Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Markus sollte in Berlin in der Familie von Dr. Labisch untergebracht werden. Dr. Labisch war Oberlehrer am Joachimsthalschen Gymnasium und hatte einst die Ferienwochen im Lukasschen Hause in Bremen verbracht, um den jetzigen Chef der Firma zum Abiturium vorzubereiten. Seitdem hatten die jungen Leute von Zeit zu Zeit korrespondiert, hatten einander später die Vermählung- und Todesanzeigen zugeschickt und waren auf diese Weise immer in loser Verbindung geblieben.

Dr. Labisch war seit fünfzehn Jahren Ehemann. Er hatte kurz nach der Promotion ein elegantes, reiches Mädel bekommen, die Tochter eines bekannten Konditors der Friedrichstadt, die auf Titel ausging und sich schließlich mit dem einer »Frau Doktor« zufrieden gab. In den letzten Jahren war die blühende Bäckerstochter aber schmal und blaß geworden – noch bleicher vom Puder, den sie auflegte. Aber doch hübsch, hübscher sogar als früher, vergeistigter, nervöser. Das dritte Kind hatte sie ihre Gesundheit gekostet. Das erste war ein Junge gewesen. Das zweite ein Mädchen. Sie hatte es abgöttisch geliebt. Mit zehn Jahren war es gestorben. Das dritte war wieder ein Junge – ein kleiner Krüppel, taubstumm, gelähmt, mit einem wundervollen kleinen Kopf, auf dem wie zusammengewachsenen kleinen Körperchen.

Als sie zum erstenmal aufstand und sich im großen Stehspiegel sah, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Ihre Haare waren grau geworden. Ihre vollen, blühenden Lippen hatten sich zu zwei Strichen verdünnt, der blendend weiße Teint mit dem rosigen Inkarnat war plötzlich aschgrau.

Sie war immer eitel gewesen und blieb es auch jetzt. Sie färbte sich das Haar, puderte das Gesicht, gab Rot auf die Lippen und Schwarz unter die Augen. Nach einigen Wochen erholte sie sich auch einigermaßen. Sie wurde wieder hübsch. Freilich ganz anders. Nicht so hübsch, wie man das in Lehrerkreisen gern sah. Auf der Straße trug sie Pariser Schleier – dann sah sie geradezu verführerisch aus.

Man belästigte sie oft. Es schmeichelte ihr. Sie hielt krampfhaft die entfliehende Jugend fest und ließ sich von ihr ein bißchen im Staub schleifen.

Ihr Mann bemerkte das alles nicht. Die elegante Frau gefiel ihm, wie sie eben war. Manchmal sagte er ihr's: »Wunderhübsch siehst du heute aus.« Aber es kam ihm nie in den Sinn, ihren Toilettengeheimnissen nachzuforschen.

Der älteste Junge, Kurt, war ein kräftiger hübscher Bengel, schlau und energisch, der sich frühzeitig alle Vorteile seiner Stellung als Sohn eines Oberlehrers ausgeknobelt hatte.

Der Kleine – man nannte ihn Klumpchen – war der Obhut einer erfahrenen Wärterin aus einer Taubstummenanstalt anvertraut. Man hoffte, daß er mit der Zeit noch einigermaßen sprechen lernen würde. Später sollte er dann in eine orthopädische Anstalt kommen.

Die Mutter kümmerte sich um ihn, soweit es ihre Pflicht war, ohne innere Wärme, mit jenem leisen Gefühl instinktiven Widerwillens, das der Gesunde so oft gegen den Kranken hegt.

Den Ältesten betrachtete sie als ihren Kavalier. Mit vierzehn Jahren überragte er sie schon um eine halbe Handbreite. Da ging sie mit ihm spazieren und stützte sich auf seinen Arm. Manchmal nahm sie ihn mit ins Theater. In den Zwischenakten bot sie ihm Pralinés aus ihrer silbernen Dose an und erzählte ihm, was sie von den Darstellern wußte. Sie las viel Theaterklatsch und freute sich, daß sie darüber reden konnte.

Kurt war ein aufmerksamer Zuhörer. Manchmal wußte er mehr als sie selbst. Dann lachte sie und drohte ihm mit dem Finger.

Woher er das nun wieder hatte! ... Es gab wirklich keine Kinder mehr. Manchmal aber wurde ihr der große Junge doch unbequem. Er stellte Fragen, die sie verwirrten, und sprach zu objektiv über den Vater, dessen Harmlosigkeit er bisweilen, wenn die Mutter guter Laune war, bespöttelte. In der Schule nannten sie ihn den Gründungsparanoiker, erzählte er mal. Frau Dr. Labisch mußte erst im Lexikon das Wort »Paranoiker« nachschlagen, dann war's zum Verweis zu spät. Der Junge hatte auch manchmal so eine ganz infame Art zu lächeln, so richtig von oben, von der Höhe seiner Sekundanerweisheit herab. Er war der Jüngste in der Klasse und dabei Primus. Er wußte alles. Und alles besser.

Ihr war es darum ganz recht, daß der kleine Markus kommen sollte.

Trotz des großen Altersunterschiedes war es doch eine Ablenkung für Kurt. Jedenfalls hockte er ihr dann nicht immer auf dem Halse. Er arbeitete ja so fabelhaft leicht und hatte so unendlich viel freie Zeit.

Wenn man von der Überbürdung der Schuljugend sprach, zuckte sie mit den Achseln. Sie merkte wahrhaftig nichts davon.

Herr Lukas brachte seinen Sohn selbst nach Berlin. Dr. Labisch war mit seiner Frau am Bahnhof erschienen. Der Lukassche Nimbus erneute seine Wirkung – sie waren beide etwas bewegt. Man hatte das Gefühl, als empfinge man einen jungen Prinzen.

Natürlich mußte Herr Lukas gleich mit ihnen nach Hause fahren und bei ihnen speisen.

