Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Die Genesung schritt nur langsam vorwärts. Und sie gab der Kranken nicht jenes leichte Frohgefühl, das wie eine Wiedergeburt zu sein scheint, in der man zum Kinde wird und gerührt den Himmel, die Sonne, alles bis auf das kleinste Hälmchen, wie ein großes Wunder anstaunt und mit jauchzender Dankbarkeit begrüßt.

Sie schloß sich ab vor der Sonne, wehrte Luft und Licht das Eindringen in ihr Zimmer und ließ die Besuche ihrer Eltern mit zitternden Nerven über sich ergehen.

Die Ärzte hatten entschieden, daß sie nach Nauheim sollte. Sie sagte nichts dagegen, weil sie wußte, daß es ihr nichts nützen würde.

Dr. Labisch unterhielt eine zahlreiche Korrespondenz mit verschiedenen dortigen Sanatoriums- und Pensionsinhaberinnen.

»In ein Sanatorium gehe ich keinesfalls«, erklärte Irene, als Dr. Labisch ihr eines Tages die Photographie eines jener »Erholungsheime« brachte.

Und da weder er noch Markus bei ihr etwas ausrichten konnten, beschloß er, die Frau Hofprediger zu bitten, seiner »armen, kleinen Frau Räson beizubringen«.

Die Frau Hofprediger kam.

Sie hatte einen großen Blumenstrauß in der Hand, den ihr Sohn der »lieben Rekonvaleszentin zu Füßen legte«, bis es ihm selbst gestattet sein würde, zur Genesung zu gratulieren.

»Sie haben uns eine Angst eingejagt, böse, kleine Frau, mit Ihrer Krankheit. Aber, gottlob, ich sehe, es geht wieder. Ein kleiner Badeaufenthalt – und Sie kommen uns ganz hergestellt wieder! Dann spielen wir auch wieder Whist und kommen öfters zusammen.«

Irene faßte die Hand der Frau Hofprediger.

»Ja, nicht wahr, es wird sein, wie früher?«

Angst und Hoffnung lagen in ihrem Ton, und eine zarte Blutwelle färbte ihr blasses Gesicht.

»Aber natürlich, natürlich ...«

Frau Hofprediger lächelte anmutig und klopfte mütterlich auf die abgezehrte, bleiche Hand.

Markus kam in diesem Augenblick herein.

»Wie gut du aussiehst, Tante Irene!«

»Ja, mir ist auch gut. Es ist so schön, wenn man nicht immer nur von seiner Krankheit sprechen hört ...«

Das Mädchen brachte einen zierlich gedeckten Teetisch herein, Frau Hofprediger machte die Wirtin.

»Mein Sohn erzählte mir neulich, daß Sie seit Pfingsten mächtig ernst arbeiten, lieber Markus?«

Markus antwortete, ohne zu überlegen:

»Der Tod mag einen ernster stimmen, gnädige Frau. Er ist mir zum ersten Male und in schneller Folge nahegetreten.«

Frau Irene zerpflückte eine Blume.

»Du mußt nicht von so schrecklichen Dingen sprechen, Markus!«

Markus hätte sich die Zunge abbeißen mögen. Wie durfte er gerade die Erinnerung an Klumpchens Tod heraufbeschwören! Er, der einzige, der ahnte, wie alles zusammenhing! Seine Blicke irrten scheu über den Teppich.

Aber Frau Hofprediger lächelte sehr liebevoll.

»Meine liebe Irene, den Tod Ihres armen Kindes müssen Sie als eine Erlösung für das arme Geschöpf auffassen. Der Tod ist in Ihr Haus als barmherziger Helfer getreten. Sein Name darf Sie nicht schrecken.«

»Quatschtante«, dachte Markus respektlos. Und eine leise Verachtung stieg in ihm auf gegen alle diese klugen, abgeklärten Menschen, die so an der Oberfläche hängenblieben und so grob organisiert waren, daß sie nur das sahen und empfanden, was sie mit ihren einfachen Instinkten erfaßten!  ...

Jedenfalls erreichte die alte Dame mit ihrer trivialen, durchsichtigen Politik mehr, als alle Bitten und Vorstellungen des Dr. Labisch.

Irene erklärte sich bereit, alles Erforderliche zu tun, um gesund zu werden. Dann kam noch ein Abend, an dem Ramins erschienen. Es war wieder die warme, nur etwas gedämpfte Stimmung der ersten Zeit. Frau Hofprediger verstand es meisterlich, Almosen zu verteilen. Denn mehr als ein Almosen war er nicht, dieser Abend, den Irene als ein neues Versprechen für die Zukunft auffaßte.

Man hatte den Whisttisch aufgestellt und die Leuchter angezündet, aber Irene war noch zu schwach, um spielen zu können. Sie kiebitzte, im Lehrstuhl liegend, und lächelte glücklich.

»Sie bringen mir Glück, gnädige Frau«, sagte Dr. Ramin.

Und sie wurde rot wie ein kleines Mädchen, und Tränen stiegen ihr in die Augen, denn alles überwältigte sie noch seit ihrer Krankheit. Und das Gute mehr als das Böse.

»Werden Sie mir von unterwegs schreiben?« fragte Irene den Direktor bei Tisch.

»Wenn Sie gestatten, gnädige Frau...«

»Schaffen Sie sich nur ein Album an für unsere Karten, liebes Kind, wir werden Sie überfluten«, sagte Frau Hofprediger.

Irenes Brauen zuckten nervös:

»Ich meine nicht nur Ansichtskarten!«

Dr. Ramin fuhr sich mit den Fingerspitzen ein paarmal über sein glattrasiertes Kinn.

»Sie glauben gar nicht, was ich für ein schlechter Briefschreiber bin, gnädige Frau!«

»Geben Sie sich etwas Mühe«, bestand Irene eigensinnig.

Und in ihren Augen lag mehr als lächelnde Bitte.

Frau Dr. Labischs Erkrankung hatte die Sommerpläne umgestürzt. Da sie in größter Ruhe sechs Wochen in Nauheim zubringen sollte, war beschlossen worden, daß Markus mit Kurt auf vier Wochen nach Bornholm ging, während Dr. Labisch mit einem Kollegen ins Riesengebirge wollte.

Kurt kam gerade noch, um seine Mutter ein paar Tage in Berlin zu sehen.

Er war untersetzt und kräftig, mit prachtvollen Renommierschmissen.

Statt aller Begrüßung hob er seine Mutter auf den Arm und trug sie durchs Zimmer.

»Schöne Sachen machst du!«

Dann küßte er sie ab und bettete sie folglich auf die Chaiselongue.

»In vier Wochen mußt du anders aussehen!«

Sie lächelte und sah den starken, burschikosen jungen Menschen halb erschrocken, halb erstaunt an. War es möglich, daß das ihr Sohn war?

Ein dichter, kurzer Schnurrbart beschattete seine Oberlippe. In seinen raschen Bewegungen lag ruhige Entschlossenheit.

Markus schien ihr durch die bloße Anwesenheit Kurts nähergerückt. Als wäre Markus ihr Sohn, und nicht jener energische, lautsprechende Herr.

»Na, Mamachen, was machen wir für große Augen?«

Kurt sprach mit ihr wie mit einem kleinen Kind, und sprach über sie hinweg von eigenen Erlebnissen, und gleichgültigen Geschehnissen.

»Du, Markus, die kleine Enzlehn wird ganz niedlich. Jetzt mimt sie am Sommertheater in Heidelberg und kratzt den Fachkolleginnen, die zwei Worte mehr zu reden haben als sie, die Augen aus. Eine tüchtige Krabbe!«

Er schüttelte sich vor Lachen.

»Ich begreife nicht, Kurt, wie du so leichtfertig über ein Mädchen sprechen kannst, in dessen Elternhause wir verkehrt haben!«

Frau Dr. Labisch lächelte seit langem wieder einmal ihr altes, etwas frivoles Lächeln. Aber es huschte über ihr Gesicht, ohne ihm den alten Ausdruck zu geben, vielleicht fühlte sie selbst den Anachronismus dieses Lächelns.

