oberlippe preßte. Dann sah er, wie Dr. Ramin ihre Hand nahm, ihr beruhigend ernst zusprach und ihre Fingerspitzen an seine Lippen führte. Darauf zündete Dr. Ramin sich eine Zigarette an und ging ins Nebenzimmer zu den anderen, während Frau Dr. Labisch sich langsam umwendete und ihren Kopf ans Fensterkreuz zurücklehnte.

Sie war bleich, und tiefe Schatten lagen um ihre Augen.

Markus kam zaghaft auf sie zu.

»Ist dir nicht gut, Tante Irene?«

Sie zuckte zusammen und faßte ihn heftig am Arm

»Was ist... was willst du?«

Wie in einer Vision sah er die nächtliche Szene im alten Bremer Hause vor sich: wie er vor Angst in Mamis Zimmer hatte stürzen wollen, und sie ihn voll Zorn am Arm zurückgehalten hatte: »Was ist los? Was willst du?«

Denselben Ausdruck hatte jetzt Frau Dr. Labisch. Er wendete den Kopf schnell beiseite, als fürchtete er, jetzt auch eine Ohrfeige zu bekommen. Aber Irene fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte nur:

»Ja... Markus, es ist sehr heiß hier... wir wollen das Fenster öffnen...«

Er zog die Vorhänge auseinander und öffnete weit die breiten Fensterflügel. Die kalte Nachtluft schlug ihnen ins Gesicht. Vom Kurfürstendamm her schrillte eine Fahrradklingel herüber, und langsam rollte ein Taxameter über den Asphalt.

Markus wollte etwas fragen, aber ihm fielen Claires Worte ein: »Wie können Sie eine so grobe, so taktlose Frage stellen?« Und er schwieg.

»So,« sagte Irene, »es ist schon besser jetzt.«

Sie lockerte mit der Hand ihr krauses Stirnhaar und lächelte Markus mühsam zu.

»Du mußt ins Bett, Markus. Es ist spät!«

Es wurde ihm schwer, sie so in der Verwirrung seiner Gedanken und im Aufruhr seiner Gefühle zu verlassen, aber die Lektion, die ihm Claire gegeben hatte, lehrte ihn schweigen.

»Gute Nacht, liebe Tante Irene«, sagte er und drückte ihre Hand so stark, daß ihm war, als müßte sie ihn verstehen, auch ohne alle Fragen.

Aber sie sagte nur:

»Junge, du tust mir weh«, fuhr ihm gedankenlos liebkosend über das Haar, wie es ihre Gewohnheit war, und ging langsam aus dem Zimmer.

»So ist es also, wenn man liebt«, dachte Markus, als er schon im Bett lag. Und es beschlich ihn eine ganz unklare, aber sehr peinliche Empfindung. – –

Im Laufe des folgenden Winters wurde Dr. Labisch für seine Verdienste durch Verleihung eines Ordens ausgezeichnet. Frau Hofprediger hatte alle ihre früheren und bei Irene neugewonnenen Beziehungen ins Treffen geführt, um dem »guten Doktor« zu einer Freude zu verhelfen, die um so echter war, als Dr. Labisch die Verleihung des Ordens wirklich nur seinen Verdiensten zuschrieb.

Der Orden leimte alles wieder etwas zusammen; man trank wieder ein paar gute Flaschen Wein und Sekt bei Labischs, und Gröhlke klopfte seiner Tochter auf die Schulter und rief schmunzelnd:

»Na, Ireneken, wat sagste nu? Haben wir dir nich 'nen guten Mann gegeben?«

Dr. Labisch freute sich eigentlich, daß alles um ihn herum so bon lebte. Für sich selbst war er recht anspruchslos: fünf Zehnpfennigzigarren täglich und etwa sechs Liter Bier. Was darüber hinausging, nahm er gern mit, aber ohne daß es ihm zum Bedürfnis wurde. Er war eben, wie Frau Gröhlke immer wieder ihrem Manne gegenüber betonte, »ein reeller Mensch«.

Markus freute sich jedesmal auf den Sommer, weil er ihm Dr. Ramin, der in den Ferien immer mit Labischs zusammen war, näher brachte. Es traf ihn daher wie eine große Enttäuschung, als Dr. Labisch eines Tages bei Tisch sagte:

»Weißt du schon, Irene, daß Ramins diesen Sommer nach Norwegen wollen?«

»Wohin?«

Irene sah ihren Mann wie entgeistert an:

»Wohin?« wiederholte sie.

»Es steht ja noch nicht ganz fest, aber heute nach der Konferenz sprachen wir von unseren Sommerplänen, und da sagte er, der Arzt hätte seiner Mutter eine Seereise angeraten; er würde mit ihr vielleicht nach Norwegen fahren, Wär´ schade, was?«

Irene war sehr blaß und starrte unausgesetzt auf ihren Teller. Dabei spielte sie mit ihrem Serviettenring, indem sie seine Ränder tief in das Tischtuch einbohrte.

