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10.

Im Salon Orlemanns machte sich bei Allen eine erwartungsvolle Spannung bemerkbar. Der Bankdirector hatte diese selbst hervorgerufen und schien es kaum erwarten zu können, sie auch vollkommen zu befriedigen:

»Ich gebe Ihnen die Versicherung,« sagte er, zu dem Justizrath Strahleck tretend, der sich geraume Zeit angelegentlich mit dem von Allen ganz besonders ausgezeichneten Mandelsdorf unterhalten hatte, »daß keinem ernsthaften Geschäftsmanns jemals etwas Lustigeres zugestoßen sein kann. Man müßte das Schreiben eigentlich veröffentlichen.«

Die letzte Bemerkung des Vaters machte Minna, die sich inzwischen mit ihren Freundinnen wieder unter die Gesellschaft gemischt hatte und jetzt mit Justinens Mutter leise sprach, aufblicken, und auf ihren schelmisch-heitern Mimen malte sich einige Unruhe.

»Der Mensch bleibt aber auch eine ewige Zeit aus!« sprach Orlemann ungeduldig, unfern der Tochter mit dem englischen Consul vorübergehend. »Ich werde wohl selbst nachsehen müssen. Sie entschuldigen ...«

Augenblicklich legte Minna ihre kleine Hand auf den Arm des Vaters.

»Kann ich Dir nicht behülflich sein, Papa?« sagte sie schmeichelnd. »Du wünschest ein Schreiben zu haben? Joseph findet ja nie etwas! Bitte, bezeichne mir ungefähr den Ort, wo es liegt, und ich werde es Dir in zwei Minuten behändigen.«

»Nun so geh'!« versetzte der Bankdirector. »Du erkennst es leicht an der bläulichen Farbe des Papiers. Es ist dreifach zusammengebrochen und am obersten Rande links zeigt es eine Sonne, deren Strahlen goldblonde Locken vorstellen sollen.«

Orlemann hatte die letzten Worte so laut gesprochen, daß die zunächst Stehenden sie deutlich hören konnten. Justine verstand jede Sylbe und ein leises Zittern erschütterte ihre Nerven. Sie fürchtete Unannehmlichkeiten für Minna. Diese aber war schon verschwunden, kehrte sehr bald zurück und zeigte dem Vater mit triumphirender Miene jetzt dasselbe Blatt, dessen Inhalt die Uebermüthige vor Kurzem dem vertrauten Cirkel ihrer Freundinnen mitgetheilt hatte. Während Orlemann sich zwischen einer Gruppe älterer Herren niederließ, schlüpfte Minna von Freundin zu Freundin, und raunte Allen ein bittendes »Still!« zu.

Nach wenigen Einleitungsworten trug nunmehr der Bankdirector den uns schon bekannten Brief von Sara Honest vor, und zwar mit so komischer Betonung, daß die ganze Gesellschaft wider Willen in die heiterste Stimmung versetzt ward.

»Aber wie in aller Welt, liebster Orlemann, sind Sie mit diesem Liebesbriefe beglückt worden?« sagte Rudolph Mandelsdorf, der sich ganz besonders daran ergötzte. »Trug das Schreiben denn Ihre Adresse?«

»Ganz genau,« versetzte der Bankdirector. »Wie hätte es mir sonst einfallen können, das Siegel zu brechen! Aber auch, als dies geschehen war und das sonderbar gebrochene Papier mit der steif geschnörkelten Schrift mir vor Augen kam, hatte ich noch gar kein Arg. Anfangs meinte ich, es sei ein Bettelbrief, der mir auf diese originelle Weise zugestellt werde, damit er auch wirklich an mich selbst gelange. Ich werde oft genug mit derartigen Papieren beehrt, namentlich von Personen, die früher bessere Tage gekannt haben, durch Unglück, Krankheit oder eigene Schuld aber später heruntergekommen sind und sich nicht entschließen können, geradezu zu betteln. Solchen Bedauernswerthen liegt daran, daß ich meinen Namen unter ihr Bittschreiben setze. Sie halten ihn für einen Passe-partout und mögen meistentheils wohl auch ihren Zweck erreichen. Zu spät entdeckte ich meinen Irrthum. Indeß glaubte ich schon deshalb berechtigt zur Lectüre des Briefes zu sein, weil mir das Datum sagte, daß ich durchaus keine Indiscretion begehen könne. Liebesbetheuerungen, die vor siebzig Jahren ein heißes Mädchenherz dem verschwiegenen Papiere anvertraute, haben höchstens noch ein historisches Interesse.«

Die Gesellschaft war ungewöhnlich munter geworden. Hier kicherte eine Anzahl junger Mädchen über die auf Stelzen gehenden Worte der Briefstellerin; dort lachten ein paar Militärs ziemlich laut, während die älteren Herren mehr im Stillen ihre Glossen machten, und die Frauen gesetzten Alters in eine lebhafte Debatte über die Frage geriethen, ob die unbekannte Briefstellerin glücklich oder unglücklich geliebt haben möge.