Kurt erhob sich, biß die Zähne zusammen und sagte:

»Brav sein, kleine Mama. Schlafen. Ich geh' unterdessen zu Vatern, sonst muß ich den kleinen Markus noch ankontrahieren für seine impertinente Lektion.«

Im Nebenzimmer aber sagte er:

»Du bist und bleibst 'ne Nöhle, Markus. Werde nur nicht sentimental, wenn du von Claire sprichst. Du blamierst dich unsterblich.«

Er empfand Kurt zum ersten Male als Plebejer und wehrte die burschikosen Angriffe auf seine vermeintliche »Unreife« mit dem hochmütigsten Lächeln seiner schmalen Lippen ab.

Mochte Kurt auf Mensuren Blut verspritzen und mit der Gunst kleiner Schauspielerinnen renommieren, nicht Kurt – er war es, der einen tieferen Blick in das Leben getan, nicht Kurt – er war es, dem sich das Wesen der Frau, das Wesen der Liebe in seiner gewaltigsten Form offenbart hatte.

Mit krummen Säbeln und Kraftausdrücken war dieser furchtbaren Macht des Lebens nicht beizukommen – o nein!

Kurt erkundigte sich nach Enzlehn.

»Ich habe ihm Grüße von seiner Schwester Claire Nelzen zu bringen.«

»So – Nelzen heißt sie jetzt?« fragte Markus.

»Na, du kennst doch die Geschichte vom seligen Papa? Soll der alte Herr wirklich im Grabe egal rotieren?«

»Ich habe Enzlehn lange nicht gesehen durch die Krankheit deiner Mutter. Ich weiß nur, er hat ein kleines Sommerengagement hier an einem der Theater, und von 5 bis 7 Uhr sitzt er im ›Café des Westens‹.«

»Gut. Gehen wir hin. Den Kunstembryonisten stelle ich mir entzückend vor im Café! Roter Samt als Hintergrund, was?«

Aber in der Joachimsthaler Straße sagte der Ober, der Herr von Enzlehn hätte nur mehr abends seinen Stammtisch da. Am Nachmittag verkehre er im Café Monopol.

»Schön. Also auf ins Monopol.«

Kurt winkte mit seinem Stock einen Taxameter heran.

»Monopol-Café – Friedrichstraße. Los!«

Kurt lehnte sich behaglich zurück in die Kissen und rauchte eine Zigarre an.

»Du rauchst natürlich noch nicht?«

»Nein. Ich mache mir nichts draus.«

»Allerhand Hochachtung! Markuschen, in deinem Alter hätte ich das unter keinen Umständen zugegeben. Das nenne ich Charakter!«

Kurt war sehr gesprächig. Er redete eigentlich ununterbrochen. Sein starker Lebensimpuls mußte sich immer in etwas umsetzen, konnte er nicht ochsen, fechten, turnen, trinken oder reiten, – so redete er.

Enzlehn saß im Café an einem Pfeiler des Mittelganges, umgeben von einer Anzahl junger Leute mit langen Haaren, schlecht rasierten Gesichtern und zweifelhafter Wäsche.

»Pfui Deiwel«, murmelte Kurt und fuhr sich an die Nase.

»Ach, es sind doch ganz nette Menschen«, sagte Markus ein bißchen verlegen, und die beiden traten näher.

Enzlehn hatte es sich seit einiger Zeit zum Prinzip und zur Pose gemacht, nie Überraschung zu zeigen. Er begrüßte also Kurt mit gelassener, beinahe herablassender Freundlichkeit, als hätte er eben erst mit ihm zu Mittag gespeist, und stellte dann vor:

»Herr Max Müller, Herr Dr. Berthold Bresch, Herr Alois Trebiner, Herr Kastanien – mein Freund Kurt Labisch – Markus Lukas kennen Sie ja!«

Die Herren rückten zusammen.

»Stellen Sie noch einen Tisch hier heran!« gebot von Enzlehn.

Und obwohl keiner von den Herren Miene machte, seine leere Tasse zu erneuern, ging der Kellner bereitwilligst an die Arbeit.

Es war der Reklametisch des Cafés. Der Instinkt der Wiener »Ober« eilt von jeher dem Verständnis der Kritik und des großen Publikums voraus.

Und der elegante Ober hier pflegte stets der erste Mäzen junger Kunstgrößen zu sein. Max Nülber, der nach fünfjähriger Schmierenzeit endlich am Deutschen Theater angelangt war, hatte noch nicht die Muße gefunden, sich die Fransen von den Hosen zu schneiden, und stak tief in der Kreide.

»Das macht nix. Herr Nülber werden schon zahln!« meinte der Ober devot, wenn Nülber summend oder pfeifend sein schäbiges Portemonnaie herauszog und dann undeutlich murmelte:

»Lassen wir's auf morgen, nicht wahr?«

Pump untereinander war nicht üblich. Die Herren hatten vorläufig nur die äußeren Allüren der Bohême, im übrigen waren sie gute Rechenmeister und für durchaus reinliche Trennung von Dein und Mein. »Gewurzt« wurde nur der Außenstehende.

Markus hatte immer große Mühe, sie voneinander zu unterscheiden. Er fand, daß sie einander merkwürdig ähnlich waren: unter Mittelgröße, mit breitem Nacken, schwarzhaarig, kurzarmig – lauter Varianten des bekannten Napoleontypus.

Max Nülber und Dr. Berthold Bresch kamen dem Original am nächsten. Berthold Bresch hatte gerade seinen Doktor gemacht und inszenierte gelegentlich irgendein ganz verstiegenes Werk irgendeines ganz verstiegenen Poeten.

Alois Trebiner verachtete das Theater überhaupt. Er kaute an einer endlosen Virginia und rief dazwischen:

»Was soll uns die getünchte Pappe? Gebt uns Leben! Gebt uns Natur! Tannenduft und Wiesengrün und antike Größe!«

Markus wunderte sich, wie schnell sich Kurt in den eigenartigen Ton dieses Kreises fand. Dabei bot er ihnen nicht einmal eine Zigarre an.

Und die Feindlichkeit, die sich auf den Gesichtern gezeigt hatte, als Markus und Kurt an den Tisch herantraten, wich allmählich einer neugierigen Sympathie.

Praktisch hatte Kurt am Theater mehr erlebt, als sie alle zusammengenommen. Er erzählte tausend Schnurren, lustige Kulissengeschichten, und zeigte dazwischen, daß ihm die Namen der Götter von morgen geläufig waren.

Enzlehn war der einzige, der ihm mit einiger hochmütiger Reserve zuhörte.

Dr. Bresch aber klopfte ihm zum Schluß auf die Knie und sagte:

»Wir müssen mal was zusammen machen!«

Sorgfältig notierte er sich Kurts Adresse.

Enzlehn lächelte ironisch:

»Nimm dich in acht, Kurt, wenn du erst in Breschs Adreßbuch kommst – «

»Dann merkt sich Nülber Ihren Namen für alle Ewigkeit«, ergänzte Kastanien.

Etwas später kam ein blasses, sehr schlecht angezogenes Mädchen, das Max Nülber als seine Braut vorstellte. Sie wurde sehr rot dabei und lehnte die der Form halber gemachte Einladung, eine Tasse Kaffee zu trinken, ab.

»Es wird Zeit! Ihr kommt doch mit?« fragte er Kurt und Markus.

Enzlehn erhob sich.

Dabei warf er ein Fünfzigpfennigstück klirrend auf das Marmortischchen und ließ sich vom Pikkolo großartig in einen funkelnagelneuen Sommermantel helfen.

»Servus, Kinder. Um halb elf Café des Westens.«

Nachlässig hob er zwei Finger zur Krempe seines englischen Hutes, hatte die Krücke seines Stockes über den Arm und schritt langsam zur Ausgangstür, während Kurt und Markus sich noch umständlich verabschiedeten.