Markus wunderte sich, daß Dr. Labisch so gar nichts Besonderes an seiner Frau bemerkte und ruhig mit vollen Backen weiterkaute.

»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte Irene und stand früher von Tisch auf als sonst.

Sie schwankte beinahe aus dem Zimmer; aber auch das bemerkte Dr. Labisch nicht und rief ihr nur nach:

»Ja, ja, Irene... leg' dich nur ein bißchen hin!«

Markus seufzte schwer auf, wie immer, wenn er sich Gefühlsproblemen gegenüber sah, die er für unlösbar hielt.

Die Frage der Sommerreise wurde, je mehr der Frühling heranrückte, desto lebhafter erörtert. Irene sträubte sich immer heftiger gegen Pyrmont und die Ostsee. Sie behauptete, ganz gesund zu sein, und erklärte, ebenfalls mit nach Norwegen fahren zu wollen.

Markus fing einen Blick auf, den Dr. Ramin mit seiner Mutter dabei wechselte, und dann sagte Dr. Ramin ziemlich schroff:

»Ich will diesen Sommer nur meiner Arbeit leben, gnädige Frau...«

Nach diesem Abend ließen Ramins sich wochenlang nicht mehr sehen.

In der Schule war der Direktor immer besonders freundlich zu Markus, obwohl der jetzt oft müde war und nicht zu den besten Schülern zählte. Er war gerade im ärgsten Wachstum, schoß wie eine lange Gerte in die Höhe und hielt sich leicht vornüber gebeugt.

In der Klasse war er nicht sonderlich beliebt. Er war den Jungens zu höflich und zu gut gekleidet. Er hatte immer saubere Hände und gut gepflegte Nägel – etwas ganz Unerhörtes in diesem Alter. Er mochte die wilden Raufereien nicht und hielt sich von Komplotten fern. Ihm fehlte das Zusammengehörigkeitsgefühl mit seiner Klasse. Die Freundschaft mit Kurt und Karli von Enzlehn hatte ihn um einen großen und bedeutsamen Teil seiner Kindheit gebracht, und der ästhetische Einfluß der schönen Frau Dr. Labisch gab ihm einen weltmännischen Schliff.

Seine noch ganz kindliche Naivität stach oft seltsam ab gegen seine äußerlich ruhige und sichere Art. »Musterknabe« war der gelindeste Spottname, mit dem ihn die Klasse bedachte.

Die fast nur für ihn wahrnehmbare Tragödie, die sich im Hause Labisch abspielte, interessierte ihn mehr als die wichtigsten Schulfragen, und die »Mädelgeschichten«, die sich die Kameraden mit heimlichem Lachen ins Ohr flüsterten, erschienen ihm läppisch gegen das, was sich vor seinen Augen ereignete.

Er hatte mit fünfzehn Jahren eine hohe und tragische Auffassung von der Liebe. Lieben hieß für ihn – unglücklich sein – leiden. Und durch dieses Leiden wurde man in seinen Augen zu etwas ganz Besonderem, Auserwähltem.

Es dauerte lange, ehe er sich in seinem Verhältnis zu Kurt zurechtfand, der die Liebe mit so wenigen und trivialen Worten abtun konnte.

Kurt war seit einem Jahr Bonner Student. Er schickte ihm meist Bierkarten, auf denen neben dem seinen noch ein halbes Dutzend anderer unleserlicher Namen stand. Nur Frau Dr. Labisch bekam ab und zu kurze Briefe, die sie Markus vorlas. Aber Kurt war sparsam in diesen Briefen mit Nachrichten über sich. Meistens waren es Fragen: Was in Berlin jetzt los wäre? Ob die kleine Mama sich noch immer gleich frisiere? Ob die kleine Enzlehn schon so weit wäre – er könnte sie dem Direktor des Bonner Stadtheaters empfehlen. Die Naive wäre dem gerade durchgebrannt mit einem reichen Engländer. »Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo der Frosch ins Wasser springt,« schrieb er in seiner burschikosen Art. »Markus kann seine diplomatischen Talente leuchten lassen und die Claire postwendend eingeschrieben herschicken. Gage 100 Em. (Die Vorgängerin hatte achtzig; da seht Ihr, was Protektion macht!) Für Erfolg sorge ich schon.«

»Ich will sie fragen,« sagte Markus, »aber ich glaube nicht, daß sie nach Bonn geht.«

»Warum denn nicht?«

Markus wurde sehr rot.

»Weil... ja... das kommt nämlich daher...«

Irene sah ihn sehr interessiert an.

»Nun?«

»Kurt und Claire haben... Kurt hat sich für...«

Irene lächelte.

»Ach so. Du meinst, die beiden waren verliebt ineinander?«

Das Wort in seiner Nacktheit berührte ihn peinlich, und er blickte an Irene vorbei in die Luft, während seine Ohren wie Feuer brannten.

Sie erhob sich und wendete ihm halb den Rücken zu.

»Mein lieber Markus, ich halte es für sehr möglich, daß sie sich dieser Kinderei gar nicht mehr erinnern.«

»Liebe ist doch keine Kinderei,« platzte er heraus.