»Dieses Billet-doux ist gewissermaßen von den spät versendeten Briefen, so weit uns Kenntniß davon wurde, der interessanteste,« sagte Justizrath Strahleck. »Noch interessanter würde es sein, ließe sich ermitteln, für wen diese liebeathmenden Zeilen eines ohne Zweifel sehr jungen und schönen Mädchens bestimmt gewesen sind.«

»Darüber läßt uns die Liebende nicht in Zweifel,« erwiderte Orlemann. »Der Umschlag des Briefes trägt den vollen Namen des Mannes, an den derselbe gerichtet war.«

»In der That?« sagte Mandelsdorf. »Ist es ein bekannter Name?«

»Für mich nicht,« erwiderte der Bankdirector. »Etwas aber ist mir dabei aufgefallen, was mich stutzig gemacht hat und zugleich auch einiges Licht über das Verhältniß der Liebenden verbreitet, das wenigstens die Aeltern der Briefstellerin nicht gebilligt haben müssen.«

»Am Ende erhalten wir von Ihnen den Stoff zu einer romantischen Erzählung,« sprach Mandelsdorf lächelnd. »Ist es erlaubt, weiter zu forschen? Was veranlaßt Sie zu der eben gemachten Bemerkung?«

»Die Namen der Briefstellerin und des Mannes, dem das Billet zugestellt werden sollte.«

»Die Namen?« sagte der Justizrath gedehnt. »Sie behaupteten ja eben, daß gerade diese Ihnen ganz unbekannt seien.«

»Allerdings,« versetzte der Bankdirector. »Das thut jedoch hierbei nichts zur Sache. Ich bemerke nur, daß das junge Mädchen gerade so heißt, wie ihr Geliebter oder still Verlobter. Daraus schließe ich, daß beide Liebende sehr nahe Verwandte waren, und daß aus diesem Grunde die Verbindung derselben Seitens wahrscheinlich beider Aeltern ungern gesehen, mithin die Trennung Beider als das sicherste Mittel, sie einander vergessen zu lassen, beschlossen und ausgeführt wurde.«

Der Justizrath trat jetzt dicht an den Bankdirector, indem er diesem halblaut zuflüsterte:

»Darf ich neugierig sein? Gewissermaßen habe ich ein Recht dazu, denn Sie wissen ja, daß der schadhafte Briefkasten mir recht gute Dienste geleistet hat.«

Orlemann zeigte Strahleck die Unterschrift des Briefes, welche gleichzeitig dem mit sehr scharfen Augen begabten Gesandtschafts-Attaché Mandelsdorf sichtbar ward. Letzterer stand schon im nächsten Augenblicke neben dem Bankdirector.

Der Justizrath las den Namen mit offenbarem Erstaunen, während Mandelsdorf lächelnd das Couvert des Briefes zu sehen begehrte.

»Ich bedaure, Ihnen dies nicht zeigen zu können,« versetzte Orlemann, »die Adresse weiß ich auswendig. Sie lautete: An den Hoch- und wohlgebornen Herrn Michael Honest in ***.«

»Würden Sie mir wohl den Brief auf kurze Zeit anvertrauen?« sagte, sehr blaß werdend, der Diplomat. »Ich möchte die Schriftzüge mit einer anderen Handschrift vergleichen, in deren Besitz mein verstorbener Vater war. Ohnehin ist dieses Billet offenbar an eine falsche Adresse gekommen und hätte mich oder den Herrn Justizrath eben so gut erreichen können. Haben Sie keine Vermuthung, wer sich diesen sonderbaren Scherz, der allerdings für originell gelten kann, gemacht hat?«

Da Mandelsdorf diese Worte mit lächelnder Miene und ohne die geringste Erregung zu zeigen an den Bankdirector richtete, fühlte sich auch dieser in keiner Weise davon getroffen. Um nicht eigensinnig und ungefällig zu erscheinen, reichte er dem Attaché das Blatt, indem er erwiderte:

»Wenn ich Ihnen einen Gefallen damit thun kann, trete ich Ihnen das sonderbare Schreiben gern so lange ab, bis sich etwa Jemand meldet, der begründetere Ansprüche darauf machen darf, als ich. Meine Vermuthung trügt schwerlich. Der Einschlag, welcher es umhüllte, trug den Poststempel, mit dem alle jene spät aufgefundenen Briefe versehen worden sind. Die Hand, welche die Adresse, also meinen Namen, darauf geschrieben hat, halte ich für die eines Postbeamten. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß hier eine Verwechslung zweier, wo nicht gar mehrerer Briefe stattgefunden hat und daß ich dadurch statt einer, mein altes Haus höchlichst interessirenden Anzeige, diese Seufzer eines liebenden Mädchens erhielt. Die Sache muß sich alsbald aufklären, da ich nicht gesäumt habe, dem Postamte Anzeige zu machen. Das Einzige, was dieser meiner Annahme widersprechen dürfte, ist, daß das Couvert des in den neuen Umschlag eingesiegelten Briefes schon geöffnet war.«

Mandelsdorf hatte den Brief bereits ergriffen und sah in das bekümmerte Gesicht seiner Mutter.

»Man ruft Dich ab,« sagte Livia im leisen Tone. »Der Bediente harrt Deiner.«

»Ist es so eilig?« fragte Rudolph, indem er der Mutter den Arm bot und sich langsam mit ihr aus dem Salon entfernte. Kaum aber sah sich Livia allein mit dem Sohn, so drang sie heftig in ihn, er solle ihr den Brief zeigen, sie wolle und müsse die Namensunterschrift sehen.

»Aber beste Mutter,« sagte Rudolph, »wie ist es möglich, daß ein so altes Schreiben Sie so aufregen kann?«

»Die Verfasserin nennt sich Honest,« versetzte Livia, den Einwurf des Sohnes ignorirend.

»Ahnen Sie dies?«

»Ich habe nicht weniger scharfe Augen wie Du. Dein Vater – doch, das weißt Du ja nicht!«

»Entschuldigen Sie, Mama,« unterbrach Mandelsdorf seine Mutter, »wenn es eilig ist, muß ich, ehe wir weiter sprechen, mich doch nach dem erkundigen, der mich abrufen läßt.«

»Ich war es, mein Sohn, ich wollte Dich sprechen,« sagte Livia entschlossen. Wirst Du mich ruhig anhören?«

Ueber Rudolphs offene Züge glitt ein Schatten des Unmuthes, schnell aber gewann er wieder Gewalt über sich, und die Hand der Mutter sanft in der seinigen drückend, versetzte er:

»Ich müßte sehr undankbar sein, wollte ich für eine vertrauliche Mittheilung der gütigsten Mutter keine Zeit und kein Ohr haben.«

»Laß uns hier auf- und abgehen,« sprach Livia. »Meine Entfernung aus dem Salon kann nicht auffallen. Madame Orlemann ist unterrichtet und weiß, daß ich mich in kühlerer Luft ein wenig erholen will.«

Sie hemmte ihre Schritte und holte tief Athem.

»Ihnen ist wirklich nicht wohl, theuerste Mutter!« sprach der Attaché kindlich besorgt. »Wenn ich Fräulein Orlemann oder Fräulein Strahleck riefe ...«

»Nein, nein,« unterbrach ihn Livia mit Heftigkeit. »Sie dürfen nichts erfahren von dem, was ich Dir zu eröffnen habe ...«

Abermals entrang sich ein Seufzer der Brust der geängstigten Frau, und Rudolphs bemächtigten sich die bängsten Gedanken.

»Beste Mama,« flehte er, »Sie foltern mich! – Was haben Sie mir zu sagen?«

Livia schlug das thränenumschleierte Auge zu dem bittenden Sohne auf und versetzte:

»Diese unseligen Briefe, die man so spät entdeckte, werden uns Alle in's Unglück stürzen! ... Du verriethest Dich vorhin selbst, mein Sohn! Auch Dich hat eins jener Schreiben aus Deiner Ruhe aufgeschreckt und die schöne Harmonie Deiner Seele gestört! Und ich – ach, mein theurer Rudolph – ich wäre beinahe das Opfer des Schreckens geworden, der in Gestalt eines alten Briefes wie ein Racheengel vor mich hintrat!«

Rudolph schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß er die Mutter durchaus nicht verstehe.

»Es ist eine schwere Pflicht, die mir obliegt,« fuhr Livia fort. »Ehe es nicht geschehen ist, foltern mich die gräßlichsten Einbildungen Du liebtest Deinen Vater, nicht wahr?«

»Er war ein Mann,« sprach Mandelsdorf mit Stolz, »ein Mann im edelsten Sinne des Wortes!«

»Du weißt ferner, daß mein Vater mit seinem Geschlechtsnamen Delft hieß.«

»Michael Delft,« wiederholte mit zitternder Lippe der Diplomat.