»Du mußt jetzt wohl ins Theater, Enzlehn?« fragte Kurt, zum erstenmal den Jugendfreund nicht beim Vornamen nennend.

»Ja, aber ich habe noch Zeit. Wir können ein Stück zu Fuß gehen.«

»Na und abends bist du wieder mit deinen Freunden zusammen?«

»Ja. Übrigens sind's gar nicht meine Freunde.«

»So? Na, was macht ihr denn stundenlang, halbe Tage lang zusammen?«

»Nichts! Wir sitzen. Wir sind da. Wir sind ein Tisch. Eine Gesellschaft. Eine Richtung. Nenne es wie du willst.«

»Na, können sich die Kerls denn nicht waschen?« Kurt lachte und schüttelte den Kopf.

»Es ist noch nicht so lange her, daß ich selbst den Wert der Äußerlichkeiten begriffen habe. Sei überzeugt, die werden's auch noch erfassen.«

Kurt sah ihn mit spöttischer Bewunderung an.

»Du siehst ja allerdings patent au«! 'n bißchen zu kokett für meine Begriffe, aber sehr schick – «

»Ja, ich bin auch ganz erstaunt, Karli«, sagte Markus und hing sich in den Freund ein.

»Laß das!«

Enzlehn schob ihn leicht von sich.

»Ihr vergeßt, Kinder, daß mein Onkel der eleganteste Mann von Berlin ist. Und cm dem Tag, an dem ich zu ihm kam, ihn zu bitten, sich meiner anzunehmen, gab er mir die Adresse seines Schneiders.«

»Na, und – « fragte Kurt.

»Weiter nichts.«

»Das ist alles?«

»Mehr brauche ich nicht.«

Ein fahles, ironisches Lächeln, wie es jetzt beinahe immer um Enzlehns Lippen schwebte, verzog auch jetzt seinen Mund.

»Mit euch kann ich offen reden. Mein Onkel ist bei aller Gutmütigkeit ein großer Egoist. Mit Empfehlungen an Direktoren ist er sparsam. Eine Empfehlung an seinen Schneider kostet ihn nur Geld – und eröffnet mir allerlei Möglichkeiten, ohne ihn irgendwie zu kompromittieren.«

»Donnerwetter!« entfuhr es Kurt.

»Ja, es ist ein Mann, den ich außerordentlich bewundere.«

»Na ja... eigentlich eine verflucht kalte Hundeschnauze.«

»Ein großer Menschenkenner,« sagte Enzlehn, »ich glaube, das kommt auf dasselbe heraus.«

Markus fühlte sich verletzt und schwieg.

Er konnte es überhaupt nicht fassen, daß Enzlehn keine Frage an ihn richtete über die letzten Wochen.

Ganz flüchtig erkundigte er sich jetzt.

»Und wie geht es Frau Doktor Labisch? Markus schrieb mir, sie wäre sehr krank gewesen, aber ich war so sehr mit eigenem beschäftigt – – «

»Sie war dem Tode nahe!« warf Markus heftig dazwischen.

In ihm loderte eine namenlose Empörung auf.

»O!« sagte Enzlehn bedauernd. »Ich werde ihr meine Aufwartung machen... eine so entzückende Frau.«

»Da wirst du schon bis zum Herbst warten müssen, mein Junge. Jetzt reisen wir...« sagte Kurt trocken und bot Enzlehn zum Abschied die Hand. »Übrigens Claire läßt dich grüßen – «

»So, danke. Macht sie Karriere?«

»Ich glaube. Sie hat schon fünfhundert Mark Schulden bei ihrer Schneiderin. Heidelberg ist billig.«

Enzlehn lachte. »Aha... Na, Markus... was ist denn los?«

Aber Markus war vorausgeeilt, als wollte er sich davor drücken, Enzlehn die Hand zu reichen.

»Laß ihn laufen, Enzlehn. Der Junge hat einen niederträchtigen Spleen.«

Enzlehn sah Kurt verständnislos an.

»Den Spleen der Anständigkeit.«

Er kann ihn sich schließlich leisten«, entgegnete Enzlehn spöttisch. »Servus, Labisch!«

»Servus, Enzlehn!«

Markus stand vor einem Sodakiosk und stürzte ein Glas Selterwasser herunter, als Kurt ihn einholte.

»Ekelhaft«, murmelte Markus zwischen den Zähnen.

Kurt faßte ihn unter und schlenderte mit ihm die Königgrätzer Straße hinauf zum Potsdamer Platz, der mit seinem brausenden Leben in die satte Glut der untergehenden Sonne getaucht war.

»Warum ekelhaft? Ulkig ist er – weiter nichts.«

Und Kurt Labisch lachte noch einmal aus vollem Halse sein junges, starkes ansteckendes Lachen. – –

Abends ging Kurt manchmal mit dem Vater auf den Bummel.

Dr. Labisch wurde wieder ganz jung bei den Studentengeschichten, die ihm Kurt erzählte. Es war der einzige Boden, auf dem sich Vater und Sohn völlig verstanden, wenn sich auch der Lebensgang des armen, hungrigen Studentleins mit dem des schneidigen Korpsbruders nicht vergleichen ließ.

Dr. Labischs träges, schläfriges Bierherz schlug ihm lebhafter gegen den Rock, als seit vielen Jahren...

»Prosit, Papa!«

Kurt hob sein viertes Glas kommentmäßig in die Höhe, und Dr. Labisch kam dem Komment mit peinlichster Genauigkeit nach.

»Du solltest Direktor Ramin besuchen,« sagte Dr. Labisch.

Kurt rieb den Ring mit dem Wappen seiner Verbindung an seinem Beinkleid glänzend.

»Ist das unbedingt nötig?«

»Es wäre ein Akt der Höflichkeit. Wir sind mit Ramins eng befreundet, und gerade jetzt, wo ich sein Nachfolger werden soll...«

»Na ja...«

Kurt paffte dicke Rauchwolken vor sich hin. Der übermütig lustige Ausdruck seines Gesichts war verschwunden.

»Ich dachte, der Verkehr wäre gar nicht mehr so rege«, meinte er zögernd.

»In letzter Zeit natürlich, weil deine Mutter krank wurde, aber bis dahin – Hast du was gegen den Direktor?« –

Kurt schwieg.

Dr. Labisch fragte nochmals:

»Hast du was gegen ihn?«

»Nee, nee, Gott bewahre«, sagte Kurt zögernd. »Nur die Frau Hofprediger kann ich nicht recht verknusen.«

»Ach, das hat dir deine Großmutter in den Kopf gesetzt... Deine Großeltern sind nicht maßgebend. Es sind einfache Leute, die kein Verhältnis finden können zu einer Dame, wie Frau Hofprediger ist.«

Kurt kaute faul an seiner Zigarre.

»Seitdem Mama so intim mit ihr verkehrt, ist sie ganz aus dem Geleise.«

»Ach, schwatz doch keinen Unsinn!«

Dr. Labisch klopfte sich die Asche von seiner Weste und rief: »Zahlen!«

Um den Vater einigermaßen zu versöhnen, machte Kurt am nächsten Tage Visite bei Ramins.

Dr. Ramin empfing ihn mit vollendeter weltmännischer Höflichkeit. Aber es lag eine eisige Kälte zwischen ihnen, die nicht einmal Feindseligkeit aufkommen ließ.

Frau Hofprediger begrüßte ihren »jungen Freund« mit überströmender Herzlichkeit, und fand, daß er seiner lieben reizenden Mama »riesig ähnlich sähe«.

Worauf Kurt ganz unhöflich herausprustete und sagte:

»Gnädige Frau meinen wohl meine Großmutter! Der bin ich allerdings wie aus dem Gesicht gepellt, wie sie behauptet.«

Auf dem Mitteltisch in Dr. Ramins Arbeitszimmer stand ein Kurt wohlbekannter Rahmen. Seine Mutter hatte ihn eigenhändig gestickt und Frau Hofprediger zu Weihnachten mit einem Bild von sich geschenkt.