Sie wendete ihm jetzt ihr Gesicht zu und stand vor ihm, groß und schlank, mit den eingefallenen bleichen Wangen und den tiefumschatteten Augen.

»Ja, ist denn das Liebe, Markus? Das ist Gefallen, Verliebtsein, Spiel. Liebe ist etwas Furchtbares, Markus! Liebe ist der Tod, wenn es nicht das einzige, das höchste Glück ist!«

Sie starrte durch das Fenster auf die Straße hinaus, wo die Bäume ihre zarten Frühlingsknospen ansetzten und sich im Abendwinde leicht hin und her wiegten.

»Liebe Tante Irene,« kam es leise von seinen Lippen. Er faßte mit zitternder Hand nach ihren schlanken, kalten Fingern und zog sie näher an sich heran. Aber da er keine Worte fand, lehnte er seinen blonden Kopf an die Falten ihres schönen weichen Sammetkleides. Der starke süße Duft, der ihren Sachen anhaftete, legte sich einschläfernd um seine Sinne. Sein Herz pochte fast hörbar. Er preßte einen scheuen Kuß auf ihren Ärmel.

»Liebe Tante Irene...«

Sie blickte immer noch geradeaus, beinahe ausdruckslos, ohne den Knaben zu beachten, der vor ihr auf dem niederen Schemel saß und sein Antlitz an ihr Gewand schmiegte.

»Ich möchte, du wärest froh und lustig wie früher, Tante Irene,« sagte er leise.

Ihre Finger spielten mit seinen Haaren, und sie wiederholte:

»Froh und lustig! Ach, Markus – ich bin eine alte Frau. Es ist vorbei!«

In kindlichem Ungestüm legte er den Arm um ihre schlanke Hüfte:

»Was fällt dir ein. Tante Irene – du alt? – Du bist so schön! Schöner als alle anderen. Wirklich!«

Er preßte sie an sich, wie er als kleiner Junge Mami an sich gepreßt hatte.

Sie erschrak vor der Kraft seiner Arme und lachte gezwungen.

»Aber Markus, bist du toll? Du bist doch kein kleines Kind!«

Er sprang auf und wurde plötzlich verlegen. Er hatte sich gewiß wieder recht tölpelhaft und ungeschickt benommen! Er fand nicht den Mut, Irene anzusehen.

»Ich gehe zu Enzlehns,« sagte er endlich.

Irene nickte.

»Wenn du willst, kannst du Karli mitbringen zum Abendbrot. Onkel ist nicht zu Hause.«

Es war jetzt fast dunkel im Zimmer. Markus konnte nur Irenes Silhouette am Fenster erkennen. Das war ihm eine Wohltat. Eine Wohltat auch, daß er ihr nicht allein beim Abendbrot gegenüber zu sitzen brauchte.

»Guten Abend, Tante Irene. Um neun sind wir da.«

Er küßte ihr, wie er es immer tat, die Hand und richtete sich auf.

Sie legte ihm ihre Fingerspitzen auf den Arm und lächelte:

»Du bist größer als ich, und ich glaube, sogar größer als Kurt.«

Er fand ein befreiendes Lachen:

»Ach, Tante Irene, das ist nur äußerlich. Innerlich bin ich noch oft ein ganz kleiner Junge... Na, du hast es ja eben gemerkt.«

Und er lief, was er konnte, hinaus.

Von der Straße aus blickte er noch einmal hinauf.

Irene hatte den Spitzenvorhang zurückgeschoben und die Stirn an die Scheibe gedrückt.

Er schwenkte die Mütze und sprang auf die vorbeifahrende Elektrische.

Frau Dr. Labisch behielt recht – Claire sagte nicht nein. Sie fand es riesig nett von Kurt, daß er an sie gedacht hatte, und versprach, Karli so bald wie möglich nachzuziehen.

Frau von Enzlehn geriet in große Aufregung. Nun hielt also der Theaterteufel doch Einzug bei ihnen! Ihr starres Gesicht war hochrot.

»Verrückt!« murmelte Frau von Enzlehn. »Aber das bitte ich mir aus: unter dem Namen Enzlehn wird nicht gespielt! Euer seliger Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das wüßte!«

Claire nahm einen Stuhl und walzte mit ihm trällernd durch die Stube: »Nein, nein, bewahre!«

Dann lief sie in das Schlafzimmer, das sie mit der Schwester teilte, und gleich darauf hörte man sie Schranktüren und Schubladen aufreißen, bis sie endlich wieder mit einem ganzen Haufen Kleider und Blusen hereinstürmte.

»Du, Annie, sieh mal nach, ob alles niet- und nagelfest ist. Der ganze Plunder ist ja die reine Affenschande für eine erste Liebhaberin!«

Claire fegte wie ein Irrwisch in der Wohnung umher. Karli mußte ihr ihre Bücher zusammensuchen, und dann rief sie Markus in den Korridor, damit er ihr helfe, ein halbes Dutzend brauner Kartons von den Schränken zu heben.