Am nächsten Vormittage machte der Kaufherr noch einen kurzen Besuch bei Labischs und reichte Markus zum Abschied die Hand:

»So, mein Junge, nun vergiß nicht, was ich dir zu Hause gesagt habe. Ich erwarte von dir, daß du gut lernst, daß du dich gut aufführst. Es soll dir auch an nichts fehlen.«

Markus fing jämmerlich zu heulen an. Erst in diesem Augenblick war ihm das Bewußtsein einer großen Wendung in seinem Leben gekommen.

Lukas beugte sich über ihn und küßte seine beiden Wangen.

»Ich werde Mama von dir grüßen.«

Markus antwortete nicht, und auch seine Tränen versiegten plötzlich. »Mama«, das war wieder was Neues, wieder was Fremdes...

Er schluchzte nur noch leise vor sich hin und begleitete den Vater hinaus ins Vorzimmer. Nun fand ein allgemeines Händeschütteln statt.

»Glückliche Reise!« »Auf Wiedersehen!« »Der kleine wird sich schon wohl fühlen.« »Empfehlung an Ihre Braut.« »Besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit!«

All die Sätze schwirrten um Markus herum, so laut, daß sein »Adieu, Papa!« lautlos verhallte.

Herr Lukas war schon auf der Treppe, da stürzte Markus ihm nach: »Papa ... die Mami laß ich grüßen und den Albert und die Hedwig! ...«

Der Kaufherr steckte sich gerade eine Zigarre an.

»Ja, ja, natürlich, aber geh jetzt nur hinein, es ist kalt... Adieu, mein Junge!« und er winkte ihm noch, ohne sich umzudrehen, mit der Hand.

So... na, die ganze umständliche Geschichte war nun geregelt. Mit ein paar Sätzen war Herr Lukas die Treppe hinunter, bestieg eine vorbeifahrende Droschke und gab dem Kutscher die Adresse eines Geschäftsfreundes an. Mit dem hatte er noch einiges zu besprechen. Vielleicht frühstückten sie dann auch zusammen irgendwo, tranken eine gute Flasche Wein und machten einen Abschluß. Ihm war nach dem konventionellen Salongelabere bei Labischs ein fader Geschmack auf der Zunge geblieben, als hätte er zu viel Süßes gegessen.

– – Markus gewöhnte sich rasch an die neuen Verhältnisse.

Äußerlich. Es wehte eine laue Luft im Hause Labisch. Und da gab es auch keine Kanten und finsteren Winkel. In der ersten Zeit gefiel es ihm – das Helle, Freundliche, das über den Räumen und den Menschen lag. Später aber kamen Augenblicke, da er sich nach dem Rappeln, Knistern und Ächzen, nach dem ganzen geheimnisvollen Spuk der alten Diele zurücksehnte, der sich in seiner Phantasie zu einer wundervollen Musik verwob, die ihm sein Vaterhaus lebendiger und inniger vorzauberte als Mamis ausführlichste Briefe. Dann weinte er still in die Kissen und schlief ein mit wehem, wundem Gefühl, das ihm tausendmal schlimmer dünkte als die jämmerliche Furcht, die er früher gehabt hatte.

Er hätte es damals noch nicht zu sagen gewußt, wie es kam, daß er sich an die neue Umgebung nur eben sehr bald gewöhnte, sie aber nie liebgewinnen konnte.

In der Schule war er ein kleiner Junge unter vielen anderen.

Auf der Straße staunte niemand seinen hübschen Mantel an. Im Hause sprachen die Dienstboten nur so viel mit ihm, wie gerade zu seiner persönlichen Bedienung nötig war.

Ihm fehlte nichts.

Er vermißte alles.

Sogar die Angst vor dem Vater.

Kurt benahm sich ganz nett. Ab und zu gab es einen Boxer, aber das war nicht schlimm. In der Schule hatte Markus sogar einen Beschützer an ihm. Und zu Hause sah Kurt manchmal seine Aufgaben durch – aus dem Bedürfnis heraus, zu belehren und zu befehlen, von irgendeiner Freundschaft konnte vorläufig natürlich nicht die Rede sein. Dazu war der Altersunterschied zu groß.

Die »Tante«, wie er Frau Dr. Labisch nannte, nahm Markus manchmal in die Stadt mit, wenn sie Besorgungen machte. Oft traf man Bekannte, »wer der kleine niedliche Junge sei?« Dann erzählte sie umständlich von dem »Patrizier« Lukas in Bremen. Ihr Mann wäre innig befreundet mit ihm und hätte den Knaben zur Erziehung zu sich genommen. – Das Wort »Patrizier« gefiel Markus ungemein. Er fragte Kurt, was es bedeute.

»Patrizier waren die vornehmsten Bürger des römischen Staates!«

»Danke«, sagte Markus, der immer sehr höflich war.

»Warum wolltest du das wissen?«

»Weil mein Vater Patrizier ist.«

»Quatsch!« entgegnete Kurt respektlos.

Markus wurde blaß.

»Wirklich, Kurt, Papa ist Patrizier. Aber frage nur, vielleicht ist dein Papa auch Patrizier oder vielleicht deine Mama!«

Kurt, dem die sonntäglichen Plünderungen in der großväterlichen Konditorei nur zu gut in Erinnerung waren, prustete laut heraus. Markus fühlte sich empfindlich verletzt.

»Es ist sehr schön, Patrizier zu sein«, sagte er eindringlich. »Man ist doch der erste, und alle haben Angst vor einem.«

»Meinst du?«

Kurt sprang auf, ballte die Hand und hob die Faust blitzschnell über den Kopf des Kleinen. Markus duckte sich zusammen.

»Was machst du?«

»Aha – siehste, davor hat man Angst!«

Und er hielt ihm die Faust unter die Nase.

Markus blinzelte den Großen verdutzt an und murmelte: »Das ist aber sehr häßlich.«

Doch er mußte lange darüber nachdenken. Und immer sah er eine große Faust, die sich über allem erhob, was ehrwürdig war und vornehm. Und vor dieser Faust duckte sich der Größte schreckhaft zusammen, wie er selbst es vorhin getan hatte.