Er trat näher, um das Bild, das ihm seinerzeit sehr gefallen hatte, noch einmal zu sehen. Aber statt des Bildes seiner Mutter stak die Photographie eines Prinzen aus königlichem Hause, mit eigenhändiger Widmung, in dem Rahmen. Das sagte ihm deutlicher als alle Worte, wie lange seine Mutter die Raminsche Wohnung nicht mehr betreten hatte.

Er empfahl sich bald darauf und wünschte den Herrschaften aus aufrichtigem Herzen »Glückliche Reise«. – –

Enzlehn kam noch vor den Sommerfellen, um sich zu verabschieden.

Er brachte Frau Dr. Labisch einen großen Strauß gelber Rosen mit. Sie atmete gierig den Duft ein und fing an zu weinen.

»Ich bin noch so schwach«, entschuldigte sie sich.

Aber es war nicht nur Schwäche. Enzlehn, den sie als Kind, als halbwüchsigen Knaben, als »dummen Jungen« gekannt, saß plötzlich als »Herr« ihr gegenüber, in korrekter, eleganter Visitenpose. Sie fühlte sich zum ersten Male wirklich als abgetane, alte Frau. Und doch weckte der Duft der Rosen wieder tausend ungestüme, ungestillte wünsche in ihr.

»Wie schwer die Köpfe sind«, sagte sie und hob den Strauß zu ihren Augen.

»Ja, sie sterben an ihrer eigenen Schwere und haben in ihrer herrlichsten Blüte einen eigenen welken Reiz.«

Enzlehn sah sie bedeutsam an.

Frau Dr. Labischs Kopf senkte sich tief herab.

»Sie passen zu Ihnen, gnädige Frau«, sagte Enzlehn leise.

»Meinen Sie?«

Irene fand für einen kurzen Augenblick ihr verführerisches Lächeln wieder und ihren koketten Augenaufschlag.

Enzlehn erhob sich und drückte seine Lippen in zärtlicher Huldigung auf ihre Hand.

»Sie werden doch mein Haus im nächsten Winter besuchen, Herr von Enzlehn? Es wird mich freuen.«

Er küßte nochmals ihre Hand, die sie ihm nicht entzog. Dann verbeugte er sich tief.

Frau Dr. Labisch blieb allein und schritt zum Spiegel.

Sie öffnete die Lippen – langsam strömte ihr das Blut in die bleichen Wangen... sie lächelte ein leises, verträumtes Lächeln.

Sie war doch noch keine alte Frau...

Auf der Treppe begegnete Enzlehn Markus, der in schnellem Lauf, mit Paketen beladen, herausstürmte.

»Servus, Markus. Ich verlange Absolution.«

»Warst du oben? Na schön!«

Freimütig streckte Markus ihm die Hand entgegen.

»Ich war wirklich wütend auf dich, Karli. Du kannst mir's nicht übelnehmen. Seit Bremen hatte ich nichts von dir gehört, und für mich war es innerlich eine schwere Zeit.«

»Schwere Zeiten macht man am besten allein durch«, sagte Enzlehn, und rauchte sich eine Zigarette an. »Aber du bist eben noch ein Kind und brauchst eine Amme, die dir die Tränen abwischt, wenn du greinst.«

»Glaubst du, Karli?«

Markus lehnte sich an die getünchte Treppenhauswand, während Enzlehn mit seinem Stock über das Geländer strich. Markus schüttelte eigensinnig den Kopf.

»Trotzdem, Karl, trotzdem... Ich dachte, du wärst mein Freund. Ich war stolz und glücklich, einen wahren Freund zu haben. Ich dachte, es würde so bleiben das ganze Leben!«

Enzlehn lächelte.

»Du sprichst wie ein exaltiertes Pensionsmädchen. Hast du denn kein Gefühl für Lächerlichkeit?«

»Nein«, gestand Markus ehrlich.

Enzlehn klopfte ihm mit der Stockkrücke auf die Schulter.

»Darin bist du mir über, Markus.«

»Weil du nicht den Mut hast, so zu sein, wie du wirklich bist! Du suchst, wie du wohl sein könntest, sein möchtest... Du schreibst ernste Gedichte und machst einen Jux daraus; du möchtest vielleicht Mondscheinspaziergänge mit mir machen, wie früher, und schwärmen und disputieren, aber du trägst steife, hohe Kragen, die dir den Hals einschnüren, daß du dich kaum umdrehen kannst; dir sind die Leute, mit denen du tagtäglich zusammensitzt, wurscht wie vorjähriger Schnee, aber du bildest dir ein, daß du derselben Richtung angehörst, weil du glaubst, irgendeiner Richtung angehören zu müssen!«

Enzlehn nagte an seiner Unterlippe.

»Schau mal an, Markuschen, wie klug du bist!« sagte er in seinem alten, spöttischen Ton. »Aber was du da alles sagst, beweist eben nur, daß ich mich noch lange nicht genug eingesponnen habe. Jeder Mensch muß an seinem Profil arbeiten, mein Kleines. Auch du tätest gut daran...!«

»Ich hasse jede Pose«, warf Markus heftig ein.

Enzlehn streifte mit dem kleinen Finger die Asche von seiner Zigarette, während das spöttische Lächeln nicht von seinen Lippen wich.

»Du weißt ja gar nicht, was Pose ist, kleiner Markus! Sie ist Schild und Visier modernen Raubrittertums. Wohl dir, wenn du kein Raubritter zu sein brauchst. Servus!«

Enzlehn ging rücklings, sich am Geländer haltend, die Treppe hinunter und lächelte Markus überlegen, ironisch an.

»Und ich sage dir: das ist ekelhaft!« warf Markus von der Höhe einer halben Etage dem Freunde nach. »Ekelhaft!« Enzlehn war unten angelangt und grüßte mit der Hand:

»Werde älter, Markuschen! Im Herbst sehen wir uns wieder. Ser – vus!«

Das Tor fiel hinter ihm ins Schloß.

Bleich und erregt trat Markus zu Tante Irene ins Zimmer. Sie ordnete liebevoll die schweren gelben Rosen in der Vase:

»Enzlehn war eben hier«, sagte sie. »Er ist ein Mann geworden... wirklich – ein Mann.«

»Meinst du?« rief er bitter. »Mehr hat mein Vater vom alten Albert auch nicht gesagt!«

Frau Dr. Labisch aber lächelte noch immer halb verträumt:

»Du hast komische Vergleiche, Markus...«

Am Tage vor der Abreise klopfte Frau Dr. Labisch an Markus' Zimmer.

Er packte gerade seine Bücherkiste ein, während Kurt in der Stadt war, um die letzten Besorgungen zu machen. Die Sonne brannte heiß ins Zimmer, und Markus hatte seinen Rock abgeworfen.

»Verzeihung!« sagte er und schlüpfte in seine Jacke.

»Ach, laß nur,« sagte Frau Dr. Labisch, »ich wollte dich nur um etwas bitten.«

»Ja, Tante Irene... alles, was du wünschest.«

Sie nahm seine Hand und blickte ihm in die Augen.

»Du mußt es nur nicht mißverstehen, Markus.«

»Gewiß nicht, Tante Irene, worum handelt es sich denn?«

Er warf den Deckel über die gefüllte Kiste und stellte den Fuß darauf. Mit dem Tuch wischte er sich die feuchte Stirn ab.

»Glaubst du, Markus, daß ich gesund werde?« fragte sie statt jeder Antwort und fuhr hastig fort: »Ich glaub'« nicht, Markus. Ich glaube vielmehr...«

Sie ergriff seine Hand und hielt sie krampfhaft in der ihren fest:

»Warum schickt ihr mich fort?« rang es sich qualvoll von ihren Lippen. »Warum schickt ihr mich fort?!«

»Aber liebe Tante Irene, es ist ja zu deinem Besten: damit du dich ganz erholst!«

Sie lehnte ihren Kopf an ihn und streichelte seinen Arm.