»Billig, billig, lieber Markus! Alles in Kartons packen. Es kommt schon noch mal anders!«

Ihr zierliches schlankes Figürchen dehnte und reckte sich auf dem umgeklappten Küchenstuhl, und ihre Zähne blitzten wie Reiskörner zwischen den halbgeöffneten vollen, dunkelroten Lippen.

»Halten, Markus!... Hopp – ein Karton, hopp – der zweite, hopp – der dritte – halten Sie fest!«

Sie sprang behende vom Tritt und lachte übers ganze Gesicht.

»Kommen Sie nur ruhig in mein Zimmer, Markus; mich geniert's nicht.«

Er trug ihr die Kartons nach in das mäßig große, viereckige Zimmer, das bei den »Lämmerhüpfen«, mit denen Frau von Enzlehn früher ihren gesellschaftlichen Tribut abzahlte, als Garderobe diente. Markus kannte nur sein offizielles Gesicht mit dem Berg aufgestapelter Mäntel, Mützen und Tücher auf den einander gegenüberstehenden Betten.

»Links die jungen Herren, rechts die jungen Damen,« sagte dann immer das Dienstmädchen.

Links schlief Claire, und Markus lagerte ganz instinktiv die Kartons auf ihrem Bett ab.

Auf der Kommode brannte eine Lampe, die nur spärliches Licht gab.

»Das nennt sich nun Beleuchtung,« rief Claire mit komischer Verzweiflung und fiel händeringend auf ihr Bett.

»Ach, Markus, Sie ahnen ja nicht, was das heißt: ein Gasautomat! Von zehn Pfennig zu zehn Pfennig wird der Verbrauch kontrolliert. Nur, wenn wir auf einen Ball gehen, dürfen wir in unserm Zimmer Gas brennen!«

»Ach?« sagte Markus.

»Ja ... Sie haben eine Ahnung! Und darum lieber alles ... alles – nur hier heraus!«

Claire sah plötzlich ernst, nachdenklich vor sich hin.

Markus, mit seiner Vorliebe für das Besondere, Komplizierte, war wieder mitten drin in einer Tragödie.

»Arme Claire,« sagte er leise. »Es wird Ihnen wohl sehr schwer, ihn wiederzusehen?«

»Wen?«

Claire blickte voll ehrlicher Verständnislosigkeit zu ihm auf.

»Ich meine ... Kurt.«

»Ach so. Kurt!«

Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie sprang trällernd auf.

»Aber wieso denn, Markus, schwer? Im Gegenteil. Denken Sie sich ...«

Sie brach ab und hielt sich, von Lachen geschüttelt, an der Kommode. »Denken Sie sich, wenn er sich jetzt in mich verliebte! Aber so ernstlich, wissen Sie, und ich bekomme Blumen von allen Seiten und lasse mir die Hand küssen, und ihn sehe ich nicht? Das wird 'ne feine Sache, sage ich Ihnen!«

Sie sah ihm mit ihren glänzenden dunklen Augen mitten ins Gesicht und lachte. Markus suchte verlegen ihrem Blick auszuweichen.

»Glauben Sie, Markus, daß sich einer weigern würde, mit mir zu tanzen?« fragte sie und näherte ihr warmes, gerötetes Gesichtchen in bedenklicher Weise dem seinen.

Da er mit dem Rücken gegen die Kommode stand, konnte er nicht ausweichen, sondern hielt nur seinen Kopf ganz steif und starr und reckte sich hoch auf, so daß ihr Haar ihn kaum am Halse kitzelte.

»Sehen Sie, Markus, eigentlich verdienen Sie, daß ich Ihnen einen Kuß gebe...«

»Nein, nein,« wehrte Markus ab, mit fast grotesker Lebhaftigkeit, während eine tiefrote Welle ihm in die Wangen stieg.

»Doch! Sie verdienen es!« wiederholte Claire eigensinnig und übermütig. »Es ist ja auch gar nichts dabei. Ich fürchte mich nicht – ich nicht!«

Ehe er sich's versah, hatte sie mit ihren beiden kleinen Händen seinen Kopf ergriffen, ihn zu sich herabgebeugt und ihre Lippen warm und fest auf seinen Mund gedrückt.

Markus schoß das Blut diesmal so stark zu Kopf, daß ihm Tränen in die Augen traten.

Er hätte in die Erde sinken mögen vor Scham.

»Pfui, Claire, was machen Sie?«

»Sind Sie verrückt, so zu schreien??!«

Sie preßte ihre Hand gegen seinen Mund, um ihn am Weitersprechen zu verhindern. Ärger und Lachlust stritten um die Oberherrschaft in ihr. Der Ärger siegte.

»Sie sind wirklich ein dummer Junge, Markus, wenn jetzt Mama hereinkäme? Großes Unglück, wenn ich Ihnen einen kleinen Kuß gebe!! Das kommt beim Pfänderspielen allemal vor und auf der Bühne jeden Tag. Wenn da gleich jeder ›Pfui!‹ schreien wollte!!«

Sie wendete sich ab und begann eifrig, die Schnüre von den Kartons zu lösen. Markus holte mit zitternder Hand sein Taschentuch hervor und fuhr sich über das glühende Gesicht.

