Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Die letzte Ferienwoche verbrachte Markus in Bremen. Er sehnte sich nach der reinen Atmosphäre des Vaterhauses.

Mami fand ihn »arg verändert«. Der Vater ließ seinen durchdringenden Blick länger als sonst auf ihm ruhen, sagte aber nichts.

Mademoiselle Cardinal tuschelte abends lange mit Mami und wiederholte:

»Je parie qu'il y a une amourette là dessous.«

Die beiden Frauen vergingen vor Neugierde.

Markus lag schon zu Bett, als Mami noch einmal hereinkam:

»Hast du auch alles, mein lieber Junge?«

Sie legte die flüchtig ausgepackten Sachen sorglich in die Schubladen, vielleicht hoffte sie, irgendeine Fährte zu finden. Aber ziemlich enttäuscht sah sie sich nach getaner Arbeit im Zimmer um. Dann setzte sie sich auf das Fußende von Markus' Bett und erzählte von ihren kleinen Sorgen und Freuden. Markus hörte ihr zu, scheinbar teilnahmlos mit weit geöffneten, glanzlosen Augen. Schließlich ergriff er ihre Hand und legte sie an seine Stirn.

»Du hast wohl nie in deinem Leben etwas getan, was du ungeschehen machen möchtest, nicht wahr, Mami? Nie etwas, wovor du dich schämen müßtest?«

Sie sah ihn bestürzt an.

»Wie kommst du darauf, Markus?«

»Nichts. Ich fragte nur so.«

Sie versuchte zu lachen und löste ihre Hand aus der seinen.

»Im Fragen warst du immer groß. Schon als kleines Kind sagte ich dir: ein Dummer kann mehr fragen, als zehn Weise beantworten können. Erinnerst du dich?«

»Ja. – Aber so bleib doch sitzen. Ich muß dich noch was fragen ...«

»Nun?«

»Hast du nie jemand andern geliebt als Vater?«

»Doch, Markus. Ich war ja schon einmal verlobt.«

Markus sah sie mißtrauisch an.

»Verlobt?«

Er wiederholte das Wort so höhnisch, daß sie ihn erschreckt anblickte.

»Was ist dir, Markus?«

»Mir ist, mir ist ...« Er erhob, sich aus den Kissen und atmete keuchend auf – – »daß mir ekelt vor der Frau, daß ich ... ich auch dir nicht traue, denn ihr seid im Verstellen und Heucheln und Lügen so groß, so schamlos ...«

»Na, ich bitte mir's aus, Markus, sei so gut!«

Mami lachte gutmütig und schüttelte den Kopf.

»Bist ein rechter Hansnarr, mein Junge! Aber ich bin dir viel zu gut, um dich bei den Ohren zu nehmen, wie du's verdienst! Also du kannst mir's glauben: ich war wirklich verlobt. In Hamburg. Er war ein junger Kaufmann, ich Kinderfräulein. Im Frühjahr sollten wir heiraten ... wir hatten uns sehr gern! Da eines Tages bekam ich einen Brief: ›Wenn Du diese Zellen liest, bin ich nicht mehr am Leben. Verzeih!‹ – das war alles. Er hatte sich erschossen, weil er den Konkurs hatte anmelden müssen. Ich habe ihm das nie verziehen, nie – – !«

Mann saß steif aufrecht, mit hartem, bösem Gesicht, wie er es nie an ihr gesehen.

»Hast du ihn denn nicht geliebt, Mami?«

»Gerade darum. Wie durfte er mir das antun? So ein dummer Konkurs! – Ich wär' bis ans Ende der Welt mit ihm gegangen, denn er war ein anständiger Mensch und hatte eben nur Unglück gehabt. Es war erbärmlich schwach und feige von ihm, so davonzugehen – nie verzeihe ich ihm das ... nie!«

Sie war bleich bis in die Lippen. Markus wandte kein Auge von ihr ab. Es war nicht Mami, es war ein starkes, leidenschaftliches Weib, das vor ihm saß, unbeugsam in ihrem Empfinden, unveränderlich in ihrem Gefühl.

»Ich wurde krank und verlor meine Stellung. Als ich gesund war – hatte ich keinen Pfennig zum Leben, und von seinen Verwandten mochte ich nichts annehmen. Ein bekannter Kapitän bot mir die Stelle einer Stewardeß an auf seinem Schiff. Da ich fürs erste keine Wahl hatte, so nahm ich an. Auf meiner ersten Rückfahrt von Amerika kamst du zur Welt. Ich pflegte deine Mutter, und als sie starb, nahm ich dich in meine Arme und ließ dich nicht mehr los. So kam ich zu deinem Vater ...«

Markus drückte Mamis Hand fest in der seinen.

»Dein Leben ist klar und einfach«, murmelte er.

»Das mag wohl daran liegen, Markus, weil ich wenig gelesen habe – ich habe ja nie Zeit dazu gehabt. Die Romane haben mich immer verdreht gemacht, haben mir meine eigenen Gefühle immer verwirrt. Ich meine, im Leben ist wirklich alles viel einfacher, viel natürlicher. Darum ist mir auch dein Freund Enzlehn ein greulicher Kerl. Der redet nie, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und eine Magenverstimmung wird bei ihm zur großen Seelentragödie. Ich halt's mit meinen Kindern so: warme Füße, kühlen Kopf und alle paar Wochen einen Löffel Rizinus.«

Markus lächelte matt.

»Du bist ein großer Doktor, Mami! Aber deinen ehemaligen Verlobten liebst du auch heute noch, sonst hättest du ihm längst verziehen – hab' ich recht?«

Sie machte eine brüske Bewegung.

»Du bist imstande, mir's einzureden. Nun, mein lieber Junge, wenn man einen Mann hat wie deinen Vater und vier« – sie verbesserte sich schnell – »fünf Kinder, denen man jeden Augenblick sein Herzblut hingeben würde, – dann liebt man nicht einen Menschen, der sich feige aus dem Leben geschlichen hat!«

»Dann hassest du ihn, Mami, aber dieser Haß ist der Liebe verwandt«, beharrte Markus.

Mami nickte gleichmütig.

»Ja, ja, Markus, das hab' ich auch schon wo gelesen, könnte mir's ja auch einbilden, mit 'nem bißchen guten Willen – aber der gute Wille fehlt mir.«

Sie lachte leise vor sich hin.

»Da interessieren mich die jüngsten Liebesabenteuer meines Herrn Sohnes viel mehr ...«

Sie hatte wieder ihr »Kleines-Mädchen-Gesicht« mit dem schalkhaften Ausdruck und dem Liebreiz um den weichen, immer noch jungen Mund. Markus kam sich plötzlich sehr reif, fast alt vor.