»Du bist mir wie ein Sohn geworden, Markus. Ich glaube auch, du verstehst mich – nicht wahr? ... Besser als Kurt, besser als...«

Sie brach ab und sah bittend zu ihm empor.

»Was soll ich denn, Tante Irene?« fragte er und neigte sich zu ihr herab wie zu einem kleinen Kinde.

»Du sollst...«

Sie brach abermals ab, sprang auf und ging erregt im Zimmer hin und her. Endlich stellte sie sich mit dem Rücken gegen das Fenster und holte einen Brief aus der Tasche ihres weißen Morgenkleides hervor.

»Du mußt diesen Brief Dr. Ramin überbringen«, sagte sie hart und schnell. »Ich muß Dr. Ramin in einer Angelegenheit... sprechen... ihn um Rat fragen. Aber ich möchte nicht, daß man es... Ich möchte, daß du Herrn Dr. Ramin bittest, zu kommen. Heute noch oder morgen vormittag. Es ist wichtig, Markus. Du mußt das verstehen... es ist wichtig.«

Markus hatte die Fäuste in den Taschen seines Jacketts vergraben und machte nicht Miene, den Brief entgegenzunehmen.

»So nimm doch!« gebot sie heftig.

Markus war sehr blaß und wich ihrem Blick aus.

»Warum schickst du den Brief nicht durch die Post?« fragte er.

» Sie unterschlägt meine Briefe, Markus, ich weiß, sie unterschlägt sie«, murmelte Frau Dr. Labisch und legte die Hände vors Gesicht.

Ein leidenschaftliches, unterdrücktes Schluchzen durchrüttelte ihre zarte Gestalt.

»Nicht weinen, Tante Irene, nicht weinen...«

Er kam an sie heran und trocknete ihr die Tränen mit seinem Taschentuch.

Wieder ergriff sie seine Hände.

»Markus, ich bin krank, und darum bin ich so schwach. Aber du mußt nicht glauben... nein... Markus... ich will dir meinen Brief vorlesen!«

Eine flammende Röte schoß Markus ins Gesicht, und eilig riß er ihr den Brief aus der Hand:

»Laß nur das, Tante Irene... ich weiß. Ich will nichts hören. Ich werde den Brief – abgeben.«

»Und auf Antwort warten, Markus... hörst du! ... du mußt ganz unbefangen sein, ganz lustig. Du mußt fragen: ›Soll ich etwas ausrichten?‹ Aber ansehen mußt du ihn und mir dann sagen, wie er ausgesehen hat. Markus – mißversteh mich nicht... es ist nur die Angst in mir, daß ich nicht zurückkomme...«

»Hör' auf, Tante Irene, das ist ja alles Unsinn.«

Sie wiederholte eigensinnig:

»Nein, das ist kein Unsinn. Du weißt ja nicht, was ich leide, wie ich mich fürchte! Abends, wenn es dunkel und so still in den Zimmern wird und die Bäume draußen schwarz werden, dann zieht sich mir das Herz zusammen, dann stockt mir der Atem. Hilf mir, Markus, lieber Markus – ich verlange nichts Böses, nichts Schlechtes von dir, hilf mir!!«

»Ich gehe«, sagte Markus kurz.

Irene sah ihm mit weit aufgerissenen Augen zu, wie er einige Bücher vom Regal herunternahm.

»Die kann ich bei der Gelegenheit zurückbringen,« sagte er.

Sie nickte.

»Jawohl, Markus, es ist ja alles so einfach... Nur, weil ich krank bin, da bauscht sich alles so auf.«

Er war schon draußen und eine Viertelstunde später in der Wohnung des Direktors. Dort war auch alles für den Sommer eingekampfert und zugedeckt. Frau Hofprediger lugte in großer Wirtschaftsschürze, mit einem Häubchen auf dem silbernen Scheitel, durch den Türspalt.

»Mein Sohn ist im Studierzimmer, lieber Markus. Sie bringen ihm wohl die Bücher? Das ist recht, heute verhänge ich die Bibliothek. Geradeaus, Markus, geradeaus.«

Und gleich darauf hörte er sie dem Mädchen Anweisungen geben.

Dr. Ramin saß am Schreibtisch. Trotz der Hitze im hohen englischen Kragen eingezwängt, tadellos gekleidet.

»Sieh da, Markus. Du bringst mir wohl meinen ›Voigt‹? Gut. Laß dir zu nächsten Weihnachten Burckhardt, ›Kultur der Renaissance‹ schenken. Da findest du eine feine und moderne Auffassung jener interessanten Zeiten. Setz dich, Markus. Willst du was trinken? Es ist heiß draußen.«

»Danke, Herr Direktor. Ich bin nur auf einen Sprung hier.«

»So? Na, aber das weißt du doch, daß du dein Abiturium unter Dr. Labisch machst? Seit heute morgen ist es entschieden. Im August führe ich Herrn Dr. Labisch als meinen Nachfolger ein. Du warst mir ein lieber Schüler, Markus!«

Er reichte Markus seine sehr gepflegte, nervige Hand und drückte sie freundschaftlich.

»Ich stehe dir daher auch immer gern zur Verfügung, wenn du mich brauchst.«

Markus senkte den Kopf.

»Ich werde versuchen, es beim Vater durchzusetzen, daß ich studiere.«

»Möchtest du gern?«

»Ja. Kunstgeschichte. Philosophie!«

»Und dann?«

Markus zuckte die Achseln.

»Es bleibt mir keine Wahl. Mein Weg ist vorgezeichnet!«

»Wohl dir!« erwiderte Dr. Ramin. »Dir sind viele Kämpfe erspart!«

»Äußere vielleicht, aber nicht innere.«

Dr. Ramin sah Markus einen Augenblick erstaunt an.

»Dr. Labisch nennt dich einen Grübler. Hätte er recht?«

Markus wurde feuerrot, Dr. Ramin lächelte und schüttelte den Kopf.

»Das soll kein Kompliment sein, Markus!«

»So hab' ich's auch nicht aufgefaßt, Herr Direktor... Herr Professor...«, verbesserte er sich.

»Hüte dich vor allen unfruchtbaren Komplikationen des Lebens, die immer nur aus dem inneren Zwiespalt unseres Wesens heraus so verhängnisvoll werden. Unsere Zeit gestattet keinen Zwiespalt – sie verlangt die ganze Natur des Menschen, den ganzen Mann – eine starke Einheitlichkeit, ohne die eine Persönlichkeit undenkbar ist. Suche also mit deinem inneren Leben so bald und so früh wie möglich ins reine zu kommen. Verschwommener Idealismus, mein lieber junger Freund, ist wirklich nur wertloser Ballast!«

Markus richtete seine großen blauen Augen erstaunt und verwirrt auf den Professor.

»Wie kommt es, daß Sie mich so genau kennen, Herr Direktor?«

Die unerwartete Frage verwirrte auch Dr. Ramin.

»Deine mütterliche Freundin, Frau Dr. Labisch, hat mir oft von dir gesprochen,« sagte er endlich, »und mein Interesse für dich geweckt.«

»Ach ja, richtig, Herr Professor, Tante Irene hat mich beauftragt, Ihnen ein paar Zeilen zu übergeben.«

Mit eiserner Ruhe im Gesicht nahm Dr. Ramin den Brief entgegen. Markus ließ wie aus Ungeschicklichkeit ein Buch fallen und bückte sich langsam danach.

»Darf ich etwas ausrichten?« fragte er dann und streifte mit scheuem Blick das merklich bleich gewordene Antlitz des Professors.