Schon wieder hatte er sich erbärmlich und albern benommen. Das war wohl sein Schicksal. Das Weinen war ihm nahe. Nur die Angst, sich noch lächerlicher zu machen, half ihm, sich zu beherrschen.

Zugleich mit der Überwindung des ersten Schrecks stieg in ihm ein zweites Empfinden von etwas unglaublich Süßem und Weichem auf, ein leises Prickeln, das sich, wie beim Sektgenuß, wohlig durch seine Adern zog. Er schloß die Augen und dachte: »Wenn sie jetzt noch einmal, dann ...«

Aber sie dachte nicht mehr daran. Sie war eifrig mit dem Packen ihrer Kartons beschäftigt. Und dann kam auch gleich Karli mit den Büchern, Annie mit den ordentlich zusammengelegten Kleidern, Frau von Enzlehn mit einer zweiten Lampe.

Das Zimmer füllte sich mit Licht, Menschen und lauten Worten.

»Wir wollen gehen, Karli. Tante Irene erwartet uns zum Abendbrot.«

»Ja, das ist schön! Da werden wir auch schneller mit dem Packen fertig,« meinte Claire. – »Und Sie kommen doch auf die Bahn, Markus?« fragte sie und lachte ihn wieder schelmisch an.

»Ja, ja ... ich komme,« sagte er leise und undeutlich und berührte ihre Hand kaum mit den Fingerspitzen.

Draußen atmete er wieder freier auf.

Enzlehn ging schweigend an seiner Seite.

»Wir wollen doch zu Fuß gehen,« sagte Markus.

Es wäre ihm unmöglich gewesen, in der vollgepfropften Elektrischen zu sitzen, die sich um diese Zeit langsam von der Kurfürstenstraße bis zum Kurfürstendamm schlängelte. – –

Zu den Osterferien reiste Markus nach Hause.

Er hatte um die Erlaubnis gebeten, seinen Freund Enzlehn mitzubringen, und Mami hatte geschrieben: »Wenn ihr mit einem Zimmer vorlieb nehmen wollt – dann herzlich willkommen!«

Vier kleine Lukasse standen unten an der Steintreppe, als die beiden jungen Leute ankamen.

Sie waren von ganz anderer Art als Markus: stramm, wild, mit gesunden, roten Wangen.

Sie vollführten zur Begrüßung einen Höllenlärm.

»Ich bin der Erich,« stellte sich der älteste achtjährige Junge vor.

»Ich heiß' Heinrich,« sagte der zweite.

»Ich Hans!«

»Und ich Fritz Reimar Lukas,« piepste der dreijährige Jüngste.

Er schien von der Bedeutsamkeit seines Namens am meisten durchdrungen.

Sie krabbelten an Markus empor, und der kleine Fritz hängte sich, mit den Beinchen in der Luft baumelnd, an seinen Hals.

»Junge, laß mich los.«

Die Kinder brüllten und lachten wie besessen. Enzlehn hielt sich die Ohren zu. Er war ganz blaß und flüsterte:

»Das wird ja schrecklich werden.«

Von oben erschallte Mamis Stimme:

»Bande, kommt ihr 'rauf! Ich werd' euch!!«

Und gleich darauf fühlte Markus zwei weiche, volle Arme um seinen Hals und zwei herzhafte Küsse auf seinen Wangen.

Er mußte sich bücken und wunderte sich, daß Mami eine so kleine, kugelrunde Frau geworden war.

»Na, wie geht's, Markus? Endlich bist du wieder da! Aah – Herr von Enzlehn, der künftige Herr Pastor! Freut mich. Kinder, Respekt! oder ihr fliegt ins Loch! Eine halbe Stunde Dunkelarrest bei Wasser und Brot! Merkt's euch!«

Ohrenbetäubendes Lachen, Kreischen, Trampeln. Schließlich kam die alte Hedwig, mit glatt zurückgekämmten Silbersträhnen, und hob den strampelnden Fritz Reimar auf den Arm.

»Markuschen ... du lieber Gott!«

Eine wehe, zitternde Freude lag in ihrer Stimme, und sie drückte mit dem Ellbogen Markus' Arm fest an sich, während sie mit beiden Händen den jüngsten strampelnden Lukas hielt.

Und dann war's wie immer: die brennenden Kerzen, der große Napfkuchen, der duftende Kaffee im schönen Silbergerät, Mademoiselle Cardinal, das große Gesicht um das Doppelte gerundet zwischen den hohen Schultern. Nur der Tisch größer, mit eingelegter Platte, und zwischen den feinen Tassen große geblümte Schalen mit dampfender Milch.

Hedwig und eine Kinderfrau bedienten, während Mademoiselle Cardinal den Kaffee einschenkte und Mami in einem lichten, warmen Hauskleid den Napfkuchen zerteilte.