»Nein, Mami ... das laß nur ... das ist nichts für dich, das ist ›Roman‹, wie du sagst, ein sehr häßlicher, sehr trauriger Roman.«

»Wie du willst, Markus«, sagte sie ein bißchen beleidigt. – »Gute Nacht, schlaf wohl!«

Und sie ging aus dem Zimmer.

Am andern Morgen lag Markus da mit Fieber und Gliederschmerzen und rotem Ausschlag.

Mami stand in großer Aufregung vor dem Hausarzt.

»Wirklich, Herr Doktor, keine Gefahr?«

»Bewahre, gnädige Frau, nur eine tolle Influenza, vielleicht auch verspätete Masern. Der junge Mann muß seit einigen Tagen eine starke Erkältung mit sich herumgeschleppt haben. Die ist jetzt zum Ausbruch gekommen.«

Es dauerte etwa vier Wochen, bis Markus sein Zimmer verlassen konnte. Mami kam nicht aus dem Schlafrock heraus und pflegte ihn mit Hingebung. War das Fieber besonders hoch gestiegen, so kam es vor, daß er laut vor sich hin sprach.

Als Markus sich zum ersten Male vom Krankenlager erhob, schien er noch größer durch die Magerkeit. Die kleinen Lukasse betrachteten ihn mit neugieriger Scheu, wie man jemanden betrachtet, der aus fernen, fremden Ländern zurückkehrt. Sie dämmten ihre ungebärdige Wildheit in seiner Anwesenheit und wiesen ihm so unbewußt einen Platz außerhalb ihres Kreises an. Auch Mami sprach von ihm nur noch als vom »großen Bruder«.

Markus brauchte Wochen, um sich zu erholen.

»Das sind doch nicht bloß die Masern«, sagte Herr Lukas zu seiner Frau und blickte sie forschend an. »Da steckt doch noch was dahinter!«

Aber sie zeigte sich merkwürdig resolut und gar nicht gewillt, Markus' Geheimnisse preiszugeben.

»Lieber Reimar, wenn Kinderkrankheiten so spät einsetzen, sind sie immer gefährlicher. Das ist eine alte Geschichte.«

Der Kaufherr nahm ihr rundes Gesichtchen in seine Hände und lächelte.

»Du bist sehr klug, Maria!«

Sie machte sich los und fuhr eifrig fort:

»Überhaupt versteht ihr Männer nichts von Kinderkrankheiten. Und wenn ihr sie auch selbst durchgemacht habt, so wißt ihr später nicht mehr, wie es gewesen ist.«

Der Kaufherr lächelte noch immer, ohne die Blicke von seiner Frau zu lassen.

»Dann müssen wir also Gott nur danken, daß er die Kinderkrankheit nicht noch später durchgemacht hat, der Markus, nicht wahr, Maria?«

»Ja, das müssen wir«, sagte sie im Ton ehrlichster Überzeugung.

Er klopfte sie seiner Gewohnheit gemäß leicht auf die Schulter:

»Und wollen hoffen, daß er nicht rückfällig wird!«

»Nein, nein – damit ist's aus!«

Sie wurde rot, daß sie sich so verschnappt hatte. Er aber sagte ernst:

»Na, dann ist's ja gut!«

Und damit war es erledigt.

Es war gegen Ende Oktober, als Markus in Berlin eintraf. Auf dem Bahnhof kam ihm Enzlehn entgegen.

»Frau Doktor hat mir aufgetragen, dich abzuholen,« sagte er. »Na, wie geht's, Markus? Die Masern gut überstanden?«

Es klang wie immer ein leiser Spott durch Enzlehns Worte, der Markus verstimmte.

»Danke,« antwortete er kurz.

Sie stiegen in einen Wagen, und Enzlehn rauchte sich eine »Princessas« an. Auf dem kleinen Finger seiner linken Hand blitzte ein Brillantring.

»Ich habe dich bei Frau Doktor ein bißchen vertreten müssen, Markus. Die arme Frau konnte sich ohne cavaliere servente gar nicht behelfen.«

»So? Nun, dann wirst du's auch weiter bleiben müssen. Ich habe viel Versäumtes nachzuholen, und Dr. Labisch schrieb mir, daß die Prüfungen dies Jahr wieder mächtig erschwert worden sind.«

»Eben, eben. Ich habe mich also zu dero maître de plaisir gemacht. Sie hat Talent zur Mäzenatin, die schöne Frau!«

Markus nickte zerstreut:

»Ja, sie hat viel übrig für alles, was das Leben schön macht.«

»Ich habe ihr die ganze Blase rübergebracht – den Nülber, den Bresch, Trebiner, Kastanien und dazu ein paar präraphaelitische Jungfrauen. Wir führen nächstens ein Stück auf – so eine Art Dramatisierung von Graf Adrians ›Garten der Erkenntnis‹.«

Markus wendete Enzlehn interessiert das Gesicht zu:

»Wirklich? Du ... das ist famos!«

»Aha! Merkste was? Na, du, laß dich nur nicht zerstreuen durch uns! Setz dich auf die Hosen und büffle! Zur Generalprobe bist du höflichst gebeten. Am 8. November soll das Werk steigen! Nülbers Kleine spielt die weibliche Hauptrolle. Frau Doktor hat ihr ein Kleid geschenkt, damit sie sich auf den Proben sehen lassen kann. Es war dringend nötig!«

Markus lachte leise:

»Ich kann mir Tante Irene eigentlich gar nicht inmitten dieser – Herren denken.«

»Unbesorgt. Sie waschen sich jetzt schon die Hände und haben leidlich propre Kragen. Frau Doktor erfüllt eine Kulturmission! – So – da wären wir.«

Er verabschiedete sich unten vor dem Haustor.

»Morgen komme ich rauf. Meine Empfehlung!«

»Ein Wort, Enzlehn – spielst du jetzt?«

»Natürlich – jeden Abend. Bin der eleganteste Kammerdiener aller französischen Komödien! – Servus!«

Frau Dr. Labisch empfing Markus im Entree. Sie reichte ihm die Hand zum Kuß; er aber umarmte sie stürmisch nach alter Art, worauf sie etwas verlegen lachte.

»Laß dich ansehen, Tante Irene!«

Er hielt ihre beiden Hände fest und sah ihr treuherzig ins Gesicht.

»Dick bist du geworden! Weißt du das?«

»Ach, red' keinen Unsinn!«

Sie hängte sich in seinen Arm ein und führte ihn in ihren kleinen Salon, wo der Teetisch gedeckt war. Ihre Hände zitterten heftig, während sie einschenkte.

»Ich bin noch immer furchtbar nervös,« entschuldigte sie sich und schob ihm die Tasse zu.

»Ja, das seh ich, Tante Irene...«

»Hat Karli ... Herr von Enzlehn dich abgeholt?«

»Ja, und tausend schöne Dinge erzählt. Du willst wohl dem ›Deutschen Theater‹ Konkurrenz machen?!«

Sie lachte gezwungen.