»Ja, selbstverständlich, vor allem meinen verehrungsvollen Gruß, und morgen werde ich mich auf dem Bahnhof verabschieden.«

»Danke, Herr Professor.«

Markus drückte die dargebotene Hand in nervöser Erregung und wiederholte nochmals:

»Danke!«

Eine zentnerschwere Last war ihm von der Seele genommen. Er stürmte die Treppe hinab, als gälte es, jemandem die Aufhebung eines Todesurteils zu verkünden. In weniger als zehn Minuten war er wieder zu Hause.

Frau Dr. Labisch saß noch immer in seinem Zimmer auf der Bücherkiste, die Hände im Schoß gefaltet. Sie blickte nicht auf, als Markus ins Zimmer stürzte. Nur ganz leise, wie atemlos fragte sie:

»Nun?«

»Einen verehrungsvollen Gruß, und morgen ist Professor Ramin auf dem Bahnhof.«

Er erwartete einen frohen Blick, erleichtertes Aufatmen. Aber ihr Haupt fiel nur noch tiefer auf die Brust herab. Er umfing sie mit beiden Armen in kindlicher, überströmender Zärtlichkeit:

»Bist du nicht zufrieden, Tante Irene?«

»Er kommt nicht«, sagte sie leise, bestimmt und strich sich mit eiskalter Hand eine Strähne des roten Haares aus dem Gesicht. –

Und er kam doch. Aber im letzten Augenblick, gerade wie der Zug sich in Bewegung setzte.

»Da... da... im dritten Wagen!« rief Markus Dr. Ramin zu, der seinen Panama ehrfurchtsvoll grüßend in die Höhe hielt.

Ein todbleiches Gesicht lehnte am Kupéefenster, starr, ohne sich zu einem letzten Gruß zu neigen.

Dr. Labisch hatte gerötete Augenlider. Die Abreise seiner Frau ging ihm nahe. Er dachte daran, daß sie zum ersten Male krank, fern von ihm weilen würde.

»Ich hätte mitfahren sollen«, sagte er. »Das Rauchen hätte ich mir in ihrer Anwesenheit schon verkniffen.« – –

Markus schlief bis 8 Uhr abends einen schweren traumlosen Schlaf. Als er die Augen aufschlug, stand Kurt vor seinem Bett.

»Eben hab' ich meinen Alten zur Bahn gebracht. Willst du mit mir auf den Bummel gehen?«

»Wohin?«

»Egal! Wohin der Zufall uns führt. – Nur, wenn ich dich früher per Droschke nach Hause schicke, mußt du mir's nicht übel nehmen.«

Kurt schleppte Markus in ein italienisches Weinrestaurant in der Mittelstraße. Nach der ersten Flasche Asti Spumanti kam Leben in Markus' bleiche Züge. Und als Kurt die zweite Flasche entkorkte, atmete er auf und sagte:

»Du glaubst gar nicht, Kurt, wie mir zumute ist. Es war schrecklich all die Zeit...!«

»Kann mir's denken. Schrecklich und wahnsinnig interessant, was?«

Markus wunderte sich, wie gut Kurt ihn verstand, und zugleich hatte er Angst, daß er selbst mehr sagen konnte, als gut war. Der Wein stieg ihm zu Kopf, und er fürchtete, die Herrschaft über sich zu verlieren.

»Erzähle mir von Claire«, bat er hastig.

Und er lachte ein bißchen blöd, weil er sehr unbefangen tun wollte.

»Ein tolles Mädel! Kommt an, fällt mir um den Hals – ich habe mir diese geschwisterlichen Zärtlichkeiten natürlich prompt verbeten.«

»Hast du?« fragte Markus, erregt vom Wein und der Erinnerung.

Es brannte ihm auf den Lippen, zu beichten, wie sie ihn geküßt. Und beim letzten Viertel der zweiten Flasche sagte er es.

Kurt lachte aus vollem Halse.

»Ich weiß, ich weiß, mein Goldkind; hast dich auch da wie 'ne rechte Nöhle benommen.«

»Was hätte ich denn tun sollen, bitte?«

»Wiederküssen, zum Donnerwetter!«

»Aber ich liebte sie ja nicht.«

»Auch ein Grund! Liebe ich sie etwa?«

Markus suchte seine zerflatternden Gedanken festzuhalten.

»Ich verstehe nicht«, sagte er eisig.

»Schade, mein Junge, bist doch sonst nicht dumm! Ich habe Fräulein Claire meine hohe Protektion angedeihen lassen und ihre Dankbarkeit sehr freundlich entgegengenommen. Eine niedliche kleine Krabbe. Das richtige Studentenmädel, mit tausend Schnurren und Frechheiten. Einmal war Kommers mit Damen – sie mitten mang – verlangt natürlich Studentenfutter. Und nun drauf los Vielliebchen gefressen. Am nächsten Abend spielt sie im Theater, das halbe Korps im Stehparkett. Sie kommt raus, stutzt, tritt vor die Rampe und ruft: »Guten Abend, Vielliebchen!« – »Guten Abend, Vielliebchen!« antworten die Brüder, trampeln und lachen und klatschen in die Hände. Zum Heulen! Zum Heulen! Der Vorhang muß fallen. Die Kleine kriegt fünfzig Mark Strafe vom Direktor aufgebrummt, die ich natürlich bezahle, und die Kommilitonen stiften ihr ein prachtvolles Tischservice für zwölf Personen, das sie schleunigst an Frau Oberleutnant von Enzlehn zum Präsent schickt. – Für ein Souper zu zweien auf meiner Bude ist's zu schade, wie du dir denken kannst.« –

»Sie ißt Abendbrot bei dir auf deiner Bude?« stammelt Markus.

»Nee – sie wird mit leerem Magen schlafen gehen und ungeküßt!«

Markus rang nach Luft:

»Es ist alles so anders... so ganz anders... wie...«

»Wie du dir's denkst, mein Goldkind, freilich ist es anders! So verflucht einfach. Du glaubst gar nicht, wie einfach! Mußt nur kein Idiot sein.«

Markus wiederholte:

»Nein, kein Idiot...«

Aber er stellte sich gar nichts unter dem Wort vor. Nur schwül war ihm vom Wein und von all dem Gehörten.

Dann schleifte Kurt ihn noch mit auf seine Stammkneipe und sorgte dafür, daß ihm von den Kommilitonen fleißig zugetrunken wurde.

»Der Junge verträgt's nicht,« flüsterte einer der Studenten Kurt zu.

Aber Kurt lachte und rief:

»Laß man! Besoffen will ich den Jungen mal sehen – das ist ihm ganz gesund. Markuschen, wiederhole: ich bin ein Idiot, ein Heupferd, ein Rhinozeros... na, wiederhole I-dio-t!«

Markus lallte nur noch:

»Idi-o-t, Heu-zeros... o Gott, o Gott!«

Er fiel mit dem Kopf auf die Tischplatte und schluchzte laut.

»Ex est!« kommandierte Kurt und machte zwei Kameraden ein Zeichen, Markus unterzufassen: »Droschkong!«

Markus wurde die Treppe der Wohnung hinaufgetragen und auf sein Bett niedergelegt. Dann entkleidete Kurt ihn sorglich, stellte ihm eine Waschschüssel und ein Glas Wasser auf den Stuhl, legte ihm ein nasses Handtuch auf den Kopf und verließ, von den Kameraden gefolgt, noch einmal die Wohnung.

»Nichts ist für überspannte Gemüter besser, als wenn sie mal recht ordentlich in den Dreck treten!« sagte er befriedigt, hängte sich in seine Begleiter ein und schlenderte vergnügt pfeifend dem Bahnhof Zoologischer Garten zu. – –

Am nächsten Morgen waren Kurt und Markus im Zuge, der sie nach Stettin bringen sollte. Markus war graugrün im Gesicht und wich Kurts gutmütig spottendem Blick ängstlich aus. Aber gesprochen wurde nichts zwischen ihnen vom gestrigen Tage. –

Sie ließen sich erst in dem kleinen, niedlichen Allinge nieder.