»Der brave Mann hat seine Aeltern nicht gekannt,« fuhr Livia fort. »Frühzeitig nahmen Fremde, wohlthätig gesinnte Freunde sich des Kindes an, ließen es auf ihre Kosten auf Honesthof erziehen und nannten es Delft-Honest.«

»Sie haben mir diesen Lebensgang meines Großvaters zu wiederholten Malen erzählt und nie versäumt, mir Wohlthun, uneigennütziges Handeln angelegentlich dabei zu empfehlen.

»Auf Honesthof lebte ein Geschwisterpaar, mit welchem Dein Großvater aufwuchs, Alcid und Sara – hörst Du, Sara, Sara Honest!«

Livia versagte die Stimme und auf Rudolphs Stirn zeigten sich kalte Schweißtropfen.

»Beste Mutter,« sagte er in flüsterndem Tone, »es geht kein irgend bedeutender Mensch durch's Leben, ohne bald mehr, bald weniger von Täuschungen ergriffen und dadurch irre geleitet zu werden. Irrthum läutert aber, und wer im Irren nicht untergeht, dem wird er zur bildenden Schule, in der er Lebensweisheit lernt und sich gegen die Stürme der Welt waffnet.«

»Ich kann nicht zweifeln,« hob Livia auf's Neue an, »daß Dein Großvater zu seiner Adoptivschwester Sara eine tiefe Neigung gefaßt, und daß Beide in noch sehr jungen Jahren sich feierlich ewige Liebe und Treue geschworen haben. Aus Gründen, die mir bis heute unbekannt geblieben sind, widersetzten sich die Aeltern Sara's einer Verbindung ihrer einzigen Tochter mit Michael. Es muß indeß zu heftigen Scenen gekommen sein, ehe dieser jeder Hoffnung, Sara eines Tages zu besitzen, entsagte. Als er sich nothgedrungen zu diesem Aeußersten entschloß, verließ er den Hof seiner Pflege- und Adoptivältern, verlobte sich bald darauf mit meiner Mutter, der vertrautesten Freundin Sara's, und legte seinen bis dahin geführten Adoptivnamen wieder ab, wenigstens im täglichen Verkehr.«

Livia machte eine Pause, offenbar um sich zu den ferneren Mittheilungen zu stärken, die sie ihrem Sohne schuldig zu sein glaubte.

»In all' diesen Vorgängen, beste Mutter, erblicke ich nichts, das uns beunruhigen oder irgendwie in ein zweideutiges Licht stellen könnte,« versetzte der Attaché. »Ungefähr kannte ich ihren allgemeinen Umrissen nach diese Familienstörnisse, wenn man das Geschehene so nennen darf. Ein einziger Moment nur, dünkt mich, bedarf noch der Aufklärung, und gerade dieser machte es mir wünschenswerth, in Besitz der Zeilen zu gelangen, die Sara an ihren Adoptivbruder richtete, und die durch eine jener unberechenbaren Launen des Zufalls verloren gingen. Das Schreiben Sara Honests hilft mir – so hoffe ich – gewiß ein Räthsel lösen, das mich seit Kurzem beschäftigt und das mir ebenfalls durch Uebermittelung eines dieser spät versendeten Briefe aufgegeben worden ist.«

Livia's Hände flochten sich krampfhaft zusammen. Sie sah den lebensmuthigen, von seltenem Glück hoch emporgehobenen Sohn mit scheuen Augen an und sprach stammelnd:

»Auch Du, mein Sohn, auch Du erhieltest einen Brief? ... Warum schwiegst Du? ... Von Paul Witteboom, nicht wahr?«

»Du weißt es!« versetzte Rudolph, vor Erstaunen scharrend. »Wer war dieser Mensch?«

»O, ich unglückliche Frau!« rief Livia. »So ist Alles wahr und ich bin ein elendes Geschöpf!«

Die Kräfte verließen die Aufgeregte. Mandelsdorf sah sich genöthigt, weibliche Hülfe herbeizurufen. Er mußte den Gedanken vorerst aufgeben, in das Geheimniß seiner Mutter, das die reizbare Frau bis zur drohenden Geistesstörung drückte, eingeweiht zu werden.

Die geistig und physisch erschöpfte Frau, deren plötzliche Erkrankung durch die Geistesgegenwart der gewandten Justizräthin schicklich bemäntelt ward, mußte nach Hause gebracht werden, wohin sowohl Laura, wie deren Tochter Justine die Leidende begleiteten.

Mandelsdorf selbst kehrte, äußerlich gefaßt, zur Gesellschaft zurück, wo er sich noch eine Zeit lang unbefangen, mit den verschiedensten Persönlichkeiten unterhielt.


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