»Man muß doch seinem Leben einen Inhalt geben! Nicht wahr, Markus? Jetzt lebe ich wieder ... freue mich auf etwas. Von dir hätte ich doch in diesem Jahre wenig.«

Eine Frage brannte Markus auf der Zunge. Nur, um keine schmerzlichen Gefühle zu wecken, unterdrückte er sie. Aber sie kannte ihn zu gut, um nicht zu erraten, was in ihm vorging.

»Ramins habe ich noch nicht gesehen,« sagte sie abgerissen. »Im Sommer bekam ich zwei Ansichtskarten und ... nichts mehr.«

Markus hielt die Augen auf die Tasse gesenkt und wußte nicht, was er sagen sollte. Sie aber erhob sich und klingelte.

»Eine halbe ›Henckel‹,« bestellte sie dem Mädchen, »wir wollen auf deine und meine Gesundheit ein Gläschen Sekt trinken, mein Junge!«

Markus hob abwehrend die Hand.

»Nicht. Tante Irene, bitte nicht... wozu?«

»Wozu? Du bist ein unhöflicher kleiner Junge! Du hast deine guten Manieren vergessen, weil es mir Freude macht, und – dann – ich soll Sekt trinken, meines Herzens wegen. Der Arzt hat es mir verschrieben. Nun kann ich aber doch keine halbe Flasche allein austrinken, nicht wahr?«

Das Mädchen schenkte mit geübter Hand ein und räumte die Teetassen ab.

»Also, Prosit, Markus! Willkommen in deinem zweiten Elternhause!«

Sie trank das Glas bis auf die Neige, ohne abzusetzen, und schenkte sich nochmals ein. Markus nippte nur.

»Ich habe so viel Unangenehmes, so viel Widriges durchzumachen gehabt, Markus – du glaubst es nicht. Meine Leute wollen absolut nicht begreifen, daß ich elend werde, wenn ich keine Anregung von außen habe. Du kennst doch meine Mutter? Sie hat meinen Mann förmlich gegen mich aufgehetzt! Wie einem kleinen Mädchen wurde mir alles vorgeschrieben. Solange ich krank war – gut, aber auf die Dauer ist die Bevormundung unerträglich – das begreifst du doch?! Ich bin ganz gesund und weiß, was mir zuträglich ist! Ich habe jahrelang Qualen ausgestanden, mich jahrelang in eine freiwillige Sklaverei begeben ... eine fürchterliche Sklaverei ... aber ich erzähle dir da lauter Zeugs, das du nicht begreifen kannst!«

Er antwortete gepreßt:

»Doch, Tante Irene ...«

»Deinem Freunde Enzlehn verdanke ich eigentlich meine innere Befreiung. Merkwürdig, was ein paar Jahre machen – du fast noch ein Kind, und er so fertig in sich, so abgeschlossen.«

Markus fühlte eine namenlose Peinlichkeit in sich aufsteigen.

»Wir sind ein bißchen auseinandergekommen in letzter Zeit«, sagte er ausweichend.

»Ja, ich weiß. Ich kann es verstehen. Du bist immerhin noch Schüler, er steht im Leben drin, mitten im Leben, wo es am stärksten pulsiert!«

Sie lächelte verträumt.

»Enzlehn erzählte mir, daß er dir seinen Kreis zugeführt hat.«

Sie nickte hastig.

»Ja, denke! Es sind prachtvolle Menschen! So richtige Kinder, mit allen Unarten des Kindes. Aber ich ziehe sie mir schon zurecht! Früher hatte ich immer mit fertigen Menschen zu tun, die unendlich hochmütig auf alles herabsahen, was an Erfahrung und Wissen nicht an sie heranreichte. Jetzt sind es junge Feuergeister, die sich in den Dienst einer neuen Kunst stellen und dankbar sind für Rat und Hilfe!«

Markus legte seine Hand auf ihren Arm, da sie sich das dritte Glas einschenkte. Aber sie lachte.

»Nein, Markus, das tut mir wohl, das belebt mich. Findest du nicht auch, daß ich frisch bin? So frisch, wie ich nie war? Und so kampflustig, Markus! Die Kunst und das Schöne kosten Geld ... viel Geld. Meine Mutter möchte mir den Brotkorb höher hängen. Du weißt, wie genau sie ist! Da liefere ich Schlachten, sag' ich dir ... Es lebe die Kunst, Markus!«

Sie trank ihm nochmals zu. Dann schickte sie ihn in sein Zimmer, damit er sich ausruhe von der Reise.

»Meinen Mann stehst du heute kaum mehr. Der ist in einer Sitzung, du weißt ja – Vereinssitzungen; auch Windmühlen, gegen die ich gekämpft habe!«

Ihre Augen schwammen in feuchtem Glanz. Sie lachte ihn wieder leise an.

Markus stürzte sich mit Feuereifer auf die Arbeit. Er hatte wirklich viel nachzuholen, und seit Dr. Labisch Leiter des Gymnasiums geworden, traten die exakten Wissenschaften mehr in den Vordergrund. Markus merkte sehr bald, daß der Geist, der jetzt regierte, ein weit nüchternerer war. Hingegen hatte die Disziplin merkwürdig nachgelassen. Kleine Insubordinationen in den unteren Klassen waren an der Tagesordnung. Es regnete Tadel und Strafen.

Die schlaffe, gebeugte Gestalt des neuen Direktors stand im scharfen Gegensatz zu der bedeutenden, straffen Erscheinung des früheren Leiters. Dr. Labisch hatte nichts Imponierendes, nichts Zwingendes, und in der letzten Zeit zeigte er öfters ungewohnte Zerstreutheit. Etwas Zerfahrenes, Abwesendes war an ihm. Er schien wie ein Automat, der sich nur kraft eines aufgezogenen Mechanismus bewegt. Ein Zufall konnte seinen Gang beschleunigen oder auch völlig zum Stillstand bringen. –

In den Vorderräumen von Dr. Labischs Wohnung ging es lärmend und hoch her. Im großen Salon waren die Möbel an die Wand gerückt, die Teppiche entfernt worden. Stundenlang wurden dort Proben abgehalten. Handwerker kamen, um das Maß für eine kleine Bühne abzunehmen, ein junger Maler breitete auf einem Tisch seine neuesten Entwürfe für eine moderne Gartendekoration aus, ein Zeichner von Baruch ließ einige Schauspielerinnen in charakteristischen Posen photographieren, um die neuen Kostüme den Linien ihrer Gestalt entsprechend zu entwerfen, zwei Hausmädchen servierten mit Delikatessen belegte Brötchen und deutschen Sekt. Frau Dr. Labisch schleifte den Saum ihrer Schleppe von einer Gruppe zur andern, mit glücklichen Augen und geröteten Wangen, während Enzlehns weiches, blondes Mädchengesicht mit dem spitzen, grausamen Rattenmund und dem spöttischen Lächeln in den Winkeln sich prüfend, krittelnd und sanktionierend über Bilder, Entwürfe und Zeichnungen neigte.