Die frische Seeluft wehte bald jeden Rest schwüler Stimmung bei Markus weg. Kurt hielt ihn mit drakonischer Strenge zum Schwimmen, Segeln und Rudern an. Das bedeutete für Markus eine schwere Arbeit, die er seufzend absolvierte, und von der er sich durch einen einsamen Spaziergang nach den Felsen erholte. Stundenlang konnte er auf einem der großen runden, von Wellen glatt und blank gescheuerten Steinen sitzen und in die Weite hinausträumen. Das Buch klappte er fast niemals auf. Die Sprache des blauen majestätischen Meeres übertönte das klügste Wort. Und in diese Sprache legte er alles Mögliche hinein von seiner eigenen ringenden Seele.

In außerordentlich gehobener und feierlicher Stimmung kehrte Markus jedesmal von seinem Klippengang heim.

»Wie ein Quäker siehst du aus,« rief ihm Kurt einmal spöttisch zu.

Kurt war übrigens enttäuscht von seinem Aufenthalt. Ihm fehlte die holde Weiblichkeit, wie er Markus offen gestand. Eine sehr häßliche Malerin und ein dreizehnjähriges, schnurspringendes Mädchen waren die einzigen jungfräulichen deutschen Damen des Hotels Danmark. Die gelegentlichen Touristinnen waren meist Ausländerinnen – Engländerinnen und Skandinavierinnen, die dem Flirt in ausgiebigster Weise im Kreise ihrer Reisegenossen huldigten.

Eines Tages, da Markus einmal zwischen den Klippen im Heidekraut lag, hörte er von weitem seinen Namen rufen und dann plötzlich helles Mädchenlachen. Das Herz blieb ihm stehen.

Arm in Arm, Hut und Taschentuch schwenkend, näherten sich Kurt und Claire. Markus ging ihnen entgegen, sprachlos vor Verwunderung.

»Wie kommen Sie denn her?« stammelte er endlich.

Beide weideten sich an seiner Fassungslosigkeit und lachten, daß es laut über die einsamen spiegelglatten Steine schallte. »Wie ich herkomme? Per Bahn, per Schiff, per pedes, und dieser schreckliche Mensch ist schuld daran!«

Sie zupfte Kurt am Ohrläppchen. Dann hängte sie sich in Kurt und Markus ein und kommandierte:

»Trab, auf die Bude! Ich sterbe vor Hunger. Übrigens brauchen Sie keine Angst zu haben, daß man Sie vernachlässigt. Ich habe eine Kollegin mitgebracht – unsere Sentimentale. Ein süßes Geschöpf. Talent hat sie gar keins, aber das ist ja auch nicht nötig.«

Claire plauderte unaufhörlich. Sie war »schrecklich hübsch«, wie Markus innerlich konstatierte.

Auf der kleinen Veranda, von der aus man den Hafen so nahe hatte, daß der Schiffsgeruch herüberströmte, war ein Tisch für vier Personen zum Abendbrot gedeckt. »Kinder, das wird gemütlich! Jetzt muß ich aber die Rhoden holen. Einen Augenblick.«

Kurt und Markus blieben allein auf der Veranda.

»Sage mal...«, hub Markus schüchtern an.

»Silentium, Fuchs!« donnerte Kurt. »Genieße, was dir das Geschick an Dusel in den Schoß wirft, und halt's Maul. So viel kann ich dir übrigens verraten: die Claire hab' ich mir einfach herkommen lassen, damit das arme Ding sich die Schminke im Salzwasser abwäscht, und die Rhoden hat als treue Freundin in eigener Regie mitgehalten. So, verstanden? Na, nu Schluß. Sie kommen... Servus, Melachen!«

Kurt schüttelte der jungen Dame herzlich die Hand, dann stellte er vor:

»Mein Freund Markus Lukas – Fräulein Mela Rhoden.«

Markus verbeugte sich, während Mela Rhoden, ohne ihm die Hand zu reichen, anmutig das blonde, à la Cleo gescheitelte Köpfchen neigte. Sie war kaum mittelgroß, von weicher Fülle, mit großen, erstaunten grauen Kinderaugen.

»Claire hat mir von Ihnen gesprochen«, sagte sie.

Ihre Stimme hatte einen unendlich weichen, hingebenden Klang.

Und so weich wie ihre Stimme waren alle ihre Bewegungen. Im Gegensatz zu Claire sprach sie wenig, lächelte nur ein eigenes, wehmütiges Lächeln, das aber nichts Bedrückendes hatte.

Markus, der nicht ohne Verständnis für weibliche Kleidung war, fand sie fein und geschmackvoll angezogen. Nach dem Abendbrot bat sie Markus, sie ganz nahe an die Schiffe zu führen. Sie wollte augenscheinlich Kurt und Claire Gelegenheit geben, allein zu bleiben.

Markus, der von Bremerhaven her ziemlich gut Bescheid mit den verschiedenen Schiffs- und Bootsarten wußte, machte ausführlich den Cicerone. Und da sie eine reizende gläubige Art hatte, zuzuhören, bekam er immer mehr Mut und vergaß die peinliche Stimmung, die ihn bei der plötzlichen Ankunft Claires übermannt hatte.

Es folgten schöne, ruhige Tage.

Claire gab sich in ihrer Zuneigung zu Kurt ungebunden und natürlich, und Mela Rhoden schien wie eine ältere Schwester darauf bedacht, der Freundin genügend Gelegenheit zum Alleinsein mit Kurt zu geben, ohne jedoch durch allzu lang ausgedehntes Fernsein die Grenze zu überschreiten, die der Anstand gebot. Mit Markus verkehrte sie ohne jeden Schimmer von aufdringlicher Koketterie, der ihn gewiß erschreckt und mißtrauisch gemacht hätte.

Sie setzten sich dann wohl einander gegenüber auf die großen spiegelnden Steine und plauderten über alles Mögliche. Abends, wenn Markus mit Kurt allein war, ging ihm das Herz über.

»Sie ist eine große, wertvolle Natur«, sagte er.

Kurt drohte mit dem Finger:

»Markuschen, mein Junge, du bist verliebt!«

Markus wies das entrüstet von sich. Verliebt! Wieder dieser häßliche plebejische Ausdruck.

»Ich bewundere und schätze sie!«

»Schönes Fell hat sie!« meinte Kurt trocken.

»Du bist einfach widerlich«, entgegnete Markus erregt.

Und eine innige Zärtlichkeit erfüllte ihn für das arme reizende Wesen, das, bloß weil es Schauspielerin war, so häßlicher Bewertung ausgesetzt war.

Wenn er die Augen aufschlug, war seine erste Vorstellung – das blonde, à la Cléo frisierte Köpfchen mit den grauen Kinderaugen. Hastig zog er sich an und stürmte hinaus; aber die Fenster der jungen Mädchen waren immer noch verhängt, und es dauerte Stunden, ehe Mela Rhoden herauskam. Claire hingegen hatte schon längst mit Kurt gefrühstückt und war mit ihm aus zum Segeln.

Eines Abends auf der Veranda erklärte Mela Rhoden, sie wolle ein paar Tage auf der Höhe in Blanches Hotel verbringen. Claire lächelte verschmitzt:

»Au, fein!«

Markus fühlte eine große Niedergeschlagenheit sich seiner bemächtigen.

»Wie lange bleiben Sie fort?« fragte er mit zitternder Stimme.

»Das kann ich so genau nicht sagen. Solange es mir gefällt.«

»Und wann fahren Sie?«

»Morgen.«

Sie erhob sich und ging langsam an Markus vorbei die Stufen der Veranda hinab.

»Ein köstlicher Abend heute! Wollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen?«

Wortlos schritt er an ihrer Seite. Sie wendete sich um und blickte zur Veranda hinauf, wo Kurt im Schein des Windlichtes eine Zigarre rauchte und Claire über eine illustrierte Zeitschrift gebeugt Zigarettenwölkchen in die Luft blies.