Er betrachtete lange seine seinen, schlanken Hände und schüttelte hoffnungslos den Kopf. Er würde nie eine große Faust haben, nie... Er würde sich immer ducken müssen, immer...

Der kleine Patrizier fühlte sich wie ein abgesetzter König. Er war doch immerhin mit dem Bewußtsein, etwas Besonderes zu sein, hierhergekommen. Sohn von Lukas & Co. Und nun war das nichts?  ...

Die Nacht darauf konnte er nicht schlafen. Er wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und blinzelte hinüber nach Kurt, der einen Leuchter auf sein Bett gestellt hatte und ein broschiertes Buch mit hellem Umschlag davor hielt, in dem er eifrig las.

»Tovote« stand darauf, und darunter »Frühlingsstürme«.

Im Gang vor der Tür wurden Schritte laut. In einem Nu war die Kerze ausgelöscht, der gelbe Band verschwand unter dem Kopfkissen. Als die Schritte sich entfernten, zündete Kurt das Licht wieder an. Markus war nun ganz wach.

»Du ... Kurt...«

»Ja...«

Der Große blickte nicht auf von seinem Buch, und seine Stimme klang ungeduldig. Es war gerade jetzt kolossal spannend.

»Ja ... nun, was willst du?«

»Du – muß man sehr kräftig sein, damit die Leute vor einem Angst haben?«

»Ja, gewiß ist es gut, wenn man kräftig ist.«

»Aber wenn's nun gar nicht geht...«

»Turne fleißig – sei kein Schlappschwanz.«

»Aber wenn alles Turnen nichts nützt, ist es dann ganz unmöglich?«

»Was denn?«

»Daß man eine starke Faust hat?«

»Ach so!«

Der Große zwinkerte belustigt mit den Augen.

»Es braucht nicht bloß körperliche Kraft zu sein, wenn man nur irgendeine Macht hat... verstehst du... und sie dann so richtig gebraucht... so wie man die Faust gebraucht: Du parierst oder du kriegst eins.«

»Ach so – – «

Und Markus blickte starr in die Kerze, bis ihm die Lider schwer wurden und er einschlief.

Im November gaben Herr und Frau Dr. Labisch ihre erste Gesellschaft in der Saison.

»Gibt's bei euch auch Plumpudding zum Schluß?« fragte Markus, für den Plumpudding nach wie vor den Gipfel aller vornehmen Tafelfreuden bedeutete.

»Was ist denn das für ein Zeug? – Ach so! Nee! Eis gibt es. wir dürfen's nicht feiner haben als der Direx, verstehst du, Markus?«

»Das würde ihn kränken?«

»Fuchsen würd's ihn, und das könnte Papa schaden. O, Mama ist eine sehr kluge Frau – Papa weiß gar nicht, was er an ihr hat.«

Markus sperrte Mund und Augen auf. Diese unbefangene Respektlosigkeit verwirrte alle seine Begriffe.

»Na, überhaupt ein Vergnügen, diese Abende! Mama hat den Direktor an ihrer Seite – einen Mummelgreis, der jedes Jahr ein Büchlein über irgendein deutsches Wort schreibt. Mama findet's immer auf ihrem Teller, wie wenn's ein Veilchenstrauß wäre, und Papa reiht's in seine Bibliothek ein, mitten unter die ungebundenen Bücher. Aber vorher muß ich die Seiten aufschneiden, und Mama macht Bleistiftzeichen an der Seite, wenn der Alte kommt, sieht er jedesmal nach und schmunzelt. 's ist zum Heulen!«

Und Kurt hielt sich den Bauch vor Lachen.

Frau Dr. Labisch kam herein. Sie hatte einen fliederfarbenen Schlafrock an und sah ungemein leidend und lieblich aus.

»Was gibt's denn, Kurt?«

»Ich sprach vom Direktor, Mama... Du weißt doch...«

»Naseweiser Bengel!«

Sie gab ihm einen Nasenstüber, und er küßte im Fluge ihre schlanken Finger.

»Aber das bitte ich mir aus, Mama – Resteressen mit meinen Freunden, was?«

»Ja, ja... selbstverständlich. Und du, Markus, ladest du dir vielleicht auch einen oder zwei Freunde dazu ein, willst du?«

Sie neigte sich liebenswürdig zu dem Knaben herab und fuhr ihm leicht über das seidenweiche, glattgescheitelte Haar.

»Danke, Tante, aber ich habe noch keine Freunde, ich bin noch so fremd.«

»Schön. Also das nächste Mal. Aber Freunde mußt du dir anschaffen. Es ist nicht gut, wenn du allein bleibst, und Kurt ist zu alt für dich. Ich glaube, er tyrannisiert dich, was, Markus?«

»O nein... ich möchte keinen andern Freund haben.«

»Da hast du's, Mama! Hast ja gar keine Ahnung, was der Junge alles von mir lernt!«

»Kann mir's denken, du Schlingel!« Frau Dr. Labisch ging langsam stöbernd durch das Zimmer und griff mit sicherer Hand unter Kurt Kopfkissen.

»Was hast du denn da schon wieder?«

Sie schlug ein Buch auf.

»Schnitzler...«

Kurt stürzte auf sie zu und entriß ihr den Band.

»Laß das. Das ist nichts für dich!«

Er war sehr rot geworden und verbarg das Buch unter der Jacke, die er zuknöpfte.

Frau Dr. Labisch zog nervös die Brauen zusammen.

»Höre, Kurt, ich verlange, daß du mir das Buch gibst! Ich will nicht, daß du – solche Bücher liest!«

»Woher kennst du es denn?« fragte Kurt langsam und mit Betonung.

Sie wurde ihrerseits rot und antwortete hastig: »Ich kenne es nicht; ich weiß nur, es ist ein abscheuliches Buch, das ganz ungeeignet ist für dein Alter!«

Kurt lachte wieder.