Ab und zu gab es einen Streit. Bresch und Nülber lagen sich fast immer in den Haaren. Nülber sprach vom Standpunkt des Schauspielers und mokierte sich über Breschs Regieanordnungen.

»Sie glauben wohl, der Doktor macht den Regisseur? Vielleicht verlangen Sie auch noch vom Schauspieler das Doktorat, nicht?«

Kastanien, der Ästhet – er kokettierte jetzt oft krankhaft mit einer Nagelfeile, die er in der Westentasche bei sich trug – sagte immer nur phlegmatisch:

»Aber Kinder, vertragt's euch!«

Und Trebiner, der als Bearbeiter des Romans um sein Werk besorgt war, beschwor die Hausfrau mit Tränen in der Stimme, den Streit zu schlichten.

Sie sprach dann zu ihnen wie zu unerzogenen Kindern mit koketter Mütterlichkeit:

»Wenn ihr nicht brav seid, kriegt ihr eine schlechte Kritik!«

Und Enzlehn warf mit seinem hohen, scharfen Tenor ein:

»Gar keine Kritik gibt's! Und Sekt und Kaviar auch nicht!«

Darauf herrschte wieder eine Zeitlang Frieden. Denn mehr noch als von Sekt und Kaviar waren alle von der Aussicht hypnotisiert, zum erstenmal in großen Aufgaben vor einen Teil der Berliner Presse zu treten. Frau Dr. Labisch wollte die Aufführung in ihrem Hause mit dem ganzen Glanze einer echten Premiere umgeben, und sie ließ sich von Enzlehn seit Wochen mit allen Schlagworten bekannt machen, deren Anwendung ihr doch wenigstens die Aufmerksamkeit der dritten Preßgarnitur zusicherte.

Zwei Tage vor dem bedeutsamen Abend schneite Frau Gröhlke unvermutet in Markus' Zimmer. Sie hatte in der letzten Zeit wieder öfters den Weg über die Hintertreppe genommen, wenn sie unangemeldet mit dem Schwiegersohn zu sprechen hatte.

Diesmal war ihr Gesicht zorngerötet, und ohne viele Umstände warf sie den teuren, wenn auch unmodernen Mantel über die Stuhllehne.

»Kannste in dem Hexensabbat ooch lernen, Markus?«

Markus hob seine Augen, die eine leichte Kurzsichtigkeit verrieten, vom Euklid.

»Ja... Großmamachen, ganz gut.«

Manchmal nannte er sie schmeichelnd so, wenn sie ihm gar zu vereinsamt dünkte.

»Na, denn is man jut. Ick bin eijentlich zu meinem Schwiejersohn jekommen, aber der arme Mann wird wol ooch lieber in de Kneipe sitzen als wie hier.«

Markus wich ihrem entrüsteten Augenaufschlag aus.

»Soll ich was ausrichten?«

»Kannste, mein Junge, kannste. De Hypothek, sag' ihm, hab'n wir jekriegt. Er soll sich det Jeld bei uns abholen, was er braucht.«

»Jawohl«, nickte Markus.

»Heute um sechse holt sich's der Vater ab. Aber nu is ooch Schluß, verstehste. Schluß!«

Frau Gröhlte fuhr sich mit dem Taschentuch über das erregte Gesicht.

»Zwanzigtausend! Markuschen, wat glaubste, wie viele Brötchen und Kuchen dafor jebacken werden müssen? Det janze Leben hat Vater jeschuftet, keene Nacht schlafen können wie andere Menschen. Soll er wieder anfangen auf seine alten Dage? Bloß damit sich det Jrienzeug da an Sekt vollsauft? Und ick sage dir, Markuschen, wenn det nich balde anders wird – ick lasse ihr unter Kuratell stellen! Jawoll, ick, die Mutter!«

Sie fing an zu weinen, während Markus in peinlichster Verlegenheit vor ihr stand.

»Det is nu wieder nich fein, det ick det so vor dir sage. Aber dem eigenen Sohn kann ick's doch noch ville weniger...«

»Nein, nein... Großmamachen.«

»Wat macht se denn, Markus, wenn se uns aufjefressen hat? Du mußt ja 'n Millionär sein, um det auf die Dauer auszuhalten! Weeßte, wat det Fest kostet? Fünftausend Märker! Da hab' ick noch auf de Hofpred'jern jeschimpft, det se ihr zu Ausjaben verfiehrt. Wär' se man bei de Hofpred'jern jeblieben...! Und mein Schwiegersohn, der jetraut sich ja nich ›piep‹ zu sagen, bis se ihm werden det Haus überm Kopp verkaufen, und de Möbel aus'm Hause tragen. Aber det sage ick dir, Markus, wat dem Kurt sein Teil is, det jeb' ick nich her, und wenn se mir in Sticke reißen, und wenn ick mir von meinem Ollen lossagen soll – det tu ick nich!«

Das Mädchen klopfte an.

»Gnädige Frau lassen fragen, ob Herr Markus den Tee mit den Herrschaften im Salon trinken werden?«

»Nein, hier,« sagte Markus hastig.

Frau Gröhlke erhob sich. Markus half ihr in den Mantel.

»Nischt für unjut, Markuschen. Ick bin 'ne olle Frau, und vornehm bin ick nie jewesen. Da kommt det Ordinäre manchetmal so raus.«

Sie versuchte zu lächeln und berührte mit den schwarzbehandschuhten Fingerspitzen Markus' Wange.

»Ach wo, Großmamachen, machen Sie sich deshalb keine Gedanken! Ist das Fest, auf das sich Tante Irene so freut, vorüber, dann spreche ich auch mal mit ihr.«

»Tu det man, Markuschen, du bist 'n verständiger Junge!«

Erleichtert und etwas beruhigt ging die alte Frau den Gang entlang zur Hintertreppe. Aus dem Speisezimmer hörte man Gläserklingen und lautes Lachen.

In den nächstfolgenden Tagen sah Markus Frau Dr. Labisch fast gar nicht. Kaum, daß sie zu den Mahlzeiten auf ein Viertelstündchen erschien. Sie war immer in der Stadt, machte Besorgungen oder traf die Vorbereitungen zu den Proben. Eine starke, glückliche Erregtheit lag in ihren Zügen, eine fast krankhafte Lebhaftigkeit in ihren Bewegungen. Für Markus hatte sie nur ab und zu ein freundliches, sehr zerstreutes Lächeln, und fast war es, als vermiede sie, mit ihm längere Zeit allein zu bleiben. Enzlehn kam täglich, meist eine Stunde vor der angesetzten Probe. Bei gelegentlichen Begegnungen grüßte er Markus mit einem ganz unpersönlichen »Servus« und beachtete ihn weiter nicht.