»Kommt ihr nicht mit?«

»Nee ... dank' schön!« rief Kurt zurück, »holt euch nur ja keine nassen Füße!«

Und dann hörte Markus die beiden lachen und neidete ihnen dies übermütige, lustige Lachen ... Ihm war das Herz so schwer, als stünde ihm ein großer, schmerzlicher Verlust bevor, und er wunderte sich, daß seine Traurigkeit ihr nicht auffiel, daß sie ihn gar nicht fragte, was mit ihm sei. Eine solche Frage hätte ihn getröstet, hätte ihm Mut gegeben.

»Es ist dunkler, als ich dachte« ... wollen Sie mir Ihren Arm geben?«

Er fing an zu zittern, als er ihren warmen, weichen Körper so nahe an dem seinen fühlte. Er ging ganz steif, den Blick immer geradeaus gerichtet, in tödlicher Verwirrung über das Beben seiner Glieder, den heißen Wellenschlag des Blutes in seinen Adern.

»Ich gehe nicht gern von hier fort; aber ich habe es Bekannten versprochen, und sein Wort muß man doch halten«, sagte sie plötzlich.

»Es wird ganz schrecklich sein ohne Sie«, murmelte er.

Er konnte in der tiefen Dämmerung die Züge ihres Gesichtes nur undeutlich erkennen; aber er fühlte, wie ihr Kopf sich vertraulich zu seiner Schulter neigte. »So schrecklich?« fragte sie mit ihrer weichen, seelenvollen Stimme.

Ihm war das Weinen nahe, wie einem kleinen Jungen, und er drückte ihren Arm heftig an sich.

»Ich habe mir eingebildet, daß Sie gern mit mir zusammen sind, und ich habe nicht geglaubt, daß andere kommen könnten, die Sie mir wegnehmen.«

Seine Worte überschlugen sich in der tiefen Kränkung und Erregung seiner Seele.

»Ich habe nie etwas für mich allein besessen, niemals. Seit meiner Kindheit nicht. Sie sind der erste Mensch, den ich für mich allein beanspruchen durfte ... Das war so schön, und ich hatte mich so daran gewöhnt.«

»Einmal mußte es ja doch ein Ende nehmen.«

»Ja. Aber nicht hier. Hier, dachte ich, würde alles so bleiben, wie es war, und später, dachte ich ...«

»Was denn?«

Er stolperte über einen kleinen Kiesel, so daß seine Wange beinahe die ihre streifte. Das benahm ihm den Atem, und er mußte stehen bleiben. Aber sie zog ihren Arm nicht aus dem seinen.

»Ich dachte,« sprach er leise, erregt, »wir würden uns schreiben, und ich würde in Ihnen jemand haben, dem ich alles, alles mitteilen kann, was mein Innerstes bewegt. Alle, die ich bisher kannte, sind nur mit sich beschäftigt. Niemand versteht mich recht, aber Sie ...«

»Sie sind ein lieber Mensch«, sagte Mela Rhoden und strich mit den Fingerspitzen leicht über Markus' Arm.

»Ja ... verstehen, das ist die Hauptsache!«

Markus umschloß Melas Finger mit seinen beiden Händen und legte sie sich auf die Brust.

»Und glauben Sie, Mela, vor Ihnen steht jemand, der Sie versteht, und dem nichts über das Gefühl geht, von Ihnen verstanden zu werden!«

Der Mond erhob sich langsam über dem Meer und überflutete Markus' bleiches, entgeistertes Gesicht mit seinem fahlen Licht.

»Mir ist kühl«, flüsterte Mela Rhoden.

Markus zog sie nahe, ganz nahe an sich heran und sprach langsam:

»Nie, nie sollst du frieren, solange mein Arm dich erreichen kann, wir sind alle einsame, frierende Menschen ... nur die Liebe schenkt uns Wärme.«

Seine Lippen berührten ihr Haar.

»Darf ich?«

Leise wie ein Hauch küßte er ihre weiße Stirn.

»Und nun komm!«

Ihren Arm in dem seinen, so legte er wortlos die kurze Strecke nach Hause zurück.

Auf der Veranda war es dunkel. Auch hinter den Fenstern brannte kein Licht mehr.

»Es ist schon spät! Gute Nacht!« sagte sie hastig.

Er breitete die Arme aus, aber wie eine lichte Erscheinung war sie ihm entschwunden, und ins Leere flüsterte er traumverloren:

»Gute Nacht!«

Er stand unter ihrem Fenster, bis die Kerze verlöscht war. Um keinen Preis wollte er heute mehr mit Kurt sprechen. Nachts wachte er von wüstem Kopfschmerz gepeinigt auf. Es war lautlos still im Zimmer; er zündete die Kerze an, um nach der Uhr zu sehen und einen Schluck Wasser zu trinken. Der Zeiger wies auf zwei Uhr. Die ungewohnte Stille bedrückte ihn. Er streckte sich vor und blickte hinüber auf Kurts Bett, das an der entgegengesetzten Wand stand. Es war leer  ...

Mela Rhoden war seit fünf Tagen in Blanches Hotel.

Markus hatte in dieser Zeit zwei Ansichtskarten von ihr erhalten, selbst aber täglich zehn Seiten lange Briefe geschrieben.

Das schöne Gleichgewicht seiner Seele war gestört. Er schlich bleich, mit gesenktem Haupt den Klippen entlang und litt schwer unter seinem Versprechen, sie nicht aufzusuchen.

»Wenn das die Erholung ist, die du hier finden solltest!« sagte Kurt ihm eines Tages.

»Jeder erholt sich auf seine Weise«, erwiderte Markus, der sich in seiner Empfindlichkeit wie ein Igel zusammenballte.

»Ich habe mir jedenfalls die gesündere gewählt«, entgegnete Kurt gleichmütig. »Übrigens hab' ich der Claire schon den Kopf gewaschen, daß sie ihre sogenannte Freundin hergeschleppt hat.«

»Wie kannst du die zwei vergleichen!« wehrte Markus hochmütig ab.

»Tue ich ja gar nicht. Claire ist ein herrliches Geschöpf: so offen, so herzbewegend ehrlich in all ihrer naiven Sinnlichkeit und kleinen Niedertracht, ein so vollkommenes, entzückendes Exemplar weiblicher Perfidie, Untreue und Rücksichtslosigkeit. Mit der weiß man gleich in den ersten fünf Minuten, woran man ist. Dagegen die Rhoden! Sie hat nie jemanden geliebt, sie ist nur auf ihre glatte Kinderfratze bedacht und das äußere Dekorum. Sie spricht wenig, weil sie dumm wie Bohnenstroh ist. Ihr Leben ist ein Rechenexempel, und sie selbst ist langweilig wie jedes Rechenexempel. Sie schätzt sich ein und setzt sich dementsprechend in Szene. Das Theater hat sie als den feinsten Markt gewählt, weiter nichts, und ihre Spezialität – sind ältere, verheiratete, sehr reiche Herren!«

»Hör' auf!« schrie Markus und bohrte die Fäuste in den Sand.

»Sachte, Markuschen, ich weiß, was ich sage. Nur keine großen Sentiments, Markus, das endet immer eklig!«

Sein Gesicht wurde plötzlich ernst.

Markus fühlte, daß Kurt weder an ihn in diesem Augenblick dachte, noch an sich selbst.

Es war ein tieferes Empfinden, ein schmerzlicheres Erinnern, das seine Züge verfinsterte.

»Mein Alter schreibt heute, er wäre bei Mama in Nauheim gewesen. In ihrem Schrank hat er zehn leere Weinflaschen gefunden.«

Er sagte das ganz ausdruckslos.

Markus senkte den Kopf tief herab. Er konnte kaum die Füße schleppen.

Kurt lachte kurz auf: »Ja, ja, Markus ... es lebe die Liebe ... was?«

Zwei Tage später verließen sie die Insel. Claire schmollte und zog ihrer Freundin nach in Blanches Hotel. –


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