»Wenn ich nur das lesen sollte, was für mein Alter geschrieben wird, da würdest du dich überhaupt nie mehr mit mir unterhalten. Na, siehst du – jetzt lachst du!«

Es war Frau Dr. Labisch unangenehm wegen Markus, daß ihr Sohn so zu ihr sprach.

»Du zwingst mich, es deinem Vater zu sagen«, rief sie ärgerlich.

»Tu es nur! Dann würde ich aber auch sagen, daß unsere ganze Klasse das Buch gelesen hat, und daß du selber zu dem Abend gegangen bist, an dem ein Schauspieler daraus vorgelesen hat. Der Neffe von dem Schauspieler hat dich im Saal gesehen, und daher haben wir uns kein Gewissen daraus gemacht, das Buch zu lesen. Hier ist es – bitte!«

Er warf einen abgerissenen Band auf den Tisch und wendete sich ab.

»Aus eurem Resteressen wird nichts«, erklärte Frau Dr. Labisch und rauschte aus dem Zimmer, ohne das Buch zu berühren.

Markus hatte sich während der ganzen Szene in einer Ecke des Zimmers verborgen gehalten.

»Aber Kurt,« sagte er leise, nachdem sie allein geblieben waren, »wie darfst du so mit deiner Mutter sprechen?«

Kurt wendete sich heftig zu ihm herum:

»Ach was, halt's Maul!«

Er stieß mit dem Fuß einen Stuhl ab, daß er in die Mitte des Zimmers flog.

»Glaubst du, ich hätte mir geholfen, wenn ich nur das getan hätte, was ich darf? Aber so habe ich mir geholfen, mir und der Klasse!«

»Wenn du deiner Mutter das Buch gegeben hättest, hätte sie deinem Papa auch nichts gesagt.«

»Nein, aber ich hätte es nicht ausgelesen. Und ich will's nun doch mal lesen! Und wenn man was will, dann kommt es gar nicht darauf an, ob man darf. Nur darauf, ob man kann! Und – ich kann, ich kann, und ich werde können!«

Markus blickte mit bewundernder Scheu auf seinen großen, starken Freund. Und das Resteressen gab's doch noch.

Kurts Kameraden beteten alle heimlich die schöne Frau Doktor an, und sie hatte einen entzückenden Ton schwesterlicher Koketterie zu all diesen etwas tolpatschigen und arroganten Bürschchen und sonnte sich gern in deren unbeholfener Verehrung.

Auch Kurts Benehmen der Mutter gegenüber war bei solchen Anlässen immer höchst ritterlich, während sie selbst den jungen Leuten die größte Freiheit gewährte und sogar leichte Zigaretten anbot.

Wenn sie sich dann nach aufgehobener Tafel in ihr Zimmer zurückzog, gab es jedesmal echt gemeintes Bedauern, und es dauerte eine Weile, ehe die vertrauliche und renommistische Stimmung einsetzte, die die Würze aller solcher Zusammenkünfte war.

Den Backfisch, das Schulmädel, dessen Weg man täglich zweimal kreuzen mußte, hatte man seit vorigem Jahr überwunden. Die meisten hatten sich bereits zur Verachtung des Weibes durchgerungen. Das Inferiore der Frau wurde an zahlreichen Beispielen nur der Ordnung wegen nochmals konstatiert und die Freundschaft als einzige Form gesteigerter Ergänzungssehnsucht erklärt.

Als dann gegen zehn Uhr nochmals die Türen zum Speisesaal auseinandergeschoben wurden, und Frau Dr. Labisch in ihrem weißen geschlossenen Spitzenkleid am festlich gedeckten Tisch präsidierend, die jungen Herren zu einem Glase Tee einlud, da waren alle weiberfeindlichen Theorien vergessen, und ein jeder versuchte als erster den Platz neben der reizenden Hausfrau zu erobern.

Sie sprach davon, einen Ball zu geben. Die jungen Herren hätten doch gewiß Schwestern... wenn man nur fünfzehn Paare zusammenbrächte... es könnte ein allerliebster Abend werden, nicht wahr?

Die jungen Herren erhoben ihre Teegläser und brachen in nicht endenwollende Hochrufe aus. Während bald darauf eine Liste der einzuladenden jungen Mädchen aufgestellt wurde, schlief Markus auf seinem Stuhl ein...

Vier Wochen später war Weihnachten.

Markus zählte die Tage bis zum Ferienanfang und malte sich die Heimkehr in tausend schimmernden Farben aus. Manchmal hoffte er, der Vater würde ihn allein reisen lassen, und er freute sich so sehr auf diese Möglichkeit, daß dagegen sogar seine Wiedersehensfreude mit Mami verblaßte.

Er nahm sich überhaupt vor, nicht mehr so kindisch zu sein. Er wollte Mami durch große Selbständigkeit imponieren, vielleicht sogar ihr nur die Hand zur Begrüßung reichen und ihr nicht an den Hals springen wie ein kleiner Junge. Auch wollte er die lateinische Grammatik gleich aufgeklappt auf seinen Tisch legen, damit sie sah, mit wie ernsten Dingen er sich jetzt beschäftigte. Das war was anderes als französische Vokabeln... Jawoll!  ...

Er berlinerte gern ein bißchen, wie er es von Kurt hörte, und erblickte darin den Gipfel aller Männlichen Energie. Schwieriger dünkten ihn die Beziehungen zu seinem Vater. Aber wenn er sich sehr erwachsen benahm, sehr höflich war und bei Tisch nicht übermäßig aß, dann würde er auch die Hochachtung vom Vater erringen.

Bis dahin wollte er Kurt so viel wie möglich abgucken.

Es war am 20. Dezember, als Frau Dr. Labisch ihn zu sich auf den Schoß zog und ihm sagte: »Nun aber tapfer, kleiner Mann; aus den Weihnachtsferien zu Hause wird's in dem Jahr nichts.«

Markus starrte sie an.