Die Generalprobe, zu der etwa zwanzig Einladungen ergangen waren, gestaltete sich zu einem kleinen Vorfest. Das große Schrankzimmer war zur Schauspielergarderobe umgewandelt worden, während die Damen sich in Frau Dr. Labischs Ankleideraum kostümierten. Seit dem frühen Morgen war alles in Bewegung. Frau Dr. Labisch hatte ihren Mann und Markus gebeten, im Restaurant zu speisen. Und so saßen beide an einem Fenstertisch bei Steinert und Hansen, mit dem Ausblick auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, vor deren Seitenportal eine lange Reihe Hochzeitsequipagen vorfuhr.

»Morgen sind es vierundzwanzig Jahre, daß wir verheiratet sind«, sagte Dr. Labisch. »Es ist das erstemal, daß meine Schwiegereltern den Tag nicht mit uns verbringen. Aber sie sind alt geworden und fürchten den Trubel!«

»Schade, Onkel, daß sie heute nicht kommen!«

Dr. Labisch lächelte matt.

»Heute ist der Tag der Auserwählten, da sind sogar wir kaum geduldet!«

Tiefe Glockentöne schallten ehern über die entlaubten Bäume, die ein rauher Novemberwind hin- und herrüttelte.

»Vierundzwanzig Jahre«, wiederholte Dr. Labisch und hob sein Glas, als trinke er der Vergangenheit.

»Du, das ist eine Spanne Zeit, Markus! Noch ein Jahr, und wir feiern die silberne Hochzeit!«

Der feurige Johannisberger stieg ihm zu Kopf, und er lachte leise vor sich hin.

Dr. Labisch ging dann noch ins Café, während Markus den Weg nach Hause einschlug. Aber es war ihm unmöglich, zu arbeiten.

Enzlehn stürzte in sein Zimmer:

»Hör' mal, heute mußt du mithelfen! Die Dekorationen werden gerade aufgestellt, da brauchen wir noch ein paar Hände!«

Markus begab sich mit in den großen Salon, der durch die übereck errichtete Bühne so verändert aussah, daß er ihn kaum wiedererkannte.

Frau Dr. Labisch, In einem fußfreien, englischen Rock, dirigierte eine Schar von jungen Schauspielern, Handwerkern und dienstbaren Geistern. Die Entreeglocke, das Telephon machten sie ganz verrückt.

»Kinder, seht nach... nehmt die Kartons nur ab... bezahlen? ... ja. wieviel? Ich schicke. Muß gleich sein? Markus, hol' hundert Mark aus meinem Sekretär... Karli... Herr von Enzlehn, legen Sie zu, was fehlt – wir rechnen dann ab. Ist die Kochfrau da? ... wer... wer klingelt? ... Der Friseur? Ja, er soll sich für den ganzen Abend frei halten! Karli, wie heißt das Zeug, das er mitbringen soll? Bartwolle? Fräulein Hennings ist gekommen? Schön... Markus, bezahl' die Droschke!«

Sie war schon ganz heiser. Schließlich warf sie sich in einen Sessel und ließ sich ein Glas Sekt bringen.

»Wer hält mit?«

»Ich... ich... ich...«, riefen die jungen Leute, die in Hemdsärmeln auf der Bühne, unterstützt von den Handwerkern, arbeiteten.

Alle Gesichter glühten vor Arbeitslust und Erregung, sogar Bresch und Nülber tranken einander freundschaftlich zu.

Abends, während der Generalprobe, saß Markus auf einem kleinen Hocker in der Ecke des Salons und wartete auf den Augenblick, da der rote Vorhang sich teilen würde. Er war müde von dem ungewohnten Lärm des Tages, ein bißchen angewidert von dem Ton, der lauten, manierlosen Art, die seinem ganzen Wesen widersprach. Dann waren die Gäste gekommen, und er hatte an der Seite von Dr. Labisch empfangen müssen, da Irene noch nicht mit der Toilette fertig war. Es war wirklich nicht die mindeste Erwartung eines künstlerischen Genusses in ihm.

Und dann ging der Vorhang auf. Das leise Plaudern der Gäste, das Knistern der Seidenroben und Klappern der Fächer verstummte. Ein höfliches, abwartendes Schweigen.

Markus lauschte mit verhaltenem Atem. Aber nicht sein Gehör allein, seine Augen, all seine Sinne waren gefangen, wie ein altes Kinderlied, so schmerzlich-süß durchzog es seine Seele, in innig-vertrauten Klängen, und doch so neu – einer Offenbarung gleich. Große Tränen standen ihm in den Augen, und in ihm jubelte und schluchzte es, als hätten auf einmal all seine Phantasten, als hätte all sein dunkles Sehnen sich erfüllt. Er hörte wieder das Rauschen des Meeres in den Klippen und darüber hinweg das Rauschen seiner eigenen flammenden, sehnenden Seele.

Der Vorhang zog sich zusammen.

Bleich und zitternd stand Markus dann vor Enzlehn:

»Du hast dein Wort gehalten, Karli!«

»Welches Wort?« fragte Enzlehn zerstreut, während er seine Perücke abnahm und sich mit einem Taschentuch über den Kopf fuhr.

»Dein Wort, mich einzuführen in eine Welt der Stimmung und Schönheit... Es war wundervoll, Karli, wundervoll!«

»Tja... so...?«

Dr. Bresch trat schwitzend und keuchend näher.

»Sie, was glauben Sie, haben die da draußen den Zimt 'runtergewürgt?«

Enzlehn lachte sein meckerndes, ironisches Lachen.

»Na, 'runtergewürgt haben sie's, aber wie sie's verdauen werden?!«

Trebiner kam angelaufen.

»Kinder, ein veritabler Reporter is da!«

»Wird er schreiben?« riefen Enzlehn und Bresch wie aus einem Munde.

»Ja... natürlich. Unter der Spitzmarke: »Die Morgenröte einer neuen Kunst.« Kastanien diktiert ihm!«

»Er soll meinen Namen richtig schreiben: e – h – n. So, Kinder, nu aber 'raus aus den Fetzen! Morgen is auch noch 'n Tag, und der Tag, auf den's ankommt! Gibt's bald zu essen?«

Die Perücke in einer Hand, mit der andern die Bartwolle zupfend, stieg Enzlehn von der Bühne herab.

Markus stürzte in sein Zimmer. Er mußte allein sein. In ihm war ein Singen und klingen – die Nüchternheit der Außenwelt aber schlug mit Keulenschlägen alles nieder. Er mußte zur Ruhe kommen.