»Nun erzählt! Was machen Labischs? Und die gute Frau Gröhlke? Und Klumpchen?«

Es war, als hätte sie erst gestern Berlin verlassen, und doch waren acht Jahre vergangen seit ihrem Besuch. Die wenigen Ereignisse hafteten fest in ihrem Gedächtnis, und jede kleinste Einzelheit hatte darin ihr Plätzchen, wie jeder Gegenstand in ihrem wohlgeordneten Haushalt. Dazwischen warf sie seitwärts schielende Blicke auf den »Selbstmörder«, wie sie Enzlehn in Gedanken nannte.

Eigentlich gefiel er ihr nicht, obwohl er sich bescheiden benahm und den Kuchen mit feiner Manierlichkeit auf dem Teller zerkrümelte. Seine Augen waren ihr zu kalt und beobachtend, der Ton seiner Stimme zu hell und näselnd.

»Was macht denn Kurt? Seit den letzten drei Jahren war er kein einziges Mal mehr da. Nur ab und zu eine Postkarte.«

»Kurt – der ist ein großes Tier geworben. Protegiert junge Künstlerinnen in Bonn,« sagte Markus lachend.

»Des actrices! – Oh ciel!« rief Mademoiselle Cardinal.

Mama aber schob interessiert ihre Kaffeetasse fort.

»Ach, was du sagst!! Wie alt ist er denn?«

Enzlehn lächelte höflich, während sich Markus vor Lachen über Mademoiselle Cardinals entsetztes Gesicht verschluckte und puterrot wurde.

»Kurt wird jetzt bald einundzwanzig sein. Er ist ja schon im zweiten Semester. Übrigens übertreibt Markus wohl ein bißchen. Kurt hat meiner Schwester ein erstes Engagement verschafft, weil er den Direktor des Bonner Stadttheaters kennt.«

»Oh Marcus, quelle idée!«

Mademoiselle Cardinal schüttelte mißbilligend den großen Kopf.

Mami aber stützte ihre beiden Arme auf den Tisch, so daß die Ärmelspitzen tief herabfielen und die weiße Haut bis zum Ellenbogen sehen ließen:

»So? Ihr Fräulein Schwester geht zur Bühne? – Das ist ja sehr interessant!«

Mami lächelte beinahe verlegen und betrachtete Enzlehn nun mit offener naiver Neugierde. Aber da sich die Schritte des Hausherrn näherten, fügte sie hastig hinzu, wie ein kleines Mädchen, das nicht auf verbotenem ertappt werden will:

»Wir sprechen noch darüber später – nicht wahr?«

Und sie erhob sich, um dem Gatten entgegenzugehen. Mit einem Ruck erhoben sich auch alle anderen.

Die Kinder hatten gerade ihre Schalen ausgetrunken und stopften noch in wilder Verzweiflung den letzten Rest Napfkuchen in den Mund. Dann liefen sie wie die wilde Horde dem Vater entgegen.

Markus wunderte sich, wie frei und laut sie sich dabei benahmen.

»Zurück, Jungens!« donnerte Herr Lukas.

Und alles stand mucksmäuschenstill; nur der kleine Fritz hatte das linke Bein des Vaters umklammert und ließ es nicht los.

Der Kaufherr drückte Markus und Enzlehn die Hand und setzte sich vor seine goldene Tasse, die Mami ihm bis zum Rande vollschenkte.

Er war merklich älter geworden. Sein Haar schimmerte silbern an den eingesunkenen Schläfen. Aber es war noch immer dieselbe elegante, straffe Gestalt, und dieselbe Energie lag um die seinen, glattrasierten Lippen. Er trug jetzt eine goldgefaßte Brille, die ihm einen fremden Zug gab und die Querfalte auf der Stirn zu unterstreichen schien.

»Seid ihr fertig mit eurer Milch, Jungens, ja? Na, dann schiebt ab! Wie geht es Albert, Hedwig?« »Ist Albert krank?« schob Markus erschrocken ein.

»Ja, denke dir, Markus, der arme Albert liegt schon seit zwei Wochen. Es ist schrecklich!« sagte Mami.

»Der macht's nicht mehr lange,« murmelte Hedwig stumpf und tonlos, während sie Fritz trotz seines Protestes auf den Arm hob. »Du kommst dann wohl, Markuschen, er freut sich so!«

Markus sprang auf.

»Aber ja ... gleich!«

»Das hat Zeit, Markus. Jetzt bleib mal sitzen.«

Gegen diese kalte, ruhige Stimme des Vaters war nichts auszurichten. Markus fiel auf seinen Stuhl zurück.

Aber er sah und hörte kaum noch, was um ihn herum vorging. Ein ungeheures Angst- und Mitleidsgefühl erfüllte ihn. Während sich hier alle unterhielten, lachten, über gleichgültige Dinge schwatzten, starb ihm dort – einige Schritte entfernt – etwas unendlich Teures und Nahes fort.

Erst nach einer Stunde erhob sich der Hausherr, schob eine Zigarre zwischen die Lippen und schickte sich an, ins Kontor hinunterzugehen.