»Nicht nach Hause? Warum nicht nach Hause?«

»Es geht dies Jahr nicht. Dein Vater heiratet dieser Tage, und da gibt es so viel... da ist so viel... das ist eine so große Umwälzung, daß es besser ist, du kommst später. Aber du mußt nicht traurig sein darüber, wir putzen auch einen schönen großen Baum, und das Christkind vergißt dich hier ebensowenig wie zu Hause.«

Sie hätte noch stundenlang so fortreden können. Er hörte gar nicht mehr hin. Sein kleines Herz arbeitete in schnellen, heißen Schlägen, und seine Gedanken rasten ihm wie toll durch das Hirn.

Es waren alle viel zu sehr mit sich beschäftigt, um sich viel um ihn zu kümmern. Kurt bereitete eine Weihnachtsfeier in seiner Schule vor, Dr. Labisch war in die Jahresabrechnungen seiner unzähligen Vereine vertieft, und die hübsche Frau Doktor erschien immer erst abends, mit Paketen schwer beladen, abgespannt und nervös im Entree.

Die märchenhafte, wundervolle Weihnachtsstimmung setzte sich hier in betriebsame Geschäftigkeit um.

Auch, daß die weihnachtliche Schulfeier einen Tag vor der häuslichen stattfand, empörte Markus. Unklar, aber sehr stark empfand er, daß vom Elternhause der Zauber der Weihnacht ausgehen mußte, was sollte denn der elterliche Weihnachtsbaum noch sagen, wenn man tags zuvor in das flimmernde Kerzenlicht des Schulbaumes gestarrt hatte? Zweimal konnte sich nicht die gleiche Stimmung in gleicher Stärke einstellen.

Die Schule nahm der Feier alles Besondere, Geheimnisvolle, all den tiefen Reiz, den nur »der Weihnachtsbaum« des Elternhauses ausstrahlen konnte.

Und so stand Markus in diesem Jahre vor zwei Weihnachtsbäumen ohne jenes mit eigentümlichem Schauer gemischte Glücksgefühl, das ihn zu Hause gleichzeitig zum Lachen und Weinen gebracht und ihm auf Wochen hinaus das finstere Haus verklärt hatte.

Mit eher peinlichen als freudigen Empfindungen betrat er als erster den Salon, in dem die häusliche Bescherung stattfand.

Frau Dr. Labisch führte ihn an seinen Tisch. Es war der größte von all den weißgedeckten Tischchen, die mit Gaben überfüllt schienen. Markus war noch nie so reich beschenkt worden. Aber es kam keine rechte Freude in ihm auf, denn er stand allein vor seinem Platz.

Jeder hatte mit sich zu tun.

Auf der großen Marzipantorte, die den Namen »Markus« in Schokoladenguß trug, lag ein Brief. Markus öffnete ihn mit ungeschickt zitternden Fingern:

»Mein lieber Markus, wir wünschen Dir ein recht frohes und glückliches Weihnachtsfest und hoffen, daß du Freude haben wirst an allem, was wir Dir geschenkt haben. Deine Eltern.«

Das hatte der Vater geschrieben mit seiner großen, schönen Schrift, und darunter stand in Mamis feinen, etwas kindlichen Zügen:

»Mein geliebter Junge! Ich werde mich Weihnachten doch sehr nach Dir bangen; aber ich hoffe, wir kommen bald nach Berlin. Tausend Küsse! Deine Mama.«

Mama! ... Wie anders das klang... Und es war auch etwas anderes, ganz anderes...

»Potztausend, kleiner Mann, sind das Geschenke!«

Und der gute Gröhlke, Frau Dr. Labischs jovialer Vater, hob Markus in die Luft und setzte ihn sich auf die Schulter.

Klumpchen in einem weißgestickten Kleidchen saß in einem Rollstuhl und jauchzte dem Baum zu. Die Großmutter streichelte es unaufhörlich und suchte sein Interesse für einen Hampelmann zu wecken, den sie vor ihm auf und ab tanzen ließ. Aber der Baum siegte, und Frau Gröhlke sprach leise glücklich mit der Wärterin:

»Ich glaube, es wird besser mit det Kind.«

Zur Abendtafel gab es Karpfen in Bier und einen prachtvollen Truthahn – dazu Sekt.

Gröhlkes waren Feinschmecker und von jeher fürs Reelle gewesen. Frau Gröhlke bezog ihre Wäsche aus den ersten Geschäften und ließ Seide im Stück direkt aus Lyon kommen.

»Die Marjarine ins Essen und ins Leben is nischt für mich«, erklärte sie oft und verlachte heimlich ihrer Tochter die vielen billigen, hübschen Nippes, die sie auf die Möbel stellte, und die schicken Toiletten aus unsolidem Modestoff.

Beim Dessert hielt Dr. Labisch eine Rede. Das gehörte bei ihm zu einem Glase Sekt wie der Kognak zum schwarzen Kaffee.

Frau Gröhlke liebte die Reden ihres Schwiegersohnes, vornehmlich, wenn er aus dem Klassischen zitierte. Auch in diesen Reden lag etwas Reelles – die Bildung, die sie um so höher anschlug, als sie ihrer Tochter einen Titel eingebracht hatte.

»Jraf kann jeder sind; aber was 'n Doktor is, der muß et in sich haben.«

»Hör' doch zu!«

Sie gab ihrer Tochter, die gelangweilt Brotkügelchen drehte, einen heimlichen Schubs.

Kurt aber sah auf seine neue goldene Uhr, während der Großvater sich schnell noch das Glas nachfüllte und ergebungsvoll die Hände über dem Magen kreuzte. Dr. Labisch sprach sehr gut und glatt.

Endlich hob der Herr Dr. Labisch sein Glas, und alle atmeten befriedigt auf. Ein, zwei Stunden verbrachte man noch in Unterhaltung, dann gab's Kaffee und Likör, und Frau Gröhlke mahnte zum Aufbruch, da sie nicht die Elektrische verpassen wollte und Droschke oder gar Auto trotz ihrer Wohlhabenheit für unverantwortlichen Luxus hielt.

Frau Dr. Labisch seufzte erleichtert auf, als sie endlich von der geöffneten Korridortür zurücktreten konnte. Ihr schmales, nervöses Gesicht sah bleich und abgespannt aus.