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand halb offen; statt des Gases brannte nur die mit grünem Schirm verhängte Lampe auf seinem Schreibtisch, wie es üblich war, wenn er arbeitete.

»Morgen um zwölf bei dir«, hörte er eine flüsternde Stimme.

Und wie er näher kam, sah er Enzlehn tief herabgebeugt auf Frau Dr. Labischs entblößten Arm. Er war noch im Kostüm, mit der Perücke in der Hand. Frau Dr. Labisch stand mit dem Rücken zu Markus, ganz nahe der Tür. Weder sie noch Enzlehn hatten Markus' Nahen bemerkt. Und so entfernte er sich wieder, unbemerkt, an allen Gliedern bebend, totenbleich, indem er sich wie ein Trunkener an der Korridorwand hintastete.

»Wo ist meine Frau?« fragte Dr. Labisch im Speisezimmer. – »Es wird Zeit zum Souper... Junge, du bist grün im Gesicht – hat dich das Stück so angegriffen?«

»Tante Irene ist... sie ist bei den Damen. Es wird wohl gleich serviert werden!« stotterte Markus, und gleich darauf trat auch Frau Dr. Labisch ein, mit glänzenden Augen und ihrem reizenden Lächeln in dem schon etwas welken Gesicht. Sie streifte sich einen herabgeglittenen Handschuh hoch.

»Noch zehn Minuten. Die Herrschaften müssen sich erst umziehen. Na, Markus, war's nicht herrlich?«

Aber ohne eine Antwort abzuwarten, begab sie sich in die Salons vorne, wo sie mit lautem Händeklatschen wie eine Diva empfangen wurde.

Markus verbrachte eine schlaflose Nacht. Tausend unsinnige Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Bald wollte er Kurt telegraphieren: »Komme sofort hierher!«, bald wollte er sich Tante Irene zu Füßen werfen und sie beschwören, nicht zu Enzlehn zu gehen. Dann wieder nahm er sich vor, morgen nicht von ihrer Seite zu weichen. Es war ja Sonntag, und er war frei.

Schließlich verwarf er alles als unausführbar und vergeblich. Und ihm blieb nur ein Gefühl: der leise Wunsch, daß weder Dr. Labisch noch Kurt je erfahren möchten, was ein Zufall ihm offenbart hatte.

Zum zweiten Male, aber mit größerem Recht als damals, fühlte er sich als der Hüter eines schweren Geheimnisses. Und mit dem Bewußtsein der Schwere des Vergehens stieg in ihm ein Gefühl des Grauens auf vor dem Weibe, ein Gefühl des Grauens vor dem, was Menschen – Liebe nennen.

Der nächstfolgende Abend, der als eigentliche Premiere die Wiederholung des Stückes brachte, war ein Triumph für »die Morgenröte einer neuen Kunst«, wie das Schlagwort nun einmal hieß. Nülber hatte einen großen schauspielerischen Erfolg; bei Enzlehn frappierte die eigentümliche Art, Verse zu sprechen, die kleine Hennings wurde als »starkes Talent« etikettiert und Dr. Breschs Regietätigkeit als Offenbarung gepriesen.

Jemand sagte zu Frau Dr. Labisch:

»Sie schenken Berlin neue Künstler und eine neue Kunst!«

Und Professor Ramin, der hinzukam, küßte ihr die Hand und fuhr fort:

»Heute zum ersten Male habe ich empfunden, daß die reproduzierende Kunst sich in einzelnen Momenten beinahe zur selbstschöpferischen erheben kann.«

Frau Dr. Labisch ließ ihre leuchtenden Augen mit einem Ausdruck hochmütigster Siegesfreude auf Professor Ramins kühlem, klugem Gesicht ruhen.

»Es ist schade, Herr Professor, daß wir so spät, zu spät zu einer Verständigung kommen«, sagte sie leise und scharf.

»Wenn ich Sie nicht zu verstehen schien, gnädige Frau, so lag es nur daran, daß meine Verehrung für Sie größer war, als meine – Eitelkeit«, gab er ebenso zurück.

Und da sie erblaßte bei seinen Worten, fügte er mit der ihm eigenen Ritterlichkeit hinzu:

»Seien Sie gnädig mit mir. Der heutige Abend, der einen Triumph für Sie bedeutet, macht es Ihnen ja so leicht, großmütig zu sein!«

Er verneigte sich tief, und sie sah ihm nach, wie er mit seiner hohen, gestreckten Gestalt beinahe alle überragend, in feinen und klugen Worten zusammenfaßte, was jeder einzelne stark, aber verworren empfand.

Beim Souper saßen Frau Dr. Labisch und ihr Mann einander an den Schmalenden der langen Haupttafel gegenüber, und an den Breitseiten Professor Ramin und Enzlehn.

Markus hatte noch im Speisezimmer, aber an einem der kleinen Tische, mit anderen jungen Leuten Platz gefunden und konnte bequem die ganze Tafel übersehen. Nie war ihm Tante Irene so schön erschienen wie heute. Das stark Gekünstelte, womit sie der Natur zu Hilfe kam, verlor sich bei dem welchen Licht der schirmbeschatteten Kerzen. Ihre überschlanke Gestalt war merklich voller geworden, und ihr ganzes Wesen schien von dem Bewußtsein ihres Erfolges und ihrer Anmut getragen.

Beim Fasan erhob sich der Konrektor des Gymnasiums, der zu den Gästen gehörte, und holte zu einer langen Rede aus, die vor allem dem Hochzeitstage des Gastgebers galt.

Frau Dr. Labisch, die wohl gern auf den Hymnus ihrer ehelichen Tugenden verzichtet hätte, die »durch vierundzwanzig Jahre« – der Konrektor hatte die Geschmacklosigkeit, die Jahreszahl anzugeben – »das Heim ihres Gatten verschönten«, zuckte nervös mit den Brauen, während Dr. Labisch mit offenem Munde zuhörte und durch gerührtes Nicken immer wieder seine Zustimmung äußerte.

Professor Ramin behielt während der ganzen Dauer der Rede eine undurchdringliche Maske, während Enzlehn mit wie eingefrorenem, hochmütigem Lächeln dasaß.

Dann ging Dr. Labisch auf seine Frau zu und drückte ihr, ehe sie sich's versah, einen Kuß mitten auf die Lippen. Er war so gerührt, daß er nichts Unschickliches in seinem Benehmen fand und in diesem Kuß nur eine demonstrative Bekräftigung all der schönen Worte sah. Aber sie wandte sich verlegen und etwas ärgerlich den andern zu, stieß mit Ramin und Enzlehn an und merkte es gar nicht, daß Markus ihr fern blieb und nur kräftig an Dr. Labischs Glas schlug.