»Es wird nötig sein, Markus, daß wir diesmal etwas ernster über deine Zukunft sprechen. Es ist bald Zeit, du gewöhnst dich an den Gedanken, daß du deinen Wirkungskreis hier zu suchen hast, nicht wahr, mein Junge? Na ... laß dir keine grauen Haare wachsen. Morgen ist auch noch ein Tag. Mein Kompliment, Herr von Enzlehn – Sie sind hier zu Hause. Soll mich freuen, wenn's Ihnen gefällt.«

Er klopfte Mami leicht auf die Schulter, nickte Mademoiselle Cardinal kaum merklich zu und verließ das Zimmer.

»Wenn du jetzt zu Albert gehen willst, Markus ...« sagte Mami.

»Ja ... gleich ...« Markus stand noch ganz bleich am Tisch und fegte mit dem vierten Finger die Krümel zu einem Häuflein, während Mademoiselle Cardinal den Tisch abräumte und Enzlehn im Hintergrunde des Zimmers die Bibel von Doré aufschlug und sich heimlich wunderte, wie abgegriffen die Seiten waren.

»Was ist dir, Markus?«

Mami nahm seine Hand und blickte ihm freundlich ins Gesicht.

»Ist es dir denn so schrecklich, zu Hause zu sein, Markus?«

»Ich bin hier nicht zu Hause«, sagte er schroff und riß seine Hand aus der ihren.

Sie fand nur den einen alten, einfachen Ausruf:

»Ach, Markus, du bist dumm!«

Und es lag darin so viel von ihrer einstigen Kindlichkeit, daß er plötzlich lächeln mußte und seinen Arm um ihren Hals schlang.

»Gute Mami!« – – –

Markus hatte Alberte Stube noch nie betreten; denn Albert pflegte, wenn er tagsüber beschäftigt war, den Schlüssel abzuziehen. Es war wie ein Reich für sich in dem alten großen Patrizierhause, dessen kleinsten Winkel er zu kennen glaubte. Auch hatte es immer geheißen, Albert schliefe in einem Verschlag, und Markus hatte sich oft als Kind im stillen geärgert, daß der alte Albert in einem Raum schlief, den er sich wie einen »Hundeverschlag« vorstellte.

Mit einem Gemisch von Zagen und Ekel klopfte er leise an die Tür.

Hedwig war es, die ihm öffnete.

»Da ist er, unser Markuschen,« flüsterte sie.

Albert lag mit abgezehrtem, hohlwangigem Gesicht hoch in die weißen, sauberen Kissen gebettet. Als er Markus erblickte, fing er an zu weinen, so richtig, wie alte, schwache Leute weinen, mit plärrenden, schluchzenden Tönen.

»Markuschen ... Markuschen!«

Er suchte mit irrender, zitternder Hand sein Taschentuch, um sich Augen und Nase abzuwischen.

Hedwig faßte es mit sicherem Griff und fuhr ihm damit übers Gesicht.

»So, Markuschen, wenn du dich jetzt ein bißchen zu ihm setzen willst. Ich geh' unterdes zu den Kindern.«

Sie rückte den Stuhl, auf dem sie gesessen, noch näher zum Kopfende und verließ auf den Zehenspitzen das Zimmer.

Markus war ganz überrascht, ein so behagliches, kleines Zimmerchen zu finden. Es war eine schmale, einfensterige Kammer mit hell getünchten Wänden, die ganz bedeckt waren mit angenagelten und angesteckten Photographien, Illustrationen, Kalendern. Dazwischen hingen auch winzige Kinderschuhe: rote und braune, ein Paar Kinderhandschuhe. Auf der Kommode standen Bilder in Rahmen, wunderliche Tassen, lagen Pfeifenköpfe aus Weichselholz, eine silberne Uhr, blanke Rasiermesser. Im Spiegel steckten viele Postkarten. Sogar von weitem konnte er seine Schrift erkennen.

Eine Zuglampe mit grünem Halbschirm hüllte das blitzblanke Stübchen in ein freundliches, dämmeriges Licht.

Markus atmete froh auf.

»Mein guter, alter Albert!«

»O, Markuschen, endlich ... ich dachte schon, ich säh' dich nimmer wieder. Du bist ein großer, junger Herr geworden, Markuschen.«

Zaghaft streichelte der alte Diener die weiße, schlanke Hand. Das Sprechen wurde ihm schwer. Die Worte lösten sich in langen Abständen von seinen Lippen.

»Wie hübsch du es hier hast!« sagte Markus.

Albert nickte.

»Ja ... zu schön für einen alten Mann wie ich!«

»I wo, Albert. Nichts ist zu schön für dich. Was sind denn das für Schuhe an den Wänden?«

Albert lachte vor sich hin. Und auch das Lachen klang wie Weinen.

»Die roten sind von deinem Vater, wie er klein war ... die ersten Schuhe. Und die braunen sind deine, Markuschen. Willst du sie haben, Markuschen?« fragte er ängstlich.

»Nein, nein, Albert ... bewahre! Nur ansehen.«

Das Weinen war Markus nahe.