Es war der sechzehnte Weihnachtsabend, den sie in der gleichen Weise verbrachte, an dem dieselben Worte gesprochen, dieselben Fragen gestellt wurden.

Dr. Labisch trat auf seine Frau zu und legte seinen Arm um ihre überschlanke Taille.

Auch das war seit sechzehn Jahren immer dasselbe. Aber heute zum ersten Male fiel es ihr auf.

»Na, Irene, war es nicht wieder gemütlich?«

»Ja, sehr gemütlich«, antwortete sie kurz.

»Glaubst du, daß Markus zufrieden war?«

»Ach ja – Markus, richtig!«

Den Kleinen mit dem blassen Gesicht hatte sie beinahe vergessen. Der war das einzig Neue am heutigen Abend, der einzige, der etwas Ungewohntes sagen konnte.

Sie ging in den Salon, dessen welke Festlichkeit jetzt etwas Totes hatte.

Markus saß über ein Buch gebeugt, das er bekommen, und las.

»Bist du zufrieden, kleiner Markus?«

Sie dachte, er würde die Arme um sie schlingen, und sie war bereit, das einsame, blasse Kind in plötzlich aufquellender Zärtlichkeit an ihr Herz zu drücken.

Aber Markus sprang nur auf und stammelte verwirrt:

»Ja... danke... es war sehr schön.«

Und sie hörte es seiner Stimme an, wie wenig ihm das alles war... die prächtigen Geschenke, der große Baum, die festliche, reich besetzte Tafel.

»Du mußt jetzt schlafen gehen, Markus.«

»Gute Nacht, Tante...«

Er streckte ihr seine schmale, nervöse Hand entgegen; sie war ganz kalt.

»Und morgen mußt du deinen Eltern einen netten Brief schreiben, ihnen für alles danken.«

Er sah sie erstaunt an.

Danken – – ja wofür?

Für den traurigsten Weihnachtsabend, den er bisher gehabt? Danken für all die Tränen, die er geweint, und die er herzhaft hinuntergeschluckt? Danken dafür, daß er seine Mami verloren hatte und in der Fremde allein war?

Markus magerte zusehends ab. In der Schule ging's zurück mit ihm. Er sah blaß und elend aus und berührte bei Tisch kaum die Speisen. Gegen Abend stellte sich eine Verlangsamung des Pulsschlages ein. Alle Püffe und aufmunternden Reden Kurts nützten nichts.

Sanitätsrat Groß, der Frau Dr. Labisch bei ihrem Eintritt in die Welt als erster in Empfang genommen und die ganze Familie mit seinen altbewährten vier, fünf Rezepten über alle Gesundheitsschwankungen erfolgreich hinweggeführt hatte, konstatierte Heimweh.

»Ja, ja, liebe Frau Irene, es gibt Heimweh als psychophysiologische Erkrankung.«

»Dann muß der Junge nach Hause...«

»Das würde nichts nützen. Ist er dann wieder hier, fängt die Geschichte von vorne an. Nein, nein. Da müssen wir eine kleine Diät befolgen, und wenn es möglich ist, den einen oder andern aus seiner Heimat herüber bitten. Das ist das beste Mittel.«

»Markus ist an Heimweh erkrankt«, hieß es nun im Hause und in der Schule, und sogar Kurt hielt den Fall für interessant.

Seiner derben, gesunden Natur war dieses tiefe Leiden beinahe unfaßbar. Er wagte es oft in der Nacht nicht mehr, seine Romane zu lesen, weil er unausgesetzt die großen, schlaflosen Augen des Knaben auf sich gerichtet fühlte.

»Junge, kannste denn die Knochen nicht zusammennehmen?« fragte er wohl.

Aber Markus lächelte nur schmerzlich, ein gar nicht kindliches, wehes Lächeln.

Kurt war einmal dabei, wie seine Eltern darüber sprachen, ob sie nicht doch Herrn Reimar Lukas ernstlich bitten sollten, seine Frau herzuschicken; aber der Vater war dagegen.

»Liebe Irene, du kennst diese alten Patrizier nicht. Der Mann ist so klug, daß er aus all unseren Briefen ganz genau über die Sachlage orientiert ist. Ihm direkt schreiben, daß er seine Frau schickt, wäre eine anmaßende Einmischung in seine Angelegenheiten, die er vielleicht sehr übelnehmen würde. Das Gutachten unseres Sanitätsrats hätte ja allein genügen müssen, ihn zur Herreise zu bewegen, wenn er aber schreibt: ›Ich bin dafür, daß Markus durch äußerste Anstrengung seines Willens das Heimweh bekämpft, nicht aber, daß wir durch Verweichlichung seine Sensitivität unterstützen‹ – dann ist meines Erachtens nichts mehr zu tun als abzuwarten. Das ist meine Meinung.«

Kurt hörte die lebhafte Entgegnung seiner Mutter nicht mehr, sondern ging auf dem Zimmer, wobei er die Tür achtlos hinter sich ins Schloß fallen ließ.

Am selben Abend schrieb er an »Frau Reimar Lukas, geborene Maria Hindersin,« folgenden Brief:

Gnädige Frau!

Wenn Sie nicht bald nach Berlin kommen, wird Markus ernstlich krank oder geht drauf. Heimweh scheint doch eine wirkliche Krankheit zu sein, und Ihr Herr Gemahl darf nicht glauben, daß man mit ein bißchen Selbstbeherrschung darüber hinwegkommt. Wenn Sie also Markus wirklich so lieb haben, wie er es sich einbildet, dann ist es höchste Zeit, daß Sie kommen. Ihr Herr Gemahl braucht gar nicht mit. Ich schreibe Ihnen, weil meine Eltern vor lauter Feingefühl den armen Markus ruhig draufgehen lassen würden. Das heißt vor allem Papa.

Ihr ergebener

Kurt Labisch.