»Du hältst ja das Glas falsch, es klingt nicht,« lachte Dr. Labisch.

Und Markus lachte ziemlich blöde mit und sah noch, wie Professor Ramin und Enzlehn beim Niedersetzen über den Tisch hinweg einander förmlich und kalt zutranken...

– – Nach diesem bedeutungsvollen Abend wurde es verhältnismäßig still bei Labischs.

Die »Clique«, wie Enzlehn seine Gruppe nannte, verkehrte nach wie vor in dem gastlichen Hause, aber das eigentliche Operationsfeld ward nach außen verlegt. Die Vorstellung sollte später öffentlich wiederholt werden.

Frau Dr. Labisch hatte das dazu erforderliche Geld ohne viel Überlegung zugesagt.

Markus hörte einmal einen heftigen Auftritt in Dr. Labischs Arbeitszimmer. Frau Gröhlkes Stimme klang scharf und keifend, wie die eines Marktweibes.

»Uffs faule Stroh laß, ick mir von dir nich hinlejen, verstehste«!«

Dann kam der polternde Baß Gröhlkes:

»Sachte, Mutter, sachte. Aber wahrhaftjen Gott, Jreneken, det jeht nich so weiter. wat machste denn bloß mit det ville Jeld?«

»Unter Kuratel, unter Kuratel!« schrie Frau Gröhlte. »Det verlang' ick von dir, Georch!«

Frau Dr. Labisch trat aus dem Zimmer mit krankhaft gelöteten Wangen und riß die goldene Kette mitten durch, die sich um ihren Hals schlang.

»Du hast gehorcht!« fuhr sie Markus an.

»Aber Tante Irene! Ich wollte gerade an die Luft und habe meinen Mantel genommen!«

Er sprach ohne Erregung, wie zu einem kranken Kinde. Sie zuckte die Achseln und wendete ihm den Rücken.

Später rief sie ihn ins Zimmer und sagte:

»Du... Markus... du könntest mir einen Gefallen tun.«

»Bitte – «

»Ich habe Enzlehn ein paar Tage nicht gesehn. Vielleicht suchst du ihn im Café auf. Ich habe dringend geschäftlich mit ihm zu sprechen... dringend!«

Markus beugte sich über seine Bücher:

»Ich kann nicht, Tante Irene, wirklich, ich kann nicht... ich habe so viel zu tun.«

»Du nimmst ein Auto. In einer halben Stunde kannst du wieder zurück sein...«

»Nein, Tante Irene... ich kann nicht!«

Mit heftig zitternder Hand tauchte er die Feder in die Tinte und setzte sich an die Arbeit.

»Warum kannst du nicht, Markus? – Du willst nicht?!«

Heiser kamen die Worte von ihren Lippen, und ihre Augen flackerten unheimlich auf. Markus machte aufs Geratewohl ein paar Striche in sein Heft. Er antwortete nicht.

»Du willst nicht?« wiederholte sie beinahe drohend.

Er zog die Mundwinkel ein.

»Nein, Tante Irene, ich will nicht,« sagte er kaum hörbar.

Ein lautes klirren wie von zerbrochenem Glas, das Aufschlagen des Silbertablettes auf den Boden.

»Das ist abscheulich, das ist niederträchtig!«

Und krachend flog die Tür ins Schloß.

Es bedurfte einiger Minuten, ehe Markus sich von dem lähmenden Entsetzen erholt hatte. Das ganze Zimmer drehte sich vor seinen Augen.

»Um Gottes willen,« flüsterte er leise. »Um Gottes willen...!«

Endlich hob er das Tablett auf und läutete dem Mädchen:

»Ach, bitte, Anna, fegen Sie das zusammen und wischen Sie auf – ich war so ungeschickt.«

Das Mädchen wollte etwas antworten; aber da sie Markus' geisterhaft bleiches Gesicht sah, unterdrückte sie die Antwort, unterdrückte sogar das Lächeln...

Frau Dr. Labisch blieb einige Tage in ihrem Zimmer. Dann erschien sie eines Mittags wieder wie immer bei Tisch, mit verquollenem Gesicht, grauen Wangen.

Dr. Labisch sah sie bekümmert an.

»Leidest du noch?« fragte er sie.

»Ich? Nein... warum?«

Sie antwortete scharf und abweisend. – –

Einige Wochen darauf wurde ein Stück gegeben, in dem Enzlehn zum ersten Male eine größere Rolle spielte.

»Ich würde dich mitnehmen. Markus, willst du?«

Markus sah unschlüssig auf Dr. Labisch.

»Ja, mein Junge. Geh nur. Einmal ist keinmal. Du bist fleißig genug.«

»Möchtest du nicht lieber gehen, Onkel?«

»Meiner Frau bin ich nicht modern genug«, lachte er gutmütig. »Da will ich ihr den Genuß nicht verderben.«

»Also du kommst?« fragte Frau Dr. Labisch, ohne Markus anzusehen.

»Wenn du erlaubst...«

Sie saßen in einer Proszeniumsloge. Es waren viele Bekannte im Theater, und Frau Dr. Labisch grüßte nach allen Seiten wie eine Königin. Im Parkett saß verteilt der Stammtisch des Café Monopol. Sie machte jedem einzelnen ein Zeichen, später zu ihr in die Loge zu kommen.

»Dr. Bresch sieht ja geradezu elegant aus«, flüsterte sie Markus lachend zu. »Was sagst du zu seinem modernen Kragen?«

Nach Schluß der Vorstellung stand sie in ihrem kostbaren Theatermantel, auf Markus' Arm gestützt, umgeben von ihrer »Garde«, wie sie sagte, und wartete auf Enzlehn. Er ließ auffallend lange auf sich warten.

»Willst du nicht lieber nach Hause, Tante Irene?« fragte Markus, der wie auf Nadeln dastand.

»Nein, Markus, wir müssen deinem Freunde doch gratulieren, und dann wollen wir noch ein bißchen zusammen sein.«

Enzlehn biß sich auf die Lippe, als er die Gruppe erblickte. Er hatte gehofft, mit der »Clique« spurlos zu verduften.

»Sie haben auf mich gewartet? Zu liebenswürdig, gnädige Frau! Waren Sie zufrieden mit mir? Ja? Das macht mich glücklich. Darf ich Sie zum Wagen geleiten?«

»Nein, lieber Freund, wir müssen den heutigen Abend zusammen feiern! Aber wo?«

»Kempinski«, schlug Nülber vor, dessen höchstes Ideal die elegant servierten Fünfundachtzigpfennig-Gerichte waren.

Frau Dr. Labisch lachte.