Er griff nach den roten kleinen Schuhen.

Es war doch zu seltsam, daß Vaters Füße einst in diesen winzigen, zierlichen, roten Schuhchen gesteckt hatten.

»Das ist schon so lange her ... so lange ... ich kann es gar nicht mehr zählen, wie viele Jahre.«

Markus hing die Schuhchen wieder sorgsam über den Nagel.

»Und die vielen Bilder, Albert, wer ist denn das?«

Er zeigte auf eine junge Frau in mächtiger Krinoline mit Brautschleier, Arm in Arm mit einem großen, stattlichen Herrn in Vatermördern.

»Das sind deine Großeltern, Markus. Und darunter der kleine Junge – das ist dein Vater.«

»Ach – – «

Markus hatte Albert ganz vergessen und vertiefte sich in den Anblick des Bildes: ein bildschöner Knabe mit tiefen, großen Augen und einem lieben Lächeln um den leicht geöffneten Mund.

»Das war Vater?«

Markus konnte das nicht begreifen.

Albert hob die zitternde Hand. »Jawohl, Markuschen. Und nebenan auch. Und dann als junger Bräutigam. Das war das letzte.«

Markus sah nun das zweite Bild an. Der Vater mochte da in seinem Alter gewesen sein. Sein Gesicht war gestreckt, die Lider müde herabgezogen, der Mund gequält. Nichts mehr von der süßen Frische des ersten Bildes.

»Ganz anders,« murmelte Markus.

Albert nickte, in Erinnerung versunken.

»Ja ... der Großvater war streng. Dein Vater mußte arbeiten ... der arme Junge, immer arbeiten! Und wenn er 'ne schlechte Zensur brachte, gab's Stockhiebe.«

Markus hörte mit entsetzt aufgerissenen Augen zu.

»Stockhiebe, Albert?«

Albert suchte wieder nach seinem Taschentuch. Markus reichte es ihm hastig.

»Das war so früher, Markuschen. Aber mir zerriß es das Herz und der Hedwig auch. Und einmal ...«

Der Alte atmete ein paarmal schwer auf, dann lachte er wieder greisenhaft vor sich hin  ...

»Da hab' ich den Rohrstock gestohlen ... ja, Markuschen ... Gott verzeih' mir die Sünde ... gestohlen hab' ich ihn, ja ... und in meiner Kammer versteckt hinter dem Vorhang. Er steht noch da.«

Markus blickte mit weit aufgerissenen Augen in die Ecke, wo an einem langen Riegel ein geblümter Vorhang über den Kleidern Alberts hing.

»Und in seiner letzten Stund«, Markuschen ... da hat mir der alte Herr gedankt, jawohl ... gedankt mir, dem Diener. Totgeschlagen hätt' er ihn – hat er mir gesagt, wenn ich nicht – – «

Albert wurde unruhig. Eine heiße Fieberröte legte sich ihm auf Stirn und Wangen. Mit der Rücksichtslosigkeit der Jugend fragte Markus weiter:

»Wegen einer schlechten Zensur, Albert?«

Der alte Diener schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, Markuschen ... Aber eine Spielerin am Theater war's, so eine freche Person, weißt du ... die hat deinen Vater umgarnt, wo er doch noch ein Kind war. Und jeden Abend lief er ins Theater, so heimlich, und am Tage zu ihr, statt in die Schule. Das kam dann raus! Ach, Markuschen, was erlebt man nicht alles!«

Albert bewegte leise die Lippen, als murmele er noch etwas leise vor sich hin.

»War sie hübsch?« fragte Markus.

Der Alte kicherte.

»Willst du das Bild sehen? Ich hab's ihm versteckt damals. Im Album auf der dritten Seite. Mußt die Kommodenschublade herausziehen, Markuschen. Leise ... leise ... links ... Ja, ja... da ist's!«

Ein hübsches, lustiges Gesicht mit keckem Federhütchen auf extravagant frisiertem Köpfchen lachte Markus von dem vergilbten Karton entgegen.

»Die sieht ja Mami ähnlich!« rief Markus.

Der Alte blinzelte stumpfsinnig.

»Ja ... so ... ich kann nicht sehen ...«

Markus zog das Bild aus dem Album und wendete es um – da stand vielleicht eine Jahreszahl. Richtig. »Im März 1854. Meinem süßen kleinen Reimar.«

»Meinem süßen kleinen Reimar« – Wie seltsam das klang, wenn er sich des Vaters Gestalt vergegenwärtigte.

Aber der Vater war ihm auf einmal näher gerückt; und auch daß er Mami geheiratet hatte, konnte er plötzlich begreifen.

Behutsam legte er das Album zurück in die Kommodenschublade, die sorgfältig geordnet alle Schätze aus Alberts Leben enthielt.

Der Alte war eingeschlafen.

Stoßweise hob der kurze Atem das weiße Nachthemd, die greise, abgezehrte Hand hielt das Taschentuch umklammert. Ein friedliches Lächeln umspielte die welken, eingefallenen Lippen  ...

Leise verließ Markus die Kammer.


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