Am Nachmittag des folgenden Tages klingelte es, und Maria Lukas, geborene Hindersin, trat zu Frau Dr. Labisch ein mit den Worten:

»Wo ist Markus, wie geht's Markus?«

Eine Vorstellung war überflüssig.

Das ganze Haus war wie elektrisiert.

»Markus ... Markus ...«

Irene, Dr. Labisch, die Dienstboten rannten in der ganzen Wohnung herum.

»Da bring' ick ihn jebracht«, schrie Kurt und schubste den Knaben Frau Lukas in die Arme.

»Mein lieber Junge, mein lieber dummer Junge.«

Die junge Frau hielt den Knaben mit aller Kraft an sich gepreßt, und Markus hing in hilflosem Weinen an ihrem Halse.

»Mami ... Mami ...!«

Man verließ das Zimmer und ließ beide allein.

»Na, sag' mal, du dummer, schlimmer Junge, was machst du für Geschichten?«

»O, Mami, es war schrecklich!«

»Was war denn schrecklich, du dummer Kerl?«

»Das Leben... so allein!«

»Allein mit all den lieben, guten Menschen?«

Dabei trocknete sie abwechselnd Markus' und ihre eigenen Tränen ab.

Markus atmete gierig den vertrauten Duft ein, der ihren Sachen entströmte. Es waren neue, schöne Sachen, so prächtig, wie er sie früher nie an Mami gesehen. Aber ihr rundes, frisches Gesicht blickte noch gerade so treuherzig unter der kostbaren Pelzkappe hervor.

»Leg' doch ab, Mami, schnell.«

»Sachte, sachte, mein Junge, du zerreißt mir den Schleier. So... na, bist du jetzt zufrieden?«

Das war wieder die alte Mami! Ihre blonden Haare ringelten sich noch genau so um die kleinen rosigen Ohren, und da am Kinn war auch die kleine Wunde, die er ihr mit feinen spitzen Milchzähnchen einmal beigebracht, als er zeigen mußte, wie lieb er sie hatte.

»O, Mami, wie schön, daß du wieder da bist. Und jetzt wollen wir auch spielen wie zu Hause...«

Markus ließ Mamis Hand nicht aus der seinen. Jetzt, wo sich das Übermaß seiner Erregung gelegt hatte, konnte er kaum sprechen vor Glückseligkeit. Daß Mamis Stimme neben ihm in diesem bisher so fremden Raum erklang, dünkte ihm wie himmlische Musik.

Ihm schien, als müßte jedes Eckchen des Zimmers diese Stimme aufnehmen, als fühlten alle Gegenstände dieses Zimmers sich schmeichelnd von ihr berührt.

Mit Kurt verständigte sich Mami sofort.

»Es ist vernünftig, daß Sie mir geschrieben haben, ich danke Ihnen.«

Kurt küßte ihr die Hand, worüber sie dunkelrot wurde. Frau Dr. Labisch fiel die ehemalige Stewardeß ein, sie amüsierte sich im stillen; übrigens betonte sie sofort, daß von einem Wohnen Marias im Hotel nicht die Rede sein könnte.

»Wir haben ein hübsches, kleine Fremdenzimmer, da werden Sie mindestens ebensogut aufgehoben sein und Ihrem Markus nicht einen Teil der kostbaren Zeit vorenthalten.«

Maria nahm ohne viel Ziererei an. Dann plauderte sie von zu Hause.

Ihr Mann habe einige kleine Umbauten im Hause vorgenommen, für Markus wären zwei wunderhübsche Mansardenzimmer hergerichtet worden, die von der Diele aus mit einer kleinen Wendeltreppe verbunden wären.

»Ach!« sagte Markus und hörte mit offenem Munde zu.

Dann führte Irene ihren Gast durch die Wohnung.

»Wunderschön hell und luftig und sehr schön eingerichtet, wirklich sehr schön«, sagte Maria immer wieder; aber dabei zog sie Markus noch näher an sich heran, als verstünde sie, daß ihm bang geworden war in all diesen glatten, lichten, luftigen Räumen.

»Unser Haus ist ein alter Kasten dagegen«, meinte sie, aber es lag sehr viel Liebe in ihrem Ton.

»Ich habe noch ein Kind«, sagte Irene leise, indem sie die letzte Tür im Gang öffnete.

»Ja, ich weiß ... Klumpchen.«

Maria ging, ohne sich zu besinnen, auf das mitten auf dem Teppich spielende verkrüppelte Kind zu und hob es auf den Arm.

»Na, na, Klumpchen, wer wird denn weinen?« »Er sieht so selten Menschen«, meinte die Wärterin entschuldigend.

Irene biß sich auf die Lippen.

»Mich macht der Anblick des Kindes schrecklich nervös – ich bin immer ganz unglücklich, wenn ich es sehe.«

»Aber warum denn, gnädige Frau, es ist ein ganz schönes Kind; sehen Sie mal die Augen – nicht, Markus – die Augen...«

Markus nickte.

Klumpchen hatte wirklich wundervolle Augen. Wie Mami das gleich wieder heraus hatte! Und jetzt lachte Klumpchen – nein, so was ... Irene hatte Klumpchen noch nie lachen sehen.

»Sie sind eine Zauberin«, sagte die Mutter. Maria schüttelte den Kopf.

»Ach wo, ich habe Kinder nur sehr gern. Und ich glaube, das fühlen sie. Mir wäre ein Dutzend Kinder nicht zuviel.«

»N...ein...?«

Irene blickte sie sprachlos an.

Abends sagte Kurt:

»Du, Markus, deine Mami, wie du sie nennst, ist eine famose Person.«

Markus nickte. Aber er war seit einigen Stunden nachdenklich.

»Was is denn nu wieder los?«

Doch Markus mochte nicht mit der Sprache heraus, wenn alle schlafen würden, wollte er zu Mami hinübergehen, die ihm dann sagen sollte  ...

Nachts klopfte er leise an ihre Tür.

»Markus – du?«

»Ja, Mami, darf ich?«

»Komm rein!« Sie lag im Bett mit dem langen Hängezopf wie ein kleines Mädchen. So war sie ihm immer in Erinnerung.