»Nein, Hiller. Zwei Autos!« warf sie dem Portier hin. »Ich fahre mit Herrn von Enzlehn voraus, Markus, du folgst mit den Herren, nicht wahr?!«

Als Markus mit den anderen eintraf, wies man sie in den kleinen roten Salon, wie es schien, war alles schon vorbereitet; denn auf dem seinen Damast waren rote Nelken ausgestreut, und auf dem Serviertisch standen verschiedene Marken Wein, deren Zusammenstellung eine sorgfältige Auswahl verriet.

»Nun, meine Herren, wie finden Sie die kleine Überraschung?«

Sie sagte es mit gezwungener Fröhlichkeit und nahm am oberen Ende des Tisches Platz.

»Du hast eben Kultur in den wilden Westen hineingetragen, Tante Irene,« antwortete Markus mit ausweichendem Blick.

Sie fuhr ihm mit dem Fächer leicht übers Gesicht:

»Bist du wieder mein kleiner Markus?«

Enzlehn sah verkniffen aus. In seiner zartfarbigen Krawatte steckte eine schwarze Perle, die Markus zum erstenmal an ihm bemerkte.

»Jetzt ist der Stamm des Baumes vom Garten der Erkenntnis beisammen«, rief Kastanien und legte schmunzelnd die Serviette auseinander. Sein Gaumen war im Gegensatz zu seiner äußeren Person ziemlich kultiviert.

»Nur die Hennings fehlt«, meinte Trebiner.

»Ich werd sie holen, wenn gnädige Frau erlauben«, schlug Nülber vor, sprang auf und stülpte seinen Kalabreser auf. »Die Vorstellung im ›Deutschen‹ ist kaum zu Ende!« »Nehmen Sie ein Auto, Nülber! Der Portier soll auslegen«, rief Frau Dr. Labisch ihm nach.

Und eine Viertelstunde später brachte Nülber auch die kleine Hennings. Man machte großen Lärm, es wurde sehr laut gesprochen, sehr geräuschvoll gelacht. Aber die rechte Stimmung wollte nicht aufkommen. Enzlehn behielt sein verkniffenes Gesicht.

Frau Dr. Labisch übertünchte eine heftige innere Unruhe durch überlautes und überhäufiges Lachen, und Markus war sehr bedrückt.

Nach dem Souper verlangte Frau Dr. Labisch, ins Café Victoria geführt zu werden.

»In der auffallenden Toilette?« fragte Enzlehn mißbilligend.

»Ach, was macht das? Ich habe ja Beschützer genug!«

Sie gab Enzlehn einen leichten Nasenstüber und reichte dann Markus ihre Börse über den Tisch.

»Bezahl' draußen, während wir uns fertig machen!«

Enzlehn stürzte ihm nach.

»Du siehst ja wütend aus«, sagte Markus, während der Kellner einen der Hundertmarkscheine wechseln ging.

»Wie eine Klette ist sie«, stieß Enzlehn hervor. »In der Früh' ist sie in meiner Wohnung, nachmittags im Café. Wohin ich gehe – wo ich stehe – sie ist da! Sie sollte doch wenigstens den Geschmack haben, sich mir nur am Abend zu zeigen – das Tageslicht ist ihr wahrhaftig nicht mehr zuträglich!«

»Ich begreife nicht... ich begreife nicht«, stammelte Markus.

»Du begreifst nie was, du! Also – ich lasse mich nicht von ihr kompromittieren – verstehst du! Ich hab's satt. Ich bin im Begriff Karriere zu machen, ich muß an meine Zukunft denken... ich will dieses Anhängsel nicht immerfort herumschleppen, ich will nicht!!«

Seine kalten grauen Augen füllten sich mit Tränen ohnmächtiger Wut. Seine Selbstbeherrschung schien zu Ende. Er zitterte am ganzen, schmächtigen Körper.

»Weißt du, was mir gestern einer bei der Probe zurief? ›Du, deine Alte soll ja unter Kuratel gestellt werden!‹«

Der Ober kehrte zurück mit der Rechnung und dem Gelde unter der Serviette.

»Bitte, Herr...«

Markus winkte dem Ober mechanisch ab.

»Sag' ihr's doch... sag' ihr's schonend...«

»Schonend?! Brutal hab' ich ihr's gesagt! Brutal, wie man es einer Dirne zuschreit«, zischte Enzlehn. »Sie hat mir ein Papiermesser ins Gesicht geworfen und hat mir ihre Geschenke vorgeschmissen!«

»Karli, ich bitte dich, hör' auf. Ich bitte dich...«

Markus hielt sich kaum aufrecht. Er lehnte an der Wand des bereits halbverdunkelten, leeren Vordersalons und fuhr sich mit dem Daumen zwischen Hals und Kragen, als fürchte er zu ersticken.

Enzlehn umklammerte mit seinen grauweißen, hageren Händen die Lehne eines Stuhles.

»Und ich sage dir, Markus, wenn sie mich nicht zufrieden läßt, ich bin imstande und schreibe selbst ihrem Mann einen anonymen Brief...«

Markus faßte Enzlehn beim Handgelenk und riß ihn ganz nahe an sich heran. Jetzt war er ganz ruhig. Nur seine Augen bohrten sich messerscharf in Enzlehns fahles Gesicht:

»An demselben Tage, wo du das tust, gehe ich in den nächsten Laden, kaufe eine Hundepeitsche und schlage dir damit übers Gesicht. So, Karli, hast du mich nun verstanden?«

»Laß meine Hand los«! Was sind das für Witze...«

»Hast du mich verstanden?« wiederholte Markus, jede Silbe scharf betonend.

»Zum Kuckuck – ja!«

Markus ließ Enzlehns Hand fahren.

»Mußt du denn alles gleich wörtlich nehmen?«

Aber das ironische, überlegene Lächeln, das diese Worte begleiten sollte, mißlang ihm, und er wendete sich ab, um sich mit dem Taschentuch die naßkalte Stirn zu trocknen.

»Nun, meine Herrschaften, wir warten,« ließ sich Frau Dr. Labisch vernehmen.

Sie hing sich in Enzlehns Arm ein, der steif herabfiel, und trieb zur Eile an:

»Avanti, meine Herrschaften, avanti – – «

Einige Minuten darauf hielt sie ihren Einzug ins Café.

»Was hat dir Enzlehn gesagt?« fragte Frau Dr. Labisch, als sie später an Markus' Seite durch die tote dunkle Stadt sauste.

»Nichts, Tante Irene,« antwortete er ausweichend.

Der Klang seiner Stimme war so beschwörend, daß sie abließ.

Sie drückte sich in die Wagenecke, zog ihr kleines, duftendes Spitzentüchelchen vorsichtig aus dem goldgestickten Täschchen und weinte still und ganz leise vor sich hin.

Markus aber starrte durch die Scheiben hinaus in die Nacht und dachte daran, wie anders es doch war, als noch Doktor Ramin das Gefühlsleben dieser Frau beherrschte – wie anders sie da selbst war – –


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