Na, was ist denn schon wieder, du Quälgeist?«

Sie blickte ihn lachend an und zeigte mit dem Kopf auf das Fußende ihres Bettes.

Dort krümmte er sich zusammen mit untergeschlagenen Beinen und warf Mamis Reisedecke, die über dem Bettpfosten hing, um seine Schultern.

»Mami, du mußt mir was sagen.«

»Was soll ich dir sagen?«

»Du möchtest ... du sagtest ... du ... zwölf Kinder willst du haben?« platzte er endlich heran«.

Es half nichts, sie mußte lachen.

»Junge, du bist zu dumm!«

»Willst du sie haben, Mami?« beharrte Markus.

Maria haschte nach seiner Hand.

»Möchtest du kein Brüderchen oder Schwesterchen haben, Markus, sag'? ...« fragte sie leise.

Er riß seine Hand los und schüttelte heftig den Kopf.

»Nein.«

Sie sah ihn ärgerlich an.

»Du bist ein böser Junge, warum denn nicht?«

»Du sollst nur mich liebhaben, Mami, nur mich!«

Er fiel mit dem Kopf vornüber auf ihre Knie.

»Aber, Junge, was soll das? Willst du denn nicht, daß ich froh und glücklich werde?«

»Aber ich bin doch da, Mami, ich.«

»Na ja, Markus. Aber du wirst doch groß, du bist in Berlin, du hast später deine Freunde, deine Studien, und ich bleibe allein, kannst du das nicht verstehen, Markus?«

Der Knabe stützte seinen Kopf in die Hand und blickte nachdenkend vor sich hin.

»Ist Papa sehr alt?« fragte er schließlich.

»Nein, gar nicht, warum?«

»Ich dachte, Papa ist sehr alt und muß bald sterben, und du hast Angst, allein zu sein. Du glaubst nicht, daß Papa bald stirbt?«

»Was du für ein Zeug zusammensprichst! Schäm' dich, Markus, du bist doch kein kleines Kind!«

Markus sprang vom Bett herunter.

»Wenn Papa nicht bald sterben braucht, brauchst du auch keine neuen Kinder,« schloß er mit großem Nachdruck und zog beruhigt ab.

Maria Lukas, geborene Hindersin, aber lag noch lange wach, und zum ersten Male stieg ein Gefühl ernsten Grolles in ihr gegen Markus auf.

Am nächsten Morgen war die Verstimmung gewichen. Während die Knaben in der Schule waren, machte sie Besorgungen mit Frau Dr. Labisch.

Irene wunderte sich über die Unbestechlichkeit ihres Geschmacks und die Treffsicherheit bei der Auswahl.

»Ich bin es seit Jahren sehr solide gewöhnt,« gab Maria offen zu. »Ich war ja ein ganz armes Mädchen, aber immer in guter Umgebung, und bei meinem Mann ist nichts modern, aber alles bequem und reich. Mein Mann hat mir verboten, nach dem Preis zu fragen. Ich soll kaufen, was mir gefällt. Er meint, auf die Art werde ich weder unser Budget überschreiten, noch Häßliches aus Billigkeitsrücksichten nehmen.«

Vor Dr. Labisch zeigte Maria eine respektvolle Scheu. Ihm gegenüber versagte ihre muntere Offenheit. Sie hielt ihn für einen großen Gelehrten – schon weil es so viele Bücher in seiner Stube gab. Ohne zu wollen, schmeichelte sie ihm dadurch ungeheuer. Dr. Labisch sprach diesmal besonders viel bei Tisch, besonders glatt und besonders gut und bedauerte im stillen, daß seine Frau seinen Worten nicht ebenso bewundernd lauschte wie die Frau seines Freundes.

»Diese kleine Frau ist wirklich sehr klug«, sagte er später.

»Das muß wohl sein«, meinte Irene etwas spitz.

»Der gläubige Ernst, den sie beim Zuhören hat, ist sehr schön«, fuhr er fort.

»Auch sehr natürlich bei dem Mangel an jeder umfassenden Bildung!«

Dr. Labisch blickte seine Frau erstaunt an.

»Was ist los, Irene? Gefällt sie dir nicht?«

Irene spielte nervös mit ihrer langen schillernden Kette, an der ein hübscher goldener Spiegel in Form eines Kleeblattes herunterhing.

»O, doch ... doch, warum sollte sie mir nicht gefallen? Sie ist eine liebe Person. Wenn sie eine Menge Kinder bekommt, ist das Problem der Ehe und des Lebens für sie gelöst. Es ist beneidenswert. .. aber auch aufreizend einfach.«

Aus dem Nebenzimmer drangen lautes Lachen und Poltern herein.

»Was ist denn das für ein Unfug?« fragte er.

»Das ist kein Unfug, lieber Georg. Frau Lukas tollt mit den Kindern herum.«

»Ach so...«

Dr. Labisch zündete sich eine Zigarre an und nahm seine Zeitung vor. Aber unsichtbar für Irene glitt manchmal beim Lesen ein Lächeln über seine etwas verquollenen Züge. Doch dieses Lächeln galt nicht der Zeitung, es galt dem ungewohnten Frohsinn, der in abgerissenen Sätzen und Lauten bis in sein stilles Zimmer drang.

Sein Haus war immer kühl und still gewesen, beinahe wie ein Haus ohne Kinder. – – – –

Und es wurde abermals sehr still, als Frau Reimar Lukas abreiste. Man brachte sie in corpore auf die Bahn, nachdem man vergeblich versucht hatte, sie noch für ein paar Tage zurückzuhalten.

»Nein, nein, mein Mann würde bös werden!«

Der alte Sanitätsrat hatte recht gehabt: Markus' Heimweh war gebrochen.

Seiner Sehnsucht nach dem alten Hause mischte sich das Unbehagen bei, so vieles verändert zu finden, und er fühlte sich heimischer in der Berliner Wohnung, seitdem die Erinnerung an Mami alle Ecken belebte.


 << zurück weiter >>